Barbara Beuys

Sophie Charlotte

Preußens erste Königin

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Inhalt

1. Kapitel
Unbeschwerte Kindheit

Die Bischofstochter von Schloss Iburg

2. Kapitel
Die Eltern

Königliches Blut heiratet Deutschlands ersten Gentleman

3. Kapitel
Umzug ins Schloss von Osnabrück

Erste Auftritte der kleinen Prinzessin

4. Kapitel
Am Hof des Sonnenkönigs

Aber keine französische Heirat

5. Kapitel
Tod in Herford, Tod in Venedig

Aufstieg zur Prinzessin von Hannover

6. Kapitel
In München scheitern Heiratsverhandlungen

In Berlin wird ein trauernder Witwer getröstet

7. Kapitel
Die Ehe: Ein politisches Projekt

Der Kurprinz: Einen Kuss in meinem Namen

8. Kapitel
Hochzeit in Herrenhausen, Hannover und Berlin

9. Kapitel
Endlich schwanger

Zwölf schreckliche Monate

10. Kapitel
Endlich ein lebenskräftiger Sohn

Als Kurfürstin in Königsberg umjubelt

11. Kapitel
Der neue Erzieher: Die Mutter setzt sich durch

Ein musikalisches Netzwerk entsteht

12. Kapitel
Ein vergnügter Damen-Abend mit Zar Peter

Der Sturz des Ministers: Ein Segen für die Ehe

13. Kapitel
Der große Leibniz schreibt schmeichelhafte Briefe

In Lietzenburg entsteht ein französischer Garten

14. Kapitel
Die Kurfürstin begründet eine Geburtstagstradition

Teamarbeit auf dem Weg zum Königstitel

15. Kapitel
Berlins erste Oper – aufgeführt in Lietzenburg

Eine Mätresse, die nicht ins Muster passt

16. Kapitel
Zärtlichkeit als Kern wahrer Liebe

Les Aventures de Télémaque: Lektüre für Kutschfahrten

17. Kapitel
Brüssel – Den Haag:

In diplomatischer Mission unterwegs

18. Kapitel
Königsberg: Eine Umarmung für die Königin

Berlin: Triumphaler Empfang für das königliche Paar

19. Kapitel
Die »Maison de Plaisir« wird zum Schloss

In Hamburg: Eine Oper für die Königin

20. Kapitel
Fräulein von Pöllnitz kann sich Ironie erlauben

Telemann wird ins Theater geschmuggelt

21. Kapitel
Die Königin setzt Maßstäbe:

Radikale Geister haben Gedankenfreiheit in Preußen

22. Kapitel
Kampf um den Kapellmeister

»Unsere Truppen haben schwer gelitten«

23. Kapitel
Eine Königliche Akademie in Lietzenburg

Oder: Im Land der Zärtlichkeit

24. Kapitel
Der Philosoph verspricht: Es ist alles wie hier

Der Mätresse zuliebe: Komödie am Taufbecken

25. Kapitel
Ein Übermaß an mütterlicher Belehrung

Der Sohn soll sich gegen den Vater stellen

26. Kapitel
Tod im Karneval

Epilog

Bildnachweise

Register

Bildteil

Literaturhinweise

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Literatur sowie gedruckte und digitalisierte Quellen

Sophie Charlotte und ihr Umfeld: Briefwechsel

Sophie Charlotte: ihre Herkunft, ihr Leben

Friedrich III. I. – Sophie Charlottes Ehemann

Sophie Charlotte und ihr Musenhof – Musiker, Philosophen, Theologen

Preußen-Brandenburg: Einzel- und Gesamtdarstellungen

Das 17. Jahrhundert Frauen – Musik – Literatur – Kultur – Bei Hofe

Pietismus, orthodoxes Luthertum, Reformierte Kirchen/​Calvinismus

1. Kapitel

Unbeschwerte Kindheit

Die Bischofstochter von Schloss Iburg

1668 bis 1676

Sie war ein erwünschtes Kind, endlich eine Tochter. Die Mutter schrieb ein Dutzend Jahre später in ihren Memoiren: »Ich freute mich darüber; denn ich hatte schon drei Söhne zu jener Zeit.« Und es war ein ganz besonderes Kind. Der Vater schrieb seinem Bruder, dass »der Allerhöchste … Unsere freundliche liebe Gemahlin in Gnaden entbunden und Uns … morgens um 7 Uhr mit einer jungen wohlgestalteten Tochter mildväterlich erfreut hat«. Er danke der »göttlichen Allmacht herzinniglich«, dass Mutter und Kind sich in einem »erträglichen Zustand« befänden. Absender dieser frohen väterlichen Geburtsanzeige: Ernst August, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, Fürstbischof von Osnabrück.

Das ist allerdings eine Überraschung: Sophie Charlotte, die am 12. Oktober 1668 auf Schloss Iburg geboren und in der Schlosskapelle lutherisch getauft wurde, war die erste – und einzige – Tochter des Lutheraners Ernst August, allseits anerkannter Bischof im katholischen Bistum Osnabrück. Und ihre Mutter Sophie von der Pfalz, seit ihrer Heirat Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, nannte sich in manchem Brief mit leichtem Augenzwinkern »Frau Bischöfin«.

