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JÉRÔME FERRARI

NACH SEINEM BILDE

ROMAN

Erste Auflage

ISBN 978-3-906910-63-5

Du sollst dir kein Bildnis noch

irgendein Gleichnis machen, weder des,

das oben im Himmel, noch des,

das unten auf Erden, oder des, das

im Wasser unter der Erde ist. Bete sie

nicht an und diene ihnen nicht.

EXODUS, 20,4–5

Obszön!, wollte sie schreien, schrie

aber nicht, weil sie nicht wusste, wem

sie das Wort entgegenschleudern

sollte: sich selbst, dem Romanautor

West, dem Engelkomitee, das leidenschaftslos

über allem wacht, was

sich zuträgt. Obszön, weil solche

Dinge nicht geschehen sollten, und

noch einmal obszön, weil sie, nachdem

sie nun einmal geschehen waren,

nicht ans Licht gezerrt, sondern zugedeckt

und für immer in den Eingeweiden

der Erde verborgen werden

sollten …

J. M. COETZEE

Elizabeth Costello

Der Tod ist eingetreten. Das Foto

kommt danach und lässt, anders als

das Gemälde, die Zeit nicht

innehalten, sondern fixiert sie.

MATHIEU RIBOULET

Die Werke der Barmherzigkeit

Inhalt

1 Gebete am Fuße des Altars

2 Requiem aeternam

3 Kyrie eleison

4 Epistel: Erster Brief des Paulus an die Thessalonicher

5 Sequenz: Dies irae

6 Evangelium: Johannes, XI, 21–27

7 Offertorium: Domine Jesu Christi

8 Sanctus

9 Pater noster

10 Agnus Dei

11 Kommunion: Lux aeterna

12 Totengebet: Libera me

1

Gebete am Fuße des Altars

(AUF DEM HEIMWEG, VOJVODINA, 1992)

Als sie ihn, zehn Jahre zuvor, zum letzten Mal gesehen hatte, war er gerade auf dem Weg nach Hause, und sie begleitete ihn. Kaum waren die beiden von der Belgrad-Linie am Busbahnhof abgesetzt worden, hatte er kein Wort mehr gesagt. Und dann, noch immer schweigend, war er stehen geblieben, um sich mit den Ellbogen auf das Geländer einer Donaubrücke zu stützen, von der die NATO-Bombardierungen von 1999 bald nur mehr die Tragpfeiler stehen lassen sollten. Antonia, die Kamera griffbereit, war einige Schritte zurückgeblieben und hatte ihn betrachtet. Er trug einen zerschlissenen Drillich, auf den er seine Feldwebeltressen und, unterhalb des Abzeichens der zersetzten JNA*, ein serbisches Wappen mit dem beidseitig von lunaren Sigmas flankierten doppelköpfigem Adler aufgenäht hatte. Ihm zu Füßen stand ein großer Militärrucksack, der nichts anderes barg als eine ungarische Ausgabe von Imre Kertész’ Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, den ersten Band einer serbokroatischen Übersetzung der Gesamtwerke von Bukowski sowie einige R.E.M.- und Nirvana-Kassetten, von denen er nicht einmal mehr wusste, wann er sie das letzte Mal gehört hatte. Er hielt den Kopf in die Hände gestützt. Er blickte nicht auf das dunkle Wasser des Flusses, nicht in den regenschwangeren Himmel. Eine Gruppe recht junger Leute, die über die Brücke zog, hatte auf seiner Höhe den Schritt verlangsamt und war in rätselhaftes Gelächter verfallen, während sie ihn verächtlich musterte. Antonia hatte das Foto geschossen, das letzte der Reportage, die sie ihm gewidmet hatte und die niemals publiziert werden sollte. Zunächst hatte er scheinbar nicht reagiert. Und dann hatte er den Kopf gehoben, und Antonia hatte gesehen, dass er weinte. Er hatte nach seinem Rucksack gegriffen und sie, die sich schon anschickte, ihm zu folgen, per Handzeichen zurückgehalten, sie war auf der Brücke stehen geblieben und hatte ihm nachgesehen, bis er schließlich verschwunden und es für jede andere Form von Abschied zu spät gewesen war.

