WESTEND

Ebook Edition

Armin Reller/Heike Holdinghausen

WIR KONSUMIEREN UNS ZU TODE

Warum wir unseren Lebensstil ändern müssen, wenn wir überleben wollen

WESTEND

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ISBN 978-3-86489-049-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: Christina Kuschkowitz
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

1    Stoffe erzählen Geschichten

2    Runde Tische – warum wir lernen müssen, in Kreisläufen zu denken

Ein Promi mit schlechtem Ruf

Wasser will fließen

Die verwundbare Grundlage

Auf dem Holzweg

3    Der Preis unseres Essens – die Rechnung zahlen andere

Der große Unbekannte

Alles aus Zucker

Die Schweinerei im Ofen

4    Hauptsache schön – die hässlichen Folgen unseres Lebensstils

Natürlich aus der Fabrik

Pullover aus der Flasche

Künstliche Welten

Zu klein für Paracelsus

5    Gute Fahrt! Aber nicht mit dem Auto, wie wir es kennen

Vogelscheuchen für Alberta

Nachwachsende Problemfelder

Handys machen Autos flott

Nicht selten, aber knapp

6    Die Welt im Kleinen – warum wir andere Handys brauchen

Reichtum, der arm macht

Immer noch herrscht Bronzezeit

Das Salz in der Suppe

7    Ein neues Kapitel ...

Dank

Anmerkungen

Literatur

1 Stoffe erzählen Geschichten

Wer existiert, konsumiert. Jedes Lebewesen macht sich in komplexen Wechsel- und Austauschbeziehungen seinen Lebensraum zunutze. Neben Sauerstoff, Wasser, Licht und Wärme brauchen wir Menschen auch Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Die Menge der (Roh-)Stoffe und Materialien, die wir benötigen, um diese Grundbedürfnisse zu erfüllen, hat im Laufe der Zivilisationsgeschichte enorm zugenommen. Aus der ganzen Welt schaffen wir sie herbei. Darüber hinaus haben wir uns eine beinahe unüberblickbare Anzahl von Materialien, Produkten und Gerätschaften dienstbar gemacht. Und jetzt geht es munter weiter: Die Werbebotschaften für die verschiedensten Basis-, Wohlstands- und Luxusgüter leuchten in jedem Winkel der Erde. Konsum ist der Motor der Weltwirtschaft. Rund um die Uhr, zu Land, zu Wasser und in der Luft werden Waren auf der Erde bewegt und gehandelt, gekauft, verspekuliert, gehortet, gestohlen, verschenkt, verhökert oder weggeworfen. Was wissen wir über die Zusammenhänge zwischen den Stoff- und Güterströmen und all den damit verbundenen legalen, versteckten oder gar kriminellen Geldtransaktionen? Müssen wir uns um die komplizierten Hintergründe dieses Warenstroms kümmern? Wir wollen kaufen, was wir brauchen, was uns Spaß macht und was wir uns leisten können.

Wir müssen es sogar! Die »Konsumlaune der Deutschen« wird von Steuerschätzern, Wirtschaftspolitikern und Firmenchefs misstrauisch beäugt, ist sie doch ein Antrieb für das Wirtschaftswachstum, auf dem unser gesamtes Gesellschaftsmodell beruht. Wie fragil dieses System ist, zeigt die Wirtschafts- und Finanzkrise, die vor allem Südeuropa nun schon seit Jahren erschüttert. Der Handel mit Frankreich, Spanien und Italien ist eingebrochen, seit die Arbeitslosigkeit dort wächst und die Investitionen sinken. Bislang konnte die deutsche Industrie das kompensieren, indem sie ihre Waren den konsumhungrigen Schwellenländern wie China oder Indien verkaufte. Doch nicht ohne Grund mahnen Politiker und Unternehmer an, Europa müsse schnellstens auf den Wachstumspfad zurückkehren: Sozial- und Altersversicherung, Steuer- und Finanzsystem, sie alle sind bislang auf stetiges Wachstum angewiesen. Geht man von neuesten Berechnungen aus, leben und konsumieren wir so, als stünden uns zumindest 1,4 Planeten zur Verfügung. Die Weltbevölkerung verbraucht also in einem Jahr so viele Ressourcen, wie unser Planet sie allenfalls in 1,4 Jahren zur Verfügung stellen könnte. Wie kann das immer weiter funktionieren, auf wessen Kosten und um welchen Preis?

