Russell Ginns

Samantha Spinner

In 80 Tunneln um die Welt

Russell Ginns

Russell Ginns ist ein Schriftsteller und Spieledesigner, der sich auf Rätsel, Lieder und kluge Unterhaltung spezialisiert hat. Er hat an Projekten für die Sesamstraße, Nintendo, NASA, UNICEF und Hooked on Phonics gearbeitet. Einmal hat er sogar ein Gedicht auf der Rückseite einer Alpha-Bits-Cornflakes-Packung veröffentlicht. Russell lebt und schreibt in Washington, D. C.

Für Ken Westerman

Lehrer schicken uns auf unglaubliche Abenteuer.
Sie erweitern unseren Horizont und vergrößern unsere Welt
auf vollkommen unerwartete Weise.

Teil 01, Code H13RG1B

Borobudur

Borobudur ist der größte buddhistische Tempel der Welt. Er wurde im 15. Jahrhundert in Zentraljava, Indonesien, erbaut.

Das Gebäude besteht aus neun Plattformen mit einer großen Kuppel auf dem Dach. Die unteren sechs Plattformen sind quadratisch. Die oberen drei Plattformen sind kreisförmig und ringsum von Buddahstatuen aus Stein gesäumt, die jede für sich in kleinen überkuppelten Kammern stehen. Diese Kammern nennt man Stupas.

Borobudur ist Indonesiens meistbesuchte Touristenattraktion. Jedes Jahr steigen Millionen von Menschen auf den Tempel, um seine dreitausend kunstvollen Reliefs, seine zweiundsiebzig Stupas und den eindrucksvollen Ausblick auf die Wälder und Vulkane zu bestaunen.

***

Einer der Stupas ist in Wahrheit gar nicht aus Stein. Halt Ausschau nach einer Kuppel, die dunkler aussieht als alle anderen. Wenn du genauer hinschaust, wirst du erkennen, dass es tatsächlich ein äußerst robuster, mit Helium gefüllter Ballon ist. Stricke halten ihn über einer niedrigen Grube fest.

Drück den Ballon beiseite und hüpf in den Bottich darunter. Dein Gewicht wird den Ballon herunterziehen und du wirst hinabsinken in eine riesige Höhle … im Inneren eines Vulkans!

Du wirst an rasiermesserscharfen Felskanten und glühend heißen Dampfsäulen vorbeischweben. Streck deine Arme und Beine auf keinen Fall aus dem Bottich hinaus – wenn du das Gleichgewicht verlierst, purzelst du in einen Fluss aus heißer Lava.

ERSTES KAPITEL

Hundejammer

»Guck, hier!«, rief Samantha unter dem Küchentisch. »Mach schon!«

Sie schob mit dem Fuß einen Stuhl zur Seite, um ihrem Bruder Platz zu machen.

»Was? Wo?«, fragte Nipper und beugte sich rasch zu ihr hinunter.

Er schätzte die Tischhöhe falsch ein und stieß sich den Kopf.

»Das hat wehgetan«, sagte er, rieb sich die Stirn und zwängte sich neben sie. »Du hast vergessen, Kopf einziehen zu sagen.«

»Na schön«, erwiderte sie. »Kopf einziehen. Jetzt guck mal hier.«

Samantha nahm die lila Sonnenbrille ab, die sie von Onkel Paul bekommen hatte. Sie setzte sie Nipper auf die Nase und zeigte auf ein Tischbein.

»PSST?«, fragte Nipper.

»Genau«, erwiderte sie, nahm ihm die Brille ab und setzte sie selbst wieder auf. Durch die achteckigen Gläser sah sie vier Buchstaben auf dem Tischbein leuchten:

P

S

S

T

»Und guck dir das mal an«, forderte sie ihn auf.

Sie streckte ihre Hand aus und griff nach dem Tischbein, knapp unterhalb der Tischplatte.

»Ta-da!«, sagte Samantha.

Klick!

Ein kleines Plättchen schob sich nach unten und gab eine Öffnung frei. Es zischte, als Luft in das hohle Tischbein gesogen wurde.

»Oho«, sagte Nipper. »Noch eine zweite Druckluftröhre.«

Samantha nickte. Die erste hatten sie bereits unter dem Tisch entdeckt, als Samantha die Brille erhalten hatte. Sie zeigte mit einer Hand auf das leise zischende Tischbein zu ihrer Rechten.

»Zu uns nach Seattle«, sagte sie.

Dann zeigte sie mit der anderen Hand auf die neue Öffnung.

»Von Seattle weg«, erklärte sie und stieß einen großen, zufriedenen Seufzer aus.

Endlich mal ein entscheidender Durchbruch.

Als Samanthas Onkel Paul verschwunden war, hatte er Geschenke für seine Nichten und seinen Neffen zurückgelassen. Samanthas Schwester Buffy hatte 2,4 Milliarden Dollar erhalten, Samanthas Bruder Nipper die New York Yankees und Samantha selbst einen rostigen alten Regenschirm. Natürlich war ihr das schrecklich unfair erschienen – bis Samantha daraufkam, genauer hinzusehen. Sie fand heraus, dass der Schirm eine supergeheime Karte der Welt war! Das hatte dazu geführt, dass Samantha und ihr Bruder nach Frankreich, Italien und Ägypten gereist waren und den REGEN besiegt hatten – den Reichlich Erlesenen Geheimbund Erbarmungsloser Ninjas. Sie hatten sogar die Mona Lisa gerettet. Aber Onkel Paul blieb nach wie vor verschwunden.

Dann war per Druckluftröhre eine geheimnisvolle Sonnenbrille eingetroffen, zusammen mit einer Nachricht.

Hüte dich vor der SONNE.

Horace

Für Samantha war es der Beweis, dass Onkel Paul lebte.