An diesem Freitagabend im August 2003, im Hafen von Calvi, erkannte sie ihn sofort wieder. Dragan schritt ihr entgegen, mitten in der Touristenmenge, begleitet von einem anderen Unteroffizier der Fremdenlegion, und seine Uniform war diesmal tadellos. Sie hielt inne. Als ihre Blicke sich kreuzten, lächelte er sie an und ging auf sie zu, um sie mit einer Wärme in die Arme zu schließen, die nicht gespielt sein konnte. Sie war derart irritiert, dass sie nicht gleich begriff, dass er sie auf Französisch ansprach. Er zeigte auf die Kamera, die ihr über der Schulter hing. Gibt es hier was Interessantes zu fotografieren? Sie lachte auf. Nein. Nichts Interessantes, wirklich nicht. Sie mache mittlerweile Hochzeitsfotos, was auch ihren Aufenthalt in Calvi erkläre. Fotos von Eheschließungen. Von gerührten Familien. Von Pärchen natürlich, von wahnsinnig vielen Pärchen, vor Blumengebinden, Luxuslimousinen oder Sonnenuntergängen am Mittelmeer. Jedes Mal dieselben und dabei seltsam grotesken, sich wiederholenden und flüchtigen Dinge. Sie verdiene gut, aber interessant sei es ganz gewiss nicht. Sie schwieg. Sie fürchtete, er könnte den Grad ihrer Verbitterung erfassen. Sie fragte, ob er ein Gläschen mit ihr trinken wolle. Er hatte Bereitschaftsdienst. Er musste zurück ins Camp Raffalli. Den nächsten Abend jedoch wollte er gern mit ihr verbringen. Antonia hatte ursprünglich geplant, zurück nach Hause zu fahren, hinunter in den Süden, sobald die Hochzeit nur vorbei wäre. Sie hatte ihren Eltern versprochen, mit ihnen zu Abend zu essen. Er zuckte mit den Schultern. Ob sie nicht einen Tag länger bleiben könne? Sie sah ihn an. Ja, natürlich, konnte sie.

Sie rief ihre Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass etwas Unvorhergesehenes sie zwinge, ihren Aufenthalt in der Balagne um vierundzwanzig Stunden zu verlängern. Sie könne nicht wie versprochen am Samstagabend im Dorf essen, sei aber ganz bestimmt am darauffolgenden Tag zurück. Obwohl Antonia sich bemühte, diesen widrigen Umstand in einem so undramatischen Licht wie möglich erscheinen zu lassen, löste sie doch mehr oder weniger umgehend eine Schreitirade aus, bei der ihr ihre Lässigkeit, ihre Undankbarkeit und ihr Egoismus vorgeworfen wurden. Antonia beging nicht den Fehler, ausfallend zu werden. Sie versicherte ihre Mutter der Beständigkeit ihrer töchterlichen Liebe, sagte, dass sie sich darauf freue, sie am Sonntag zu sehen, und zwang sie zu schweigen, indem sie kurzerhand auflegte. Woraufhin sie ihr Handy ausschaltete und zu Bett ging.

Den ganzen Tag lang versuchte sie, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie fotografierte die junge Braut von dem Zeitpunkt an, da diese das Bad verließ, bis hin zu jenem Augenblick, als sie schließlich ein von einer hingerissenen Entourage einhellig als überwältigend beurteiltes Kleid anlegte, sie fotografierte das zwangsläufig strahlende Lächeln des Bräutigams in genau dem Moment, da er die ihm Versprochene erblickte, sie begleitete die beiden zur Kirche, machte während des Festmahls Bilder von sämtlichen, vor lauter Hitze und Alkohol benommen Gästen, und sie beendete den Tag am Strand, wo sie sich die diabolische Freude gönnte, die Jungvermählten unter brennender Sonne hinreichend lang in ausgeklügelten Verrenkungen posieren zu lassen, von denen sie sich erhoffte, dass sie ebenso schmerzhaft sein mochten wie lächerlich. Am Ende der Prozedur waren sie verschwitzt, aber begeistert. Sie hatten keinen Zweifel, dass das Ergebnis wunderbar sein würde, wunderbar wie der gesamte Tag. Die beiden entlohnten Antonia unter herzlichsten Dankesbekundungen, und sie konnte gehen, um Dragan zum Abendessen zu treffen. Sie redeten die ganze Nacht lang, und als sie zurück ins Hotel kam, war es fünf Uhr früh. Sie war nicht müde. Würde sie sich hinlegen und es ihr trotz allem gelingen einzuschlafen, so müsste sie doch das Zimmer um elf Uhr räumen. Sie beschloss, den Heimweg anzutreten. Sie würde zu Hause haltmachen, den ganzen Tag über schlafen und dann hoch ins Dorf fahren, um mit ihren Eltern zu Abend zu essen. Sie setzte sich ans Steuer und öffnete alle Fenster des Wagens. Es war noch Nacht und die Temperatur kein einziges Mal unter dreißig Grad gefallen. Sie ließ L’Île-Rousse hinter sich. Auf der Straße Richtung Ostriconi, in der Biegung einer Kurve, stieg, während sich weiter unten das Meer noch im Dunkel der Nacht erstreckte, die Sonne, die kaum den Himmel hinter den Bergen erhellte, plötzlich über deren Gipfel, und ihre ersten Strahlen trafen grell auf Antonias Gesicht. Sie ließ sich einen Augenblick lang blenden und schloss die Augen.