Das »Habenwollen« begann in grauer Vorzeit. Schon im Neolithikum, in der Steinzeit, haben sich unter den wenigen Menschen, die damals die Erde besiedelten – Höhlenbewohner, Jäger und Sammler –, wohl erste Ansprüche unterschiedlichster Art ausgebildet: Ein schönes Bärenfell, die leuchtende Schminke aus den an der Flussbiegung freigeschwemmten gelben, braunen und roten Sedimenten oder eine aus einem wohlgeformten Flintstein gearbeitete Speerspitze könnten Objekte der Begierde gewesen sein. Vorerst handelte es sich um regionale, natürliche Produkte. Doch einerlei ob Pflanzen, Holz, Jagdbeute oder Baustoffe konsumiert wurden, schon bald ging es nicht mehr nur um den Ge- und Verbrauch, sondern um den Besitz der guten Dinge. Die Urmenschen der Gattung Homo sapiens sahen sich schon früh durch Lebensumstände und Naturkräfte gezwungen, durch Neugier und Hoffnung mobilisiert, ihre Welt als Nomaden zu erforschen. Auf ihren Erkundungszügen trafen sie auf neue Landstriche, fremde Pflanzen und Tiere sowie Stoffe mit unbekannten Eigenschaften. Sie erlernten, sie zu nutzen, zu horten oder zu meiden. Sie erweiterten ihr Wissen und ihre Besitztümer. Das fortschreitende Verständnis um das Vorkommen und die Beschaffenheit, die Verarbeitung und Verwendung von Rohstoffen war dabei die Grundvoraussetzung für kulturelles Leben sowie für die Herausbildung größerer und komplexerer gesellschaftlicher Strukturen. Das spezifische Wissen über den Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten, dem Klima, den nutzbaren Pflanzen und verfügbaren Bodenschätzen wurde stetig erweitert und in den sozialen Strukturen der ersten Hochkulturen tradiert und konserviert. In kleinen Mengen gefundenes Gold, Silber oder Kupfer wurde zu Werkzeugen, Schmuck, Waffen oder Devotionalien verarbeitet. Das Tonbrennen wurde erfunden, Rezepturen und Verfahren für die Herstellung und Konservierung von Nahrungsmitteln sowie das Anfertigen von dem Klima angemessener Kleidung entwickelt und das Wissen weitergegeben.

Es dauerte nicht lange, bis diese urtümlichen Produktionsgüter über die regionalen Kulturgrenzen hinweg in friedlicher oder kriegerischer Weise ausgetauscht wurden: Der Tauschhandel erblühte. Geld kam als abstraktes Zahlungsmittel erst vor zirka 2 600 Jahren ins Spiel; bei den Phöniziern als Silberbarren, in den ost- und südasiatischen Kulturen als Kaurischnecken, bei den Ägyptern als Ringgeld aus Metall. Während aber die Güter und Naturalien in der Regel ihre Herkunft oder ihre Entstehungsweise durch spezifische Merkmale und Eigenschaften aufzeigten und so zumindest einen Teil ihrer Entstehungs- und Handelsweg-Geschichte offenbarten, verwischte das Zahlungsinstrument Geld diese Kontexte. Der Preis richtete sich nach der Verfügbarkeit, der mehr oder weniger aufwändigen Herstellung und Beschaffung, sicher auch schon nach der Begehrlichkeit seitens des Händlers oder Käufers. Die Möglichkeit, mit symbolischen Werten nützliche Alltagsgüter erstehen zu können, veränderte das ehemals auf Naturalientausch beruhende System grundlegend: Wirtschaftsinstrumente und -institutionen wurden erfunden und etablierten sich in vielfältigen Formen.

Schon im dritten Jahrtausend vor Christi beruhte die Wirtschaft der Sumerer im Zweistromland im heutigen Irak und in anderen Frühkulturregionen einerseits auf einer ausgeklügelten Nahrungsmittelversorgung auf der Basis der Dreifelderwirtschaft, andererseits auf handwerklichen Fertigkeiten, insbesondere auf der Kenntnis der Herstellung von Werkzeugen und Waffen aus Kupfer. Kupfer wurde durch Erhitzen von Kupfererz mit Holzkohle gewonnen. Da diese Rohstoffe nicht überall vorkamen, mussten sie schon sehr früh mühselig über teils große Strecken transportiert werden. Sie wurden je nach Sichtweise exportiert oder importiert: Das Kupfererz stammte aus Minen im Sinai – später bekannt geworden als »Salomos Minen« – und in Afghanistan. Das für die Metallgewinnung benötigte Holz wurde im Quellgebiet von Euphrat und Tigris gefällt und nach Ur geflößt. Zum Abrechnen wurden die herbeigeschafften Baumstämme gezählt. Als Gedächtnisstütze wurden bald abstrakte Zeichen erfunden, die in Ton- und Wachstäfelchen in Form kleiner Relieflandschaften eingekerbt als Vertrag und als Abrechnung zu Bedeutung kamen. Später hat sich daraus die Keilschrift entwickelt, als Handelsschrift.

Um den Wert eines Baumstamms beurteilen zu können, mussten die sumerischen Handwerker herausfinden, wie groß unter optimalen Bedingungen die Kohleportion ist, die aus einer gegebenen Holzportion produziert werden kann. Genauso wichtig war es zu wissen, in welchem Verhältnis die Kupfererzund Kohleportionen stehen müssen, um eine maximale Ausbeute an Kupfer zu erzielen. Zur Bewertung der Rohstoffe sowie der erzeugten Materialien waren also die Relationen zwischen Holz und Kohle sowie zwischen Kohle, Kupfererz und Kupfer entscheidend. Auch das Verhältnis des Wertes von Brot zu Kupfer spielte dabei eine Rolle, um die eingesetzte Arbeitskraft abgelten zu können. Die Stoffäquivalente ließen sich durch Wägung bestimmen, doch um deren maximal nutzbare Werte zu erreichen, war auch handwerklicher, oder wie wir heute sagen würden, chemischer Sachverstand und Ingenieurwissen erforderlich.

