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Barbara Beuys erzählt spannend und kenntnisreich das ungewöhnliche Leben einer Frau im 17. Jahrhundert, die selbstbewusst als Künstlerin Pionierarbeit in den Naturwissenschaften leistete. Ihre Leidenschaft für Raupen und deren Verwandlung in Schmetterlinge führte sie 1699 bis in den tropischen Urwald von Südamerika.

 Mit ihrem Buch Der Raupen wunderbare Verwandlung gehört Maria Sibylla Merian zu den Begründern der modernen Insektenkunde. Fünf Jahre lebte sie in einer radikalen christlichen Kommune in Holland, trennte sich von ihrem Mann und zog mit ihren Töchtern nach Amsterdam. Dort entstanden im Merian-Studio mit ihren zwei Töchtern Zeichnungen von Blumen, Insekten und Früchten, die bei Sammlern in ganz Europa begehrt waren. Die Reise der Zweiundfünfzigjährigen in die niederländische Kolonie Surinam in Südamerika zur Erforschung der tropischen Inselwelt ist ohne Vorbild. Ihr Buch über die Surinamesischen Insekten machte sie endgültig berühmt.

 

Barbara Beuys, geboren 1943, promovierte Historikerin, arbeitete als Redakteurin beim Stern und bei der ZEIT und veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter große Biographien über Annette von Droste-Hülshoff, Hildegard von Bingen, Paula Modersohn-Becker und Sophie Scholl. Barbara Beuys lebt in Köln.

 

 

BARBARA BEUYS

Maria
Sibylla
Merian

Künstlerin ‐ Forscherin ‐ Geschäftsfrau

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4480.

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2016

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagabbildungen: Bergian Library, Stockholm University (Maria Sibylla Merian);

Bridgeman Images, Berlin (Passiflora Laurifolia)

 

eISBN 978-3-458-74932-5

www.insel-verlag.de

 

 




Für Arthur Marie,
geboren am 15. Oktober 2015 in Antwerpen

INHALTSVERZEICHNIS

 1. Die Patchworkfamilie. Ein weibliches Merian-Talent wird früh gefördert

 2. Frankfurt am Main: Die Minderheit der reformierten Flüchtlinge bringt Wohlstand, internationales Flair und fördert starke Persönlichkeiten

 3. Der Anfang ist gemacht: Malen und Forschen

 4. Als junge berufstätige Ehefrau und Mutter in Nürnberg. 1675: Das Erste Blumenbuch erscheint

 5. 1679: Das »Raupenbuch« – eine Pionierleistung der Naturforschung, von klugen Männern gefördert

 6. Die Merian-Familie als religiöse Außenseiter

 7. 1680: Das Neue Blumenbuch und der gelungene Wettstreit zwischen Kunst und Natur

 8. Wieder heimisch in Frankfurt am Main. 1683: Das »Zweite Raupenbuch« und mehrere Paukenschläge

 9. Entscheidung für die »Auserwählten« in Holland. Wofür stehen die Labadisten und Anna Maria van Schurman, ihre prominenteste Wortführerin?

10. Das Ende einer Ehe. Ein Herz aus Eis?

11. 1686-1691: In Wieuwerd geht es weiter mit Forschen, Malen und Sezieren

12. 1691-1699: Erfolgreich in Amsterdam

13. 1699-1701: Indianer und schwarze Sklaven sind ihre Helfer im Tropenwald von Surinam

14. 1701-1705: Vorbereitungen für einen wissenschaftlichen Prachtband, den es noch nie gegeben hat

15. 1705: Metamorphosis Insectorum Surinamensium Oder Verwandlung der Surinamesischen Insekten

16. 1706-1717: Zurück zu Europas Raupen. Die letzten zwei Lebensjahre im Rollstuhl

Literaturhinweise

Personenregister

Bildnachweis

1. Die Patchworkfamilie. Ein weibliches Merian-Talent wird früh gefördert

Leben und Tod lösten einander in schnellem Takt ab, nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten.

1645: Am 5. Mai stirbt in Frankfurt im Alter von siebenundvierzig Jahren Maria Magdalena Merian, geborene de Bry. Achtundzwanzig Jahre war sie mit dem Verleger und Kupferstecher Matthäus Merian dem Älteren verheiratet und hatte acht Kinder geboren, von denen noch sechs leben. Nur drei Tage nach dem Tod seiner Frau betrauert der Vater auch den Tod seiner ältesten Tochter Susanna Barbara; sie wurde sechsundzwanzig Jahre alt.

1646: Am 27. Januar heiratet der zweiundfünfzigjährige Witwer Matthäus Merian in zweiter Ehe Johanna Sibylla Heimy (auch Heim oder Heimius, man nahm es damals nicht so genau mit den Schreibweisen); sie ist um das Jahr 1620 geboren. Dem angesehenen Frankfurter Bürger wird wegen »seines Leibes Unpässlichkeit und hohem Alter« von der lutherischen Geistlichkeit, wenn auch widerstrebend, eine »Privat-Copulation« in seinem Haus zugestanden.

1647: Am 2. April bringt Johanna Sibylla Merian eine Tochter zur Welt, die am 4. April auf den Namen Maria Sibylla Merian getauft wird. Mit der Familie leben noch zwei Kinder aus der ersten Ehe des Vaters, der zwölf Jahre alte Joachim, er geht aufs Gymnasium, und die sechzehnjährige Maria Magdalena. Die anderen drei Halbgeschwister der kleinen Maria Sibylla wohnen aufgrund von Heirat oder Berufstätigkeit nicht mehr im Frankfurter Elternhaus.