Ihre Eltern und ihr Bruder, Marc-Aurèle, warteten lang auf sie. Sie konnten nur ihre Mailbox erreichen. Um neun Uhr abends hatte ihre Mutter eindeutig vom Zustand der Wut in den der Verzweiflung gewechselt. Sie verließen das Dorf zu dritt, um hinunter in die Stadt zu fahren, sie klingelten vergeblich an der Tür von Antonias Wohnung, sie befragten ihre Nachbarn, sie durchkämmten sämtliche Straßen des Viertels in der Hoffnung, ihren Wagen zu finden, und riefen schließlich die Gendarmerie an. Tags darauf trafen am späten Nachmittag zwei Gendarmen im Dorf ein, und Antonias Mutter, kaum hatte sie deren Gesichtsausdruck gesehen, brüllte schmerzerfüllt auf. Sie bestätigten ihr, dass das, was sie nicht nur während der letzten vierundzwanzig Stunden, sondern im Grunde ihr ganzes Leben lang befürchtet hatte, tatsächlich eingetroffen war. Die Kollegen aus der Balagne hätten Antonias Wagen in den Tiefen einer Bergschlucht bei Ostriconi gefunden. Sie hätten lange gesucht. Es sei beinahe unmöglich gewesen, ihn von der Straße aus zu sehen, zudem habe es auf dem Asphalt keinerlei Bremsspuren gegeben, an denen die Suche hätte ausgerichtet werden können. Man habe einen Helikopter einsetzen müssen. Antonia sei zweifellos zwei Nächte zuvor gestorben, im Morgengrauen. Die Gendarmen wollten Abschied nehmen, aber Antonias Vater bestand darauf, ihnen Kaffee anzubieten, den sie schweigend tranken, im Stehen in der Küche, mit niedergeschlagenen Augen, die Schirmmützen in der Hand.

Zwei Tage später liegt der Sarg auf einem bescheidenen Katafalk, zwischen zwei hohen weißen Kerzen, vor dem Altar. Der Priester, der sich ihm nähert, um ihn zu segnen, ist Antonias Onkel mütterlicherseits. Er war auch derjenige, der sie, dreißig Jahre zuvor, in derselben Kirche an sich gedrückt hielt, als das kalte, auf ihrer Stirn verlaufende Wasser des Taufbeckens sie zum Weinen brachte. Damals war er siebzehn Jahre alt. Er interessierte sich nicht für den Ritus. Er dachte an nichts anderes, als daran, das kleine Kind, das sich in seinen Armen sträubte, zu trösten.

Jetzt sagt er: Eintreten will ich zum Altar Gottes, und die Gemeinde antwortet: Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf.

Die Worte der Liturgie sind nicht schwer zu verkünden. Sie sind ihm nicht eigen, sie existieren ohne ihn, sie erfordern weder seinen Schmerz noch die unpassende Zärtlichkeit seiner Erinnerungen, sondern allein die Materialität seines Körpers, um durch ihn hindurch leibhaftig und lebendig zu werden. Es schmerzt ihn jedoch, die Antwort der Gemeinde zu vernehmen. Er hat das Gefühl, all diese Stimmen würden sich zu der von Antonia vereinen und dass sie es sei, die da spricht, ein letztes Mal, mit merkwürdig mannigfacher Stimme, bevor sie zu schweigen gezwungen ist. Einen Augenblick lang befürchtet er, von einem unbezähmbaren und deplatzierten Gefühl davongetragen zu werden. Er kann nichts anderes tun, als sich der Gnade Gottes anzuvertrauen.

Er sagt: Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn.

