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Daniel Höra

GEDISST

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe bloomoon, München 2015

© 2015 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Daniel Höra

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/Thinkstock

ISBN eBook 978-3-8458-1293-9

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1263-2

www.bloomoon-verlag.de

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Für Gerald,

ohne den dieses Buch wohl noch immer wie ein verirrter Satellit in der Erdumlaufbahn schweben würde.

1

»Du bist tot, Motherfucker!« Schädels Stimme war laut und schrill und hallte wie ein Schuss zwischen den Mauern der Wohnblöcke wider. Er formte mit seinen Fingern eine Pistole, die er mir an den Kopf hielt.

Schädel war ein Idiot und mein bester Freund. Er war Hip-Hopper, wobei er ständig die großen schwarzen Jungs, ihren Ghetto-Slang, ihr Gangsta-Getue nachmachte. Er guckte zu viel MTV. Der arme Junge war vollkommen verseucht. Manchmal ging er uns ziemlich auf die Nerven mit seiner Masche.

Ich verdrehte die Augen und tat, als ob ich eine Kugel im Kopf hätte. Ich ging in Zeitlupe zu Boden, streckte alle viere von mir und glotzte in den grauen Himmel.

»Ist der fertig, Mann«, hörte ich Marcel sagen. Die Mädchen kicherten. Klar war ich fertig. Ich lag auf der nassen Erde, ließ mich vom Regen bepissen und tat, als ob es mir nichts ausmachte. Ich wusste auch nicht, warum ich manchmal so einen Scheiß machte. Wahrscheinlich wegen der Mädchen.

Kiki und Mandy saßen auf der Lehne der verrotteten Bank und kicherten.

Ich sprang hoch, entsicherte meine imaginäre Uzi und ballerte die Mädels weg. Sie lachten. Kiki zeigte mir einen Vogel. »Irgendwann landest du noch mal im Knast mit deiner Scheiße«, sagte sie.

»Ja, und wenn ich rauskomme, werde ich dich als Erste besuchen«, flüsterte ich mit meiner Psycho-Stimme.

»Ihh! Wie krank«, kreischte Mandy.

Ich stand auf Mandy. Die war irgendwie süß.

Schädel, Marcel und ich standen um die Bank wie dämliche Ochsen um einen Trog und ließen uns von den beiden verarschen, als wüssten wir es nicht besser. Hübsche Mädchen haben eine fiese Ader.

Wir hatten uns wie üblich an der Bank zwischen Block zwei und drei getroffen. Da waren wir meistens. Oder an der Bank zwischen Block vier und fünf, bei den zwei krüppeligen Bäumen. Manchmal, wenn der Wind durch die Blätter pfiff und ich die Augen zumachte, dachte ich tatsächlich, ich wäre im Wald. Irgendwie bescheuert, aber was soll’s? Die beiden Bäumchen erinnerten mich immer an ein altes Ehepaar. Der eine Baum hatte so eklige Knubbel, wie zwei alte Hängetitten.

Klapperdürr standen sie da und sahen aus, als wollten sie uns belauschen. Ich an ihrer Stelle wäre längst ausgerastet. Das ständige Rotzen und unser blödes Gelaber dazu. Hin und wieder wurden sie von einem von uns Jungs angepisst. Schön war das nicht. Aber sonst lief ja nichts.

Normalerweise trafen sich bei der Bank viel mehr Leute. Wir konnten locker hundert Mann zusammenbringen. Alle aus der Platte. Wir waren eine Riesengang.

Aber bei diesem beschissenen Wetter hingen die meisten zu Hause ab und daddelten am Computer oder zogen einen durch oder kippten gerade ein paar Bier. Oder alles gleichzeitig.

»White Riot«, schrie Schädel und trat die letzte heile Strebe aus der Bank. Eine Frau schimpfte aus einem Fenster, Schädel drohte ihr mit der Faust, da verschwand sie.

Vor dem Hip-Hopper hatte er den Fascho gegeben und davor den Punk, aber tief innen drin lag der brave Maik unserer gemeinsamen Kindheit begraben.

Aus Maik war irgendwann Schädel geworden. Schädel, weil er seinen Kopf mit voller Wucht an die Außenwand unserer Platte geknallt hatte. Schuld war die Pulle Cognac, die er von seinem Alten mitgehen ließ. Schädel hatte mit ausgebreiteten Armen wie Jesus am Kreuz dagestanden und verkündet, er würde jetzt und sofort die Wand mit seinem Kopf spalten.