1649: Am 27. Mai wird dem Ehepaar Johanna Sibylla und Matthäus Merian ein zweites Kind geboren, Johann Maximilian.

1650: Am 19. Juni stirbt Matthäus Merian, sechsundfünfzig Jahre alt, im benachbarten Bad Schwalbach, wo er sich, wie schon seit einigen Jahren, bei einer Sommer-Kur von den Strapazen seines arbeitsintensiven Berufslebens erholt hat. Im August wird seine Witwe Johanna Sibylla mit den beiden kleinen Kindern von den Erben ausgezahlt, und die beiden Söhne aus seiner ersten Ehe, der Maler Matthäus Merian der Jüngere und der Kupferstecher Caspar Merian, übernehmen das international angesehene väterliche Verlags- und Druckhaus in Frankfurt am Main.

1651: Am 5. August heiratet die Witwe Johanna Sibylla Merian in Frankfurt den verwitweten Maler Jacob Marrel. Eine Patchwork-Familie entsteht: Johanna Sibylla bringt zwei, Jacob Marrel drei Kinder mit in die Ehe.

1651: Am 1. Dezember stirbt Johann Maximilian Merian, Maria Sibyllas kleiner Bruder. Auch die beiden gemeinsamen Kinder von Johanna Sibylla und Jacob Marrel, die 1654 und 1656 geboren werden, überleben das Säuglingsalter nicht.

Das Auf und Ab dieser Chronologie spiegelt die Erfahrungen und Eindrücke, die Maria Sibylla Merian in ihren ersten Lebensjahren aufnimmt. Da ist ein Vater, der wieder verschwindet, kaum dass er Konturen gewonnen hat. Da tauchen plötzlich zwei junge Männer auf, Matthäus und Caspar Merian, zwei Brüder, die ihr fremd sind, weil sie kaum noch ins Frankfurter Elternhaus gekommen sind. Da verlässt sie mit der Mutter und dem Säugling Johann Maximilian ihren Bruder Joachim und das Haus, in dem sie bisher zusammengelebt haben. (Maria Magdalena Merian, die Halbschwester, hatte sich inzwischen nach Augsburg verheiratet.) Und dann gibt es an der Seite der Mutter einen neuen Mann und neue Geschwister, neue Spielgefährten, mit denen Maria Sibylla nun den Alltag teilt: Sara acht, Franciscus sieben und Fredericus drei Jahre alt.

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1. Als der berühmte Verleger und Kupferstecher Matthäus Merian der Ältere 1650 stirbt, ist seine Tochter Maria Sibylla drei Jahre alt.

Die Vierjährige erfährt das Leben als Kommen und Gehen, alles ist in Bewegung. Bisher unbekannte Menschen sitzen um den Tisch im neuen Zuhause. Werden sie bleiben? Was Maria Sibylla den Gewöhnungsprozess erleichtert: Bald entwickelt sich zwischen Jacob Marrel, dem neuen Familienoberhaupt, und der kleinen Tochter des berühmten Matthäus Merian eine vertrauensvolle Beziehung. Der Maler erkennt, dass Maria Sibylla das künstlerische Talent ihres Vaters geerbt hat; er fördert und ermutigt die Stieftochter in einem Tun, das für sie zur Konstante in der Unsicherheit ringsum wird. Jacob Marrels Unterstützung ist umso bemerkenswerter, als Maria Sibylla Merians Halbbruder Matthäus Merian der Jüngere die zweite Frau des verstorbenen Vaters und ihren neuen Ehemann äußerst abschätzig behandelt.

Als Matthäus Merian der Ältere im Juni 1650 starb, war sein Sohn Matthäus, 1621 geboren und inzwischen als Maler zu einigem Ruhm gekommen, auf dem Weg ins Hauptquartier der Schwedischen Armee in Wismar an der Ostsee. Dort warteten hohe Generäle und Prinz Carl Gustav, der zukünftige König, um sich von dem Frankfurter Künstler porträtieren zu lassen. Die hohen Herren verzichteten für diesmal auf seine Dienste, erlaubten die sofortige Rückreise und spendeten zweihundert Dukaten nebst einer goldenen Kette.

In seiner Autobiografie schreibt Matthäus Merian der Jüngere später, die Schweden beklagten »meines Vatters sel. Dott und rühmten seinen Fleiß, mich ermahnendte, ich sollte in dessen Fußstapfen tretten«. Gemeint war damit vor allem das Theatrum Europaeum, dessen kundige Fortsetzungsbände über Europas Geschichte der ältere Merian mit eindringlichen Kupferstichen erfolgreich herausgegeben hatte. Als er im August 1650 in Frankfurt ankam, traf Matthäus Merian der Jüngere nach den Worten seiner Autobiografie im Vaterhaus »alles im betrübten Standt« an. Es seien »lauter Brüder und Schwestern mit einer Stiefmutter vorhanden« gewesen, denen nur an einer »guten Erbschaft« lag, aber nicht am gedeihlichen Fortgang des väterlichen Verlags.

