Oberlins drei Stufen

Marta der Gefährtin gewidmet

Die erste Stufe

Der Knabe Dietrich Oberlin wuchs im Hause seiner Eltern in der strengen Zucht auf, die ein Ergebnis ehrwürdiger Überlieferung war. Die Familie gehörte zu den altpatrizischen der Stadt Basel; ererbter Reichtum und ererbte Ämter zeichneten sie aus; Dietrichs Großvater war Bürgermeister gewesen, sein Vater war Mitglied der Regierung und saß im Rat der Nation.

Er war das einzige Kind, zwei Geschwister waren in frühem Alter gestorben, ihm war die Pflicht zur Haltung und Repräsentation schon mit dem Erwachen des Bewusstseins eingeprägt. Der Tag hatte seine festbestimmte Teilung; er begann Sommer und Winter um sechs Uhr und endete um neun. Da war kein Übergreifen möglich, keine Viertelstunde Licht zu abendlicher Lektüre, kein Ausflug über die gesetzte Frist. Bei Tisch hatte man auf die Sekunde zu erscheinen, waren Gäste da, so unterlag die zu übende Zurückhaltung der wachsamsten Aufsicht. Verkehr mit Menschen war an Regeln gebunden; das und das hat man zu sagen, das und das hat man zu verschweigen. Jedem war ein ihm zukommendes Maß von Ehre zu erweisen, bis auf Gleichaltrige herab; der Name, den er trug, die Familie, aus der er stammte, der Grad der öffentlichen Schätzung, die er infolgedessen genoss, zeigten die Richtung und ordneten die Beziehung. Man lernte, wie man jemand durch einen Gruß von sich entfernen oder Entgegenkommen ausdrücken konnte; Lächeln, Freundlichkeit, Frage, sie beruhten auf Brauch und Verabredung. In den Zimmern standen die Dinge unverrückbar; es war etwas Heiliges um das Einzelne, ob es kostbar war oder nicht. Die chinesischen Vasen, japanischen Schnitzereien; die florentinische Uhr in der Diele mit ihrem königlich sonoren Schlag; die bemalten Glasfenster im Treppenhaus, die eichenen Schränke im Flur, die Brokatdecken im Salon, die marmornen Figuren in der Bibliothek, die Ahnenbilder im Speisesaal: Männer mit eckigen Schädeln, die Frauen mit hochmütig geschürzten Lippen und bäuerinnenhaft stumpfen Augen; das Silbergeschirr auf der Tafel, alles wie gewachsen, wie von Ewigkeit her. Die Hand der Mutter war nur zu denken mit dem alten silbernen Ring, den ein ziseliert gefasster Smaragd krönte, und wenn der Blick sich zu ihrem Gesicht erhob, streifte er zuerst das Samtband mit dem goldenen Medaillon an ihrem Hals.

War es doch, als trüge sie seit tausend Jahren den Ring mit dem Smaragd und das goldene Medaillon am schwarzen Band. Und sie war eine junge Frau.

Man ging leise, man sprach ohne merklichen Aufwand von Stimme. Man behielt die Türklinke in der Hand, bis die Türe geschlossen war. Mitteilung geschah in gemäßigter Form. Artigkeit war ein Begriff von wesentlicher Bedeutung. Alles Tun hatte zum Mittelpunkt das Interesse des Hauses. Plötzliches war nicht willkommen; in erster Reihe stand das Gefällige, was nicht verletzt und nicht beunruhigt. Wichtig, zwischen Herrschenden und Dienenden genau zu unterscheiden, sich niemals etwas zu vergeben, niemals die weise gezogenen Grenzen zu überschreiten.

Es kann nicht behauptet werden, dass der Knabe unter der Unantastbarkeit der äußeren Ordnungen und des täglichen Ablaufes litt. Die Gebote waren wirksam gewesen, als sein Blut zu pulsen begonnen hatte; geschlechterlang hatten sie regiert, die eckigen Schädel geformt, den ernsthaften Bauernblick, die hochmütig geschürzten Lippen; es konnte dagegen kein Anderswollen aufkommen. Kein Gefühl der Last war da. Innerhalb des zugestandenen Bezirks durfte Dietrich die seiner Jugend gebührenden, dem Rang der Familie entsprechenden Freiheiten genießen. Dass er sie Missbrauch wäre bereits Entartung gewesen, und auf die Art musste man sich verlassen können. Die Familie war eine unzerstörbare Einheit; man hatte sagen können, sie unterhielten sich in ihrer besonderen Sprache, wenn sie unter sich waren. Die Fesseln lockerten sich, die die Welt auferlegte; ein beziehender Blick, Scherzwort, lächelndes Zunicken besiegelten Unverbrüchlichkeit oder offenbarten Empfindungen, die man sonst verschloss.