Außerdem war da noch die Skizze des Obelisken, den sie von einem Bild im Tempel des Horus in Ägypten abgemalt hatte. Als sie erfahren hatte, dass es sich bei diesem Steinpfeiler um ein Denkmal in New York handelte, das die Nadel der Kleopatra genannt wurde, war Samantha der Verdacht gekommen, dass Onkel Paul nicht nur am Leben war, sondern sich zudem in New York aufhielt.

Und zu guter Letzt hatten sie einen Brief von ihrer älteren Schwester bekommen. Buffy hatte der Familie geschrieben, dass sie in den New Yorker Stadtteil Manhattan gezogen war, um mit dem »berühmten Broadway-Produzenten Horace Temple« an einem Musical zu arbeiten, das natürlich auch in dem berühmten Theaterviertel dort aufgeführt werden sollte.

Und da wusste Samantha, dass Onkel Paul lebte und sich in New York aufhielt … und zwar bei ihrer Schwester Buffy in Manhattan.

Unglücklicherweise hatte Samantha keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Die Magbahn, die sie dank der supergeheimen Karte gefunden hatte, fuhr nicht nach New York und auch nicht irgendwo in die Nähe. Ihre Eltern hatten versprochen, dass sie nach dem Ende des Schuljahrs, in einem Monat, gemeinsam nach New York reisen würden, und kein Bitten und Betteln konnte sie dazu überreden, früher zu fahren.

Da sie momentan also nicht New York erkunden konnte, erkundete Samantha stattdessen ihre Heimatstadt Seattle mit der lila Brille.

Als Erstes hatte sie ihren Regenschirm inspiziert – und somit die supergeheimen Pläne. Darauf ließ sich mit der Brille allerdings nichts Neues entdecken. Sie hatte in Onkel Pauls Wohnung über der Garage und rund ums Haus gesucht. Nichts. Was auch immer sie durch die Gläser betrachtete, wurde lila, aber das war schon alles.

Auf dem Briefkasten am Ende ihrer Straße hatte sie dann die erste Spur gefunden. Sie betrachtete ihn durch die Brille und sah leuchtend gelbe Buchstaben auf dem Metallgehäuse, genau wie die auf den Tischbeinen in der Küche:

PSST

Aber das brachte sie auch nicht weiter. Als Nächstes hatte sie tagelang die geheime Magbahnstation unter dem Briefkasten abgesucht. Sie fand nicht das Geringste. Sie hatte ihre Anstrengungen verdoppelt und jede Wand, jeden Fußboden und jeden Gegenstand in ihrem Haus unter die Lupe genommen. Und noch immer keine Spuren.

Warum nur musste Onkel Paul um alles so ein großes Geheimnis machen? Und warum kam er nicht einfach nach Hause?

Am Ende war sie wieder unter dem Küchentisch gelandet, wo sie die Brille überhaupt erst erhalten hatte.

»Jetzt werden wir Onkel Paul finden«, sagte sie zu Nipper. »Da bin ich mir sicher.«

Sie holte ein Stück Papier aus der Tasche und kritzelte mit einem Stift eine Nachricht darauf.

Paul/Horace: Wo bist du?

Samantha stopfte den Zettel in die Öffnung des Tischbeins »von Seattle weg«. Ein Luftzug erfasste ihn und er verschwand in der Röhre.

»Was glaubst du, wohin er geschickt wird?«, fragte Nipper.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete sie. »Aber ich vermute, dass …«

Klack!

Samantha sah sich um. Eine Meersalzmühle aus Plastik war auf den Küchenboden gefallen und rollte über die Kacheln.

Kla-kracks!

Eine Pfeffermühle fiel auf den Boden und zersprang.

Samantha hob den Blick. Ihr Mops, Dennis, spazierte über die Arbeitsplatte der Küchentheke und schnüffelte an allem, das ihm vor die Schnauze kam.

»Oh, oh«, sagte Nipper und zeigte auf den Stuhl, den Samantha beiseitegeschoben hatte, damit sie sich die Tischbeine besser ansehen konnten.

Samantha blickte vom Stuhl vor der Küchentheke hinauf zu Dennis. Er näherte sich gerade dem geöffneten Waffeleisen.

»Pass auf!«, rief sie.

»Was denn? Kopf einziehen?«, fragte Nipper.

»Nicht du«, erwiderte sie und zeigte zur Theke.

»Dennis!«, rief sie noch lauter. »Geh da weg!«

Der Hund drehte sich erschrocken um und stieß dabei gegen das heiße Frühstücksgerät.

Kla-zapp!

Das Waffeleisen klappte zu und klemmte seinen Schwanz ein.

Dennis jaulte vor Schmerz auf.

ZWEITES KAPITEL

Poster Boy

»Gib acht, dass unser armes Baby sich nicht so viel bewegt, Jeremy!«, sagte Mrs Spinner.

Nipper blickte sich verwirrt um. Er brauchte einen Moment, bis ihm einfiel, dass sein eigentlicher Name ja Jeremy Bernard Spinner war. Normalerweise wurde er von allen immer nur Nipper genannt, weil er als kleines Kind ständig an Sachen genibbelt und andere gebissen hatte. Das machte er jetzt nicht mehr so oft, aber trotzdem nannten ihn alle noch Nipper. Jeremy sagte seine Mutter nur dann zu ihm, wenn sie richtig ärgerlich war.

Er saß auf der Rückbank ihres Autos, mit dem winselnden Dennis auf dem Schoß.

»Halt still«, sagte er. Er hielt den Kopf des Hundes sanft fest, damit der Mops sich nicht den wunden Schwanz lecken konnte.

Stattdessen begann Dennis, Nippers Hand abzuschlecken.

»Hiii…hihihi – lass das!«, kicherte Nipper, ließ jedoch nicht los.

Samantha saß vorne neben ihrer Mutter. Sie hatte die Sonnenbrille auf und Nipper war sich sicher, dass sie draußen nach Spuren suchte.