Johanna Sibylla, die zweite Frau des verstorbenen Verlagsinhabers, wurde ausbezahlt. Sie erbte »mit ihren beiden Kindern« neben Malereien, Kupferstichen und Gegenständen ein »schönes Stuck Geld«. Der jüngere Matthäus Merian lässt den Aggressionen, die er gegenüber seiner Stiefmutter hegte, in seinem Lebensrückblick freien Lauf: »Sie heurathete den 2. Mann, Morell, einen kleiner Mahler, mit welchem sie das gute Gelt verzehrt hatt …«

Es ist schwer vorstellbar, dass Matthäus Merian mit seiner Halbschwester Maria Sibylla, die in der Familie des Jacob Marrel lebte – auch seinen Namen gibt es in einigen Variationen, darunter Morell –, engen, gar herzlichen Kontakt hatte. An seiner Hochzeit mit der Tochter eines vornehmen Frankfurter Kaufmanns 1652 wird die Fünfjährige nicht teilgenommen haben. Matthäus Merian der Jüngere zog mit seiner jungen Frau in ein prächtiges Haus in der Eschersheimer Landstraße, das sogar der Große Kurfürst aus Brandenburg mit seinem Besuch beehrte. Er blieb als Porträtmaler bestens im Geschäft und repräsentierte den traditionsreichen Merian-Verlag nach außen. Sein jüngerer Bruder Caspar kümmerte sich um das Verlagsprogramm, die Druckerei und die Kupferstiche.

Mit dem Ruhm der Merian-Sippe konnte Jacob Marrel, 1613/14 geboren, nicht konkurrieren. Aber sein Vater war studierter Jurist und Stadtschreiber im südlich von Frankfurt gelegenen Frankenthal gewesen. Er selbst hatte in Frankfurt und Utrecht bei anerkannten Meistern eine solide Ausbildung als Maler erhalten, sich in der beliebten Blumenmalerei spezialisiert und in Utrecht einen Kunsthandel aufgebaut. Aufgrund einer üppigen Erbschaft kam Jacob Marrel 1650 an den Main zurück. Seine erste Frau war 1649 in Utrecht gestorben.

Die Malerei war ein ehrenwerter Handwerksberuf. Kaum hatte Marrel in Frankfurt seine Werkstatt eingerichtet, schickte ein wohlhabender Käsehändler seinen Sohn zu ihm in die Lehre. Abraham Mignon war elf Jahre, das übliche Alter, um mit einer Ausbildung zu beginnen. Ein zweiter Lehrling kam 1653 hinzu, der sechzehnjährige Johann Andreas Graff, sein Vater war Direktor eines Gymnasiums in Nürnberg.

Zwei, drei Jahre später wurde ein dritter Lehrling informell von Jacob Marrel in die handwerklichen Grundlagen der Malerei eingeführt – Maria Sibylla Merian, seine Stieftochter. Sie lernte zeichnen, den Umgang mit Wasser- und Ölfarben, das Mischen von Farben, die Grundierung einer Leinwand oder eines Pergaments und die sensible Technik des Kupferstechens.

Das junge Mädchen muss mit Zeichnungen oder Kopien, die sie anfertigte, ihrem Stiefvater aufgefallen sein und hat vielleicht selbst darauf beharrt, Unterricht zu bekommen. An Vorbildern war kein Mangel, denn Bücher mit Bildern gehörten zu den frühen Entdeckungen, die Maria Sibylla in ihrer ersten Familie machte, als der Vater noch lebte. Schließlich stellte Matthäus Merian der Ältere Bücher am laufenden Band her und entwarf selbst die meisten Kupferstiche. Eindringlicher noch als Landschaften und die berühmten Merian'schen Städteansichten waren für Kinderaugen die großen Folianten mit Zeichnungen von Tieren, Blüten und Blumensträußen. Doch bei aller Faszination für Bilder und die Malerei: Konnte ein weiblicher Lehrling in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Ausbildung zum Maler durchlaufen und das Erlernte womöglich als Beruf ausüben?

Ein kurzer Rückblick gibt eine unerwartete Antwort. Zu sehr hat das 19. Jahrhundert, als Bürgertöchter keinen Beruf erlernen durften, weil standesgemäßes Frauenleben sich nur mit Kindern, am Herd und im häuslichen Salon abspielte, den Blick dafür verstellt, dass in ferneren Epochen Gleichberechtigung Realität war – bei Handwerkern wie bei Kaufleuten.

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2. Der Maler Jacob Marrel wird 1651 Maria Sibylla Merians Stiefvater. Er erkennt ihr künstlerisches Talent und bildet sie zur Malerin aus.

Die meisten Eintragungen im Kaufmannsbuch von Matthäus Runtinger beispielsweise, dessen Regensburger Unternehmen im hohen Mittelalter europaweit mit Gewürzen, Seiden und kostbaren Tuchen handelte, stammen von seiner Frau Margarete. Buchführung und komplizierte Rechnungen waren für sie kein Problem. Wie andere Kaufmannsfrauen verfügte sie über eine eigene Kasse. Als der Einkäufer der Runtingers sich 1398 auf den Weg nach Venedig machte, hatte er den Auftrag, auf ihre Kosten Gold und schwarze Bortenseide zu kaufen. Mit beidem würde Margarete in Regensburg ihre eigenen Geschäfte machen.

Die mittelalterliche Stadt hatte die Frau aus der Vormundschaft ihrer Verwandten und ihres Mannes befreit; sie wurde eine Person eigenen Rechts und war geschäftsfähig. Finster war dagegen die moderne Zeit. Als im deutschen Kaiserreich 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat, wurde die absolute Macht des Ehemannes über seine Frau und seine Kinder gegen den erbitterten Widerstand der Frauenbewegung zementiert. Er konnte jede geschäftliche Aktion der Ehefrau, sogar ihre Berufstätigkeit, ohne Rückfrage außer Kraft setzen. Erst 1977 verschwanden die letzten Reste dieser grundlegenden Diskriminierung von Frauen aus dem Gesetzbuch.