Zwei Jahrzehnte zuvor, 1648, hatten die Glocken das Ende des Dreißigjährigen Krieges verkündet. Mit ausgeklügelten Verträgen gaben Europas Staaten dem Kontinent neue politische Strukturen und gelobten, in Zukunft keine Kriege mehr um der Religion willen zu führen. Für das uralte katholische Bistum Osnabrück, das Karl der Große gegründet hatte, fanden sie einen erstaunlichen Kompromiss, dem schließlich die damaligen protestantischen schwedischen Besatzer und die katholische Kirche zustimmten – die »alternierende Sukzession«, eine einmalige Konstruktion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Auf dem Bischofsthron sollten sich ab sofort ein katholischer und ein protestantischer Vertreter ablösen, und der Protestant sollte immer ein Abkömmling aus dem fürstlichen Hause Braunschweig-Lüneburg sein. Der Kompromiss war mehr als ein dekorativer Schachzug. Wie in den allermeisten deutschen Bistümern war das religiöse Oberhaupt des Bistums Osnabrück – auch auf katholischer Seite stets ein Adliger – seit Jahrhunderten zugleich der weltliche Landesherr. Der Fürstbischof hatte Zugriff auf alle Einnahmen des Landes, konnte Steuern und Abgaben erheben, Soldaten aufstellen.

Was Diplomaten am Konferenztisch ausgetüftelt hatten, funktionierte tatsächlich in der Praxis. Der von den Schweden im Dreißigjährigen Krieg vertriebene katholische Bischof durfte nach dem Frieden sein Osnabrücker Bistum wieder in Besitz nehmen. Als er im Dezember 1661 starb, wählte das katholische Domkapitel von Osnabrück gemäß der Absprache Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg, verheiratet und Vater von zwei Söhnen, zum neuen Fürstbischof und Osnabrücker Landesherrn. Anfang September 1662 verließ der Herzog seinen bisherigen Wohnsitz im Schloss von Hannover, ihm wurden als Zeichen seiner neuen Würde im Dom zu Osnabrück Mitra und Bischofsstab zu Füßen gelegt, und mit Frau und Söhnen zog er ins Schloss Iburg ein.

An Selbstbewusstsein fehlte es ihm nicht. In der Iburg, romantisch auf einem Bergrücken gelegen, hängt bis heute im Rittersaal zwischen den Porträts der katholischen Bischöfe des Bistums Osnabrück ein Doppelporträt, das Herzog Ernst August in Auftrag gegeben hat. Es zeigt ihn als ersten protestantischen Bischof – Bischofsstab und Mitra im Hintergrund – mit seiner Frau und beide schauen freundlich-selbstbewusst in die Welt. Das Mieder der Frau Bischöfin zeigt einen großzügigen Ausschnitt unbedeckter Haut.

Die Burg am Übergang zwischen Teutoburger Wald und Münsterland, gut fünfzehn Kilometer südlich von Osnabrück, war seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts die ständige Residenz der Osnabrücker Bischöfe. Um 1600 hatte ein Vorgänger von Ernst August sie zu einem kleinen Renaissanceschloss ausgebaut. Auf demselben Hügelkamm, fast Mauer an Mauer, befindet sich eine weithin sichtbare Klosteranlage, in der seit der Gründung der mittelalterlichen Burg bis heute Benediktinermönche zu Hause sind. Der Marktflecken Iburg zu Füßen von Schloss und Kloster erhielt 1254 Stadtrechte und wurde rundum von einer Mauer geschützt, von der sich Teile erhalten haben. Seit 1967 ist der lebendige kleine Ort, wo Fachwerkhäuser und moderne Häuserzeilen miteinander harmonieren, offizieller Kneipp-Kurort – Bad Iburg. Und das ehemalige fürstbischöfliche Schloss ein lohnendes Ausflugsziel.

Die bischöfliche Tochter Sophie Charlotte, auf Schloss Iburg geboren, erhält den ersten Namen nach der Mutter – Herzogin Sophie von Braunschweig-Lüneburg, eine geborene »von der Pfalz« – und den zweiten nach ihrer Patentante – Elisabeth Charlotte von der Pfalz. Die Sechzehnjährige lebt in Heidelberg bei ihrem Vater, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz. Er ist der Bruder von Sophie Charlottes Mutter und Elisabeth Charlotte ist somit die Kusine des Neugeborenen. Als Elisabeth Charlotte Ende Oktober 1668 erfährt, dass sie von den Eltern als »Tauffzeugin« gewählt wurde, schreibt sie ihnen: »Ich bin von hertzen erfreut geweßen … das matante und oncle mir die ehr gethan und mich zu einer gevatterin erwehlt haben.« Sie würde gerne »mein patgen sehen undt mit ihr spillen«. Doch die junge fürstliche Patentante – »gevatterin« – mit angemessener Begleitung von Heidelberg ins westfälische Iburg reisen zu lassen, war zu aufwendig; die Taufe fand ohne sie statt.

Bevor Herkunft und Persönlichkeit der Eltern von Sophie Charlotte genauer in den Blick kommen, sollen einige Fakten die kleine Familie vorstellen. Das bischöfliche Paar war im Oktober 1668 auf den Monat genau zehn Jahre verheiratet, die Mutter 1630 geboren, der Vater 1629. Drei Söhne hatten sie jetzt, achteinhalb, sieben und zwei Jahre alt. Die Tochter kam in einem kleinen Zimmer, direkt über dem breiten Torbogen gelegen, der in den Innenhof von Schloss Iburg führt, zur Welt. Noch heute zieren die Initialen der Eltern den Schlussstein der Decke, ein Schrank mit kunstvollen Intarsien hat sich erhalten.