»Das war nachlässig und gedankenlos, den Stuhl an die Küchentheke zu schieben«, ermahnte Mrs Spinner. »Dieser Hund wartet doch den ganzen Tag lang nur auf Waffeln und … Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ich hab doch schon gesagt, dass es mir leidtut, Mom«, gab Samantha zurück, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Ich habe etwas unter dem Tisch gesucht. Ich dachte, das ist kein großes Ding.«

»Kleine Dinge«, seufzte ihre Mom, »können große Folgen haben.«

Nipper war erleichtert, dass zur Abwechslung mal nicht er an allem schuld war. Es war ein seltsames Gefühl.

Sie fuhren auf die Klappbrücke zu, die den Stadtteil Capitol Hill mit North Seattle verband. Samantha starrte weiter aus dem Fenster. Nipper konnte sehen, dass sie das blinkende rote Licht der Space Needle – des riesigen Aussichtsturms von Seattle – betrachtete. Dann hatten sie die Brücke überquert und Nipper verlor das Stadtzentrum aus den Augen.

»Irgendein Hinweis auf die SONNE?«, flüsterte er.

Sie drehte sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. Anschließend nahm sie die Brille ab und steckte sie in ihre Handtasche.

»Nur noch ein paar Minuten, dann haben wir es geschafft«, sagte Mrs Spinner, als sie das Auto auf den für sie reservierten Parkplatz vor der North-Seattle-Tierklinik lenkte.

Sobald das Auto anhielt, sprang Samantha heraus und öffnete Nipper die Tür. Ihr Bruder stieg aus, mit Dennis auf dem Arm.

»Hier entlang«, sagte Mrs Spinner. Sie winkte sie die Treppe hinauf, zu ihrer Klinik im ersten Stock. Oben angelangt, schloss sie eine Tür auf. In die Milchglasscheibe war eine Aufschrift graviert.

ABTEILUNG FÜR NAGETIERE UND ECHSEN

DR. SUZETTE SPINNER, TIERÄRZTIN

Es war schon nach Dienstschluss, deshalb lag der Flur im Dunkeln. Mrs Spinner knipste das Licht an.

»Bist du sicher, dass du weißt, was du tust, Mom?«, fragte Samantha und zeigte auf das Schild an der Tür.

»Ich weiß genug, um alle möglichen Arten von Tieren zu versorgen«, erwiderte Mrs Spinner.

Nipper sah zwischen seiner Schwester und seiner Mutter hin und her. Die beiden starrten einander an.

»Das schließt sowohl Hunde ein … als auch euch beide«, schloss Mrs Spinner.

Nipper streckte ihr den Mops entgegen.

»Okay«, sagte sie und steuerte auf die andere Seite des Wartezimmers zu. »Ihr zwei wartet hier, in ein paar Minuten habe ich ihn verarztet.«

Sie nahm Dennis und trug ihn durch eine Metalltür hinaus. Die Tür schwang hinter ihr zu und Samantha und Nipper waren allein.

Es war schon lange her, seit Nipper seine Mutter das letzte Mal auf der Arbeit besucht hatte. Hier sah es eindeutig nach einem Ort für Erwachsene aus. Spielzeug gab es nirgends, nur Zeitschriften über Golf und Häuser. Er spielte gerade mit einer Schachtel, auf der Milchzuckerfreier Kaffeeweißer stand, als ihm ein dickes, gebundenes Buch mit dem Titel Weltberühmte Kunstwerke, die man kennen sollte ins Auge fiel.

Nipper setzte sich auf den Boden und begann, das Buch von hinten nach vorne durchzublättern.

»Seite 967 fehlt«, sagte er. »Meinst du, einer von Moms Patienten hat sie gefressen?«

»Das bezweifle ich«, sagte Samantha, die sich über ihn gebeugt hatte. »Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der eine Echse in ein Buch beißt. Und es ist ja auch nicht so, dass man einer Echse das Lesen beibringen könnte oder dass …«

Nipper hatte schon wieder das Interesse an dem gewaltigen Kunstgeschichtsbuch verloren. Er stand auf, spazierte quer durch den Raum und betrachtete ein gerahmtes Poster an der Wand. Es handelte sich um die bunte Illustration einer tropischen Insel, die von Wolken umgeben war. Hier und da waren gezackte Bergspitzen und bonbonrosa Strände zu sehen, funkelnde Flüsse wanden sich durch üppig bewaldete Täler.

Mit Dinosauriern!

Unter der Zeichnung stand ein Gedicht:

Die vergessene Insel der Dinosaurier

In einem Meer voller Nebel

Ganz, ganz weit draußen

Liegt eine bergige Insel

Auf der Saurier hausen.

Du denkst jetzt: Wie spannend!

Wenn ich sie erwähne.

Aber nimm dich in Acht!

Sie haben sehr scharfe Zähne.

Tyrannosaurier brüllen

Und Raptoren reißen

Und ein Lythronax sucht

Nach etwas zu beißen.

Und steigst du auf Bäume

Dort am pinkfarbnen Strand

Frisst ein Pterosaurier

Dich mit Haut und Haar samt.

Es gibt auch Teergruben

Die einen verschlucken.

Wen sie erst mal haben

Werden sie nicht ausspucken.

Also, Kinder, seid brav.

Kein Geschrei und Gewinsel!

Sonst schicken eure Eltern

Euch fort auf die Insel.

Nipper starrte mit zusammengekniffenen Augen auf eine Szene am Rand des Posters. Ein Tyrannosaurus kämpfte gegen einen Triceratops. Dann sah er sich eine andere Ecke an. Dort hockte eine Maiasaura-Mutter über ihrem Nest voller Babydinosaurier.

»Boaaah«, sagte er leise und gedehnt. »Wo liegt diese Insel wohl?«

»Wie alt bist du, fünf?«, erwiderte Samantha. »Das ist bloß ein dummes Gedicht, das kleine Kinder dazu bringen soll, artig zu sein.«

Nipper hielt ihr beide Fäuste vors Gesicht und begann, an seinen Fingern abzuzählen.