Er hört das Gemurmel der Unterhaltungen derer, die im Inneren der Kirche keinen Platz finden konnten und draußen geblieben sind, um das Ende der Messe abzuwarten und ihr Beileid zu bekunden. Sie sind sehr zahlreich. Der vorzeitige Tod, zumal urplötzlich, stellt stets etwas Unerhörtes, gefährlich Verführerisches dar. Vom Altar aus sieht er, wie sich in den weißen Kirchenbänken die Leute aus dem Dorf mit Unbekannten drängen, er sieht mehr oder weniger entfernte Cousins, seine Brüder und, in der ersten Reihe, ganz nah am Sarg, seine Schwester und seinen Schwager, sowie Marc-Aurèle, der hemmungslos weint. Er hätte sich weigern können, die Messe abzuhalten, und an ihrer Seite stehen können. Hätte er diese Entscheidung getroffen, er würde nun vielleicht ebenfalls weinen. Antonia aber kann mit zusätzlichen Tränen nichts anfangen. Er hegt keinen Zweifel mehr: Hier, am Fuße des Altars, ist sein Platz, hier ist er ihr, seiner verschiedenen Nichte, am nächsten, näher als er es seit geraumer Zeit war.

* Jugoslawische Volksarmee

2

Requiem aeternam

(TOURISTENFAMILIE AUF DEM WEG ZUM STRAND, CORSE-DU-SUD, 1979)

Als er Antonia anlässlich ihres vierzehnten Geburtstags die erste Kamera schenkte, die sie je in Händen hielt, war er noch im Priesterseminar. Sie warf sich ihm in einem Anfall kindlicher Freude um den Hals, denn damals war er es, und er allein, der ihre Jugend fröhlich stimmte. Seit einigen Monaten gab sie sich einer Leidenschaft für Familienfotos hin, die sie, in ausgedehnten Stunden, Bild für Bild, ausgebreitet auf dem Esszimmertisch, eingehend betrachtete. Obgleich sie vollkommen ungeordnet im Inneren eines alten Lederranzens aufbewahrt worden waren, handhabte Antonia sie wie empfindliche und kostbare Ikonen mit äußerster Sorgfalt. Diese Fotos jedoch waren von keinem besonderen Interesse. Es ließen sich in allen Familien die gleichen finden, die alle die gleiche Geschichte erzählten, da sie die gleichen Personen in Szene setzten: Neugeborene in spitzenbesetzten Kleidchen, Kommunionskinder, Frischvermählte, Frauen im Sommerkleid am Brunnen, unwahrscheinlich viele siegreiche und besiegte, arrogante, arglos männliche, verängstige und verschämte Soldaten, posierend in den Gräben an der Somme, in den Straßen von Rabat, Aleppo oder Saigon, in tropischen Regenwäldern oder Wüstengegenden, mit dem auf ihre Mützen gestickten goldenen Anker der Kolonialtruppen, inmitten von marokkanischen Goumiers, senegalesischen Tirailleuren, auf arabischen Vollblütern aufsitzenden Spahis, in unmittelbarer Nähe einer Artillerieabteilung der Maginot-Linie, und, eingehüllt in Militärdecken, auf den Fluren eines Kriegsgefangenenlagers, Kinder auf den Schößen ihrer Mütter, Gruppen vergnügter Jugendlicher, in Badekostümen und erstmals in Farbe, sowie alte verschleierte Frauen, deren stets mürrischer Gesichtsausdruck bezeugte, dass diese niedere Welt sehr wohl jenes Tränental war, das die Psalmen beschwören. Antonias Pate dachte zunächst, sie interessiere sich für ihre Wurzeln, und bot ihr an, sie durch die verschlungenen Wege einer Genealogie zu leiten, welche aufgrund der vorzeitigen Witwenschaften und Neuvermählungen, der aus unterschiedlichen Verbindungen stammenden Kinder, der unvermeidlich alleinstehenden Mütter und unterschwellig blutsverwandten Vereinigungen für einen frisch Bekehrten hoffnungslos undurchschaubar war. Die beachtlichen und manchmal vergeblichen Anstrengungen, die er unternahm, um Unbekannte zu identifizieren und deren Verwandtschaftsgrad festzustellen, riefen bei Antonia nur höfliches Interesse hervor. Das Rätsel, das sie packte, war ein anderes. Es war ihr nicht wichtig, ob sie nun der Familie derer angehörte, die ihre Spuren auf dem glänzenden Papier hinterlassen hatten, oder auch nicht. Das Rätsel gründete in der Existenz der Spur selbst: Das von inzwischen alt gewordenen oder längst zu Staub zerfallen Körpern reflektierte Licht war während eines Vorgangs eingefangen und bewahrt worden, dessen wundersamer Aspekt mit simplen technischen Erklärungen nicht erschöpfend erfasst werden konnte. Antonia besah sich das Porträt ihrer zehnjährigen Mutter, aufrecht dastehend, im Schatten des vor dem Haus gepflanzten Lorbeerbaums, an der Seite einer winzigen Ahnin, die, wie üblich, eine grauenerregende Grimasse zieht, auch ihren Paten erkannte sie wieder, genauso alt, inmitten anderer für ein Klassenfoto im Hof der Dorfschule versammelter Schüler, und das Haus, der Schulhof, ja selbst der Lorbeerbaum schienen sich nicht verändert zu haben, die Ahnin aber war tot, ihre Mutter und ihr Pate waren längst keine Kinder mehr, und dennoch hatte ihre verschwundene Kindheit auf dem Film eine ebenso fassbare und unmittelbare Spur ihrer Wirklichkeit hinterlassen wie der Abdruck eines Fußes in lehmiger Erde, und Antonia hatte den Eindruck, dass sich all die ihr vertrauten Plätze und, ausgehend von diesen Plätzen, die Unermesslichkeit der ganzen Welt mit schweigsamen Formen füllte, als würden sämtliche Augenblicke der Vergangenheit simultan weiterbestehen, nicht jedoch in Ewigkeit, sondern in einer unbegreiflichen Fortdauer der Gegenwart. Dabei wusste Antonia genau, dass alle Erwachsenen einst Kinder waren, sie wusste, dass die Toten einst gelebt hatten und die Vergangenheit, mochte sie auch noch so fern zurückliegen, einst Gegenwart war; worin nur konnte sich der Beweis der Richtigkeit dieser Gemeinplätze als rätselhaft oder überwältigend offenbaren? Nach einer intelligenten oder tiefgründigen Antwort auf diese Frage zu forschen, war vergeblich: Aller Suche nach Tiefe setzten die Fotografien die Undurchdringlichkeit ihrer Oberfläche entgegen.