Ob Kaufmanns- oder Handwerksfamilie: Im Mittelalter war die Ehe durch viele Jahrhunderte eine Arbeitsgemeinschaft, in der Mann und Frau zum ökonomischen Erfolg beitrugen. Die Frau des Handwerkers verkaufte die Produkte ihres Mannes auf dem Markt; die Kaufmannsfrau vertrat ihren Mann in geschäftlichen Dingen, wenn er über Land reiste, um Waren einzukaufen. Auch Martin Luthers Ehefrau war kein Heimchen am Herd. Da der Reformator auf alle Einnahmen aus seinen Schriften, Büchern und Vorlesungen verzichtete, wurde Katharina Luther, die ehemalige Nonne, berufstätig. Sie machte aus dem verlotterten Wittenberger Kloster eine ansehnliche Pension, baute den Klostergarten aus, braute Bier und kaufte Land und Weinberge vor der Stadt.

Die mittelalterlichen Zünfte, in denen sich die Handwerker organisierten, kannten kein generelles Frauenverbot. Ein Blick in die Statistik der Frankfurter Zünfte zwischen 1300 und 1500 genügt: 65 Berufe waren reine Frauensache, bei 17 hatten Frauen die Mehrheit, bei 38 waren Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten und in 81 besaßen Männer die Mehrheit. In Köln arbeiteten Frauen sogar bei den Harnischmachern. Ihre Paradezunft aber war die Seidenweberei. Allein zwischen 1513 und 1580 wurden am Rhein 222 Meisterinnen und über 700 Lehrmädchen in die Zunftrolle eingetragen. Nicht wenige der Meisterinnen waren beruftstätige Ehefrauen. Der Kaufmann schaffte die Ware heran, und seine Frau leitete als Meisterin einen Betrieb für die Weiterverarbeitung.

Hundert Jahre nach der Reformation war Martin Luthers Eheleben kein Vorbild mehr. Die protestantischen Pfarrer hatten sich im 17. Jahrhundert zu einem eigenen akademischen Stand gemausert, der auf sein soziales Ansehen sehr bedacht war. Eine Pfarrersfrau im Handwerksberuf oder mit unternehmerischen Geschäften wie Katharina Luther wäre unterhalb ihres Standes gewesen, ein sozialer Abstieg auch für den Pfarrgemahl. Und auf der Kanzel hätte sie ihren Mann natürlich nicht vertreten können. Zugleich bildete sich mit dem absolutistischen Staat, der eine effiziente Verwaltung brauchte, der Beamtenstand heraus. Er war ausschließlich Männern vorbehalten – meist Juristen –, deren Frauen nicht mehr als Teil einer ehelichen Arbeitsgemeinschaft aktiv sein konnten. Der Zugang zur Kanzlei oder zu Besprechungen bei Hofe war ihnen selbstverständlich versperrt. Beamten- und Pastorenfrauen verlegten sich darauf, ihren Männern ein gemütliches und entspannendes Zuhause zu schaffen. Bei den Zünften sah es nicht ganz so düster aus. Aber der Horizont für berufstätige Frauen verengte sich, als jene Zeit begann, die wir die »Neue« nennen. Die Zunftbrüder sahen in ihnen nun vor allem die Konkurrenz und verwehrten Frauen zusehends eine handwerkliche Ausbildung.

Trotzdem gab es kein schlagartiges Ende der bürgerlichen Frauenarbeit. Das barocke Jahrhundert war eine Übergangszeit. In einigen Städten wurde den Töchtern von Meistern ausdrücklich erlaubt, weiterhin den Beruf ihrer Väter zu erlernen. Die Ausbildung von Maria Sibylla Merian am Beginn der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war zwar ein Auslaufmodell für Frauen, aber noch keine Ausnahme. Etliche anerkannte, professionelle Malerinnen würden ihren Weg kreuzen. Noch war die mittelalterliche Tradition lebendig, die Frauen eine Teilhabe am Berufsleben möglich machte. Es sagt auch etwas aus über Jacob Marrel, dass er sich dieser Tradition verpflichtet fühlte und Maria Sibylla neben den beiden männlichen Lehrlingen in seiner Kunst unterrichtete.

2. Frankfurt am Main: Die Minderheit der reformierten Flüchtlinge bringt Wohlstand, internationales Flair und fördert starke Persönlichkeiten

Die Familie bleibt der engste Kreis in den ersten Lebensjahren, auch wenn die Menschen wechseln, die dazu gehören. Aber eines Tages geht es hinaus in die Welt – und wenn es nur die Straßen der Heimatstadt sind, die Maria Sibylla an der Hand eines vertrauten Erwachsenen erstmals erlebt. Frankfurt ist nicht nur eine geschäftige Handels- und Messestadt. Am Main wird seit 1562 der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewählt und gekrönt: spektakuläre politische Demonstration und grandioses Volksfest in einem. Maria Sibylla war elf Jahre alt, als am 1. August 1658 Leopold I. im Frankfurter Dom gekrönt und im Kaisersaal des Römer, wo sonst der Rat der Stadt tagte, mit einem glanzvollen Mahl geehrt wurde.

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3. Der Römerberg ist das geschäftige Zentrum von Frankfurt am Main, wo die Merian aufwächst und 1665 den Maler Johann Andreas Graff heiratet. Er hat diese Stadtansicht in Kupfer gestochen.