»Fünf … sechs … sieben …«

»Und manche achtjährigen Jungs auch«, schnitt sie ihm das Wort ab.

Nipper machte ein finsteres Gesicht.

Samantha beugte sich vor und starrte auf das Poster.

»Es ist nicht mal ein besonders gutes Gedicht«, fügte sie hinzu. »Mit Haut und Haar samt? Und das soll sich auf Strand reimen?«

»Okay, okay, schon verstanden«, sagte Nipper.

Samantha wandte sich ab und Nipper las das Gedicht noch einmal. Unten auf dem Poster ragte ein bedrohlicher Dinosaurier über den Baumwipfeln auf, er hatte sich auf die Hinterbeine gestellt und seine tödlichen Zähne gefletscht.

Nipper formte still für sich mit den Lippen das Wort Lythronax.

Etwas quiekte und er drehte sich um.

Samantha hatte sich über einen kleinen Käfig gebeugt, der auf einem Regal in der Ecke stand.

»Oh … wie süß«, hauchte sie atemlos.

Ein pelziges Tierchen schaute zu ihr auf. Es sah ein bisschen aus wie ein Kaninchen oder vielleicht auch wie eine große Maus. Es hatte einen buschigen Schwanz, runde pinke Öhrchen und ein spitzes graues Pelzschnäuzchen. Ein kleines Etikett war um eines seiner Vorderbeine gewickelt. Nipper trat an den Käfig und legte den Kopf schief, um das Schild zu lesen.

»Chinchilla lanigera. Temuco, Chile«, las er laut.

Das Tier stellte sich auf seine Hinterbeinchen und starrte die beiden aus großen, runden Augen an. Es zuckte mit dem Näschen und gab ein leises Zwitschern von sich.

»Ich liebe Chinchillas«, sagte Samantha.

»Echt? Seit wann?«, fragte Nipper.

Die Tür zum Hinterzimmer schwang auf und ihre Mutter kam herein, mit Dennis auf dem Arm. Sie sah die beiden am Käfig stehen.

»Ihr wollt kein Chinchilla, Kinder«, sagte sie. »Die brauchen eine Menge Spezialpflege. Man muss ihnen regelmäßig Sandbäder bieten.«

Dennis trug einen weißen Plastiktrichter rund um seinen Hals. Er blickte sie traurig an.

»Es hat eine Weile gedauert, bis der Schutzkragen richtig saß«, erklärte Mrs Spinner. »Er war eigentlich für ein Capybara gedacht. Das Ding sollte Dennis für etwa einen Monat von seinem Verband fernhalten.«

Nipper stellte fest, dass Dennis’ Schwanz fest mit weißen Mullbinden umwickelt war. Der Hund drehte den Kopf angestrengt nach links, rechts, oben und unten, weil er über den Trichterkragen hinausschauen wollte.

»Was für ein Albtraum«, sagte Nipper.

Seine Mom nickte und warf Samantha einen Blick zu. Samantha schluckte.

»Lasst uns gehen«, sagte Mrs Spinner. Mit dem Mops auf dem Arm durchquerte sie das Wartezimmer und marschierte zur Tür hinaus.

Nipper betrachtete seine Schwester, als sie ihrer Mutter zur Tür folgte. Samantha sah noch einmal sehnsüchtig zu dem kleinen Metallkäfig zurück. Dann drehte sie sich um und ging nach draußen.

Nipper senkte den Blick auf einen Stapel Broschüren auf dem Regal neben dem Käfig. Er nahm sich eine davon und klappte sie auf.

»Chinchilla Direct«, las er laut. »Lieferservice.«

In den letzten paar Wochen hatte Samantha Nipper zweimal das Leben gerettet. Zuerst hatte sie einem Ninja mit einem altbackenen Brot eins übergezogen und Nipper davor bewahrt, in kleine Häppchen geschnitten zu werden. Und dann hatte sie seinen Hemdkragen mit ihrem Regenschirm am Boden eines ägyptischen Grabmals festgepinnt, damit er nicht in eine bodenlose Grube gespült wurde. Samantha erwies sich allmählich als coolere Art von elfjähriger Schwester, als er gedacht hatte. Natürlich würde er sie trotzdem weiterärgern, sie mit seinen Witzen belästigen oder sonst wie nerven. Und er brauchte sie auch immer noch als Testperson, wenn er sich neue Fallen ausdachte. Aber vorerst hatte sie wirklich ein besonderes Danke-dass-du-mich-zweimal-nicht-hast-sterben-lassen-Geschenk verdient.

»Kommst du?«, rief seine Mutter von draußen.

Nipper faltete die Broschüre zusammen, stopfte sie sich in die Hosentasche und verließ das Wartezimmer.

DRITTES KAPITEL

Es war nicht fair

Buffy war in Manhattan, umgeben von Luxus und den Lichtern der Großstadt.

Samantha war in Seattle, umgeben von einem nervigen Bruder, einem verletzten Hund mit Trichterkragen und Regen. Nicht dem REGEN – um den hatte sie sich schon gekümmert –, bloß gewöhnlichem Ich-sitz-hierfest-im-pazifischen-Nordwesten-Regen.

Tag für Tag bekam sie mit, was Buffy ihrer Mom oder ihrem Dad am Telefon erzählte. Buffy dekoriert ihr traumhaftes dreistöckiges Penthaus. Buffy engagiert Musiker und Darsteller. Buffy geht es spitze. Buffy hat Spaß. Buffy. Buffy. Broadway. Buffy.