Es war also sehr mühsam, eine Streitaxt oder eine Pflugschar mit Naturalien zu bewerten und zu bezahlen. Durch die Erfindung der Bronze als Legierung von Kupfer und Zinn oder anderen zusammengesetzten Materialien und Produkten wurde alles noch komplizierter. Deshalb wurde der Handel – insbesondere über die Kulturgrenzen hinaus – durch die Einführung von Geld auf der Basis bestimmter Stoffportionen der allgemein geschätzten Edelmetalle Gold oder Silber, später auch Kupfer oder Bronze, enorm erleichtert. Gold eignete sich besonders gut als Zahlungsmittel. Es wurde in elementarer, metallischer Form in der Natur gefunden, war aber damals schon selten. Wenn es nicht mit anderen Metallen legiert wurde, war es »unveränderbar«, überstand auch Feuer, konnte gelagert werden und machte reich. Noch heute wird Gold als verlässliches, sicheres Zahlungs- und Währungsmittel gebunkert und gehandelt, das eine Mal virtuell an den Rohstoffmärkten der Börsen, das andere Mal – in weit geringerem Maße – physisch: die Blasenwirtschaft lässt ein erstes Mal grüßen.

Heute verstellt uns das Zahlungsinstrument Geld den Blick auf die Entstehungsgeschichte eines Konsumguts. Nicht der Wert, nur der Preis, das Erscheinungsbild und die Funktion eines Produkts interessieren. Der Wert einer Banane schließt die Mühen des Erntearbeiters, des Plantagenbetreibers, der Kassiererin im Supermarkt ein. Spiegelt ihr Preis das wider? Zahle ich als Konsument neben den Arbeitsmühen die Hektoliter Wasser, die zur Bewässerung der Plantage eingesetzt wurden, die Gifte gegen Insekten und Unkräuter sowie den Dünger, die den Boden belasten und später das Grundwasser? Oder den Dieseltreibstoff für den Transport und die Kühlung, das für die Verpackung in Form von Kunststoff verbrauchte Erdöl, das im Karton steckende Holz? All diese Materialien begleiteten den Weg der Banane aus der guatemaltekischen Plantage in den aus bengalischem Bast kunstvoll gefertigten Früchtekorb einer ganz normalen Vierzimmerwohnung in Stuttgart. Die Banane entpuppt sich als facettenreiches Produkt eines hoch organisierten Wirtschafts- und Handelssystems, zu einem Preis von einem Euro pro Kilo. Zweifelsohne könnte diese Bananengeschichte mehr erzählen, als uns Konsumenten lieb ist: Sie entblößt uns als gedankenlose Genießer. Wir sind in der bequemen Situation, uns diese Gedankenlosigkeit leisten zu können. Wie Produkte hergestellt, gehandelt und genutzt werden, welche Geschichten sie mit und in sich tragen, können wir vermeintlich ungestraft ausblenden. Allerdings kann das nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung, denn die Güterströme fließen nur in die Richtung der Konsumzentren, dorthin, wo das Geld ist.

Doch bleiben wir in der Stuttgarter Wohnung. Dort hat sich ein Paar eingerichtet, Mitte vierzig. Am Abend erwarten die beiden Gäste. Der Wein ist schon geöffnet, im Ofen schmurgelt ein Braten. Gegessen wird in der Wohnküche, gerade wird der Tisch gedeckt. Tischdecke, Besteck, Kerzen. Die beiden freuen sich auf einen Abend mit gutem Essen und interessanten Gesprächen. Es wird viel erzählt werden in dieser Küche – und auch sie selbst hat viel zu erzählen. Denn der Blick auf die Entstehungsgeschichte eines Gutes eröffnet neue Perspektiven: Seine Produktion kann unter sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen erfolgen, mit angepassten oder untauglichen Techniken, mit geringem oder exorbitant hohem Energieverbrauch, durch die angemessene und effiziente Nutzung von Rohstoffen oder durch unverantwortlichen Raubbau. Dieses Spektrum von Geschichten gerät immer mehr in Vergessenheit; und damit geraten die Entstehungs- und vor allem die Wirkungsgeschichte der Dinge aus dem Blick.

Welches sind die lebenswichtigen, essentiellen Konsumgüter, deren Geschichte wir kennen und ernst nehmen sollten? Die Geschichten des Schweinebratens im Ofen und die des Tisches? Was kann uns das Handy in der Hosentasche des Gastgebers erzählen, was sein Hemd und was seine Frisur? Wir tun gut daran, diese Geschichten zu kennen. Denn nur dann können wir bewusst und verantwortlich mit all den Konsumgütern umgehen, die uns umgeben – und die unseren Lebensstil prägenden Warengeschichten mitbestimmen. Dabei endet unsere Verantwortung nicht im Supermarkt. Als Konsumenten können wir unsere Produktions- und Warenwelt zwar mitgestalten. Gefragt sind wir aber auch als Bürger, die sich in die politischen Angelegenheiten einmischen. Auch wenn wir wenig Fleisch essen und darauf achten, dass es von Tieren aus artgerechter Haltung stammt – die Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union und der Bundesregierung mit ihren Vorschriften und Subventionen gestaltet die Realität auf den Höfen ebenso sehr. Als Konsumenten und als Bürger müssen (und dürfen) wir teilhaben an den im eigentlichen Sinne des Wortes weltbewegenden Stoff- und Produktgeschichten. Nicht um Verzichten und Entsagen geht es dabei. Konsum an sich ist nicht schlecht, wenn er von Maß und Respekt gegenüber den Dingen bestimmt ist.