Dietrich war zum Studium der Rechtswissenschaft bestimmt, wie der älteste Sohn seit jeher. Später sollte er in den Staatsdienst treten. Dem Vorhaben der Eltern sich zu fügen, war ihm selbstverständlich. Er hatte nie eine abirrende Neigung in sich verspürt. Vor ihm lag geebnete Bahn. Sein eigenes Treiben beschäftigte ihn nur im Hinblick auf das erreichbare Ziel. Er gab sich unfragend dem hin, er war sich ohne Gewicht fast. Er kannte keine Verdunkelung, keine Zweifel. Gehorsam war bequem, da er Hindernisse aus dem Weg räumte.

Zu Ende des Winters, in dem er siebzehn Jahre alt geworden war, erkrankte sein Vater. Schon Monate vorher hatte ihn die Spannkraft verlassen. Er zog sich von den Geschäften zurück, legte Ämter und Ehrenstellen nieder, wollte seine Freunde nicht sehen, hatte den Glauben an sich, an die Zukunft, an die Nation verloren, und wurde die Beute einer unabwendbar einsickernden Schwermut, die den körperlichen Verfall beschleunigte. Kaum, dass er begraben war, fiel auch Dietrich in schwere Krankheit, von der er sich erst mit Anbruch des Frühlings zu erholen begann.

Der Arzt riet, ihn aufs Land zu schicken, und zwar für lange. Damit der Studiengang nicht geschädigt würde, erachtete er es für zweckmäßig, wenn er in einer Waldschule Unterkunft fände. Nach mancherlei Umfragen wollte sich die Ratsherrin für die Schulgemeinde Hochlinden entscheiden, die sich durch ihre landschaftliche Lage in einem Tal des südlichen Schwarzwaldes empfahl; aber gutmeinende Bekannte warnten vor den extrem modernen Ideen, die dort im Schwange seien, und hauptsächlich vor dem Leiter der Anstalt, Doktor von der Leyen, der in pädagogischen Fragen als gefährlicher Fortschrittler galt.

Zufällig war Georg Mathys auf Ferienbesuch bei seinen Eltern. Er war seit einem Jahr Zögling in Hochlinden. Die Mathys, weltberühmte Seidenweber, im Besitz des Privilegs seit 156o, waren als Familie ebenbürtig. Nach ihrer Meinung sich zu richten, ihren Rat zu befolgen, lag nahe und war klug. Die Auskunft beseitigte jedes Bedenken. Georg selbst schilderte ihr das Leben in der Schulgemeinde ruhig und anschaulich. Er urteilte nicht, schwärmte nicht, das sagte ihr zu. Dass er gewillt war, sich Dietrichs anzunehmen, war ein Grund mehr für die Wahl von Hochlinden. Er war um zwei Jahre älter als Dietrich, machte aber den Eindruck eines gereiften Charakters. Er war schlank, groß, hatte etwas Sanftes im Wesen und sehr schöne Augen mit langen Wimpern.

Es war leicht, sich in Hochlinden einzuleben. Unbefangenes Entgegenkommen streifte dem Schüchternsten die Fessel ab. Die Freiheit der Gebärde verwunderte Dietrich mehr als die des Wortes. Er jedes Mal eine Hemmung überwinden, bevor er gelockert und gleichgestimmt war.

Dies spiegelte sich in seinem Gesicht. Es war ein Gesicht ohne die schlauen und ängstlichen Verstecktheiten, wie es viele Siebzehnjährige haben. Es war zu allen Tageszeiten von derselben Frische. Man konnte ihn aus dem Schlaf rütteln, und die Frische leuchtete. Der Kopf war klein, der Körper von zartem Bau. Geradezu auffallend war die Kleinheit und Feinheit seiner Hände. Man hielt ihn anfangs für verweichlicht, aber er war ein vorzüglicher Turner und Schwimmer, und im Ringkampf war ihm nur Kurt Fink überlegen, der Berliner. Damit setzte er sich in Respekt.