Die fürstliche Familie lebte beengt, denn die katholischen Bischöfe, die vor ihr im Schloss wohnten, brauchten keine Räume für Ehefrauen und Kinder. Wie unaufgeregt, geradezu bürgerlich, das Familienleben auf Schloss Iburg verlief, hat Herzogin Sophie, die Mutter, im Juni 1663 in einem Brief an ihren Bruder, den Kurfürsten von der Pfalz, beschrieben: »Wir kegeln, schießen Enten, besuchen das Bad, spielen Trictrac …« Und drei Jahre später: »Wir leben hier in der angenehmsten Einsamkeit der Welt.« Es sind auch die Briefe der Mutter, in denen die kleine Sophie Charlotte – mit dem Kosenamen Figelotte belegt, Figuelotte in den französischen Briefen – erste Erwähnung und Konturen erhält. Es sind sehr persönliche Bemerkungen, die heute, rund dreihundertfünfzig Jahre später, ein wenig Farbe und Licht in die frühen Kindheitsjahre bringen, eine Seltenheit für diese barocke Zeit.

Im März 1671 ist Herzogin Sophie ohne ihre Kinder bei ihrem Bruder in Heidelberg. Sie wartet dort auf ihren Ehemann, der wie zu seinen Junggesellenzeiten den Winter bis weit ins Frühjahr in Venedig verbringt, um sich dort an den besten Opernaufführungen des Kontinents zu ergötzen. Seine Heirat und sein bischöfliches Amt haben nichts daran geändert, dass er weiterhin die Dienste gewisser Damen, von denen es nirgendwo in Europa so viele gibt wie in Venedig, in Anspruch nimmt. Mitte des Monats greift Sophie zu Feder und Tinte: »Ich habe zwe früden nach einander gehabt: gestern kam unsser Herzug gans frisch undt gesundt, und heute schreibt ihr mir, dass ihr auch alle miteinander wol seit …«

Gerichtet ist der Brief an »Madame de Harling, dame d’honneur et gouvernante des enfants de Brunswig et Luneburg«. Doch Anna Katharina von Harling, geborene von Uffeln, eine Adlige aus Kassel, ist weit mehr, als »Hofdame« und »Gouvernante«. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen 1650 in Heidelberg am Hof von Sophies Bruder. Kurz nach ihrer Heirat beendete die Herzogin einen Brief an Anna Katharina als »eure ser geaffectionirte fründin«. Sie holt sie an ihren Hof und vertraut ihr vorbehaltlos erst die Söhne und dann die Tochter an, wenn sie auf Reisen geht. Anna Katharina, die keine eigenen Kinder hat, weiß, womit sie die sechs Jahre jüngere Frau Bischöfin im Frühling 1671 im fernen Heidelberg erfreuen kann.

Sie lässt den neuneinhalbjährigen August – »Gustien« – einen Brief auch im Namen der zweieinhalbjährigen Sophie Charlotte – »Figelotte« – an seinen Onkel, den Kurfürsten, schreiben und gibt ein typisch westfälisches Präsent mit in die Post. »Figelottes und Gustiens brif waren gar schön undt so angnhem beim Courfürst als der pumpernickel«, schreibt die stolze Mutter über die Reaktion ihres Bruders.

Für die Herzogin ist der ältere Bruder in Heidelberg zeitlebens ihr engster Vertrauter. Jede Woche gehen Briefe, ausschließlich in Französisch geschrieben, zwischen den Geschwistern hin und her, und die Kinder werden in den lebendigen Austausch einbezogen. Im September 1673 erfährt der Bruder, dass die fünfjährige »Figuelotte« sich sehr geehrt fühle, weil ihre Kusine Friederike in Heidelberg, drei Jahre älter, ihr einen Brief geschrieben hat. Weiter schreibt die Mutter über ihre Tochter: »Sie kann noch nicht mit eigener Hand antworten, aber sie hat darauf bestanden, einen Brief zu diktieren, worauf sie ziemlich stolz ist.« Von ihrer Patentante Elisabeth Charlotte habe sie eine Puppe bekommen, die ihre ganze Freude sei.

Das Jahr 1673 hat nur noch wenige Tage vor sich, da erhält der Kurfürst in Heidelberg von seiner Schwester ein ausführliches Psychogramm seiner Nichte. Sie ist im Frühjahr mit der ganzen Familie in ein prächtiges neues Schloss in Osnabrück umgezogen, das dem Macht- und Repräsentationsbedürfnis von Herzog und Fürstbischof Ernst August wesentlich mehr entsprach als die kleine Iburg. »Was Figuelotte betrifft«, schreibt die Mutter, »sie ist ein verwöhntes Kind, denn sie will nicht lernen. Sie kann noch nicht einmal lesen, liebt es aber sehr, ihre Würde zu zeigen und die große Dame zu spielen – gerade so wie die Katze, wenn sie die Mäuse sieht. Denn sobald sie ihre Brüder vor sich hat, möchte sie alles genau so machen wie sie, die derzeit üben, einen kleinen Juden zu imitieren, der lustiger als irgendjemand sonst auf der Welt tanzt und hundert akrobatische Drehungen macht …« Die Mutter scheint bei dieser liebevollen Beobachtung zu schwanken, ob das Spiel ihrer verwöhnten Tochter einer Laune entspringt oder Entschlossenheit dahintersteckt.

Schon wenige Tage später, Anfang Januar 1674, berichtet sie dem Bruder: »Figuelotte hat uns gestern in ihrem Zimmer bewirtet, und als wir beim Dessert waren, traten 20 maskierte Paare ein, die als Bauern und Bäuerinnen verkleidet waren und bis Mitternacht tanzten.« Sophie Charlotte spielt in ihrem sechsten Lebensjahr nicht nur die große Dame, sie organisiert selbstständig, was zu einer höfischen Einladung dazugehört – eine unterhaltsame Aufführung, opulentes Souper inbegriffen.