»Aufgepasst, Damen und Herren«, rief er, und noch ehe wir ihn davon abhalten konnten, hatte er seinen Kopf wie einen Glockenklöppel geschwungen und donnernd gegen den Beton geballert. Irgendwie war es ja auch lustig, aber als er wie vom Blitz getroffen dalag, blutend und zuckend, die Augen ins Weiße verdreht, den Mund aufgerissen, wurde uns doch etwas anders.

Sein Schädel war gebrochen und die Hälften hatten sich verschoben, wie Erdplatten nach einem Beben. Aus dem Loch spritzte der rote Saft. Sah irgendwie hell aus und gar nicht so, wie ich gedacht hatte. Eher wie Kirschmarmelade.

»Ich kann sein Gehirn sehen«, hatte Matze aufgeregt geschrien und sich die Hand so affig vor den Mund gehalten wie in einem billigen Horrorfilm.

»Der hat doch gar keins«, hatte irgendwer gesagt. Und wir mussten trotz der Scheiße lachen.

Für ein paar Wochen nannten wir ihn dann »the brain«, bis Rocco sagte, »brain« würde auf Deutsch Schädel heißen, und das wäre doch viel besser. Natürlich heißt »brain« nicht Schädel, aber Rocco war nicht der Hellste, und im Englisch-Unterricht, wenn Frau Schulze-Rohrbach den Unterschied zwischen past perfect und present perfect runterleierte, saß er da und träumte vor sich hin, wobei seine langen Mädchenwimpern aufgeregt flatterten. Wir stießen uns dann immer an und flüsterten: Jetzt hat er wieder einen durchgezogen auf dem Klo. Aber wahrscheinlich stellte er sich nur vor, wie er seinem Alten aufs Maul haute, der jeden Abend dasselbe mit ihm und seiner Mutter machte. So viel zu Rocco.

Wir hatten eben alle unsere Macke.

Schädel war seit seinem Crash Epileptiker und hatte ständig so ein Ding zum Draufbeißen dabei. Manchmal, wenn wir gute Laune hatten, schmissen wir das Ding durch die Gegend und riefen: Hol’s!

Auf Hip-Hop standen wir übrigens alle. Lil Wayne, 50 Cent, Massiv, Bushido. Das war der Soundtrack zu unserem Leben. Zwar waren wir nicht in Amerika in irgendeinem verschissenen Ghetto, wo die Homies an der Ecke stehen und coole Gesten machen, aber wir waren nah dran. Und was sollten wir auch hören? Volksmusik? Arbeiterlieder? Böhse Onkelz waren immer noch angesagt. Und manchmal hörten wir auch den ganzen Nazikram. Irgendwer hatte immer so was dabei. Doitschkurs, Volxsturm oder so. Dann gaben wir uns die volle Dröhnung. Nach ein paar Bier ist das auch egal. Hauptsache, es kracht.

Aber eigentlich war Hip-Hop unser Ding. Auch wenn sich in unserer Clique alles traf: Hip-Hopper, Rechte, Punker, Sprayer, Skins, Skater. Selbst die Normalo-Deppen gehörten irgendwie dazu. Wir wohnten alle in der Platte, das schweißt eben zusammen.

Wir rappten auch selber. Anfangs bei Angie im Keller, bis eines Abends Herr Matzanke auftauchte, mit hektischen Flecken im Gesicht, uns als asoziale Bande beschimpfte und schrie, wir sollten uns verpissen.

Manchmal kam Ronny bei unserem Treffpunkt vorbei. Ronny war der Anführer der Glatzengang. Sie nannten sich »White Boyz« und trugen nur weiße Klamotten: weite weiße Hosen, weiße T-Shirts, weiße Bomber. Nur die Stiefel waren schwarz und poliert, dafür waren die Schnürsenkel weiß. Sie machten einen auf Wehrsportgruppe und harte Jungs. Dabei sahen sie eher wie schwule Matrosen aus.

Ronny war ein ekliger Typ. Er war mindestens schon zwanzig, picklig wie ein Streuselkuchen und wohnte immer noch bei seiner Alten. Er hatte ein Frettchengesicht: schmal und fies. Seine winzigen Augen hockten wie zwei böse Tierchen in ihren Höhlen und lauerten auf Beute. Schädel hing früher mal eine Zeit lang mit den White Boyz rum. Und jedes Mal, wenn Ronny ankam, legte er Schädel den Arm um die Schulter, als wollte er ihn hinter irgendeiner vollgepissten Wand vernaschen. Aber wir bekamen bald raus, dass Ronny mal mit Debbie rumgeknutscht hat. Ausgerechnet Debbie! Was hängte die ihre Zunge in den idiotischen Ronny?