Jeden Tag verbrachte ihre ältere Schwester Zeit mit Horace Temple, um an ihrem großen Musical zu arbeiten. Jeden Abend rief sie ihre Eltern an, um ewig lang über Geheimnis des Nils zu sprechen. Samantha hörte, wie sie Kostüme besprachen, Kulissen, exklusive Partys für Ehrengäste, Speisepläne für ein Galadinner zur Preisverleihung – es nahm kein Ende. Aber sie hörte nicht einen supergeheimen Hinweis heraus.

Unterdessen ignorierte Onkel Paul (alias Horace Temple) Samantha einfach. Er antwortete nicht auf die Nachricht, die sie ihm per Rohrpost geschickt hatte. Er schickte keine neuen Nachrichten. Ihr Onkel hatte ihr eine Brille zukommen lassen, sie gewarnt, sie solle sich vor »der SONNE« hüten, und offensichtlich auch gewollt, dass sie von der Nadel der Kleopatra erfuhr. Aber was bedeutete das alles? Und was konnte sie schon unternehmen, solange sie in Seattle festsaß?

Samantha wandte sich deswegen sogar an Buffy. Aber als sie nach Horace Temple fragte, sagte ihre Schwester leider bloß: »Horace lässt ausrichten, ihr sollt den Abend der Premiere nicht verpassen«, und legte dann auf. Ihre Schwester war genauso hilfreich, wie Samantha es von ihr erwartet hatte – nämlich überhaupt nicht.

Samantha fragte ihre Eltern jeden Morgen und jeden Abend, ob sie ihr nicht erlauben könnten, nach New York zu fliegen. Sie erklärten ihr – jeden Morgen und jeden Abend –, dass sie sich noch bis zum Schuljahrsende gedulden müsse. Dann würden sie gemeinsam eine Reise an die Ostküste machen.

Aber Samantha wusste, dass sie jetzt dorthin musste!

Sie ging in die Küche. Ihre Mutter stand an der Küchentheke und sah die Post durch. Bevor Samantha etwas sagen konnte, ertönte schon die Stimme ihrer Mutter.

»Die Antwort ist immer noch Nein, Samantha«, sagte Mrs Spinner, ohne auch nur aufzuschauen.

Samantha seufzte.

Sie hörte ein klapperndes Geräusch und senkte den Blick. Dennis versuchte gerade, an sein Futter zu gelangen, doch der Trichterkragen schob seinen Napf stetig vor ihm her. Der Mops blieb vor Samanthas Füßen stehen und sah mit einem tragischen Gesichtsausdruck zu ihr hoch.

»Ich verstehe, wie du dich fühlst«, sagte sie zu ihm. »Es ist doch einfach fürchterlich, wenn man so eingesperrt ist und festsitzt wie in einem Käfig, oder?«

»Dramatischer geht es wohl nicht«, sagte ihre Mutter. »Bei all dem Theater, das du veranstaltest, könntest du glatt für eine Rolle im Stück deiner Schwester vorsprechen.«

»Okay«, sagte Samantha. »Dann lass mich doch nach New York fahren.«

»Die Flugzeugtickets kosten 2,4 Milliarden Dollar«, sagte Mrs Spinner.

»Sehr witzig, Mom«, erwiderte Samantha.

Es musste doch irgendeinen Weg geben, wie sie nach New York kommen konnte. Sie stöhnte leise auf. Ihr war geradezu danach, kräftig Trübsal zu blasen. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie sich wieder ihrem schwermütigen Tagebuch zuwandte und triste Einträge über Ungerechtigkeit, Unglück und graue Nieselregenhimmel verfasste.

Sie schloss die Augen und begann zu dichten.

Nelly McPepper war vom Schicksal verlassen, doch auch wir sitzen mal fest an einem Ort, den wir hassen.

»Na, sieh mal an, was da mit der Post gekommen ist«, sagte Mrs Spinner.

Samantha öffnete die Augen wieder. Ihre Mutter streckte ihr eine neongrüne Postkarte entgegen. Samantha konnte ein glitzerndes goldenes Einhorn und eine Mumie darauf erkennen.

»Bestellen Sie jetzt Ihre Eintrittskarten für Geheimnis des Nils«, las ihre Mutter vor. »Du musst schon zugeben, Schatz«, fügte sie hinzu, »deine Schwester nimmt das Ganze wirklich ernst.«

»Ernst?«, erwiderte Samantha. »Ein ägyptisches Einhorn?«

Sie wandte sich von ihrer Mutter und der Postkarte ab. Sie schloss die Augen und widmete sich wieder ihrem Gedicht.

Ich bin ein Ei voller Trübsal. Ich bin ein freudloses Huhn. Ich hätt’ so viel zu erledigen, doch sie lassen’s mich nicht

Samantha hielt inne. Sie öffnete die Augen … und lächelte. Es war eindeutig an der Zeit, etwas zu schreiben, aber nicht in ihr Tagebuch.

Sie ging eilig in das Büro ihres Vaters.

VIERTES KAPITEL

Viechersendung

Samantha räumte zwei Glühbirnen beiseite und legte sie vorsichtig auf eine Kiste mit der Aufschrift Mini-Infrarotdioden, die in einer Ecke auf dem Schreibtisch ihres Vaters stand. Als führender Glühbirnentester für das Amerikanische Lampeninstitut hatte ihr Vater immer experimentelle Geräte und elektronisches Zubehör herumliegen. Sie rückte die lila Sonnenbrille auf ihrem Kopf zurecht und begann, in den Computer zu tippen.

»Lieber Mr von Bagelhouven«, sagte sie laut.

»Bagelhouven? Wer ist das denn?«

Sie drehte sich um. Es war Nipper.

»Gut«, sagte sie. »Ich wollte dich gerade suchen gehen. Mir ist eine Möglichkeit eingefallen, wie wir … Was hast du da in der Hand?«

Ihr Bruder hielt ihr einen kleinen, flachen Gegenstand hin.

»Hier«, sagte er. »Ich denke, das könnte deine Brille schützen.«

Samantha nahm das Objekt entgegen. Es war ein Brillenetui aus Leder.