2 Runde Tische – warum wir lernen müssen, in Kreisläufen zu denken

Das weiße Tischtuch ist glattgestrichen, Teller werden aufgelegt. Besteck, Gläser, eine Kerze in die Mitte. Getragen wird die Tafel von einem Tisch aus massiver Eiche. Auf vier Beinen ruht die Tischplatte, das helle Holz ist gleichmäßig gemasert. Jahrhundertelang ist der Baum gewachsen, hat Jahr für Jahr aus Luft, genauer: aus Kohlendioxid, Wasser, Sonnenlicht und den Nährstoffen im Boden Holz und Blätter erzeugt. Mit ihren Wurzeln war die Eiche in der Erde verankert und nahm dort Nährstoffe und Wasser auf. Aus kleinen Öffnungen in ihren Blättern gab sie es wieder frei – und ließ durch denselben Weg, durch die Stomata, CO2 in sich hinein. In dem Baum hat sich der Kreislauf des Kohlendioxids mit dem des Wassers getroffen und hat den Boden und sein reiches Leben mit der Atmosphäre und dem Licht verbunden. Bis er, gehobelt, verzapft und gedrechselt, in die Stuttgarter Küche gewuchtet wurde. Der Tisch bildet dort den Mittelpunkt des Abends. Er erzählt nicht nur die Geschichte vom Holz selbst, sondern auch die von Kohlendioxid, Wasser, Sonnenlicht und dem Boden, auf dem er gewachsen ist.

Ein Promi mit schlechtem Ruf

Kohlendioxid ist der Promi unter den Gasen: CO2 kennt heute beinahe jeder. Viele Menschen haben Angst vor dem farb- und geruchlosen Stoff, denn CO2 gilt als Klimakiller. Dabei ist Kohlendioxid lebenswichtig und seine Geschichte uralt. Dieses aus einem Kohlenstoffatom und zwei flankierenden Sauerstoffatomen aufgebaute Molekül hat Erdgeschichte geschrieben, und wie. Der Schadstoff von heute hat das Leben auf der Erde erst möglich gemacht. Menschen, Tiere, Pflanzen – sie alle leben auf der Grundlage eines genialen Verfahrens, in dem aus Luft, Wasser und Sonnenstrahlung Zucker hergestellt wird: der Photosynthese. Ohne CO2 geht dabei nichts. Seit Entstehung der Erde selbst sind Kohlenstoff und seine Verbrennungsprodukte, Kohlenmonoxid und Kohlendioxid, im Spiel. Die beiden Stoffe waren und sind wesentliche Bestandteile unseres Sonnensystems. Auch bei der Entstehung der Erde waren sie in Mengen vorhanden, nicht nur als »Masse« im Gestein – davon zeugen heute noch kohlenstoffhaltige Meteoriten, die auf unsere Erde fallen –, sondern auch in großen Mengen in der Uratmosphäre: Sie bestand aus bis zu 20 Prozent Kohlendioxid. Welche Masse das war, wird deutlich, wenn man sie mit dem heutigen CO2-Wert in der Atmosphäre vergleicht: Er liegt bei gut 0,035 Prozent. Warum hat sich die Zusammensetzung der Atmosphäre so massiv verändert? Wo ist das CO2 geblieben?

Der Prozess des Verwandelns und Verschwindens setzte vor rund 600 Millionen Jahren ein. Erste Blaualgen begannen mit einer Entwicklung, die unseren Planeten so massiv verändert hat: mit der Photosynthese. Das heißt, sie verwandelten Kohlendioxid und Wasser mit Hilfe von Sonnenlicht zu Glucose und Sauerstoff. Die Photosynthese verschaffte dem Kohlendioxid die entscheidende stoffliche Rolle: Das Gas wurde zu Biomasse umgewandelt. Den Blaualgen sprangen kleinste Meeresbewohner zur Seite. Sie schafften es, den im Wasser in Form von Carbonationen gelösten Kohlenstoff zu nutzen, und bauten daraus zusammen mit Calciumionen Schalen und Skelette. Diese beiden Prozesse, die Bildung von Zucker und von Calciumcarbonat beziehungsweise Kalk, senkten den globalen CO2-Anteil in der Atmosphäre langsam, aber stetig.