Anfangs fand ich Debbie schlimm. Sie wirkte irgendwie so vernünftig und machte einen auf unnahbar. Aber alles nur Show, sie war irre nett. Irgendein Kerl ihrer Alten wollte ihr mal an die Wäsche gehen, da ist sie zur Polizei. Seitdem verstand sie sich nicht mehr mit ihrer Mutter.

Danach fing sie an, wie irre zu klauen. Debbie war ziemlich tough. Das muss man auch sein, wenn man in der Platte lebt. Du darfst kein Opfer sein. Da kannst du schlau sein, wie du willst. Das nützt dir dann gar nix.

Und hübsch war Debbie, aber das kriegte man erst auf den zweiten Blick mit, weil sie nicht so tussig rumlief. Sie war mehr der sportliche Typ. Immer Trainingsjacke, Jeans und Turnschuhe. Und immer einen Pferdeschwanz, der lustig wippte, wenn sie die Straße runterkam. Und sie machte nie irgendwelche Moden mit. Da war sie unbestechlich. Also dass ausgerechnet Debbie mit dieser hässlichen Vogelscheuche Ronny … Na ja, jeder hat mal einen schwachen Moment.

Ronny brachte uns immer Bier mit. Dann öffnete er die Flaschen mit seinen fauligen Zähnen und quatschte uns die Ohren voll. Über Volk und Vaterland und über die Ausländer. Dabei waren in Schwedt kaum welche. Nur ein paar Fidschis, bei denen Ronny seine billigen Zigaretten kaufte. Und Volk gab es in Schwedt immer weniger, weil die Leute abhauten. Es gab ja nichts. Keine Arbeit, kein Vergnügen. Schwedt war schon fast eine Geisterstadt. Nur die Alten und die Deppen spukten da noch rum. Und wir.

Das Vaterland? Das interessiert doch keinen mehr, sagte mein Alter. Die Welt ist überall gleich beschissen! Das war seine Meinung. Wenn er mal in Fahrt kam, faselte er von feindlicher Übernahme aus dem Westen. Die reichen Wessis hätten die armen Ossis gekauft wie einen Sack Kartoffeln. »Die ham uns doch nach Strich und Faden verarscht«, zeterte er.

»Vaterland! Ha! Vater Staat, wa? Alles Beschiss! Auch wenn die DDR kleiner war«, schimpfte der Alte. »Dafür hatte man auch mehr Durchblick. Die Wessis geben uns die Kohle doch nur, damit wir die Schnauze halten und nicht aufmucken. Und immer schön Geld ausgeben, um die Maschine am Laufen zu halten. Scheiß-Kapitalisten! Im Osten gab’s zwar nix zu kaufen, aber wenigstens hatte jeder seine Arbeit. Und Ansehen und Würde. Heute bist du doch nur noch der letzte Arsch. Hör doch auf …« Er winkte ab.

»Und die Häuser waren auch in einem besseren Zustand.«

Das kam regelmäßig am Ende. Das war wie das Amen in der Kirche. Vorher durfte keiner aufstehen. Es machte den Alten fertig, dass vor seinen Augen alles den Bach runterging.

Alles bröckelte. Nicht nur der Beton, auch die Nerven des Alten. Aber was wusste ich schon, und es war mir auch egal. Ich hatte meine eigenen Probleme. Der Alte lag nur noch zeternd auf dem alten Sofa und schwang große Reden. Zwischendurch nahm er einen Schluck Bier und schnappte nach Luft.

Mama war rechtzeitig gestorben, die musste das wenigstens nicht mehr mitmachen.

»Selbst das Fernsehprogramm haben die Wessis in der Hand«, laberte der Alte vor sich hin, die Fernbedienung in der einen Hand, die andere drohend zur Faust geballt. »Gibt nur noch Scheiße.«

Dabei gab’s in der DDR nur zwei Sender. Hatte er das vergessen?

Schimpfte der Alte mal nicht auf Politik oder Glotze, war’s was anderes.

Arbeitslosigkeit und Langeweile hatten den Alten immer mehr absacken lassen. Seit mindestens 15 Jahren hatte er keinen Betrieb mehr von innen gesehen.

Früher war er im Chemiekombinat Ingenieur, mit großer Kohle und großem Auto. Jetzt war alles ein paar Nummern kleiner. Nur die große Fresse war geblieben.

