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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2020 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Wolfgang Hohlbein, Marc Hillefeld

Lektorat: Dieter Winkler

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, unter Verwendung des Logos von Daniel Nikoi Djanie und des Filmplakats © Sony Pictures Deutschland GmbH

Fotos: Carolin Ubl/Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH/Rat Pack Film

Basierend auf dem RatPack/DCP Filmproduktion-Kinofilm DIE WOLF-GÄNG Film

© 2020 Rat Pack Filmproduktion/Deutsche Columbia Pictures Filmproduktion/Sony Pictures

Regie: Tim Trageser

Wir danken der kompletten Film- und Produktionscrew sowie Produzent Christian Becker, der Rat Pack Filmproduktion und Sony Pictures Deutschland für die hervorragende Zusammenarbeit.

ISBN eBook 978-3-8458-3812-0

ISBN Printausgabe 978-3-8458-3498-6

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Jede Geschichte hat einen Anfang.

Unsere beginnt vor langer, langer Zeit, als die Kreaturen der Nacht lernten, unerkannt unter uns Menschen zu leben.

Doch das Kapitel von Vlad Tepesz und seinen Freunden beginnt erst viele Hundert Jahre später – als sich für Vlads Vater ein lang gehegter Wunsch erfüllt: Endlich kann er Vlad auf eine ganz normale Schule schicken.

Aber was ist schon normal … für einen Vampir?

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Epilog

Über den Autor

Weitere Titel

Bildband zum Film

Kapitel eins

Wald, Wald, Wald.

Vlad blickte schläfrig auf die Bäume, die in gleichmäßigem Rhythmus an ihm vorbeizogen. Er konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen. Der schwarze Leichenwagen rollte jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit über die einsame Waldstraße – wobei Straße eigentlich ein komplett unverdientes Kompliment war. Mutwillige Aneinanderreihung von Schlaglöchern traf es schon eher. Und bei jedem einzelnen Schlagloch ächzten die auf dem Dach festgezurrten Antiquitäten bedenklich.

Ein Wunder, dachte Vlad, dass sie die halsbrecherisch auf dem Wagendach befestigten alten Möbel, mittelalterlichen Skulpturen und antiken Waffen nicht unterwegs bereits verloren hatten. Jeder Polizist hätte das seltsame, völlig überladene Gefährt längst aus dem Verkehr gezogen – und Vlads Vater Barnabas wegen gemeingefährlicher Gefährdung des Straßenverkehrs wahrscheinlich gleich mit. Nur gab es hier keine Polizisten. Auch keinen Straßenverkehr. Es gab weit und breit keine Menschenseele. Wo, zur Fledermaus, lag denn dieses dämliche Crailsfelden?

»Achtung, Sie verlassen das erfasste Gebiet!«, quäkte die Stimme des Navis. »Bitte wenden!« Vlad hätte schwören können, dass das Gerät auch schon genervt klang. Vlads Vater, ein schlanker Mann mit blasser Haut, einer aristokratischen Nase und altmodisch zurückgekämmten Haaren, warf dem Navi einen tadelnden Blick zu.

»Diese Straße existiert auf keiner Karte! Bitte wenden!«

Vielleicht nicht die schlechteste Idee, dachte Vlad. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind, Dad? Wir fahren schon ewig durch diesen Wald.«

Barnabas Tepesz schenkte seinem Sohn einen kurzen Seitenblick. »Crailsfelden ist nicht so leicht zu finden, Vlad.« Ein stolzes Lächeln machte sich auf seinen blassen Lippen breit. »Sonst könnte ja jeder kommen.«

Bevor Vlad etwas erwidern konnte, fühlte sich das Navi am Armaturenbrett angesprochen. »Keine Einträge zu Crailsfelden vorhanden«, verkündete die Stimme mit einer Spur von Genugtuung.

»Jetzt hör mal zu, du nörgelnde Navi-Nervensäge«, knurrte Vlads Vater das Navi an, »Crailsfelden ist seit über 700 Jahren der Sitz der berühmten Penner-Akademie! Einer der berühmtesten magischen Schulen der Welt!«

»Tut mir leid. Ich habe Sie nicht verstanden«, erwiderte das Gerät.