Er war sich sicher, dass die neue Leidenschaft seiner Nichte und Patentochter alles andere als eine Laune war. In diesem Fall irrte er nicht, seine Sicherheit jedoch war nicht aus irgendeiner Form von Scharfsinn erwachsen. In Wirklichkeit schenkte er Antonia blindes Vertrauen, alles, was sie sagte oder unternahm, schien ihm bewundernswert zu sein, wurde sie einmal eines Fehlers überführt, so unterstellte er stets, dass sie im Grunde einem geheimen, edlen Ruf gehorcht habe. Seit jenem Sonntagmorgen des Sommers 1965, da er sie über den Taufstein gehalten hatte, obgleich seine Verbindung zu Gott noch gar nicht gegeben war und er infolge einer in der Stadt durchzechten Clubnacht obendrein noch gegen einen furchtbaren Kater anzukämpfen hatte, fühlte er sich mit ihr unzertrennlich verbunden, im Blute wie im Geiste. Er liebte sie, als wäre sie tatsächlich durch die Gnade eines Sakraments, dem er doch keinerlei Bedeutung beimaß, zu seiner Tochter geworden, und diese Liebe war die einzige, die er, in aller Fülle, bedingungslos und unbegrenzt bekunden konnte, bevor ihn dann ein unerwarteter und gebieterischer Ruf auf seinem eigenen Weg nach Damaskus in die Knie zwang. Seine Schwester machte ihm das zum Vorwurf, sie prophezeite, dass er aus Antonia ein unerträglich verwöhntes Kind machen würde, und sie schätzte es ganz und gar nicht, dass er sich nun ein weiteres Mal durch ein so unverschämt teures Geschenk wie eine Kamera hervortat. Sie schätzte es umso weniger, als sich Antonia, ihres neuen Geschenkes alles andere als überdrüssig, in den Wochen, die auf ihren Geburtstag folgten, daran machte, die Mitglieder ihrer Familie und alle unvorsichtigen Besucher einer ständigen Bedrohung ihres Objektivs auszusetzen. Es musste erst die endgültige Konfiszierung des Apparats erwähnt werden, bevor sie sich schließlich damit abfand, Tiere zu fotografieren, Blumen, Landschaften und Gebäude, alles, was sich ihrer Gier mit folgsamer Gleichgültigkeit unterwarf. Antonia verzweifelte. Sie interessierte sich weder für Tiere noch für Blumen, und sie verpfuschte obendrein all ihre Fotos. Sie konnte noch so sorgfältig die Werte von Blende und Verschlusszeiten in einem Heft notieren, sie brachte doch nur unscharfe, zu dunkle oder grauenhaft überbelichtete Bilder zustande. Jedes Mal wenn sie ihre Abzüge entgegennahm, wurde sie von Mutlosigkeit übermannt. Sie machte keinerlei Fortschritte, und das Ganze kostete ein derartiges Vermögen, dass ihre Eltern ihr schließlich erlauben mussten, im Keller ein eigenes Labor einzurichten. Sie lernte, ihre Negative in den säurehaltigen Ausdünstungen der chemischen Produkte und des Rosés zu entwickeln, den ihr Vater in großen Mengen bei der Genossenschaft kaufte, bevor er ihn eigenhändig in Flaschen abfüllte. Es gelang ihr, endlich ihre erratische Belichtung unter Kontrolle zu bekommen und das Bild korrekt scharf zu stellen. Aber sie war noch immer nicht zufrieden. Sie musste sich eingestehen, dass der Großteil aller Momente es kaum verdiente, dem Verfall auf wundersame Weise entzogen zu werden. Erst als der August des Jahres 1979 anbrach, schoss sie, beinahe ohne es zu wollen, das erste Foto, das aufzubewahren sie für würdig hielt.