Ich verbrachte möglichst wenig Zeit zu Hause und war meist nur zum Schlafen da. Lieber hing ich mit Schädel rum und Marcel und Ratte und Kiki – der harte Kern unserer Gang.

Wenn wir uns nicht an einer unserer Bänke oder an der Tanke trafen, dann trieben wir uns im Center rum. So einem überdachten Paradies für Menschen mit Kohle. In der Mitte plätscherte ein Brunnen, da saßen wir dann und glotzten den Leuten nach. Wir klauten wie die Blöden, schnorrten Zigaretten, und wenn uns danach war, zogen wir einen ab. Jacke, Handy, Zigaretten, Geld, I-Pod. Was man so brauchte zum Überleben. Einem von diesen Losern hatten wir sogar mal die Turnschuhe abgezockt. Der ist heulend auf nackten Füßen abgedackelt.

Wir waren gut im Abziehen. Aber man musste aufpassen wegen der Wachleute. Die hatten sich auf uns eingeschossen. Meistens schmissen sie uns schon raus, wenn sie uns nur sahen.

Einer war aber ganz nett und quatschte mit uns und gab uns Zigaretten aus. Wenn der da war, konnten wir uns sogar benehmen.

Wir gingen meistens nach der Schule ins Center. Manchmal auch vorher. Manchmal mittendrin und manchmal auch stattdessen. Man lernt ja fürs Leben, heißt es immer. Jedenfalls lernten wir im Center mehr als in der Schule. Und für welches Leben auch? Was blieb uns denn, außer rumzuhängen und darauf zu warten, dass etwas passierte.

Meistens passierte ja nichts, aber in meinem Fall war das anders. Auf einmal war ich in einer ziemlich schrägen Geschichte drin, über die ich null Kontrolle hatte. Und das ist wirklich übel, wenn du auf einmal den Deppen für die anderen gibst.

Aber wie auch immer, es war eine richtige Geschichte mit Hauptdarstellern, Nebendarstellern und Statisten. Nur einen Regisseur gab es nicht. Es sei denn, man glaubt an den lieben Gott. Aber ich glaube eher, dass Schwedt nur ein winziger Pickel an seinem Arsch ist. Gott hat andere Sorgen, als sich um diese abgefuckte Stadt zu kümmern.

Der Hauptdarsteller in diesem kleinen Drama war ich selber. Leider kein richtiger Star. In Schwedt gab es nur das ganz normale Leben, da wurden keine Stars gemacht.

Und es gab jede Menge Plattenbauten, mit blinden Fenstern, in denen sich der Irrsinn spiegelte. Viele waren schon leer und warteten auf den Abriss.

In Schwedt gab es eine verlorene Fußgängerzone mit einem verrotteten Brunnen, auf dem die Tauben nisteten und dessen Farbe unter der ganzen Scheiße nur noch zu erraten war. Und es gab die Tanke, vor der sich freitagabends immer die Racer trafen, um mit ihren aufgemotzten Karren Rennen gegeneinander zu fahren. Oder um mit durchdrehenden Reifen vor den Bullen zu flüchten.

Hätte ich unser Leben zeichnen müssen, hätte ich es grau gemalt. Okay, vielleicht nicht nur grau. Ich hätte auch Schwarz genommen und etwas Braun.

Alles klar? Ich heiße Alex. Aber das ist immer noch besser als Schädel. Oder Ronny. Oder Rocco.

2

Es fing damit an, dass ich von meiner Oma zurückkam, die auch bei uns in der Siedlung wohnte. Ich ging oft zum Mittagessen bei ihr vorbei. Sie war uralt. Bestimmt schon sechzig, aber sonst ganz okay. Und ihr Essen war nicht übel.

Wenn sie mich ausfragte, wie es in der Schule war, erzählte ich ihr irgendeinen Blödsinn und dachte mir Geschichten aus über irgendwelche Leute. Oma dachte sich nichts dabei, sie hörte eh schon wieder weg, wenn ich loslegte.

»Dir kann man sowieso nichts glauben, du bist ein richtiger Geschichtenerzähler«, sagte sie kopfschüttelnd.