Vlad atmete durch und musste an den Morgen vor knapp zwei Wochen denken, als plötzlich dieser Brief mit dem kunstvoll gestalteten Siegel vor der Haustür gelegen hatte. Er hatte sich gewundert, wer mitten in der Nacht Briefe zustellte. Aber sein Vater hatte das fette Siegel auf dem Umschlag hektisch gebrochen, den Inhalt des Briefes in Windeseile überflogen und dann – wortwörtlich – einen Luftsprung vor Freude gemacht. Was, fand Vlad, bei einem über 400 Jahre alten Mann ziemlich albern aussah. Auch wenn sein Vater für sein Alter noch gut in Form war.

»Die Penner wollen dich!«, hatte Barnabas gerufen – was sich in Vlads Ohren jetzt nicht unbedingt wie ein Kompliment anhörte. Sein Vater sah das jedoch anders und platzte seitdem fast vor Stolz. Und damit war Vlads altes Leben (streng genommen sein einziges, denn wie viele Leben konnte ein Dreizehnjähriger schon gehabt haben?) komplett auf den Kopf gestellt worden. Seine Schule, seine Freunde, der Fußballverein, das alte Haus mit dem Antiquitätengeschäft, in dem Vlad aufgewachsen war … all das war jetzt Vergangenheit.

Vlads Vater hatte Hals über Kopf ihren Laden verkauft und in Crailsfelden, dem stolzen Sitz der Penner-Akademie, ein neues Haus gekauft, ohne es überhaupt vorher gesehen zu haben.

So lag Vlads Zukunft nun in einer Stadt, von der er noch nie etwas gehört hatte. Und in einer Schule mit dem wenig verheißungsvollen Namen Penner-Akademie.

Vlad atmete tief durch. Wie so häufig, wenn er nervös oder unsicher war, wanderten seine Finger zu dem blutroten Kristall, den er als Anhänger um seinen Hals trug. Er rieb über die glatte Oberfläche des Kristalls, die sich auf seiner kühlen Haut angenehm warm anfühlte. Wie gewohnt beruhigte es Vlad, diese Wärme zu spüren.

»Dad, was mache ich denn, wenn ich zu schlecht für diese Penner-Akademie bin? So toll sind meine Noten doch gar nicht.«

Das war nicht ganz falsch. In Mathe war Vlad zwar ziemlich gut. In Sport auch. Beides lag seiner Familie … nun ja, es lag wohl im Blut, hätte man sagen können. Aber die restlichen Noten waren eher Durchschnitt plus.

Barnabas schenkte seinem Sohn ein zuversichtliches Lächeln. »Die haben eben dein Potenzial erkannt.« Er nahm die rechte Hand vom Lenker und ballte sie erwartungsvoll zur Faust. »Glaub mir, das wird …«

Vlad musste lächeln und klatschte seine Faust gegen die seines Vaters.

»… das wird super!«, riefen beide gleichzeitig. Barnabas voller Zuversicht – und Vlad mit einem kleinen Zweifel in der Stimme, von dem er hoffte, dass sein Vater ihn nicht heraushören würde.

Vlad blickte wieder auf die vorbeiziehenden Bäume. »Wo liegt denn nun dieses Crailsfelden?«

Barnabas grinste trotz seiner 400 Jahre wie ein Kind.

»Ich fürchte, am Arsch der Welt.«

»Okay! Suche den Arsch der Welt!«, quäkte das Navi voller Tatendrang.

Vlad und Barnabas prusteten vor Lachen, während der Leichenwagen über die Waldstraße rollte und die gespenstischen Schwaden des Abendnebels hinter ihm aufwirbelte.

***

Vlad musste kurz eingenickt sein. Als er die Augen wieder aufschlug, stand der Leichenwagen mitten auf einer uralten Steinbrücke, die sich über einem merkwürdig brodelnden Fluss erstreckte. Das mürrische Quaken eines Frosches und das leise Tickern des abkühlenden Motors waren die einzigen Geräusche.

Vlad blickte verwirrt aus dem Fenster. »Was ist denn? Warum halten wir?«

»Wir müssen uns anmelden«, sagte Barnabas und trommelte mit den Fingern unruhig aufs Lenkrad.

»Bei wem denn? Hier ist doch keiner?« Vlad blickte sich verwundert nach allen Seiten um – und zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich direkt neben seinem Kopf an die Scheibe klopfte. Neben dem Fenster stand ein zerlumpter älterer Mann mit strähnigem Haar, runzligem Gesicht und einer riesigen Nase. Er beugte sich zum Fenster hinunter und starrte Vlad mit durchdringenden Augen an.