Pascal B. und seine Freunde machten Antonia, Madeleine und Lætitia O. sowie anderen Mädchen aus dem Dorf, die sie gefährlicherweise aufhörten, als Kinder zu betrachten, den Vorschlag, in der Stadt ein Eis essen zu gehen. Sie parkten die Autos am Hafen. Die Cafés lagen an einer Straße, die zu den Stränden führte und die man überqueren musste, wollte man die Terrassen direkt am Meer erreichen, wo sich Antonia, die Kamera griffbereit, mit den Mädchen niederließ. Die Jungs blieben auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sie saßen an einem Tisch auf dem Bürgersteig, mit Ausnahme von Pascal B., der, nah am Eingang, mit dem Rücken an der Mauer lehnte, seinen Espresso in der Hand. Er trug ein Ensemble aus Uniformjacke und weißer, mit bunten indianisch inspirierten Stickereien verzierter Hose sowie geflochtene, gleichfalls weiße Mokassins. Er war damals neunzehn Jahre alt, und Antonia fand ihn unwiderstehlich. Sie beobachtete die Gruppe eine Zeit lang durch den Sucher, stellte die Blende ein und wartete, bis ein ungelegen aufgetauchter Kellner, der gerade die Straße überquerte, im Inneren der Bar verschwunden sein würde. In dem Moment, da sie schließlich abdrückte, tauchten von links Passanten, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte, im Bildrand auf. Es war ein Touristenpärchen, ein Mann und eine Frau von gut vierzig Jahren, die ihre Kinder bei sich hatten. Sie gingen Richtung Strand, barfüßig und nur in Badesachen gekleidet, die Handtücher über den Schultern, ohne jegliches Gespür dafür, dass sie mit der unverzeihlichen Lässigkeit ihres Eindringens Antonias peinlich genaue Komposition ruinierten. Beim Entwickeln stellte Antonia überrascht fest, dass das Foto perfekt war – und lernte auf diese Weise, dass sie niemals an der Verschwendungssucht des Zufalls verzagen brauchte: Man sieht darauf die Jungs, mit angeekelter oder missbilligender Miene, allesamt die Köpfe in Richtung des linken Bildrands streckend, an dem gerade die unbekümmerten Touristen erscheinen, wie sie unter dem Schild der Bar voranschreiten. Pascal B. schaut gleichfalls in ihre Richtung, aber sein Blick drückt mehr als nur Missbilligung oder Ekel aus. Sie gingen lächelnd ihres Weges, als gäbe es die außergewöhnlich feindselige Welt gar nicht, die sie umgab. Man kann unmöglich entscheiden, ob ihre Verblendung aus Unschuld oder Verachtung erwachsen ist. Das Foto, obgleich es die Möglichkeit dazu erahnen lässt, zeigt nicht, wie der Mann, eine Sekunde später, in einer abrupten Hinwendung zu seiner Frau, Pascal B. anrempelte, der daraufhin seinen Kaffee verschüttete und einen kurzen Moment lang mit dem Ausdruck ungläubiger Verblüffung die braunen Flecken besah, die sein weißes Ensemble besudelten. Der Schuldige öffnete den Mund, vielleicht, um nutzlose Entschuldigungen hervorzubringen, Pascal B. jedoch ließ ihm keine Zeit zu reden und versetzte ihm einen Schlag gegen den Kopf. Der Tourist führte die Hände zur Nase und ging auf dem Bürgersteig in die Knie. Die Frau stürzte sich schreiend auf Pascal B., der sie brutal gegen die Wand rammte. Er ging