Einmal habe ich ihr erzählt, dass in unserer Schule einer Amok gelaufen ist und acht Lehrer und drei Schüler erschossen hat, darunter auch meinen Bruder Thomas. Bevor ich mit meiner Story zu Ende war, verschwand sie in die Küche und fragte, ob ich was trinken will. Wahrscheinlich war ich aufgeflogen, weil ich gar keinen Bruder namens Thomas hatte. Und nicht nur das, ich habe überhaupt keinen Bruder. Nur eine Schwester. Nora! Die hatte einen Freund, vor dem man schreiend weglaufen wollte. Dennis! So ein richtiger Schlägertyp mit zusammengewachsenen Augenbrauen.

Aber ich wollte eigentlich von Frau Neuhaus erzählen. Mit der fing die Geschichte nämlich an. Um drei Uhr nachmittags hatte eine Nachbarin sie halb totgeschlagen in ihrer Wohnung gefunden, und eine halbe Stunde später standen schon die Cops bei uns auf der Matte. Beachtlich, wo die sonst immer so lange brauchten. Besonders wenn sie zu uns in die Siedlung mussten.

Um vier Uhr war ich schon mit dem Alten auf der Polizeiwache. Der Bulle, der uns gegenübersaß, machte einen auf väterlich. So ein ältlicher Cowboy-Typ, in verwaschenen Jeans. Etwas angeranzt. Total daneben. Seine Wangen hingen runter wie bei einem alten Köter.

»Mein Name ist Otter. Otter, wie das gleichnamige Tier«, sagte er vollkommen ernst. Ich fasste es nicht, was für ein Verlierer. Mit solchen Bullen gewinnt ihr nie, dachte ich.

»Jemand hat gesehen, wie du mit Frau Neuhaus ins Haus gegangen bist«, begann Otter ohne Umweg und spitzte die Lippen. Die Augen vom Alten wurden immer größer und sein Mund ging auf und zu, wie bei einem, der gerade absäuft.

Ich sagte Otter, dass ich der alten Dame nur die Tasche getragen hätte, sonst nichts. Ich kam mir vor wie in einem Film. Das war schon abgefahren.

»Und warum hast du ihr die Tasche getragen?« Otter ließ nicht locker.

»Na ja, nur so«, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein. Ich war eigentlich nicht so der Taschenträgertyp. Das wusste der Alte auch und sah mich scharf an.

»Wie war das denn genau?«, fragte Otter schleppend und malte Männchen aufs Papier.

Ein richtiger Profi, dachte ich. Jetzt kocht er mich weich.

Ich blieb ruhig. Taschetragen war unsereinem ja nicht verboten. Noch nicht, zumindest.

Aber Otter hatte sich festgebissen mit seinen Nagezähnchen.

»Erzähl doch mal. Hast du Frau Neuhaus angeboten, ihr die Tasche hochzutragen?«

Du tickst wohl nicht ganz sauber, dachte ich. Ich schleppe den Leuten doch nicht aus Langeweile ihre Taschen hoch.

»Hat sie dich darum gebeten?«, wollte er wissen.

»Ja, genau«, sagte ich.

Ich hatte eben eine hilfsbereite Ader, die pochte und pochte, und dann kam jemand an und zapfte ein bisschen Sozialsaft ab.

»Ja und dann?« Otter verzog den Mund zu einer Art verständnisvollem Lächeln, sah dabei aber eher aus wie ein Schlaganfallopfer. Mein Opa hatte so einen Hirnkasper gehabt, und danach war seine linke Hälfte tot. Vom Scheitel bis zur Sohle. Er brachte auch nur noch halbe Wörter raus. Echt! Nur in der rechten Seite war noch Leben. Die andere war völlig tot. ’ne halbe Leiche. Otter konnte da locker mithalten.

Als ich anfing zu erzählen, lief das Ganze noch mal wie ein Film in meinem Kopf ab. Ich sah Frau Neuhaus vor mir, wie sie keuchend auf dem Bürgersteig stand. Zwei volle Kunstledertaschen vor sich auf dem Boden, von denen eine gefährlich zur Seite schwankte und ausgerechnet in dem Moment umfiel, als ich vorbeiging. Äpfel, Margarine, Graubrot, Milch, der ganze Kram kullerte mir vor die Füße. Frau Neuhaus wischte sich mit einem Taschentuch über die welke Stirn.

»Na, Frau Neuhaus, schwer geladen, was?«, fragte ich und half ihr, den Kram einzuräumen. Da laberte sie schon los: »Alex, die Taschen sind wirklich schwer. Kannst du sie mir nach oben tragen?«

Ich guckte mich um, ob jemand von meiner Gang in der Nähe war, schnappte mir die Dinger und war schon im Hausflur verschwunden, bevor Frau Neuhaus Piep sagen konnte. Ich hörte sie hinter mir schnaufen wie eine kaputte Maschine.