Nur drei Monate sind vergangen, da erfährt die Mutter, die mit ihrem Mann beim Schwager im Celler Schloss Schauspiele und fröhliche Feste genießt, dass ihre Tochter sich dem Lernen nicht länger verweigert. Das Ergebnis liegt einem Brief bei, den die Erzieherin Anna Katharina von Harling geschickt hat und Herzogin Sophie antwortet sogleich: »Ich bin recht froh, dass sie alle zu Osnabrück frisch und gesundt sein und dass mein Figelotte so schön schreiben kann; ich bringe ihr zeug zum rock mit.« So viel Fleiß soll mit einem schönen Stück Stoff belohnt werden.

Die kleine große Dame macht schnell weitere Fortschritte. Im März 1676 liest der Bruder in Heidelberg, dass eigentlich »keine Zeit für Galanterien« sei, weil die Zahlungen an den Fürstbischof nur spärlich fließen: »Dennoch werden wir heute Abend ›ein lust‹ haben, wenn Figuelotte zusammen mit 18 kleinen Jungfern eine französische Komödie spielen wird, die meisten von ihnen Adlige … Sie und ein gewisser verrückter Coltet haben das Stück gemeinsam gemacht; es besteht aus Reimen, die sich nicht reimen. Ofenschirme bilden die Bühne.« Der mütterliche Stolz ist nicht zu überhören, aber zu Sentimentalitäten neigt Herzogin Sophie nicht. Auch wenn es um die eigenen Kinder geht, behält sie ihren realistischen Blick.

Im April 1676 verbringt Sophie Charlotte mit ihren Eltern unbeschwerte Tage im Schloss der Grafschaft Diepholz, wo ihr Vater gerne auf die Jagd geht. Anna Katharina von Harling, die Erzieherin, ist krank und nicht mitgekommen. Diesmal ist es die Mutter, die ihrer »lieben Frau Hofmeisterin« Neues von der Tochter berichtet: »Unsere Figelotte macht sich hir recht lustig, sie schleft in mein kammer und ich ziege sie so wol, dass ihr werdet zu thun haben, sie wiederum in die schrancken zu bringen.« Herzogin Sophie schätzt die Lernbegierde und die Französischkenntnisse ihrer Tochter und die Fähigkeit, eine »Lustbarkeit« auf die Beine zu stellen. Aber die achtjährige Sophie Charlotte darf noch Kind sein und bekommt fern in Diepholz alle Freiheiten. Und die Entschuldigung an die Kinderfrau, sie werde dieses kurzfristig vom mütterlichen Wohlwollen verzogene Kind schon wieder an Regeln gewöhnen, ist mit einem Schuss Selbstironie gewürzt.

Hängen Sorge und Aufmerksamkeit der Herzogin um ihre Kinder mit der Geburt der ersehnten Tochter zusammen? Sind es echte Gefühle oder nur fürstliche Launen, während die Mutter in Wahrheit froh ist, ihren Nachwuchs an die Kinderfrau delegieren zu können, wie es adligen Frauen im historischen Rückblick lange Zeit vorgeworfen wurde? Es lohnt sich, weiteren Spuren nachzugehen, um der Persönlichkeit der Herzogin Sophie von Braunschweig-Lüneburg näherzukommen. Sie prägt nicht nur die Kindheit von Sophie Charlotte, sie wird als Vertraute und Vorbild die wichtigste Person für ihre Tochter bleiben. In allen Lebensumbrüchen ist sie der sichere Hafen, in den Sophie Charlotte sich flüchten kann.

Schon vor der Geburt der Tochter haben sich viele Briefe an Anna Katharina von Harling erhalten. Im September und Oktober 1663, als sich Sophie mit ihrem Mann im Jagdschloss Linsburg, Kreis Nienburg, aufhält, ist aus drei Briefen unüberhörbar, wie sehr Sophie in Gedanken bei ihren zwei Söhnen ist, der ältere drei, der jüngere zwei Jahre alt: »Weret ihr mit unssern kindern alhir, so were der ort recht lustig; ich dencke immer an sie, hoffe, der allerhöchste wirdt sie bewaren, dass ich sie lebendig wieder bekomme.« Sie freut sich über Anna Katharinas briefliche Zusicherung, »dass meine kinder noch wol sein«. Und ein weiterer Brief beginnt: »Ich bin recht fro gewesen, zu vernemmen, dass die kinder noch wol sein …«

Ende April 1664 ist Herzogin Sophie in Augsburg und bricht mit großem Gefolge auf, um die Alpen zu überqueren. Ihr Ehemann ist schon in Venedig und will sich endlich einmal mit seiner Ehefrau dort vergnügen – ohne deshalb von den käuflichen Damen in der Lagunenstadt zu lassen. Noch von unterwegs gehen Briefe an die Kinderfrau, der die Mutter auf eine ungewisse Zeit ihre kleinen Söhne anvertraut hat: »Ich gedencke oft an mein zwei kleine; Gott behüte sie.« Im Mai kommt Post aus Venedig: »Ich verlange ser, meine kinder wiederum zu sehen, gefiele es meinem herzlichen Herrn so wol zu Iburg als hir, so wollte ich, dass wir schon alle thar werden.« Und sie ist »sehr fro, dass meine kinder gottlob noch wolauf sein«. Anfang Juni: »Ich verlange ser, wiederum bey euch zu sein, ob es schon lustig hir ist. Adieu.«