wieder auf den Mann am Boden zu und versetzte ihm einen Tritt in die Seite, auf den ein zweiter folgte, bei dem er ihn mit Vorwürfen überhäufte. Der Tourist kauerte sich auf dem Boden zusammen und versuchte, sich so gut wie möglich zu schützen. In der Bar machte niemand Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen. Die in Angst und Schrecken versetzten Kinder begannen zu schreien und zu weinen. Die Frau, deren Schulter und Rücken aufgeschürft waren, nahm sie in ihre Arme und weinte ebenfalls. Antonia und die Mädchen waren näher herangetreten, um zuzuschauen. Alle schauten zu. Urplötzlich flaute die Wut von Pascal B. wieder ab. Er blieb aufrecht stehen, keuchend, mit leerem Blick, und machte dann auf dem Absatz kehrt, um in die Bar zu gehen. Der Mann erhob sich, das Gesicht blutüberströmt, und ging mit seiner Frau und den Kindern weg. Antonia hörte Gelächter. Merkwürdigerweise hatte sie, obgleich ständig einen Mangel an interessanten Sujets beklagend, keine weiteren Bilder gemacht. Sie wusste, dass sie damit richtig gelegen hatte: Die Erniedrigung eines Mannes, der vor den Augen seiner Kinder verdroschen wird, sein Entsetzen und seine Schwäche, und dann auch noch der widerwärtige kollektive Lustschauer, der die Zuschauer durchlaufen hatte, dies alles musste für immer in den Abgründen der Vergangenheit verschwinden. Antonia hatte den Gorgonen bislang noch nicht ins Auge geblickt, nun aber hatte sie, zum ersten Mal, ihre Anwesenheit verspürt und die Schlangen ihres Haars zischen gehört. Ihr Mund war trocken, ihr war leicht schwindelig, sie fühlte einen Anflug von Scham und war zugleich von dem, dessen Zeugin sie soeben geworden war, unfassbar erregt, diesem Ausbruch purer Gewalt, der so unverhältnismäßig war, dass er vollkommen willkürlich wirkte, sie hatte die Nähe daran gemocht, sie hatte den Sinn darin erfasst, und als Pascal B. schließlich aus der Bar trat, wo er vergeblich versucht hatte, mithilfe eines feuchten Tuchs die Kaffeeflecken zu entfernen, fand sie ihn noch viel anziehender. Im Auto auf dem Weg nach Hause gratulierten ihm die Jungs und schlugen ihm kumpelhaft auf die Schulter. Er fixierte beim Fahren die Straße, ohne zu antworten, ohne zu lächeln. Als er Antonia vor ihrem Haus absetzte, hatte sie Lust, ein Porträt von ihm zu machen, eine Nahaufnahme, am Steuer seines Wagens, aber sie wagte es nicht, ihn zu bitten, für sie zu posieren. Sie schickte das Foto, mit dem sie so zufrieden war, ihrem Paten ins Priesterseminar, damit er sich über ihre Fortschritte freuen konnte. In dem Brief, der ihre Sendung begleitete, erwähnte sie weder den Vorfall, noch die verstörende Zweideutigkeit der Gefühle, die sich in ihrer Seele geregt hatten. Sie schickte ihm in der Folge immer häufiger Fotos, die sie für gelungen hielt. Im Februar 1981 schenkte sie ihm einen großen gerahmten Abzug jenes Bildes, das sie während seiner Priesterweihe aufgenommen hatte, bei der er, außer sich vor Freude und Erregung, mit klopfendem Herzen, auf dem eiskalten Plattenbelag der Kathedrale von Ajaccio bäuchlings auf dem Boden gelegen hatte.