Zu Krönungszeiten war die Stadt am Main über Wochen im Ausnahmezustand. Hohe Herren samt Dienerschaft und Pferden mussten einquartiert und verpflegt, repräsentative Bauten im Zentrum auf Hochglanz gebracht und die Stadtbewohner unterhalten werden. Ein englisches Wandertheater spielte auf den Plätzen. Auf dem Römerberg floss aus einem öffentlichen Brunnen roter und weißer Wein, Münzen und Brot wurden unter das Volk geworfen, das arbeitsfrei bekam. Da blieb niemand im Haus oder in seiner Kammer. Warum sollte Maria Sibylla mit ihrem Stiefvater und den zwei anderen Lehrlingen nicht bei den vielen Menschen gewesen sein, die am Straßenrand für prächtige Prozessionen Spalier standen oder sich bei den Gauklern und Feuerwerken vergnügten?

Vielleicht nutzte Caspar Merian die Krönungswochen im Sommer 1658, um seine kleine Halbschwester wiederzusehen. Der Einunddreißigjährige war seit sechs Jahren mit einer Nürnberger Bürgertochter verheiratet und viel auf Reisen. Die Krönungstage 1658 erlebte er in Frankfurt, um die Kupferstiche für das offizielle Krönungstagebuch herzustellen, das er im Merian-Verlag als Kunstbuch herausgab und das guten Gewinn brachte. Der Gedanke eines Wiedersehens drängt sich auf, weil Maria Sibylla Merian auf ihrem späteren Lebensweg engen Kontakt mit dem zwanzig Jahre älteren Halbbruder Caspar hatte. Zu Matthäus Merian dem Jüngeren sind ähnliche freundlich-familiäre Beziehungen nicht bekannt.

Die Krönungstage im Sommer 1658 gingen nahtlos in den Trubel der beliebten Frankfurter Herbstmessen über, die traditionell am Montag nach dem Fest von Mariä Geburt, dem 8. September, begannen. Zehn Jahre zuvor, 1648, war nach dreißig zerstörerischen Kriegsjahren endlich Frieden ausgerufen worden. Auch Frankfurt, das ohne schwere wirtschaftliche Einbrüche durch die Kriegszeit gekommen war, profitierte vom Aufschwung. Für Einkäufer und Verkäufer, gelehrte Gäste und Reisende aus vielen Ländern war die Stadt wieder zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Sie nutzten die Gelegenheit, sich an den Ständen der Druckereien und Verlage, die dicht an dicht die Buchgasse unweit vom Römerberg säumten, zu informieren. Die Neuheiten aus dem Verlagshaus Merian zählten zu den begehrtesten.

Der Römerberg mit seinen prachtvollen Fachwerkhäusern war das Herz der Stadt. Hier kauften Bürgerinnen und Dienstboten ein, was die Haushalte zum Leben brauchten. Auch Maria Sibylla wird in Begleitung der Mutter an den Marktständen entlanggezogen sein. Am östlichen Rand tauchte aus dem Häusergewirr der Turm des Doms auf. In wenigen Minuten erreichte man den mächtigen Bau aus rotem Sandstein mit seinem großen offenen Portal. Kinder möchten es genauer wissen: »Können wir da hineingehen?« – »Nein, es ist eine katholische Kirche, und wir sind nicht katholisch.«

Das gleiche Frage-und-Antwort-Spiel hätte sich wiederholen können, wenn Maria Sibylla mit der Mutter oder dem Stiefvater vom Römerberg wenige Schritte in Richtung Süden ging. Dort ragte linker Hand hinter einer Häuserfassade das Dach der Barfüßerkirche mit seinem hohen zierlichen Glockenturm in den Himmel. (Heute steht dort die Paulskirche.) »Können wir da hingehen?« – »Nein, es ist eine lutherische Kirche, und wir sind nicht lutherisch.«

Irgendwann wird dem jungen Mädchen aufgefallen sein, dass aus ihren Familien – seien es die Verwandten von Vater Merians Seite, ihre Mutter oder der Stiefvater Marrel – niemand jemals dem Ruf der Glocken folgte, um die Gottesdienste in Frankfurts Kirchen zu besuchen. Alle Menschen im engen Kreis um Maria Sibylla gehörten zu einer christlichen Minderheit. Sie waren Reformierte, die der Theologie des Genfer Predigers Johannes Calvin folgten. Sie durften in der Freien Reichsstadt Frankfurt unbehelligt leben und arbeiten und mussten ihren Glauben nicht verheimlichen. Aber unter dem Druck der lutherischen Geistlichkeit verweigerte der Rat der Stadt ihnen ein eigenes Kirchengebäude. Woher diese Abneigung, diese Angst vor der Konkurrenz? Waren nicht Lutheraner und Reformierte aus dem gleichen Stamm der Reformation gewachsen? Ein kurzer Blick zurück auf die Gründungsväter der beiden protestantischen Konfessionen erklärt einiges.

Im Oktober 1517 befestigte der Mönch und Doktor der Theologie Martin Luther am Portal der Wittenberger Schlosskirche fünfundneunzig theologische Thesen, mit denen er die katholische Kirche reformieren wollte. Seine Forderungen erwiesen sich als religiöses Dynamit, das die römische Papstkirche sprengte und Europas konfessionelle Landschaft von Grund auf und für immer veränderte. Mit seiner Botschaft Von der Freiheit eines Christenmenschen setzte Martin Luther bei den Gläubigen eine Heilssuche in Gang, die kein Kirchengericht und kein noch so flammendes Kanzelwort wieder aus der Welt schaffen konnte.