Aber das Verlangen einer Frau zählt nicht, wie sie ihrer Hofmeisterin im August schreibt, während ihr Ehemann prächtige Feste für seine venezianischen Geliebten gibt. Sophie hat eine kleine Hoffnung auf baldige Rückkehr, doch versprechen kann sie es nicht: »Was der mann will, das will die frauw auch …« Die Hoffnung trog; im September 1664 reiste die ganze fürstliche Entourage – fast zweihundert Personen – auf Befehl des Herzogs nach Rom weiter. Als Sophie im Oktober in der Ewigen Stadt ankommt, ist ihre größte Freude der Brief, den sie dort aus Iburg vorfindet, »woraus ich vernemme, dass gottlob die Kinder noch wolauf sein«. Wenig später erfährt die Hofmeisterin, dass die Herzogin mit den Gedanken und dem Herzen bei den Kindern sei und lieber mit ihnen spielen würde, als römische Statuen zu betrachten.

Der Aufenthalt in Rom nimmt kein Ende, auch hier ist der Ehemann wieder an eine andere Frau gebunden. Im Februar 1665 bekommt die Kinderfrau einen Brief aus Venedig: »Es verlangt mir schrecklich nach die kinder undt wollte ihre commedien liber sehen als die operen in Venedig.« Der Tross ist auf dem Rückweg, immerhin. Aber erst muss der Herzog von Braunschweig-Lüneburg und Fürstbischof von Osnabrück noch einmal in Venedig ausgiebig die Opern genießen und in Mailand vierzehn Tage lang von einem Ball zum anderen tanzen. Dann geht es mit Kutschen, Sänften und Pferden über den St.-Gotthard-Pass nach Basel. Der Frühling hat bereits Einzug gehalten, als Sophie ihre Söhne auf Schloss Iburg endlich wieder in die Arme schließen kann.

Aus allen ihren Briefen sprechen echte Gefühle, Sehnsucht nach den Kindern und große Sorge. Immerzu erfährt Sophie aus dem weiten Umkreis ihrer fürstlichen Familienbeziehungen, wie prekär das Leben der Säuglinge und kleinen Kinder ist. Die hochgeborene Abstammung schützte nicht davor, dass rund 150 von 1000 Kindern im ersten Monat nach der Geburt starben und 250 im ersten Lebensjahr. Wie bedrohlich eine Geburt für jede Frau war – jede zehnte hat sie nicht überlebt –, wusste die Herzogin von Braunschweig-Lüneburg aus eigener Erfahrung.

Ihr erstes Kind, der Sohn Georg Ludwig, wurde im Mai 1660 geboren. An diese Geburt erinnert Sophie sich in ihren Memoiren. Sie »war so schwer, dass ich drei Tage und drei Nächte in beständigen Wehen lag. Man fürchtete, dass ich oder das Kind sterben müsste.« Die zweite Geburt im Oktober 1661 verlief ohne Probleme. Als Sophie Anfang 1664 nach Heidelberg reiste, war sie erneut schwanger. Sie wollte ihr Kind am Hof des Bruders zur Welt bringen und anschließend ihren Mann in Venedig treffen. Aus ihren Memoiren erfahren wir: »Indessen fesselte mich eine Fehlgeburt in Heidelberg ans Bett. Ich war noch kaum davon geheilt, als ich mich auf den Weg machte, um nach Venedig zu reisen.«

Auf dem beschwerlichen Rückweg über den St.-Gotthard-Pass im März 1665 spürt Sophie, dass sie abermals schwanger ist. Im April hat sie eine Fehlgeburt, Zwillinge. Im Dezember 1666 wieder eine qualvolle Zwillingsgeburt, einer überlebt, ihr dritter Sohn Maximilian. Wie zwei Jahre später Sophie Charlottes Geburt verlief, darüber gibt es keine Informationen. Ihre Mutter ist nun achtunddreißig Jahre alt, aber drei weitere Schwangerschaften werden folgen. Ihrem Bruder in Heidelberg hat sie ein Bekenntnis geschrieben, in dem sich ihr nüchterner Blick auf die Menschen und ihr weites Herz aufs Beste verbinden: »Kinder sind nichts als Zufallstreffer. Es ist weder ihr Fehler noch der unsere, wenn sie nicht so werden, wie man es sich wünschte, und man liebt sie darum nicht weniger. Ich liebe jedes von meinen nach seiner Art.«

Sophie von Braunschweig-Lüneburg war eine standesbewusste Frau. Wenn es um höfisches Zeremoniell ging, verlangte sie, was ihr zustand – einen Stuhl mit Armlehnen, auf einem ohne würde sie nicht Platz nehmen. Wenn man ihr an einer Tafel einen Platz zuwies, der ihrer Überzeugung nach nicht ihrem Rang entsprach, verzichtete sie auf das festliche Essen. Aber innerhalb ihres hierarchischen Weltbildes hatte jeder Mensch seine Würde. Den christlichen Konfessionen als mächtige Institutionen, die den Gläubigen verpflichtende Dogmen aufzwangen und rigorose Vorschriften für das Erdenleben machten, stand sie äußerst kritisch gegenüber. Sie durchschaute, dass es den geistlichen Herren zu oft um irdische Interessen ging.