»Woher ist das?«, fragte sie.

»Onkel Paul hat mir letztes Jahr eine Sonnenbrille geschenkt«, antwortete er. »Ich habe sie mit an den Strand genommen und da ist sie davongespült worden, als ich gerade eine Sandburg gebaut habe.«

Samantha öffnete das Etui und sah es sich an. Es war schön gepolstert, aber für kleine, runde Brillengläser gedacht. Ihre achteckigen Gläser waren zu groß. Sie legte es auf den Schreibtisch ihres Vaters und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

»Das Etui ist zu klein, aber trotzdem danke«, sagte sie. »Jetzt guck dir das mal an.«

Nipper beugte sich vor, um zu sehen, was sie da tippte.

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»Ich habe extraviel in großen Druckbuchstaben geschrieben und lauter Ausrufezeichen benutzt«, sagte Samantha. »So sieht es doch nach Buffy aus, findest du nicht?«

»Du lädst jemanden zu Buffys Stück ein?«, fragte Nipper.

»Ja«, sagte sie. »Ich weiß, dass das gemein ist. Aber ich denke, so kommen wir nach New York.«

»Okay … und warum gerade diesen Typen?«, fragte er.

»Ich habe recherchiert«, antwortete sie. »Das ist ein Theaterkritiker, dem keins der Stücke, die er sich ansieht, jemals gefällt.«

»Okay …« Nipper klang verwirrt. »Und wie genau soll uns das helfen, Onkel Paul zu finden?«

»Warte einfach ab, was als Nächstes passiert«, erwiderte sie und klickte auf Senden.

Es klingelte an der Tür.

»Boah! Das ging aber schnell«, staunte Nipper.

»Sei nicht albern«, sagte Samantha. »Geh nachsehen, wer das ist.«

Nipper verließ das Zimmer. Samantha hörte, wie er die Tür öffnete. Eine Minute später kam er mit einem großen Pappkarton zurück. Die Seiten des Pakets waren mit Tierspuren bedruckt. Den Deckel säumten reihenweise Löcher in der ungefähren Größe eines Vierteldollars. Aus mehreren von ihnen schauten schnuppernde rosafarbene Näschen. Das Paket wackelte in Nippers Händen. Sein Inhalt bewegte sich … und quiekte.

»Chinchillas«, las er vom Deckel des Kartons ab. »Zwölf Stück.«

FÜNFTES KAPITEL

Im Dutzend drolliger

Innerhalb von zwei Tagen trafen insgesamt zwölf Kartons vom Chinchilla-Versand ein. Jeder davon quiekte und brummte wie ein wilder Bienenstock aus Pappe. Als Samantha am dritten Tag aus der Schule nach Hause kam, war das Haus der Spinners voller Chinchillas.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte Mrs Spinner.

»Es war ein Geschenk für Sam«, antwortete Nipper, während er ein Chinchilla mit dem Fuß beiseiteschob.

»Der Chinchilla-Versand ist ein Lieferservice, der Nagetiere in großen Mengen verschickt«, sagte Mrs Spinner. »Ich wünschte wirklich, dass manch einer genauer hinsehen würde.«

Samantha fand, dass ihre Mutter ungewöhnlich frustriert über Nipper klang. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er das Haus in Unordnung brachte. Oder um ein Haar alle Möbel zerstört hatte.

»Chinchillas sind dämmerungsaktiv«, fügte Mrs Spinner hinzu. »Am eifrigsten sind sie im Morgengrauen und während der Abenddämmerung.«

Sie stellte eine Schüssel Nudelsalat auf den Tisch und setzte sich.

Alle fingen an zu essen und taten so, als ob sie das Quieken, das Piepsen und das Scharren winziger Krallen nicht hören würden.

»Ich mag Chinchillas nicht besonders«, sagte Samantha.

»Echt nicht? Seit wann?«, fragte Nipper.

Er schaufelte ein paar Nudeln auf seine Gabel und wollte sie sich gerade in den Mund schieben, als ein Chinchilla auf den Tisch sprang und genau in die Mitte seines Tellers huschte. Dort stellte es sich auf die Hinterbeinchen, sah zu ihm auf und gab zwitschernde Töne von sich. Dann stibitzte es die Nudeln von der Gabelspitze und sauste davon.

»Pfui, wie eklig«, rief Samantha. »Mit dieser Aktion hast du dich mal wieder selbst übertroffen, Nipper. Wirklich, ganz groß.«

»Tja, Nipper hat ja auch ein Gros Chinchillas bestellt«, sagte Mr Spinner.

»Hä?«, sagte Nipper.

»Ein Dutzend mal ein Dutzend ist ein Gros«, antwortete sein Vater. »Einhundertvierundvierzig.«

Samantha ignorierte die mathematische Belehrung ihres Vaters. Allerdings war es ein Ding der Unmöglichkeit, zwölf Dutzend Chinchillas zu ignorieren.

Als sie im Wartezimmer ihrer Mutter ein einzelnes gesehen hatte, hatte sie es niedlich gefunden. Sie mochte die leisen Geräusche, die es machte. Aber jetzt waren überall Nagetiere – quiekten, scharrten und kauten. Die Polstermöbel waren mit kleinen grauen Härchen übersät.

Samantha stand auf, um dabei zu helfen, den Tisch abzuräumen. Zwei Chinchillas jagten einander immer wieder ums Spülbecken herum, also stellte sie ihren Teller auf die Küchentheke.

Knacks!

Sie sah zum Kühlschrank hinauf. Letzten Herbst hatte ihr Vater ihr geholfen, für die Projektwoche eine Hängebrücke aus Eisstielen zu bauen. Jetzt nagten zwei Chinchillas an den Stäbchen und bissen eines nach dem anderen durch. Ihr Dad hatte recht gehabt. Die Brücke hielt selbst dann noch, wenn man die Hälfte der Stützen entfernte.