Georg Mathys gab ihm freundschaftliche Unterweisung, wie er sich in bestimmten Fällen zu verhalten habe. Er war mit Dietrich in der Kameradschaft Doktor von der Leyens. Es fiel Dietrich äußerst schwer, sich an das Du zu gewöhnen, mit dem er wie alle diesen Mann anreden sollte. Von der Leyen war es darum zu tun, die Fremdheitsschranke niederzureißen, die aus dem Lehrer einen Popanz, aus dem Schüler ein unbeseeltes Instrument machte. Das Mittel der vertraulichen Anrede war zweischneidig, er verhehlte es sich nicht, aber er wog keine Gefahr, wenn es ihm darum zu tun war, sich zu bewähren. Er wog nicht einmal die Enttäuschung. Nicht auf Disziplin kam es ihm an, die er in den Händen der Pedanten und Moralisten zu einem Erwürgungsapparat hatte werden sehen, sondern auf den freien Entschluss des Einzelnen, sich der Erkenntnis eines Führers zu beugen, der zugleich Liebender war. Er glaubte an die Möglichkeit der Verwandlung in jungen Menschen, und von diesem Glauben erfüllt, nahm er nur an, was ihn befestigte. Zwang und Vorschrift wirkten nicht als solche. Jeder sollte zu der anspornenden Meinung gebracht werden, als bestimme er selbst das Ausmaß seiner Pflichten. Ein überlegener Geist handelte nach wohldurchdachtem Plan, dem sich die untergeordneten Organe willig fügten.

Das Erstaunen Dietrichs bei den Äußerungen von der Leyens wuchs von Tag zu Tag. Der Gegensatz zu dem, was er bisher für erlaubt und erstrebenswert gehalten, war so grell, dass er sich in eine Region versetzt wähnte, von der gewohnten so verschieden wie Feuer von Wasser. Er schaute um sich, er besann sich; es war noch die Welt, und es war nicht mehr die Welt. Die weit hinaus geebnete Bahn verschwamm im Ungewissen.

Wenige können sich verwandeln. Verwandlung erschüttert das Herz.

An einem jener Diskussionsabende, die zu den Einrichtungen in Hochlinden gehörten, hielt Doktor von der Leyen eine Rede, worin er mit der Unwiderstehlichkeit und polemischen Kraft seiner Beweisführung entwickelte, dass der Kultus, den die Gesellschaft den geistigen Heroen weihe, auf fortwuchernder Lüge beruhe. Er wünsche, dass sich die Jugend, seine Jugend, von dieser Lüge lossage; sie sähe wie Trägheit und faules Mittun aus; sie sei wie der katholische Ablass und absolviere von dem Trieb zur höchsten Leistung. Wem von Kindesbeinen an ins Gehirn gehämmert werde, dass das Große bereits getan sei, dem bleibe im besten Fall nur demütige Nachfolge übrig, im schlimmsten der gedankenlose Trost der sozialen Wanzen. Der Gespensterwahn müsse von der Erde vertilgt werden; jede Zeit habe ihre eigenen Aufgaben, unabhängig von aller andern Zeit, jeder in ihr Geborene habe seine eigene Sendung; keinem, der da lebe, sei die oberste Staffel verwehrt, kein Lorbeer sei ein für alle Mal vergeben, die Vergottung der Gewesenen mache die blühende Gegenwart zur Katakombe. »Nicht Nachfolger sollt ihr sein, sondern Vorläufer,« rief er aus, »verlacht die, die von euch die Andacht vor dem Fetisch fordern. Kniet nicht nieder um zu beten, wo es besser ist, Gerümpel in die Rumpelkammer zu werfen.«

Wie sich denken ließ, wurde die Philippika mit Jubel aufgenommen, und ein junger Westpreuße, Peter Ulschitzky, ging noch einen Schritt weiter im ungestümen Verlangen und wollte den Bildersturm gleich in Tat umsetzen, Klassiker verbannen, die Anerkannten mit dem Interdikt belegen. Dann meldete sich Georg Mathys zum Wort; er war kühn genug, einen Ausspruch seines Vaters zu zitieren, der gesagt hatte: »Hüte dich vor denen, die Häuser bauen wollen und damit anfangen, die Wälder zu verbrennen und die Steinbrüche zu verschütten.« Er fragte, ob auch jeder Vorläufer befähigt sei, einen Weg zu finden, und ob nicht eine gräuliche Verwirrung zu befürchten sei, wenn alle vorausrennten und keiner mehr warten wolle, wohin man käme? Und ob mit dem Gerümpel nicht viel Nützliches und Tüchtiges in die Rumpelkammer geriete? Und ob es für die Mehrzahl der Menschen nicht dienlicher sei, Geschaffenes zu verehren, als frech und pfuscherhaft sich anzumaßen, Neues zu schaffen?