In ihrem Brief vom Jahresende 1673 an ihren Bruder, in dem sie erzählt, dass Sophie Charlotte gerne die große Dame spielt, berichtet sie ihm von einer Frau, die beide kennen. Sie sei, nachdem man sie gefoltert habe, als Hexe verbrannt worden. Die Herzogin nennt das einen Skandal und kommentiert: »Wenn Gott sich um die Welt kümmert, lässt er solche Verbrechen nicht ungestraft, denn in Lemgo hat man eine große Anzahl von ihnen verbrannt, um an ihren Besitz zu kommen.« Die Frau Bischöfin war gut informiert. In keiner deutschen Stadt gab es so viele Scheiterhaufen, auf denen nach Pseudoprozessen als Hexen verurteilte Menschen, davon achtzig Prozent Frauen, verbrannt wurden. Nach offizieller Zählung waren es allein zwischen 1653 und 1681 rund einhundertfünfundzwanzig, wahrscheinlich noch viel mehr. Sophies Anfrage an Gott spricht für einen aufgeklärten Glauben und stützt sich auf ihre eigene Urteilskraft.

Schon das wenige, was wir bisher von ihr wissen, macht die Herzogin von Braunschweig-Lüneburg zu einer typischen Vertreterin des 17. Jahrhunderts. Der barocke Zeitgeist manifestiert sich für die Nachgeborenen vor allem in Kunst und Literatur. Aber es ist nicht weniger die Zeit der Frühaufklärung. Eine Epoche des Umbruchs und des Aufbruchs, in der die Wurzeln der Moderne liegen und die Menschen sich mehr denn je als Individuen empfanden, die sich ihr eigenes Urteil bildeten. Männer und Frauen begannen, die Natur und den Menschen systematisch zu erforschen, ohne sich von den orthodoxen Hütern des Glaubens – egal, ob protestantische oder katholische Priesterschaft – in ihrem Freiheitsdrang beschneiden zu lassen. Überzeugt, dass kritische Vernunft und persönliche Frömmigkeit sich nicht ausschließen.

Was im Laufe der modernen Zeit vergessen wurde: Das 17. Jahrhundert ist reich an gebildeten und selbstbewussten Frauen, die zu ihren Lebzeiten weit über den familiären Kreis hinaus Anerkennung erfuhren und von gelehrten Männern als Gesprächspartnerinnen und Brieffreundinnen geschätzt werden. Herzogin Sophie von Braunschweig-Lüneburg ist eine von ihnen. Es lohnt sich nachzuforschen, wo ihre Wurzeln liegen und was ihre Persönlichkeit prägte, die für ihre Tochter Sophie Charlotte zum Vorbild wurde. Und was sie an Lebenserfahrung weitergeben konnte.

2. Kapitel

Die Eltern

Königliches Blut heiratet Deutschlands ersten Gentleman

Sophies Mutter, Elisabeth von der Pfalz, geborene Stuart, wird ihr davon erzählt haben: Ganz London war auf den Beinen, um etwas von der glanzvollen Hochzeit mitzubekommen, einen Blick auf das junge verliebte Paar zu erhaschen und die Musiker, die es mit Pauken und Trompeten begleiteten. Elisabeth, die Tochter des englischen Königs Jakob I. – ein Sohn der berühmten Maria Stuart –, heiratete im Februar 1613 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz, der zur Brautwerbung an die Themse gekommen war. Braut und Bräutigam waren siebzehn Jahre alt. Im Juni bereitete ihnen die Bevölkerung in Heidelberg einen jubelnden Empfang. Bis 1618 wurden drei Kinder im Schloss geboren.

Was so glücklich begann, nahm eine tragische Wende. Der protestantische Kurfürst ließ sich 1619 zum König von Böhmen wählen, zog mit seiner Familie nach Prag und provozierte damit den katholischen Kaiser in Wien, der traditionell Anspruch auf diese Krone hatte. Schon im November 1620 war Friedrich V. mit Frau und Kindern auf der Flucht, von den katholischen Truppen des Kaisers am Weißen Berg bei Prag vernichtend geschlagen. Es war der blutige Startschuss für den Dreißigjährigen Krieg um die konfessionelle und machtpolitische Vormachtstellung in Deutschland und Europa.

1621 bot die Vereinigte Republik der Niederlande, die sich gegen die katholischen Habsburger gerade erst ihre Unabhängigkeit erkämpft hatte, dem flüchtenden fürstlichen Paar in der Hauptstadt Den Haag ein sicheres Exil. Kurfürst Friedrich V. ist als »Winterkönig« in die Geschichte eingegangen, denn länger dauerte seine königliche Herrschaft nicht. Seine Frau, Elisabeth von der Pfalz, gebildet, weltoffen, sprachbegabt, etablierte in Den Haag einen geistreichen Hof, der Gelehrte und Philosophen aus vielen Ländern anzog. Mitte Oktober 1630 wurde hier das zwölfte und zweitjüngste Kind des Exil-Paares geboren – Sophie von der Pfalz, eine Urenkelin der Maria Stuart und damit königlichen Blutes.

Noch im selben Jahr wurde Sophie nach Leiden in den »Prinsenhof« gebracht, wo die Eltern für ihre Kinder einen eigenen Hofstaat eingerichtet hatten. Die ältesten Kinder standen schon auf eigenen Füßen, doch ab September 1631 waren dort immerhin neun Geschwister versammelt. Und egal ob Töchter oder Söhne: Alle erhielten während des streng geregelten Tagesablaufes die gleiche Bildung in Geschichte, Geografie und Zeichnen und bekamen die wichtige musikalische Ausbildung. Der Tanzmeister war Sophie immer willkommen und ebenso der Gitarrenunterricht. Oft haben die Geschwister zusammen Musik gemacht und die Psalmen gesungen, ein fester Bestandteil ihres reformierten Glaubens. Wie ihr Vater, der pfälzische Kurfürst, gehörten sie zur calvinistischen Konfession, die Johannes Calvin, eine Generation nach Martin Luther, innerhalb des Protestantismus in Genf als eigene theologische Richtung begründet hatte.