Nein, erkannte Vlad, der Mann beugte sich nicht freiwillig zum Wagen herab – es war ein riesiger, unförmiger Buckel auf dem Rücken des Fremden, der ihn zu dieser Haltung zwang.

Der Mann machte eine ungeduldig kreisende Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete. Fenster runter!

Vlad warf seinem Vater einen unsicheren Blick zu, aber Barnabas nickte nur. Vlad kurbelte eilig die Scheibe herunter – und bereute es im gleichen Augenblick. Der Bucklige roch aus dem Mund wie ein toter Fisch, der ein paar Tage in der Sonne gelegen hatte. Oder ein paar Wochen.

Vlad zuckte unwillkürlich zurück, als sich der Fremde tiefer durch das Fenster beugte. »Wohin des Wegs zu später Stund?«, knurrte er. Den modrigen Gestank, der aus dem Mund des Buckligen herausquoll, als Mundgeruch zu bezeichnen, wäre gewesen, als hätte man einen tropischen Hurrikan als laues Lüftchen bezeichnet.

Vlad drehte den Kopf weg und konnte ein Würgen gerade noch unterdrücken.

»Guten Abend, wir sind die Neuen«, sagte Vlads Vater freundlich – der hatte auch gut lächeln, mit einem halben Meter Sicherheitsabstand zum Mundgeruch des Verderbens, dachte Vlad.

»Barnabas und Vlad Tepesz. Wir …«

Der Bucklige schnitt Vlads Vater das Wort ab. »Dooookumente«, knurrte er, als ob er das Wort absichtlich in die Länge ziehen würde, um das Innere des Wagens vollständig mit dem Gestank aus seinem Rachen fluten zu können.

»Äh, sicher … Moment.« Barnabas begann damit, umständlich eine speckige Ledertasche hinter dem Sitz hervorzukramen. Er zog eine uralte Pergamentrolle voller Siegel und Eintragungen heraus und versuchte, sie zu entrollen, was in der Enge des Wagens nicht so einfach war.

Der Bucklige nutzte die Zeit, um sich noch tiefer in den Wagen hineinzulehnen. Mit einem durchdringenden Blick betrachtete er Vlad. Und stutzte.

»Duuuuu bist das also?«

Eine neue Geruchsoffensive. Vlad hielt den Atem an und versuchte gleichzeitig zu sprechen. »Was meinen Sie?«

Der Bucklige zog ein uraltes, in Leder gebundenes Buch aus der Tasche seines zerlumpten Mantels. Mit dicken, schmutzigen Fingern blätterte er es zielsicher auf und begann, daraus zu rezitieren:

»Wenn die Zeit sich rückwärts dreht,

das Unheil hoch am Himmel steht:

Einer wird kommen,

drei werden’s werden,

von Narren sich zu wandeln

in stille Helden,

die dem Teufel entreißen

das Schicksal von Crailsfelden.«

Vlad blickte den Buckligen komplett überrumpelt an. Was zum Teufel wollte der Typ von ihm?!

»Ich hab’s!«

Auf dem Fahrersitz hatte es Vlads Vater endlich geschafft, die Pergamentrolle zu entrollen. Stolz wollte er dem Buckligen die entsprechenden Siegel präsentieren, aber der klappte nur geräuschvoll sein Buch zu, ließ es wieder in der Manteltasche verschwinden und gab mit einer beiläufigen Handbewegung den Weg über die Brücke frei. »Willkommen in Crailsfelden«, sagte er in einem Tonfall, der eher das Gegenteil aussagte. Etwas eingeschnappt knüllte Vlads Vater die Pergamentrolle wieder zusammen und startete den Motor.

»Ja, äh … danke. Schönen Abend noch«, murrte Barnabas und fuhr weiter. Sekunden später hatte der Wagen die Brücke überquert.

Vlad war dankbar für die frische Luft, die durch das offene Fenster in den Wagen strömte. Er blickte über den Außenspiegel auf den buckligen Mann, der auf seiner Brücke stand und ihnen mürrisch und misstrauisch hinterherschaute.

»Was hatte der Typ denn für ein Problem?«, fragte Vlad kopfschüttelnd. Wenn hier alle so seltsam drauf waren, dann gute Nacht.