»Sonst nichts?« Otter versuchte, mich mit seinem Blick aufzuspießen, als wäre ich ein Käfer oder so was. »Das war alles? Du bist nicht mit in die Wohnung?«

Ich schüttelte den Kopf. »Genau so war es.« Fast hätte ich geschworen, wie in den amerikanischen Gerichtsfilmen.

»Du warst sicher nicht in ihrer Wohnung an diesem Tag?«

»Was sollte ich denn auf der Greisenstation?«, fragte ich ihn. »Auf die Mischung aus Alteleutepisse und Moder und altem Essen hatte ich keine Lust. Das kam einem schon aus der offenen Wohnungstür entgegen.«

»Du bleibst dabei, du warst nicht in der Wohnung?«, fragte Otter und legte den Kopf schief wie ein gutmütiger Köter, der darauf wartet, hinter den Ohren gekrault zu werden.

Ich blieb dabei und fühlte mich wie die Jungs aus dem Ghetto. 50 Cent hätte garantiert nicht rumgewinselt an meiner Stelle.

»Du musst hier nicht den harten Gangster spielen«, bellte Otter, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. »Ich hab schon ganz andere Typen hier gehabt. Nach einer Weile haben die angefangen zu flennen und nach ihrer Mutti gerufen.«

»Meine Mutter ist tot«, sagte ich und sah ihn eiskalt an.

»Schon gut«, sagte er, und ich merkte, dass ihm seine Bemerkung leidtat. »Sag mir einfach die Wahrheit.«

»Ich habe die Taschen vor ihrer Tür abgestellt und bin wieder runter. So war es. Nicht mehr und nicht weniger.«

Er brachte wieder sein Hundelächeln. »Kennst du die Nachbarin von Frau Neuhaus?«

»Die olle Müller? Das größte Lästermaul der Siedlung?« Ich nickte.

»Sie sagt, du wärst zu Frau Neuhaus in die Wohnung.«

Der Alte keuchte neben mir. Otters Hiebe hatten ihn getroffen, er würde jeden Moment zu Boden zu gehen.

»Die lügt doch. Die erzählt dauernd so einen Müll.«

Otter glotzte mir ein paar Sekunden in die Augen.

»Da finden sie nichts«, sagte ich, worauf er rot wurde und mit zusammengebissenen Zähnen sagte: »Frau Müller ist in ärztlicher Behandlung. Sie hat einen Zusammenbruch erlitten. Aber das interessiert so einen harten Burschen wie dich natürlich nicht.«

»Was kann ich dafür?«

»So einiges«, murmelte er. »Frau Neuhaus telefoniert jeden Tag mit ihrer Tochter. Und da ihre Mutter heute nicht ans Telefon gegangen ist, hat die Tochter bei Frau Müller angerufen und sie gebeten, mal nachzusehen. Frau Müller hat einen Schlüssel zur Wohnung.«

Ich hob die Schultern. Na wennschon?

»Und da hat sie dann Frau Neuhaus gefunden. Halb tot in ihrem Blut.«

Ich wusste genau, was Otter wollte: mich weichkochen. »Es gibt aber noch weitere Hinweise auf deine Anwesenheit in der Wohnung. Zum Beispiel das hier.«

Er fischte eine zerknüllte Serviette aus seiner Schreibtischschublade und warf sie auf den Tisch. Ein Stück Apfelkuchen kullerte raus, und ein paar Krümel fielen mir auf die Hose.

»Und jetzt? Find darauf mal eine Ausrede, du Profi.«

Verdammt, der Kuchen! Ich hatte ihn in die Jacke gesteckt, weil ich ihn unten wegschmeißen wollte. Aber dann hatte ich es leider vergessen.

Die Bullen mussten das Stück in meiner Tasche gefunden haben, die ich draußen aufgehängt hatte.

Ich kratzte an meiner Nase, um Zeit zu schinden. Kannte ich aus dem Kino.

»Na ja, sie hat mir was von ihrem Kuchen aufgeschwatzt«, sagte ich schließlich.

Otter sah mich scharf an. Wen willst du beißen, du zahnloser alter Köter, dachte ich und suchte krampfhaft nach einer guten Ausrede.

»Ich mag aber keinen Apfelkuchen«, sagte ich.

»Deswegen sind wir nicht hier«, giftete Otter.