Millionen von Jahren später vervielfachte sich der Kohlendioxidkonsum. Die atmosphärische Konzentration wurde entsprechend reduziert, indem Abermilliarden von Trilobiten, Wasserschnecken und -krebsen ihre Kalkpalästchen, Endound Exoskelette aufbauten. Nach ihrem Tod sanken sie auf den Meeresboden und bildeten dort kilometerdicke Kalksedimentschichten. So wurde über Jahrmillionen Kohlendioxid im Kalkgestein fixiert und dem Kohlenstoffkreislauf entzogen. Aber auch die Landbewohner, die Grünpflanzen, entwickelten sich und trugen dazu bei, Kohlendioxid photosynthetisch umzuwandeln und in der wachsenden Biomasse zu binden. Besonders das Erdzeitalter des Karbons zeugt durch die Bildung riesiger Urwälder – und der daraus gebildeten fossilen Kohlelagerstätten – von dieser Periode. Der Name Karbon (von Lateinisch carbo, >Kohle<) verweist darauf, dass ein wesentlicher Pfeiler unserer Industriegesellschaft – die fossilen Energieträger – aus Biomasse besteht, die nichts anderes ist als über Jahrmillionen gespeicherte Sonnenenergie. Sie ist Ergebnis einer Überproduktion, einer beinahe überbordenden Bioaktivität, die vor 200 bis 400 Millionen Jahren die erwähnten riesigen Urwälder entstehen ließ. Diese vergingen und wurden schließlich mit Erdschichten überdeckt und so vor dem Luftsauerstoff geschützt. Sie verrotteten nicht, sondern verwandelten sich unter starkem Druck und hohen Temperaturen zu fossilen Kohlenstoffverbindungen: Kohle, Öl und Erdgas. Damit waren sowohl der Geo- (mittels Gestein) als auch der Biozyklus (über Pflanzen und Lebewesen) als zwei natürliche Kreisläufe geschaffen, die eine stetige Kohlendioxidsenke zur Folge hatten. Vor 800 000 Jahren lag der CO2-Gehalt nur noch bei 0,018 Prozent.

Jahrtausendelang war der Mensch eine Randfigur in dieser Geschichte. Dann beschloss er, sie mitzuschreiben. Ein dramatisches Kapitel begann er Anfang des 18. Jahrhunderts. Der britische Schmied, Eisenhändler und Erfinder Thomas Newcomen entwickelte die atmosphärische Dampfmaschine. Diese Erfindung markiert den Eintritt ins Industriezeitalter. Sie ermöglichte den Ersatz menschlicher Arbeit durch eine Maschine mittels Nutzung von Energieträgern. Damit waren industrielle Herstellungsprozesse verschiedenster Produkte machbar. Newcomen hatte die schon 1698 von Thomas Savery patentierte, Miner's Friend genannte Dampfpumpe weiterentwickelt. Sie diente dazu, die oft wasserdurchfluteten Schächte in Bergwerken leer zu pumpen.

Als Energieträger wurde auf Kohle zurückgegriffen. Mit ihrer Hilfe konnten aber nicht nur Herstellungsketten intensiviert und beschleunigt werden. Durch die neuen Wege des Transports, die Dampfschiffe (wie heißt es so treffend im Creedence-Clearwater-Revival-Song für das Dampfschiff Proud Mary: »working for the man every night and day...«), Eisenbahnnetze und andere Technologien zuließen, wurde auch die Verarbeitung »neuer« Rohstoffe und Materialien aus anderen Teilen der Erde möglich. Ein erster Schritt in Richtung »globale Handelsströme« war gemacht. Heute beruhen beinahe alle Waren, die Grundlage unseres westlichen Lebensstils sind, direkt oder indirekt auf der Verbrennung oder Verwandlung fossiler Energieträger. Unsere Energieversorgung, unsere Mobilität basieren neben der Kernenergie größtenteils auf Erdöl und Kohle. Fast die gesamte chemische Industrie und ihre nachgelagerten Branchen wie die Pharma- oder Kunststoffindustrie, verarbeiten Öl. Selbst nachwachsende Rohstoffe, aus denen Biodiesel oder Bioplastik entstehen, sind in der Regel auf Erdöl angewiesen – als Dünge- oder Pflanzenschutzmittel für Öl- und Energiepflanzen wie Raps, Mais oder Soja. Wir werden darauf zurückkommen.

Das CO2, in Jahrmillionen der Atmosphäre entzogen, setzen wir seit Beginn der Industrialisierung rasend schnell wieder frei. Es ist aber auch praktisch: Kohlendioxid weist ein reiches Spektrum von unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften auf, die es für natürliche und technische Prozesse unabkömmlich macht. Der Historiker Rolf Peter Sieferle spricht vom »unterirdischen Wald«1, den wir seit dem Einsetzen des Industriezeitalters ernten. Doch es ist eine unglückliche Ernte. Denn vor allem durch das meistens ineffiziente Verbrennen der wertvollen Kohlenstoffverbindungen gehen wir zurück in Zeiten mit hohen atmosphärischen Kohlendioxidkonzentrationen. Freisetzung und Fixierung von Kohlendioxid sind aus dem Gleichgewicht geraten. Inzwischen ist der Beitrag von Kohlendioxid zur Erderwärmung unter Wissenschaftlern weitgehend anerkannt. Zwar wurde lange darüber gestritten, welchen Anteil der Mensch daran hat. Doch dass es einen »Treibhauseffekt« gibt, ist keineswegs eine Erkenntnis der umweltbewegten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schon 1824 hat sich der französische Mathematiker und Physiker Joseph Fourier Gedanken darüber gemacht, ob Kohlendioxid die Strahlung der Sonne absorbieren oder reflektieren würde. Er kam zu dem Schluss, dass ein Teil der von der Erde reflektierten Sonnenenergie von der Atmosphäre zurückgeworfen wird und die Temperatur auf der Erde so erhöht. Er beschrieb die Erdatmosphäre richtig wie eine Art Glashaus, das durch die Sonne erwärmt würde. Damit äußerte der Sohn eines Schneiders, der 1830 mit 44 Jahren in Paris starb, erstaunlich moderne Vorstellungen. Und schon im Jahr 1861 vermutete John Tyndall – ein herausragender englischer Atmosphärenforscher, der unter anderem das Zustandekommen des Himmelblaus zu erklären wusste (das Sonnenlicht wird in der Atmosphäre so gestreut, dass nur der blaue Anteil des Farbspektrums für das menschliche Auge sichtbar wird) –, dass Änderungen der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre das Klima beeinflussen könnten. Noch exaktere Interpretationen dieser atmosphärischen Vorgänge lieferte ab 1938 der britische Ingenieur Guy Stewart Callendar, ein exzellenter Experte für Dampftechnologie. Er zeigte, dass Kohlendioxid und Wasser Strahlungsenergie mit unterschiedlichen Wellenlängen absorbieren, und schloss daraus, dass erhöhte Kohlendioxidemissionen das atmosphärische Strahlungsgleichgewicht beeinträchtigen würden. Diese Einflüsse wären erwartungsgemäß größer als die natürlicher Schwankungen. Aufgrund seiner langjährigen Messungen konnte Callendar belegen, dass die CO2-Konzentration seit Beginn des Industriezeitalters stetig zugenommen hat. Er maß aber dieser aus heutiger Sicht bedenklichen Entwicklung kein großes Gewicht bei, weil er der Überzeugung war, dass der Energiebedarf in Kürze größtenteils mit Atomkraft abgedeckt werden würde und damit die CO2-Emissionen drastisch gesenkt werden könnten.