Barnabas winkte nur ab und lächelte zufrieden. »Keine Ahnung. Vielleicht wird man ein bisschen wunderlich, wenn man tausend Jahre lang ganz allein eine Brücke bewachen muss … aber das ist ja jetzt egal.«

Vor ihnen lichtete sich der Wald und Barnabas deutete auf das altmodische Ortschild vor ihnen. Es zeigte die stilisierte Abbildung eines mittelalterlichen Städtchens. In geschwungener Schrift stand darüber:

Crailsfelden

Einwohner 3611

Der Leichenwagen fuhr daran vorbei, und Vlad hätte schwören können, dass er aus den Augenwinkeln gerade noch sehen konnte, wie die Einwohnerzahl sich ganz von selbst im selben Moment veränderte:

Crailsfelden

Einwohner 3613

»Wir sind da!«, rief Barnabas glücklich und einen Augenblick später stimmte das Navi freudig ein:

»Sie haben den Arsch der Welt erreicht!«

Kapitel zwei

Der Leichenwagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster einer Gasse, die wohl so etwas wie die Hauptstraße von Crailsfelden darstellen sollte. Links und rechts säumten alte Fachwerkgebäude den Weg, die auch in einem Freilichtmuseum hätten stehen können. In der milden Abendsonne war einiges los auf den Straßen und etliche kleine Cafés und Restaurants hatten in froher Erwartung eines warmen Spätsommerabends Tische und Stühle herausgestellt.

Vlad runzelte die Stirn, als ihm im Vorbeifahren die vielen Plakate aufelen, die überall an den gusseisernen Laternenpfählen hingen: Ein eleganter, wenn auch selbst für Crailsfelden altmodisch gekleideter Mann mit einem Ziegenbärtchen lächelte gütig von den Plakaten herab.

»Sonnenfinsternis-Spektakel in Crailsfelden!« stand in großen Lettern auf dem Plakat. »Große Feier auf dem Rathausplatz! Ihr Bürgermeister Louis Ziffer.«

Klar, die Sonnenfinsternis – in seiner alten Schule fand auch ein Fest zu diesem Anlass statt. Vlad hatte sich schon darauf gefreut, aber das war, bevor der Brief von dieser Penner-Akademie ins Haus geflattert war. Auf den Bürgersteigen flanierten gut gelaunte Crailsfeldener über das Kopfsteinpflaster. Ein ganz normaler Spätsommerabend in einer ganz normalen Kleinstadt.

Oder zumindest fast normal: Die wenigen Autos, die ihnen jetzt entgegenkamen, waren ausnahmslos uralte Modelle, die mindestens 50 Jahre oder mehr auf dem Buckel haben mussten und trotzdem aussahen, als wären sie frisch aus der Werkstatt gerollt. Und nicht nur das – auch die Passanten trugen Klamotten, die vielleicht Mitte des letzten Jahrhunderts in Mode waren: Einige der Frauen, die Vlad sah, trugen Röcke und schräg sitzende Kappen, ein paar Männer altmodisch geschnittene Anzüge und Hüte. Und das Abendlicht tauchte die am Wagen vorbeiziehende Stadt in warme, etwas zu strahlende Farben, die Vlad unwillkürlich an die uralten Filme denken ließ, die manchmal an verregneten Sonntagen im Fernsehen liefen.

Ein furchtbarer Gedanke überkam ihn. Vlad zog sein Handy aus der Tasche und blickte auf das Display. Vier Empfangsbalken. Gott sei Dank – das sah hier vielleicht aus wie aus einem Film des letzten Jahrhunderts, aber wenigstens gab es Internet!

In diesem Augenblick sauste direkt vor dem Leichenwagen etwas quer über die Straße. Barnabas, der immer noch fasziniert aus dem Fenster blickte und die wildfremden Passanten im Vorbeifahren mit einem freundlichen Nicken grüßte, sah den Mann auf dem Rad im allerletzten Moment: ein Fahrradkurier mit Helm und einem Rucksack auf dem Rücken. Der Kurier sah alles andere als altmodisch aus und auf seinem modernen Rennrad war er schneller unterwegs als die meisten der gemütlich dahinrollenden Autos.