Johannes Calvin, 1509 im französischen Noyon geboren und studierter Jurist, gehörte zur zweiten Generation der protestantischen Reformatoren. Er verehrte Martin Luther, doch seine Theologie unterschied sich in wichtigen Ansätzen von dessen Lehre und führte zu einer eigenen Konfession. Calvin bestand auf der Prädestinationslehre, nach der jeder Mensch noch vor seiner Geburt von Gott für die ewige Seligkeit oder die ewige Hölle prädestiniert wird. Das war für ihn allerdings kein Grund zum Fatalismus. Calvin verband diese radikale Festlegung mit der Aufforderung zu einem aktiven, kämpferischen Leben, um Gott die Ehre zu erweisen. Ein reformierter Christ soll diese Welt nicht duldend und leidend ertragen, sondern zur höheren Ehre Gottes verändern. Der Reformator, der in Genf seine zweite Heimat fand und dort sein Kirchenregiment durchsetzte, hatte Sendungsbewusstsein und Organisationstalent und forderte Gleiches von seinen Anhängern.

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4. Die Anhänger von Johannes Calvin (1509-1564), Calvinisten oder Reformierte genannt – zu denen auch die Familien Merian und Marrel gehören –, sind für die Lutheraner eine verhasste religiöse Konkurrenz. Doch das stärkt nur ihr Selbstbewusstsein.

Johannes Calvin baute allein auf die Gemeindestrukturen und lehnte höhere kirchliche Hierarchien, wie sie die Lutheraner mit ihren Landeskirchen und Bischöfen einführten, ab. Von Demokratie oder Mitbestimmung allerdings hielt er gar nichts. Doch indem Calvin die Mobilisierung des Einzelnen für seinen Glauben stärkte, förderte er unbewusst einen religiösen und lebenspraktischen Individualismus. Er machte Reformierte bei allen Einschränkungen frei, sich auf einen persönlichen Glaubensweg zu begeben und sich zugleich in einem Beruf selbstbewusst und erfolgreich zu verwirklichen.

Als Johannes Calvin 1564 in Genf starb, hatte sich seine Vorstellung vom wahren Christentum scharf von der Lehre Martin Luthers abgegrenzt. Umgekehrt waren den Lutheranern die Calvinisten – auch Reformierte genannt – nicht weniger verhasst als die Katholiken. Die beiden protestantischen Konfessionen sahen sich als Konkurrenten im Kampf um das Seelenheil. Das Land des deutschen Reformators war kein Missionierungsfeld für die Reformierten. Dafür gewannen sie Anhänger jenseits der Schweizer Grenze in Frankreich. Und die französischen Calvinisten trugen ihren Glauben nach Norden in die Spanischen Niederlande, wo die katholischen Habsburger bis an die holländische Nordseeküste herrschten.

In den sieben nördlichsten Provinzen der spanischen Habsburger, den heutigen Niederlanden, wurde der Calvinismus zum Motor einer Freiheitsbewegung, die unter Führung des Hauses Oranien-Nassau 1581 ihre Unabhängigkeit von den spanischen »Tyrannen und Rechtsbrechern« erklärte. Im Krieg gegen die Fremdherrschaft entstand die Republik der Vereinigten Provinzen der Niederlande, mit denen das mächtige Spanien schon 1609 einen Waffenstillstand schloss. Als erstes Land in Europa gewährten die Niederlande Religionsfreiheit, wenn auch der Calvinismus, unter der Bezeichnung Reformierte Kirche, die prägende und privilegierte Konfession des neuen Staates blieb.

In den südlichen Gebieten der sogenannten Spanischen Niederlande, dem heutigen Belgien und Luxemburg, konnten die Habsburger in erbitterten Kämpfen ihre politische und religiöse Vormachtstellung halten. Die Folge war eine Welle von Religionsflüchtlingen – Reformierte vor allem und einige wenige Lutheraner –, die in Richtung Deutschland zogen, weil der andauernde Unabhängigkeitskrieg der niederländischen Republik ihnen keine Lebensperspektive bot. Die Handelsstadt Frankfurt am Main, im Schnittpunkt europäischer Fernwege und Wasserstraßen, besaß für die calvinistischen Unternehmer und Kaufleute, die ihr Kapital, ihr wirtschaftliches und technisches Know-how und ihre Beziehungen als leichtes Gepäck mit auf die Flucht nahmen, eine große Attraktion.

Und die Stadt am Main öffnete ihnen die Stadttore. Frankfurt hatte sich schon 1533 dem lutherischen Protestantismus angeschlossen. Doch als Freie Reichsstadt – neben Augsburg, Nürnberg und Regensburg – duldete sie in ihren Mauern unterschiedliche christliche Glaubensrichtungen. Im Gegensatz zu adligen Territorien, wo die Konfession des Landesherren für alle Untertanen verbindlich war.

Im Jahr 1595 lebten rund zwanzigtausend Menschen in Frankfurt, bis zu viertausend von ihnen waren Flüchtlinge aus Religionsgründen, vor allem aus den Spanischen Niederlanden. Sie machten aus Frankfurt eine offene, lebendige, wohlhabende Stadt. Zu den vielen, die am Main eine neue Heimat fanden, gehörte der Goldschmied und Kupferstecher Theodor de Bry aus Lüttich. Wegen seines reformierten Glaubens war er aus Lüttich nach Straßburg geflohen, ließ sich 1588 mit seiner Familie endgültig in Frankfurt nieder und gründete einen Verlag, der es mit den ersten Reisebüchern über Asien und Amerika zu Ansehen und Erfolg brachte. Nach dem Tod des Vaters 1594 übernahm der Sohn Johann Theodor de Bry, »Buchhändler und Kunststecher«, Maria Sibylla Merians Großvater mütterlicherseits, den Verlag.