Jetzt hat die Totenglocke zum ersten Mal geschlagen, und er, im Messgewand, die violette Stola über den Schultern, erwartet die Ankunft des Sarges, während er sich vergeblich bemüht, vor der Marienstatue zu beten. Er weiß sehr wohl, dass die Erfahrung unsagbarer Einsamkeit und Verlassenheit derjenigen des Glaubens innewohnt, aber in genau diesem Augenblick fehlt ihm die Kraft, es zu ertragen. Noch hat er Angst, nicht imstande zu sein, die Totenmesse abzuhalten. Zwei Tage zuvor, als seine Schwester ihn darum am Telefon bat oder es doch eher von ihm abverlangte, nachdem sie ihm kurz zuvor Antonias Tod mitgeteilt hatte, da hatte er dies zunächst voller Empörung verweigert, wie kannst du nur? Du weißt sehr gut, dass das nicht mein Platz ist, mein Platz ist an eurer Seite, aber sie weigerte sich, es zu hören, und er konnte noch so dumm und vergeblich wiederholen, das ist nicht mein Platz, hör mir zu, sie schnitt ihm doch das Wort ab, sie sagte, nein, du hörst jetzt mir zu, wenn du dich weigerst, schicken sie uns einen Franziskaner, aus Flandern, Mexiko, Laos oder was weiß ich woher, ist ja auch ganz egal, auf jeden Fall versteht niemand auch nur ein Wort von dem, was die sagen, die bringen alle zum Lachen, sogar bei Beerdigungen, da lacht plötzlich wer grell auf, voller Spott, und die kriegen es nicht einmal mit, die sind taub und verkalkt, die sind allesamt verkalkt, die irren sich bei den Vornamen, stell dir nur vor, die sind nicht einmal imstande, das Schild auf dem Sarg richtig zu lesen, letzten Monat erst, auf der Beerdigung des alten Jean-Charles P., da nannte der Priester ihn die ganze Messe über Jean-Simon, niemand wagte, ihn darauf hinzuweisen, eine Schande!, und außerdem tragen die dick auf, die könnten sich ja auch ans Wesentliche halten, die Messe lesen, den Leichnam segnen und wieder in ihr Kloster abziehen, aber nein!, natürlich nicht!, die suhlen sich in unendlichen Predigten, da machst du dir keine Vorstellung, die finden einfach kein Ende, und, wie gesagt, niemand versteht auch nur ein Wort, wie können die auch nur eine Sekunde lang denken, sie könnten Französisch?, das ist mir völlig schleierhaft!, und besser ist’s, wenn keiner was versteht, die kennen uns nicht, die wissen nichts über uns, die müssen irgendwas von sich geben, Gemeinplatz an Gemeinplatz reihen, Lüge an Lüge, und ich, ich habe keine Lust, dass irgendein seniler Belgier, der meine Tochter nicht kennt, uns was über sie erzählt und alle Leute zum Lachen bringt, weil er sie Jeannine oder Roberte oder weiß Gott wie nennt, ich habe keine Lust, dass er uns lächerlich macht, dass er die Erinnerung an sie beschmutzt, selbst mit den besten Absichten dieser Welt, und du, du willst das auch nicht, du kannst das nicht wollen. Du musst es übernehmen, und damit hat sich’s. Sag mir nicht, dass das nicht dein Platz ist. Wo sonst sollte dein Platz sein? Sie hatte recht, die Franziskaner waren tatsächlich Ausländer oder verkalkt oder beides zugleich und drückten sich in einem Kauderwelsch aus, dessen unterhaltsame Klangfarbe die Würde welcher Feierlichkeit auch immer nur in äußerste Gefahr bringen konnte, und insbesondere die einer Beerdigung. Und so sagte er zu ihr: Du hast recht, und kapitulierte. Hätte sie unrecht gehabt, wäre eine Kapitulation nichtsdestotrotz der einzig denkbare Ausweg geblieben; denn seine Schwester drückte sich mit unanfechtbarer Kampfesbereitschaft in einem Ton aus, der nicht den geringsten Widerspruch duldete, und dies, obwohl sie inzwischen seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen hatte und noch tags zuvor, ohne jede Nachricht von Antonia, die weder aus Calvi zurückgekehrt war noch auf die Anrufe reagiert hatte, keinen Satz beenden konnte, ohne in Tränen auszubrechen und mit gebrochener Stimme wieder und wieder zu sagen, dass ein Unglück geschehen sei, sie war sich dessen sicher, und sie brachte ihn zur Verzweiflung, ihm aber kam es gar nicht in den Sinn, sich zu beunruhigen, sich auch nur eine Sekunde lang vorzustellen, dass dies wahr sein mochte, aber es war wahr, und jetzt, da dieses Unglück geschehen war, da weinte sie nicht mehr. Alle Zukunft kristallisierte sich schlagartig zur Organisation der Bestattung. Sie hatte einzig und allein ihre Aufgabe zu erfüllen und ihre Tochter würdevoll zu beerdigen, und sie widmete sich so inbrünstig dieser ausschließlichen Bestimmung, für die sie sämtliche Hindernisse eines nach dem anderen und zuvörderst den Unwillen ihres eigenen Bruders aus dem Weg räumte, die sie daran hindern mochten, an ihr Ziel zu gelangen, dass in ihr selbst für den Kummer kein Platz blieb. Armselige Ausflucht, dachte er. Meine arme Schwester. Er hatte unendliches Mitleid mit ihr, konnte aber nicht umhin, in diesem verdächtigen Mitleid den elenden Ausweg zu erkennen, den er selbst einschlug, um seinem eigenen Kummer gleichfalls zu entkommen.