Sprachkenntnisse standen im Stundenplan ganz oben an. Sophie lernte Französisch, die Sprache des Adels und der Gebildeten in Europa, fließend in Wort und Schrift. Selbstverständlich sprach sie Englisch und Deutsch, die Mutter- und Vatersprache; hinzu kam Italienisch, und sogar bei lateinischer Konversation konnte sie mithalten. Das Holländisch ihres Gastlandes nahm sie sozusagen nebenbei mit auf und hat in ihren späteren Briefen gerne holländische Brocken unter das elegante Französisch gemischt.

An ihren Vater hatte Sophie keine Erinnerung. Er starb 1632, da war sie erst zwei Jahre alt. Nach und nach verließen ihre älteren Geschwister den Prinsenhof in Leiden, und ab 1641 lebte auch Sophie in Den Haag am Hof ihrer Mutter. Die folgenden neun Jahre wurden eine Schule für das Leben. Den Haag war ein europäisches Zentrum, wo sich Diplomaten und Fürsten, Künstler und Gelehrte, auch adlige Touristen aus vielen Ländern trafen. Sie schätzten den weiten kulturellen Horizont der neuen holländischen Republik, die Toleranz gegenüber Religion und Forschung. Wer Rang und Namen hatte, stattete dem Hof der »Winterkönigin« einen Besuch ab und konnte sicher sein, dort andere interessante Besucher zu treffen und vor allem die Hauptperson. Elisabeth von der Pfalz, die Enkelin der Maria Stuart, war gebildet und schön. Sie liebte extravagante Auftritte mit ihren Hunden und Affen und bezauberte mit ihrem Charme. Als »Queen of Hearts« gewann sie tatsächlich viele Herzen.

In diesem Umfeld lernt Sophie, sich auf höfischem Parkett zu bewegen. Sie nimmt aktiv an Ballettaufführungen und Schauspielen teil, wie es sich für eine junge Adlige gehört. Sie liest viel und beteiligt sich bewusst an den Diskussionen der Gäste, um nicht mit dem Etikett »kleine Schwester« im Hintergrund zu bleiben. Sie ist witzig, schlagfertig. Sie lauscht den Gesprächen des Philosophen Descartes, der am Hof der Winterkönigin eine enge geistige Beziehung zu Sophies älterer Schwester Elisabeth knüpft. Sie lernt die Menschen kennen, übt sich darin, nicht die Contenance zu verlieren und – egal, was kommt – ein fröhliches Gesicht zu zeigen. Sophie macht die Erfahrung, dass sie umsetzen kann, was sie sich vornimmt. Ihr Selbstbewusstsein bekommt eine feste Grundlage.

Als endlich Frieden einkehrt nach dreißig Jahren Krieg, kann ihr Bruder Karl Ludwig 1649 aus dem Exil in die Pfalz zurückkehren und als neuer Kurfürst in Heidelberg seinen Hof einrichten. 1650 folgt ihm Sophie, denn das Leben in Den Haag, für das der Bruder zahlen muss, ist viel zu teuer. Die Zwanzigjährige sollte längst verheiratet sein. Aber welcher Fürst wählt sich eine Frau, die kein Land erben – denn das fiel an ihre Brüder – und keine Reichtümer mit in die Ehe bringen würde, denn die Pfalz war bettelarm. Andererseits: Welche Adelsfamilie hatte schon königliche Vorfahren, noch dazu die berühmte Maria Stuart. Der Kurfürst aus der Pfalz, der der Ehe seiner Schwester zustimmen musste, war entschlossen, ihr königliches Blut nicht unter Wert zu verkaufen.

Im Frühjahr 1652 kam Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg auf der Rückreise von seinem traditionellen Venedig-Aufenthalt auf einen Besuch in Heidelberg vorbei. In ihren Memoiren wird Sophie rückblickend über den damals Zweiundzwanzigjährigen schreiben: »Ich hatte ihn sehr jung in Holland gesehen, sein schönes Aussehen hatte noch zugenommen. Er gefiel jedermann. Aber da er der jüngste von vier Brüdern war, sah man ihn nicht als einen zum Heiraten geeigneten Prinzen an.« Ernst August besaß zwar einen Herzogstitel, und er kam aus dem uralten Hochadel der Welfen, deren Vorfahre Heinrich der Löwe vierhundert Jahre zuvor gegenüber Kaiser Barbarossa – wenngleich vergeblich – den Aufstand gewagt hatte. Doch da drei Brüder vor ihm sterben mussten, bevor er Anspruch auf welfisches Territorium hatte, war er keine gute Partie. Er lebte auf Kosten seines älteren Bruders in dessen Schloss zu Hannover.

Das hinderte die beiden jungen Leute nicht, sich gemeinsam zu vergnügen: »Wir spielten Gitarre zusammen, wobei er die schönsten Hände von der Welt zeigte, und auch beim Tanzen tat er Wunderdinge. Er bot mir an, mir Stücke für die Gitarre von Corbetta schicken zu wollen.« Ernst August hielt Wort. In Heidelberg trafen mit einem »Komplimente-Brief« einige neue Kompositionen des Gitarristen Francesco Corbetta ein, der 1652 am Hof zu Hannover die Musiker verstärkte. Sophie bedankte sich, das gebot die Höflichkeit, brach aber den Briefwechsel ab: »Ich hatte Angst, die Welt möchte sagen, meine Freundschaft wäre zu stark.« Sie wusste aus neun Jahren unter den Augen der standesbewussten Mutter in Den Haag: Ein Prinz ohne Geld und Land kam als Ehemann für ihren königlichen Rang nicht in Frage. Ein längerer Briefwechsel hätte falsche Signale gesendet und die adlige Gerüchteküche angeheizt.