Sie bemerkte eine Spur aus Köteln auf dem Fußboden.

»Das ist außerordentlich eklig«, sagte Samantha, während sie auf dem Weg aus der Küche genau darauf achtete, wohin sie trat. »Ganz groß, Nipper.«

»Tja, weißt du, Sam«, rief Nipper, »ein Dutzend Dutzende ist ja auch dasselbe wie ein G…«

»Weiß ich!«, schrie sie zurück und stapfte die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.

Samantha setzte sich an ihren Schreibtisch. Ihr Notizbuch war auf der Seite mit der Skizze aufgeschlagen, die sie von der Nadel der Kleopatra gemacht hatte. Die Nachricht von Onkel Paul lag daneben. Wenn sie jemals nach New York gelangte, was würde sie dann dort finden?

Mehr und mehr Chinchilla-Laute drangen an ihr Ohr.

»Ganz toll«, murmelte Samantha.

Sie rieb sich die Stirn und versuchte, die Geräusche auszublenden. Sie sah sich noch einmal die Nachricht an.

»Hüte dich vor der SONNE«, las sie.

Sie hörte ein Zwitschern und drehte sich um. Ein Chinchilla schob sich langsam auf ihre Handtasche zu, die über dem Schreibtischstuhl hing.

»Oh nein«, warnte sie das Nagetier und schnappte sich die Handtasche. »Das ist nichts für dich.«

Sie überprüfte, ob sich ihre lila Sonnenbrille noch immer sicher darin befand. Dann hängte sie sich den Trageriemen über die Schulter.

»Irgendwelche Fortschritte, Sam?«, fragte Nipper, der gerade zur Tür hereinkam.

»Nicht so richtig«, antwortete sie. »Komm mal her und sieh dir meine Skizze von der Nadel der Kleopatra an.«

Das Chinchilla hüpfte von ihrem Stuhl auf ihr aufgeschlagenes Tagebuch.

»Schubs es einfach auf den Boden«, sagte Nipper.

»Nipper! Wag es ja nicht«, schimpfte Samantha. »Das sind wehrlose Tierchen.«

Sie schob den Nager sanft von ihrem Buch hinunter.

»He, sieh mal, Sam«, sagte Nipper und zeigte zur anderen Zimmerecke. »Ein wehrloses Tierchen knabbert gerade an deinen supergeheimen Plänen.«

Samantha fuhr herum. Ein Chinchilla saß in dem aufgespannten und umgedrehten Regenschirm. Es hatte mit den Zähnen einen roten Stofffetzen gepackt und zerrte daran. Sie hörte ein reißendes Geräusch.

Samantha schnappte entsetzt nach Luft. Dann sprang sie auf.

»Nein!«, schrie sie. Sie fegte das Nagetier mit einer Hand von den supergeheimen Plänen. Es kugelte über den Zimmerboden, bis es wieder auf die Beine kam. Dann flitzte es zur Zimmertür hinaus.

Samantha griff nach dem Regenschirm. Mit zittrigen Händen überprüfte sie ihn und strich mit dem Zeigefinger dort über den Stoff, wo das Tier mit den Zähnen zugepackt hatte. Ein frischer Riss, ungefähr zweieinhalb Zentimeter lang, zog sich durch seine Mitte.

Quiek!

Samantha ließ den Regenschirm zuschnappen und sah zum Schreibtisch hinüber. Ein weiteres Chinchilla stand dort auf den Hinterbeinen. Es hatte die Nachricht von Onkel Paul zwischen den Zähnen.

»Halt!«, kreischte sie und versuchte, danach zu greifen.

Das Nagetier drehte sich um, hüpfte vom Schreibtisch auf den Stuhl und dann auf den Boden. Mit der Nachricht im Mäulchen huschte es aus dem Zimmer.

»Halt, Chinchilla! Gib das wieder her!«, schrie Samantha und nahm die Verfolgung auf.

Indem sie den Schirm wie ein Schwert schwang, jagte sie dem flauschigen Zetteldieb auf der Treppe hinterher.

»Gib es zurück!«

Das wehrlose Tierchen rannte um sein Leben.

Samantha raste die Stufen hinunter und in die Küche.

Dort bremste sie taumelnd ab. Am Küchentisch saß ihre Mutter. Das Chinchilla flitzte unter den Stuhl zwischen Mrs Spinners Füße.

»Oh hallo, Schatz«, sagte sie zu Samantha. »Ich wollte dich und deinen Bruder gerade zu mir rufen.«

Auf dem Tisch vor ihr lag ein Ausdruck:

REISEPLAN

»Von Seattle nach New York!«, sagte Samantha atemlos.

»Eure Schwester hat euch Flugtickets für dieses Wochenende gekauft, damit ihr kommt und ihr helft«, sagte Mrs Spinner.

»Dieses Wochenende!«, wiederholte Samantha.

»Anscheinend gibt es Schwierigkeiten mit ihrem Stück. Sie sagt, sie braucht euch jetzt. Sie meint, Horace sei verschwunden und …«

»Horace ist verschwunden!«, unterbrach Samantha sie.

»Welcher Horace?«, fragte Nipper, als er zur Tür hereinkam.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Samantha. »Erinnerst du dich nicht mehr, dass wir ihm vor Kurzem noch eine Nachricht …«

»Samantha«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort. »Du hast doch wohl nichts hiermit zu tun, oder?«

»Oh nein, Mom«, antwortete Samantha und versuchte, ein ernstes Gesicht zu bewahren.

»Na ja … Buffy will jedenfalls eure Hilfe«, sagte Mrs Spinner. »Also habt eine schöne Zeit, aber bitte versucht, euch nützlich zu machen.«

Samantha holte die lila Sonnenbrille heraus und setzte sie auf.