Leben und Geschäfte machen durften die Reformierten am Main. Doch jahrzehntelang stritten sie vergebens mit dem Rat der Stadt Frankfurt, ihnen eine eigene Kirche oder wenigstens private Gottesdienste zu gestatten. 1601 gab es für den 1561 geborenen Johann Theodor de Bry und seine Glaubensgenossen endlich eine positive Wende. Den Reformierten wird eine kleine Holzkirche an der Bockenheimer Landstraße zugewiesen.

Als die 1608 abbrennt, gibt es nicht nur keinen Wiederaufbau. Der Rat der Stadt verbietet den Reformierten endgültig, eine eigene Gemeinde zu bilden, Gottesdienste abzuhalten und die wichtigsten Lebensstationen von den Riten ihrer Konfession begleiten zu lassen. Taufen und Heiraten müssen nach lutherischem Ritus vollzogen und in die Register der lutherischen Gemeinden eingetragen werden. Auch Maria Sibylla Merian wurde zwei Tage nach ihrer Geburt lutherisch getauft, obwohl ihre Eltern überzeugte reformierte Gläubige waren.

Johann Theodor de Bry will diese Veränderung zum Schlechten nicht hinnehmen. 1609 erklärt er dem Rat der Stadt, Abschied von seinen Bürgerrechten zu nehmen, da ihm und seinen Kindern die freie Ausübung seiner Religion erschwert werde. Er zieht wie andere Frankfurter Reformierte mit Frau und Kindern ins nahe Oppenheim, wo sie ihren Glauben öffentlich leben können. Die Kunstdruckerei und der Verlag allerdings bleiben in Frankfurt.

1616 stellt sich der in Basel geborene Kupferstecher Matthäus Merian dem Verleger und Kupferstecher Johann Theodor de Bry in Oppenheim vor. Der Zweiundzwanzigjährige wird Mitarbeiter im de Bry'schen Verlag, und seine Kupferstiche verschaffen dem ohnehin erfolgreichen Unternehmen weiteres Ansehen. Im Februar 1617 heiratet Matthäus Merian die älteste Tochter seines Chefs, die achtzehnjährige Maria Magdalena de Bry. Die Religion ist kein Heiratshindernis, denn der Ehemann wurde als Schweizer im reformierten Glauben getauft und erzogen. Nach dem Tod seines Schwiegervaters übernimmt Matthäus Merian 1626 das Geschäft in Frankfurt. Der geniale Kupferstecher gibt dem Unternehmen seinen Namen und macht es zu einem der führenden Verlagshäuser in Europa.

Von Frankfurt aus knüpft Merian ein internationales Netzwerk gelehrter Autoren, deren Werke für den Aufbruch der modernen Wissenschaften in Europa stehen – in Medizin, Technik, Naturforschung. Die universale, weltoffene Bildung verbindet sich bei Matthäus Merian ab den 1630er Jahren ohne Widersprüche mit einer sehr persönlichen, spirituellen Frömmigkeit. Auf der Grundlage seines reformierten Glaubens, den er nicht verlässt, verlieren für ihn kirchliche Strukturen, theologische Festschreibungen und konfessionelle Grenzziehungen immer mehr an Bedeutung. Der christliche Glaube wird für den Verleger zu einer individuellen Kraft, die nicht an Formeln, sondern an emotionale Erfahrungen und innere Bekehrungserlebnisse gebunden ist.

Matthäus Merian ist mit dieser Glaubenserfahrung, deren kirchenkritische Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen, nicht allein, und er handelt. Zum einen tauscht er sich in einem intensiven Briefwechsel mit Gleichgesinnten in anderen Städten aus, vor allem in Nürnberg. Dort haben sich kleine Gruppen abseits der großen Kirchen zusammengefunden, überzeugt, einen direkten Zugang zu den göttlichen Geheimnissen zu haben. Außerdem nutzt Matthäus Merian seine beruflichen Möglichkeiten, um für dieses erneuerte Christentum zu werben. Er druckt ohne Angaben von Druckort und Autoren Traktate und Bücher, die eine beißende Kritik an der etablierten lutherischen Kirche und ihren Repräsentanten, den Pfarrern, mit dem Bekenntnis zu einem neuen Glauben verbinden. Denn es sind die Lutheraner, die im Namen ihres Gründers eine grundlegend reformierte Kirche versprochen haben und in diesen Schriften nun an diesen Versprechungen gemessen werden.

Der geachtete Verleger und Bürger ist bereit, ein Risiko einzugehen. An einen Unbekannten schreibt Matthäus Merian im Oktober 1637, er werde ein »bewusstes Traktätlein« drucken, auch wenn es in Frankfurt verboten sei, »denn alles, was nach dem Geist und der Wahrheit riecht, das stinkt unsere Geistlichen und Weltlichen an …« Tatsächlich beschwert sich 1639 die lutherische Geistlichkeit beim Rat der Stadt, weil sich »Ketzereien und Sekten« in Frankfurt eingenistet hätten. Die Buchdrucker, die eigentlich alle theologischen Schriften dem Predigerkollegium zur Zensur vorlegen müssten, druckten »ohne Unterschiede, was ihnen gefällt«. Der Rat soll diese »hochschädlichen, giftigen Bücher« verhindern. Auch der Name Merian steht in der Beschwerde.