Die neuere Geschichte der Klimaforschung begann 1958. Der amerikanische Chemiker Charles David Keeling baute auf dem fast 4 200 Meter hohen Vulkan Mauna Loa auf Hawaii eine Messstation auf, um dort kontinuierlich die Zusammensetzung der Atmosphäre zu messen. Die Station besteht noch immer. Heute beweist die »Keeling-Kurve« eindrucksvoll die Zunahme von Kohlendioxid in der Luft um den Berg, der weit abgelegen von jeglicher Industrie im Pazifik aufragt: In einer Grafik, in der auf der x-Achse die Zeit, auf der y-Achse die Werte von CO2 in der Luft angegeben werden, steigt die Kurve in einer gleichmäßigen Zick-Zack-Linie stetig an. Die oberen Spitzen der Zacken bilden sich, wenn auf der Nordhalbkugel der Erde der Herbst beginnt: Die Bäume werfen ihre Blätter ab und verbrauchen kaum noch Kohlendioxid, die Emissionen aus Fabriken, Heizungen und Auspuffrohren verbleiben in der Luft. Im Frühling treiben die Bäume wieder aus und verbrauchen deutlich mehr CO2. Die Kurve fällt. Dieser Effekt tritt auf, weil die Südhalbkugel deutlich weniger Land und damit Wald besitzt. An der langfristigen Tendenz ändert der Zickzack nichts.

Daher wird die Erforschung des Klimawandels begleitet von der immer wieder geäußerten Forderung nach einer Einschränkung der CO2-Emissionen: Schon 1979 wurde auf der ersten Weltklimakonferenz unter der Ägide der World Meteorological Organisation im Abschlussdokument festgehalten: »It is now urgently necessary for the nations of the world: [...] to foresee and to prevent potential man-made changes in climate that might be adverse to the well-being of humanity.« Es sei, so warnten die Wissenschaftler, für die Länder der Welt dringend nötig, die menschengemachten Änderungen des Klimas zu erkennen und zu verhindern, denn sie könnten das Wohlergehen der Menschheit gefährden. In der Folge wurde das World Climate Programme (WCP) und das United Nations Environment Programme (UNEP) ins Leben gerufen. Nach Folgekonferenzen im österreichischen Villach 1985 und im kanadischen Toronto 1988 wurde schließlich das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gegründet, eine internationale Institution, deren Aufgabe es ist, Entscheidungsträger aus der Politik mit den aktuellsten und am besten abgestützten Daten zur Klimasituation zu versehen. Es legte sich in seinem Bericht aus dem Jahr 2007 auf einen vom Menschen gemachten Anteil an der globalen Erwärmung fest, der vor allem durch die Prozesse der Industrialisierung und dem Ausstoß von Treibhausgasen – neben CO2 vor allem auch Methan und Lachgas – zu erklären ist. Die größten Emittenten sind Energieerzeugung, Industrieproduktion, Verkehr und Landwirtschaft. Es gibt Dutzende verschiedene Zahlen darüber, wie hoch der Anteil der einzelnen Sektoren an den Treibhausgasen genau ist. Sie unterscheiden sich jeweils nach Rechenmethode und Definition der Sektoren. Die US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency (EPA) weist den Sektoren Energie und Verkehr 33,1 Prozent beziehungsweise 27,3 Prozent an den Emissionen zu, der Industrieproduktion 19,9 Prozent und der Landwirtschaft 7,4 Prozent.