»Die Ärzte sagen, es wäre ein Wunder, wenn Frau Neuhaus wieder zu sich kommt. Dreifacher Schädelbruch. Und falls sie doch aufwacht, wird sie ein Pflegefall sein.«

Ich drehte die Handflächen nach oben. Was sollte ich sagen? Klar tat sie mir leid, aber davon würde es ihr nicht besser gehen. Sie war eine zähe alte Krähe, sie würde es schon schaffen, da war ich sicher.

»Aber es ist ja nicht nur der Kuchen in deiner Jacke. Da war noch was«, meldete sich Otter wieder.

Mann, ging der mir auf den Sack. Er richtete sich auf und zwinkerte mir siegessicher zu. »Hier«, sagte er und hielt einen zerknitterten Fünfzigeuroschein in die Höhe. »Was ist das wohl?«

»Das ist Geld. Man benutzt es, um Dinge zu bezahlen«, sagte ich und versuchte, möglichst gelassen zu klingen, während mir glühende Schnecken langsam die Magenwände hochkrochen.

»Woher kommt der denn?«

Ich suchte nach einer Antwort.

»Na? Da fällt dir nichts drauf ein. Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Wie kommst du zu dem Geld?«, bohrte Otter weiter.

»Ist mein Taschengeld. Hab ich gespart.«

»Nur komisch, dass dein Schein dieselbe Seriennummer hat wie der von Frau Neuhaus. Findest du es nicht auch ziemlich pfiffig von der alten Frau, dass sie sich die Seriennummer von allen Scheinen, die sie von der Bank holt, aufschreibt? Das raten wir übrigens allen alten Leuten. Sollten sie mal überfallen werden, kann man auf diese Weise den Täter schneller ermitteln.«

Otter schüttelte müde den Kopf. Ich konnte es in seinem Kopf regelrecht rattern hören, wie er dachte: Die Welt ist schlecht und ich nur ein kleiner Bulle, der mit bloßen Händen die Scheiße wegschaufeln muss, die mir die Ärsche täglich vorsetzen.

»Und was den Schmuck von Frau Neuhaus angeht, der ist bekannt. Jeder Hehler in der Stadt wird es ablehnen, den zu kaufen. Viel zu heiß. Übrigens, auf das Glas Apfelsaft in Frau Neuhaus’ Küche muss ich wohl nicht gesondert eingehen. Das Glas ist im Labor und wird gerade untersucht. Du weißt ja, was die moderne Technik alles kann. Nur ein bisschen Speichel von dir oder ein Haar, und schon wissen unsere Experten, ob du daraus getrunken hast.«

Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt.

Neben mir röchelte es verdächtig. Der Alte! Ich dachte, jetzt bricht er zusammen, aber zu meiner Überraschung sprang er plötzlich auf wie eine gespannte Feder, ballte die Fäuste und schwenkte die Arme so komisch, als wollte er Otter zum Boxkampf rausfordern.

»Wollen Sie meinem Jungen unterstellen, dass er was mit dem Überfall auf Frau Neuhaus zu tun hat?«, krächzte der Alte wie ein heiserer Rabe.

Otter fiel die Kinnlade runter, damit hatte er nicht gerechnet.

»Ihr Sohn war unbestreitbar in der Wohnung von Frau Neuhaus. Und er verstrickt sich in Widersprüche. Außerdem haben wir einen Zeugen. Und er hat einen Geldschein in der Tasche, der zweifellos von Frau Neuhaus stammt. Reicht das vorläufig?« Er redete mit dem Alten wie mit einem Idioten.

»Jawoll! Das reicht! Und wie!« Der Alte schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte wie ein Löwe: »Aus meiner Sippe ist keiner kriminell. Ich lege für jeden Einzelnen die Hand ins Feuer.« Wenn er sich aufregte, hatte er immer eine feuchte Aussprache. Ich sah fasziniert einem Spuckebläschen nach, das direkt vor Otter landete.

Nach seiner Ansprache sank der Alte erschöpft auf seinen Stuhl und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Holla! Nicht schlecht, der Alte, dachte ich. Ich betrachtete ihn im Profil, seine Unterlippe hing etwas herunter, aber sonst sah er ziemlich energisch aus.

Otter sah ihn mitleidig an. »Niemand aus Ihrer Sippe ist kriminell, Herr Balzer? Habe ich Sie da richtig verstanden?« Er wedelte mit einem Pappordner rum, der schon die ganze Zeit auf seinem Tisch gelegen hatte. »Wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.« Er räusperte sich: »Alexander Balzer, genannt Alex, 14 Jahre, geboren in Schwedt.