»Hey!«, rief Barnabas und konnte das Steuer gerade noch herumreißen, um eine Kollision zu vermeiden.

»Sitzt im Leichenwagen und fährt wie ein Henker!«, rief der Fahrradkurier empört. »Was soll das werden? Neue Kunden ranschaffen?!«

Barnabas machte eine entschuldigende Geste und fuhr weiter. Der Leichenwagen rollte am Marktplatz vorbei und Vlads Blick fiel auf den hoch aufragenden Turm in der Mitte des Platzes. Das düstere Gemäuer wirkte, als hätte jemand ein noch viel älteres Bauwerk mitten in das Herz der gemütlichen Altstadt gerammt.

Wie aufs Stichwort schlug die riesige Uhr an der Spitze des Turms an und Vlad konnte den tiefen, dumpfen Nachhall in seinem Bauch spüren.

»Beeindruckend, oder?«

Barnabas beugte sich zu Vlads Seite und blickte an der Steinfassade des Turms hoch. Steinerne Dämonenfiguren – die nannte man wohl Gargoyles – blickten unbeweglich und lauernd auf die Stadt hinab.

»Das Rathaus von Crailsfelden. Es gibt sogar eine Ballade darüber, vom berühmten Heimatdichter Alraun von Götze«, dozierte Barnabas und hob dann seine Stimme an, um das Gedicht vorzutragen. Natürlich auswendig: »Wenn Crailsfeldens Rathaus dreizehn schlägt …«

Vlad hörte gar nicht weiter zu, denn in diesem Augenblick fiel der Schatten des Rathausturms auf den Wagen und verdeckte für einen Moment die Abendsonne. Sofort wurde es kühler, und umso deutlicher spürte Vlad die Wärme, die von seinem Kristallanhänger ausging. Vlad nahm den Blutsplitter in seine Hand. War das eine Sinnestäuschung oder … glühte der Anhänger plötzlich auf?!

»Dad?«

Vlad blickte von dem Kristall zu Barnabas auf. Im selben Augenblick sah er, wie etwas Großes auf den Leichenwagen zuschlingerte.

Der Fahrradkurier!

»Dad! Pass auf!«

Barnabas stieg in die Bremsen. Zentimeter vor dem Kurier kam das Fahrzeug zum Stehen. Der Mann in der Radlerhose stürzte trotzdem zu Boden, und das schmerzhaft tief, denn statt vom Sattel eines modernen Rennrads war er auf einem uralten Hochrad über die Straße geeiert!

Vlad und Barnabas stiegen erschrocken aus dem Wagen. Während Vlads Vater dem fassungslosen Mann wieder auf die Beine half, blickte dieser auf das antike Fortbewegungsmittel, das jetzt auf dem Kopfsteinpflaster lag.

»Mein … mein Fahrrad!«, stammelte der Kurier.

Vlads Vater begutachtete das Hochrad mit einem fachmännischen Nicken. »Hm-hm … ein schönes Stück. Baujahr 1877, würde ich sagen.«

Der Kurier blickte Barnabas fassungslos an, während sich am Straßenrand bereits eine kleine Gruppe von Schaulustigen versammelte. Vlad ging mit gesenktem Kopf zur Rückseite des Leichenwagens, um ein paar kleinere Antiquitäten aufzusammeln, die sich durch den plötzlichen Ruck vom Dach gelöst hatten.

Kaum hatte Vlad sich gebückt, um eine antike kleine Statue aufzuheben, herrschte ihn eine strenge Stimme an: »Was ist denn hier los?!«

Vor Vlad stand ein etwas gedrungener Mann in einer altmodischen Polizeiuniform. Unter seiner Nase prangte ein dicker, schwarzer Walrossschnurrbart, so als hätte er durch die buschigen Augenbrauen noch nicht genug pelzige, horizontale Linien im Gesicht gehabt. Der Polizist blickte Vlad streng von oben herab an. Dabei streckte er seine Brust so weit heraus, dass Vlad das kleine Namensschild an der Uniform des Mannes fast entgegensprang.

»Schnappauf« stand auf dem Schildchen, gefolgt von der wirren Buchstabenkombination ObWchtMst, was wahrscheinlich Oberwachtmeister heißen sollte.

Vlad stand auf und versuchte zu erklären, was er selbst nicht verstand. »Da war dieser Fahrradkurier auf seinem Bike, und plötzlich …«