Das war im September 1652. Genau sechs Jahre später, im Oktober 1658, richtete Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz seiner Schwester Sophie in Heidelberg eine prachtvolle Hochzeit aus. Der Bräutigam war – Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg. Vorausgegangen war dieser Heirat eine Geschichte, die selbst im lebensprallen barocken Jahrhundert ihresgleichen suchte.

Georg Wilhelm, der als älterer Bruder von Ernst August über das Herzogtum Hannover herrschte, wurde Mitte der 1650er Jahre von den Ständen seines Landes gedrängt, endlich zu heiraten, seine verschwenderischen Venedig-Reisen aufzugeben und Nachkommen zu zeugen. Da fiel ihm Sophie von der Pfalz ein, die er von Besuchen in Heidelberg kannte. »Er konnte sich keine Prinzessin denken, die ihm mehr gefiele als ich«, wird sie in ihren Memoiren schreiben. Das sagte er ihr persönlich, als er auf der Reise nach Venedig – mit Bruder Ernst August – auf Brautschau war und ein Gespräch unter vier Augen mit Sophie hatte. Der stattliche, gebildete Zweiunddreißigjährige verlor keine Zeit »und fragte mich, ob ich es gütigst gestatten würde, dass er um mich bei dem Kurfürsten anhalte«.

Georg Wilhelm hatte mit seiner Direktheit eine Gleichgesinnte gewonnen: »Ich antwortete nicht wie eine Romanheldin; denn ich zögerte nicht, ja zu sagen.« Er gefiel ihr gut, und sie wusste, dass ihr Bruder diese Wahl – »bei der auch der Verstand auf meiner Seite stand« – billigen würde. Braut, Bräutigam und Kurfürst unterschrieben 1656 einen Heiratsvertag, und Georg Wilhelm versprach, aus Venedig viele Briefe zu schicken und bald zurückzukehren.

Doch nicht nur, dass Post aus dem Süden immer seltener eintraf: »Seine Briefe wurden kälter; er selbst kam nicht, wie man vereinbart hatte, was den Kurfürsten beunruhigte; aber ich war zu stolz, um dadurch gekränkt zu sein.« Sophie nennt in ihrem Memoiren nur wenig verschleiert den Grund, warum der Bräutigam sich ziemlich bald vom Hochzeitsvertrag distanzierte. Der Herzog habe sich in Venedig an »die erste Kurtisane gemacht, die ihm begegnet war, nämlich eine Griechin … sie hat ihn in einen für die Heirat sehr ungeeigneten Zustand versetzt«. Er löste die Verlobung auf.

Ob es die Syphilis war oder die Panik, sich mit einer Ehe aller Freiheiten zu berauben: Georg Wilhelm zog sich aus der Affäre, indem er einen Bräutigam-Tausch vorschlug und gewaltige persönliche Zusicherungen machte, damit der Handel schnell perfekt werden konnte. Sein jüngerer Bruder Ernst August sollte bei Sophie an seine Stelle treten. Da dieser ein Heiratskandidat ohne Land und Vermögen war, verpflichtete sich der Herzog von Hannover, dass alle seine Privilegien als älterer Bruder auf den jüngeren übergehen würden: Ernst August würde das Land erben und Georg Wilhelm »sein ganzes Leben zölibatär leben«, damit keine Kinder seiner Linie das Erbe beanspruchen könnten.

Ein ungewöhnliches Konstrukt, über das der Kurfürst von der Pfalz nun für seine Schwester verhandelte. Schließlich fragte er Sophie im Sommer 1658, ob sie diesem Handel zustimmen würde. Die Achtundzwanzigjährige wusste, es war ihre letzte Chance auf eine angemessene Heirat. In Den Haag und am Hof zu Heidelberg hatte sie die Realitäten des adligen Heiratsmarktes kennengelernt: Es ging – vor allem für die Frauen – nicht um Gefühle, sondern um politisches Kalkül und um finanzielle Absicherung, die konnte ihr Bruder ihr nicht garantieren. Sophie antwortete ihm, sie habe »niemals eine andere Neigung empfunden als die für eine gute Versorgung«. Da dies für den Älteren gegolten habe, »würde sie keine Trauer darüber empfinden, den einen um des andern willen zu verlassen«. Stolz und selbstbewusst unterschrieb sie den Vertrag mit dem neuem Bräutigam. Im Oktober 1658 bekräftigte der Donner der Heidelberger Kanonen das feierliche Jawort im Heidelberger Schloss.

Alles nur Kalkül und Contenance auf Seiten von Sophie? Bei einem Ehemann »mit schönem Aussehen, der jedermann gefiel«? Der »die schönsten Hände der Welt hatte und beim Tanzen Wunderdinge tat«? Nur elf Monate war Ernst August von Braunschweig-Lüneburg älter als seine Frau. Der jüngste von vier Brüdern war gebildet, sprach mehrere Sprachen und hatte beste Manieren. Der Musik, vor allem der Oper, gehörte seine Leidenschaft. Er hatte Charme. Zeitgenossen nannten ihn Deutschlands ersten Gentleman.