Nicht nur diesmal halten sich Frankfurts weltliche Herren zurück und spielen die Angriffe der Geistlichkeit herunter. Sie haben das Ansehen und das Wohlergehen der Stadt im Blick, das durch die Geschäfte des Merian-Verlags kräftig befördert wird. Sein Inhaber kann weiterhin produzieren, »was ihm gefällt«. Und Matthäus Merian lässt sich 1647 nicht nur aus Altersgründen zu Hause trauen. Rat und Geistlichkeit geben schließlich ihre Zustimmung, obwohl sie wissen, dass der reformierte Unternehmer die Trauung in einer lutherischen Kirche vermeiden will. Er ist eine einflussreiche Persönlichkeit in der Stadtgesellschaft, die man nicht verlieren möchte.

Das professionelle und geistige Netzwerk von Matthäus Merian spannt sich über ganz Westeuropa. Befreundete Familien schicken ihre Söhne in seine Werkstatt, um das Handwerk des Kupferstechers und die Geschäfte des Verlegers zu lernen, und die jungen Menschen sind Teil der Merian-Familie. Im November 1643 schreibt Matthäus Merian dem Vater eines seiner Schüler ein großes Lob nach Zürich, das nicht der weltlichen Tüchtigkeit seines Lehrlings, sondern seiner inneren, geistlichen Entwicklung gilt. Der Sohn lebe »als ein rechtes Kind Gottes und Bürger des neuen Jerusalem frommiglich und in Reinigkeit des Geistes als ein von oben herab wieder gebohrenes Kind Gottes. Möchte nichts mehr auf Erden wünschen, als dass meine Kinder auch also gesinnet wären.«

Das Ideal von Matthäus Merian: im Innersten neu geboren, wiedergeboren zu werden, schon in dieser Welt, nicht erst im Jenseits, und nicht durch Kanzelpredigten und die Vermittlung geistlicher Autoritätspersonen, sondern durch eine persönliche, direkte Zuwendung Gottes zu seinem »Kind«. Was nach kindlicher Frömmigkeit und einem weichen, gemütvollen Glauben klingt, wurzelt in einer starken Persönlichkeit. Die Frankfurter Reformierten waren eine Minderheit im großen Meer des Luthertums, ohne kirchliche Strukturen und öffentlich anerkannte pastorale Führer. Unter diesen Umständen konnte den reformierten Glauben seiner Vorfahren nur bewahren, wer sich seiner selbst und der calvinistischen Sicht auf Gott und die Welt, wie er sie als Kind im Kreis der Familie erfahren und in sich aufgenommen hatte, gewiss war. Wer in frühen Jahren diese private Glaubens- und Lebensschule durchlief, hatte gelernt, in eigener Verantwortung, ohne Angst und ohne Rücksicht auf die Mehrheitsmeinung oder angebliche Autoritäten zentrale Lebensentscheidungen zu treffen.

Matthäus Merian gab seinen Kindern aus erster Ehe diese reformierte Gesinnung mit. Maria Sibylla, die Tochter aus zweiter Ehe, war drei Jahre alt, als ihr Vater im Sommer 1650 starb. Im Jahr darauf ging ihre Mutter, auch ein Mitglied der reformierten Gemeinde, eine zweite Ehe ein. Der Geist, den Matthäus Merian in seinem Brief nach Zürich beschrieb und den er sich für seine Kinder wünschte, wird auch die Kindheit von Maria Sibylla geprägt haben.

Für Matthäus Merian, den gebürtigen Schweizer aus Basel, waren sein Beruf als Künstler und Verleger und sein reformiert-spiritueller Glaube die zwei Säulen seiner Existenz. Undenkbar, dass er eine Frau geheiratet hätte, die seine reformierte Grundeinstellung und seine Überzeugung einer direkten, persönlichen Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen nicht teilte.

Seine zweite Frau, Johanna Sibylla Heimy, Maria Sibyllas Mutter, kam wie Merians erste Frau aus einer Immigrantenfamilie, die wegen ihres reformierten Glaubens aus den Spanischen Niederlanden geflohen war. Sie lebte vor ihrer Heirat bei ihrem Bruder, einem reformierten Prediger, in Hanau. Dort hatte der calvinistische Landesherr den Reformierten – im Gegensatz zum nahen Frankfurt – eine eigene Kirche und die öffentliche Ausübung ihrer Konfession erlaubt.

Im August 1646, nur wenige Monate nach seiner zweiten Heirat, erhielt Matthäus Merian einen Brief aus Nürnberg. Einer seiner dortigen Freunde, mit dem ihn seit Jahren ein gemeinsamer christlicher Glaube abseits der orthodoxen Kirchenstrukturen verband, lag im Sterben und verabschiedete sich von »Herrn Merian, dem Älteren, und seiner Hausfrau samt allen den Ihrigen«. Wenige Jahre zuvor hatte sich der Verleger »zur reformierung des iezigen heidnischen Christentums« bekannt. Ein kritischer Glaube, der die gesamte Familie Merian verband.

Jacob Marrel, den die Witwe Johanna Sibylla Merian im Sommer 1651 in zweiter Ehe heiratete, kam ebenfalls aus einer Immigrantenfamilie. Sein Großvater war als Reformierter aus Burgund geflohen und hatte sich in Frankfurt als Juwelier niedergelassen. Marrel hatte seine Ausbildung als Maler in Frankfurt und im calvinistischen Utrecht erhalten. Er lebte dort ab 1630, bevor er als Witwer mit drei Kindern 1650 zurück an den Main kam. Durch seine Heirat mit der Witwe des berühmten älteren Merian wurde Jacob Marrel der Stiefvater von Maria Sibylla Merian. Auch wenn es nicht die berühmte Merian-Familie war: Das Mädchen wuchs in einem weltoffenen Milieu auf, von Kunst und Büchern umgeben und in einem Glauben, der auf die Kraft des Individuums setzte.