»Aber sicher, Mom«, sagte sie strahlend. »Manchmal sind Geschwister doch das, was man am allermeisten braucht.«

»Vielleicht solltest du wirklich für eine Rolle in diesem Stück vorsprechen«, meinte ihre Mutter.

Ein Quieken ertönte unter Mrs Spinners Stuhl. Sie sah hinunter zu dem Chinchilla, das sich noch immer dort versteckte, streckte ihren Arm aus und zupfte den Zettel aus dem Mäulchen des Nagers.

»Vergiss das hier nicht«, sagte sie, hielt den Zettel hoch und las ihn laut vor. »Hüte dich vor der SONNE.«

Mit der Brille auf der Nase erhaschte Samantha einen flüchtigen Blick auf die Rückseite des Papiers.

Sie leuchtete gelb.

Ihr war gar nicht eingefallen, den Zettel auch einmal umzudrehen!

VRTRT NCHT NT

SECHSTES KAPITEL

Billigflieger

Die Reise nach New York war lang und beschwerlich. Buffy hatte für Samantha und Nipper doppelt und dreifach reduzierte Superduperspartickets in der billigsten Beförderungsklasse gekauft. Sie flogen nach Los Angeles, stiegen dann in eine andere Maschine um und flogen nach Minneapolis, von dort nach Boston und schließlich nach Newark. Sie saßen jeweils ganz hinten im Flugzeug, in Kabinen, die eigentlich umfunktionierte Toilettenräume waren. Es gab keine Fenster, und obwohl die Sitze neu bezogen waren, roch es nicht sonderlich gut.

Sie flogen am Freitag um Mitternacht von Seattle, im Bundesstaat Washington, los und sollten am Samstagabend um acht Uhr, siebzehn äußerst lange Stunden später, in Newark, im Bundesstaat New Jersey, landen. Samantha dachte an die supergeheime Wasserrutsche von Florenz nach Paris. Die Rutschpartie war so holprig gewesen, dass sie sich blaue Flecken geholt hatten, außerdem kalt und nass. Und doch war sie in ihrer Erinnerung nicht mal halb so unangenehm wie diese Flugreise.

Irgendwo zwischen Minnesota und Massachusetts geriet der Flieger in starke Turbulenzen. Samantha stieß mit dem Kopf gegen den Seifenspender. Dadurch rutschte ihr die Brille von der Nase und fiel auf den Boden. Sie hob sie schnell auf und prüfte die achteckigen Gläser auf irgendwelche Schäden. Sie war endlich auf dem Weg nach New York und es wäre eine Katastrophe, wenn die Brille jetzt kaputtgehen würde.

Samantha setzte sie auf und sah sich noch ein letztes Mal in ihrer Kabine um, in der Hoffnung, geheime Botschaften zu finden. Es gab keine. Sicherheitshalber verstaute sie die Brille in ihrer Handtasche. Dann lehnte sie sich zurück und versuchte nachzudenken.

Horace ist verschwunden. War Horace Temple – Onkel Paul – wirklich verschwunden? Oder versteckte er sich bloß wieder? Wie war es möglich, dass Buffy ihn nicht erkannt hatte? Und befand er sich jetzt eher in der Nähe von Buffys Apartment oder der Nadel der Kleopatra? War er womöglich in der Nadel? Sie hatte keine Ahnung, welche Gefahren sie in New York erwarten mochten.

Sie dachte wieder an den Schirm, der zu Hause in Sicherheit war. Nach dem Chinchilla-Biss hatte sie den Riss mit einem Stück Klebestreifen repariert. Dann hatte sie den Schirm unter ihrem Bett versteckt, zwischen der Matratze und dem Rahmen. Kein Chinchilla würde in der Lage sein, die Matratze anzuheben, um an ihm zu nagen. Samantha hoffte, dass die SONNE auch nicht an ihn herankommen könnte. Was auch immer die SONNE war.

Natürlich war da noch diese letzte Nachricht von ihrem Onkel. VRTRT NCHT NT. Sie und ihr Onkel hatten ständig das Autokennzeichenspiel gespielt. Es handelte sich eindeutig um eine Nachricht ohne Vokale.

»Vertraut nicht …«, rätselte sie laut, »N…T.«

Was konnte damit nur gemeint sein?

»Nipper, bist du wach?«, rief sie über die Trennwand hinweg.

»Ja«, sagte er. »Aber ich kann dich kaum hören, bei all dem Lärm, den mein Sitz macht. Jedes Mal, wenn das Flugzeug wackelt, geht die Spülung los.«

»Vertraut nicht N T«, sagte sie, um einiges lauter als zuvor. »Hast du eine Idee, wofür NT stehen könnte?«

»Ente?«, rief er zurück. »Aber das ergibt keinen Sinn. Hm. Vielleicht ist ja auch das dritte T verrutscht und es heißt eigentlich ›Vertraut nich Tante‹. Wollte Tante Penny uns nicht vom Flughafen abholen? Ich denke nicht, dass wir ihr vertrauen sollten.«

»Doch, das sollten wir«, sagte Samantha mit Überzeugung.

Sie kannten Tante Penny schon ihr ganzes Leben lang. Sie war glamourös, sie war ein bisschen wunderlich … und sie war eine hundertprozentige Spinner. Der älteren Schwester ihres Dads konnte man auf jeden Fall vertrauen!

Warum sagte Onkel Paul nicht einfach, wen er meinte? Paul Spinner hatte sich wieder einmal in Rätseln ausgedrückt. Samantha holte tief Luft und atmete langsam aus. Das war schon in Ordnung so. Sie war endlich auf dem Weg, um alles zu entschlüsseln.

»Als Allererstes morgen früh besichtigen wir die Nadel der Kleopatra!«, rief sie Nipper zu.

Im selben Moment leitete der Pilot den Landeanflug ein. Die Triebwerke jenseits ihrer Kabinenwände röhrten und übertönten für den Rest des Fluges ihre Stimme.