Bei aller Unsicherheit bei der Datenlage ist eines klar: Den Löwenanteil an diesen Emissionen tragen die Industriestaaten bei. Denn es haben sich weltweit verschiedene Lebensstile ausgeprägt, deren CO2-Bilanz höchst unterschiedlich ausfällt. So liegt dem westlichen Lebensstil, vor allem in Europa und den USA, ein massiv höherer Ge- und Verbrauch an Materialien und Energie zugrunde als dem Leben in den sogenannten Schwellenländern wie Indien und China, ganz zu schweigen von vielen Entwicklungsländern in Afrika. Die Internationale Energiebehörde (IEA) hat errechnet, dass ein Mensch in Äthiopien im Jahr durchschnittlich siebzig Kilogramm Kohlendioxid produziert. Ein Durchschnittsamerikaner bringt es im selben Zeitraum auf rund 18 Tonnen, ein Deutscher auf zehn Tonnen und die Einwohner von Katar auf stolze fünfzig Tonnen. Woher kommen diese Massen? Sie sind Ergebnis von schier unbegrenzt vorhandenem elektrischen Strom, je nach Außentemperatur stets angenehm warmen oder kühlen großen Wohnungen und preisgünstiger Mobilität. Auf einem Transatlantikflug von München nach New York und zurück werden 4,2 Tonnen CO2 freigesetzt – pro Person. Jeder Deutsche produziert im Schnitt jährlich 1,8 Tonnen CO2 für die Heizung seiner Wohnung. Und ein durchschnittliches Auto stößt etwa 2,6 Tonnen Kohlendioxid im Jahr aus – wobei dieser Wert je nach Fahrzeugtyp und Fahrweise erheblich höher oder niedriger ausfallen kann.

Es ist unser westlicher Lebensstil, der den Kohlendioxidkreislauf außer Kontrolle geraten ließ und lässt. Zu dem wahnwitzigen Ressourcenverbrauch der reichen Länder im Norden addiert sich ein weiterer Prozess, der den Klimawandel beschleunigt und seine Folgen dramatisch werden lässt: die weltweite Bevölkerungszunahme. Lebten 1950 rund 2,5 Milliarden Menschen weltweit, waren es Anfang 2013 etwa 7,1 Milliarden. Bis 2050 wird die Einwohnerzahl der Erde voraussichtlich auf über neun Milliarden Menschen ansteigen. Dies hatte und hat für die CO2-Geschichte weitreichende Konsequenzen. In der Vergangenheit sorgte der Bevölkerungszuwachs für einen stetig ansteigenden Energie- und Produktbedarf. In beidem steckt Kohlenstoff – entweder direkt im Produkt, das etwa aus Plastik und damit aus Erdöl hergestellt ist, oder im Einsatz fossiler Brennstoffe bei Herstellung und Transport. Der momentane Bevölkerungszuwachs findet vor allem in Regionen mit bislang geringerem Ressourcenverbrauch statt, sodass auch dort ein Zuwachs an CO2-Emissionen zu erwarten ist.

Die Geschichte der Menschen ist schicksalhaft mit den Stoffgeschichten des Kohlendioxids und des Wassers verknüpft. Dabei zeigen der Kohlenstoff- und auch der Wasserkreislauf (siehe den nächsten Abschnitt) Grenzen auf, deren Überschreitung bei Nichtberücksichtigung durch die Teilhaber fatale Folgen haben. Selbstverständlich haben auch die Menschen in den armen Ländern ein Recht auf Entwicklung und Wohlstand. Während der Verhandlungen auf der Weltklimakonferenz in Kopenhagen haben Staaten wie Indien dies auch immer wieder nachdrücklich betont. Doch einen Wohlstand, der auf der exzessiven Nutzung von Ressourcen beruht – sei es Kohle, Öl oder die Fähigkeit der Atmosphäre, CO2 aufzunehmen –, gibt die Erde nicht her. Das bekommen nicht nur die Bewohner in den reichen, sondern auch die in den armen Regionen zu spüren.

Die Auswirkungen der globalen Temperaturveränderungen, die je nach Berechnung zukünftiger Emissionen zwischen zwei und sechs Grad Celsius bis Ende des Jahrhunderts ausfallen könnten, sind sehr heterogen. Der dramatischste Wandel wird in den Ländern erwartet, deren Bewohner schon jetzt arm sind. Die Verbreitung infektiöser Krankheitserreger wie Malaria oder das Dengue-Fieber wird erleichtert. So haben Wissenschaftler zum Beispiel eine Zunahme von Malariaerkrankungen in afrikanischen Hochlandregionen gemessen, in denen es bislang kühler war als in den Ebenen. Effekte auf die Landwirtschaft werden erwartet, etwa dürrebedingte Ernteausfälle oder die Notwendigkeit, Bewässerungssysteme auszuweiten. In den schon jetzt trockenen Zonen werden Mensch und Natur noch weniger sauberes Wasser zur Verfügung haben. Fraglich bleibt, inwiefern es in Zukunft politische Auseinandersetzungen um die Ressource Wasser geben wird.