Vater: Jens Balzer, Elektroingenieur, verwitwet. Die aktenkundige Karriere Ihres Sohnes begann vor vier Jahren: Diebstahl. Zwei Monate später: Diebstahl. Fünf Monate später: Diebstahl. Dann war ein Jahr Ruhe. Dann erneut Diebstahl. Und hier kommt dann was Neues: Körperverletzung. Das geht dann so weiter. Nötigung. Diebstahl. Bedrohung. Tätlicher Angriff.« Er schlug die Akte zu.

»Das reicht wohl fürs Erste. Ich kann auch aus Ihrer Akte zitieren, Herr Balzer. Da wären: Fahren unter Alkoholeinfluss, Fahren ohne Fahrerlaubnis und dann auch noch eine schwere Körperverletzung.«

»Der Kerl hat doch angefangen«, schrie der Alte und wedelte aufgeregt mit der Hand. Ein untrügliches Zeichen, dass er dringend ein Bier brauchte. »Mein Sohn würde niemals eine alte, wehrlose Frau überfallen. Dazu hat der gar nicht die Nerven.« Er sprang auf.

»So, jetzt können wir ja wohl nach Hause gehen?« Der Alte riss mich am Arm hoch.

»Das hat doch keinen Sinn, Herr Balzer«, rief Otter und stand ebenfalls auf. »So kommen wir doch nicht weiter. Setzen Sie sich bitte wieder. Alex ist strafmündig. Er wird jetzt dem Staatsanwalt vorgeführt und anschließend dem Richter. Und der wird entscheiden, ob Sie Ihren Sohn mit nach Hause nehmen können. Aber ehrlich gesagt, ich bezweifle das. Es gibt genug Beweise für seine Täterschaft.«

»Er ist doch noch ein Kind«, grummelte der Alte. »Sie können ihn nicht einfach einsperren. Das sind Stasi-Methoden. Das haben wir in der DDR lange genug erlebt. Repressalien und Gängeleien von oben.«

Mann, der Alte war schwer in Fahrt. Otter winkte ab.

»Ich nehme meinen Sohn mit nach Hause, ob Ihnen das passt oder nicht. Unterhalten können Sie sich mit meinem Rechtsanwalt.«

Der Alte hat einen Rechtsanwalt?, dachte ich und war ziemlich baff.

»Ihr Anwalt wird Ihnen auch nichts anderes sagen, Herr Balzer.«

»Aber er war es nicht.« Der Alte war richtig rührend.

»Herr Balzer, ich habe Ihnen doch bereits erklärt, wie das läuft. Ich kann da gar nichts machen. Das entscheidet der Richter. Vielleicht lässt er Ihren Jungen bis zur Verhandlung auf freiem Fuß. Die Gerichte sind überlastet, solche Jungs wie Ihren Alex gibt es mehr als genug. Wir ziehen uns da gerade eine neue Generation Verbrecher ran. Polizei, Justiz, Elternhaus, Schule. Alle sind überfordert. Wir gehen schwierigen Zeiten entgegen.« Otter stand auf und sah mich aus seinen Triefaugen traurig an.

Damit war das Gespräch beendet. Zwei uniformierte Büttel nahmen mich in ihre Mitte, Otter schlurfte voran, der Alte hinterher. Mir rutschte doch tatsächlich das Herz ein bisschen in die Hose. Damit hatte ich nicht gerechnet. Reiß dich zusammen, dachte ich. Du bist doch kein Opfer. Vor der Tür des Staatsanwalts drehte sich Otter um und verschwand grußlos.

Das Büro vom Staatsanwalt war vollkommen kahl. Nichts Persönliches, nicht mal ein Foto seiner Familie. Der Staatsanwalt selbst wirkte wie ein Roboter. Und dazu hatte er auch noch eine blecherne Stimme. Er kam gleich zur Sache: »Man hat dich gesehen, du warst in der Wohnung, der Kuchen, das Geld, deine Vorstrafen …«

Die Sätze schwirrten mir im Kopf herum. Zwischendurch sagte ich meinen Spruch auf: »Ich war es nicht.« Aber das prallte an ihm ab.

Der Alte ließ seinen Kopf hängen und war stumm. Ich wünschte, ich könnte ihm das ersparen. Hilfe konnte ich sowieso nicht mehr von ihm erwarten, er hatte bei Otter alles gegeben. Jetzt war er fertig.