Veränderungen der Temperatur haben global auch die Beeinträchtigung der Biodiversität zur Folge: So kommt es schon jetzt zur Verschiebung von Klimavegetationszonen von rund 150 Kilometern pro Grad Celsius und damit zum Verlust, zur Veränderung alter, aber wohl auch von neuen natürlichen Lebensräumen. Der Meeresspiegel wird steigen, weil die Polkappen schmelzen und sich Wasser bei höheren Temperaturen ausdehnt. Auf viele Küstenregionen wird sich das dramatisch auswirken. Berühmt ist inzwischen die Initiative von Mohamed Nasheed. Der Präsident der Malediven hatte 2008 vorgeschlagen, einen Fonds einzurichten, mit dessen Geld sich die 300 000 Insulaner Land für eine neue Heimat kaufen könnten, sollte ihre eigene versinken. Mit diesem nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag wies Nasheed öffentlichkeitswirksam darauf hin, dass der Klimawandel für flache Inselstaaten wie eben die Malediven, Fidschi oder Tuvalu eine handfeste, existentielle Bedrohung darstellt. Auch die dicht besiedelten Küstenregionen in Asien mit ihren Megacitys sind gefährdet. Die unterschiedlichen Auswirkungen sind insbesondere für die Gebiete schwerwiegend, die bereits jetzt unter bedrohlichen ökonomischen, ökologischen oder sozialen Bedingungen leiden – zumeist die armen Staaten des Südens. Dass die Wetterextreme zunehmen, hat sich in den vergangenen Jahren so deutlich gezeigt wie noch nie, etwa durch die Brände in Russland oder die verheerenden Überschwemmungen in Pakistan und China mit Tausenden Todesopfern und unzähligen Obdachlosen.

Auch in Deutschland lassen sich bereits Veränderungen nachweisen: So ist hier die Temperatur in den vergangenen fünfzig Jahren um zirka 1,4 Grad Celsius angestiegen und hat damit die Schneefallgrenze um rund 100 Meter angehoben. Weiter hat die Niederschlagssumme im Frühjahr insbesondere im nördlichen und westlichen Alpenraum um 20 bis 30 Prozent zugenommen. Gleichzeitig ist ein Rückgang der Niederschlagssumme im Sommer um mehr als 20 Prozent zu verzeichnen. In der Folge nehmen meteorologische Extremereignisse zu. Darüber hinaus ist das Volumen der Gletscher im letzten Jahrhundert um zirka 50 Prozent geschrumpft. Trotzdem zählt Deutschland unterm Strich eher zu den Gewinnern des Klimawandels. Wegen der höheren Temperaturen werden häufigere Ernten pro Jahr möglich. Zudem sind genug Wissen und Geld da, um sich an die neuen, mediterranen Verhältnisse anzupassen. Sie werden die Bundesrepublik allerdings auch einiges kosten – Dämme müssen erhöht und der Wald muss an das neue Klima angepasst werden, das Gesundheitssystem muss sich mit neuen Krankheiten auseinandersetzen.

Der internationalen Klimapolitik droht trotz dieser trüben Aussichten ein verlorenes Jahrzehnt. Der bislang letzte Gipfel der Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen in Doha endete ebenso ergebnislos wie seine Vorgänger in Durban oder Cancún. Stets stellen die Teilnehmer einen dringenden Handlungsbedarf fest, sehen ihn aber jeweils vor allem bei den anderen Staaten. Ein Nachfolger für das berühmte Kyoto-Protokoll, das eigentlich 2012 ausgelaufen wäre, ist auf diese Weise nicht zustandegekommen. So soll es auch weiterhin dafür sorgen, die Erderwärmung in den nächsten einhundert Jahren auf zwei Grad zu begrenzen.

Abgesehen von den Unwägbarkeiten, die durch Klimaänderungen eintreten, hat der blinde Konsum eine weitere fatale Konsequenz: Wir verbrennen in unseren Kraftwerken, Heizungen, Flugzeug- und Automotoren wertvolle fossile Rohstoffe – unbezahlbare und kaum regenerierbare Bodenschätze – der Zukunft. Dabei können sie als hoch raffinierte Naturprodukte vielseitig und nutzbringend eingesetzt werden, sei es in der Medizin, im Automobil- und Flugzeugbau, in der Möbel- und Bauindustrie, in der Papier- und Verpackungsindustrie. So wird der rezeptfrei erhältliche und bekannte Wirkstoff gegen Schmerzen und Fieber, Ibuprofen, aus Propangas und Toluol hergestellt – die auf Naphtha beruhen, also raffiniertem Erdöl. Viele sinnvolle und langlebige Produkte aus Öl, Kunststoffe etwa oder Fette, lassen sich zudem recyceln und der verwendete Kohlenstoff bleibt länger gebunden.

Gebunden bleibt das in Verruf geratene und doch so segensreiche Molekül auch in dem Tisch unserer Stuttgarter Küche. Einige hundert Gramm CO2 pro Tag kann eine ausgewachsene Eiche speichern, in Traubenzucker und schließlich in Holz, Wurzeln und Blätter verwandeln. Ein ganzer Wald, etwa der thüringisch-hessische Hainich mit seinen 5300 Hektar Fläche, speichert jährlich so viel CO2, wie in die Tanks von nur 25 000 Autos passt. Irgendwann einmal, wenn der Küchentisch krumm und kipplig geworden ist, womöglich noch als Holzschale oder Bauklotz, als Fußboden oder Spanplatte gedient hat, wird auch er verrotten oder verbrennen und sein CO2 wieder in die Atmosphäre entlassen. Aber erst dann.

Wasser will fließen

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