Er stand im Ruf eines Reaktionärs, und Doktor von der Leyen nannte ihn bisweilen den Basler Hemmschuh. Aber er war ihm deshalb nicht gram; es behagte ihm, wenn die Meinungen scharf gegeneinander stießen und bot selbst das schöne Beispiel der Duldsamkeit. Leben wollte er um sich wissen, und Leben hieß Aufruhr, Frage, Widerpart.

Aus Georg Mathys redete, ohne dass er dessen vielleicht inne wurde, die zusammenfassende Kraft eines konservativen Gemeinwesens, die alte Polis mit bewahrender Sitte und beruhigter Form. Da war er verwurzelt, und mochten die Zweige noch so weit und wild langen, das Erdreich hielt ihn in unabänderlicher Festigkeit. Was ihn von außen her veranlasst hatte, sich gegen die wühlerische Flut zu stemmen, war nur ein Blick gewesen, der sich zu Dietrich Oberlin verirrt hatte. Das Bild blieb lange. Oberlin, mitten unter den Knaben sitzend, war verzaubert; seine Augen hingen in schwärmerischer Hingabe an den Lippen des Lehrers, um jeden Hauch, jede Silbe einzufangen. Die jüngerhaft leuchtende Hingabe zu spüren, beängstigte Mathys; es war etwas darin von der leidenschaftlichen Fruchtbarkeit des nie bepflügten Humus, der Unkrautsamen mit gleicher Gier empfängt wie edlen.

Lucian von der Leyen war ein hagerer Mann über Mittelgröße im Alter von ungefähr fünfzig Jahren. Er gehörte zu den streitbaren Erziehern und wirkte in Wort und Schrift für seine reformatorischen Ideen unablässig. Er hatte viel Anfeindung erfahren; Verleumdung lag stets auf der Lauer. Es beirrte ihn nicht; je heftiger die Gegnerschaften waren, je höher trug er den Kopf.

Seine Züge hatten eine strenge Prägung; in dem blassen, knochigen Gesicht steckten kleine fahle zumeist erloschene Augen, die das Gesicht noch finsterer machten. Im Verkehr mit Erwachsenen und Fertigen, Leuten von Beruf und Amt war er wortkarg, unliebenswürdig, ja abstoßend; wenn er mit seinen Zöglingen sprach, strahlten diese selben Augen eine berückende Güte aus, und die von der bitteren Geschlossenheit des Mundes herrührenden scharfen und bösen Linien wurden weich. Es war ihm Werk. Jeder Schritt Entdeckung, jeder Schritt Wagnis. Sich der schlimmen Erfahrungen zu erwehren, verlangte einen Charakter von Stahl. Kein Vertrauen ohne äußerste Wachsamkeit; kein Gelingen ohne beständigen Kampf. Kampf mit den Mächten draußen, mit den Mächten drinnen; Kampf wider die Gewöhnung, wider die Verstocktheit. Die Gesellschaft in wartendem Argwohn, bereit, den Stein zu schleudern, den ihr Verrat und Missgunst in die Hand schob; der Staat in abgefeilschter Duldung; Zweifel von allen Seiten; die Bürde der Verantwortung erdrückend; Furcht vor Untreue dauernde Qual; und immer wieder Verlust des Menschen, dem man Gestalt verliehen und Richtung gewiesen, der einem vielleicht als Geschaffenes teuer war, als Bestätigung unentbehrlich; er löste sich los, verlor sich, verging. Es war wie bei einer Leydener Flasche: ein Überspringen von wunderbar gleißenden Funken, dem Element entlockt, eine bewegliche Kette von Licht; aber zwischen Funken und Funken Ur-Finsternis.

Von seiner Vergangenheit war wenig bekannt. Bis zu seinem vierzigsten Jahr hatte er ein unstetes Wanderleben geführt, feste Anstellung verschmähend, oder wenn er sich dazu verstanden, durch Ränke der Fachgenossen und das herausfordernd Neue seiner Methode wieder vertrieben. Seine Schriften waren totgeschwiegen worden, eine, Die Erotik in der Schule betitelt, hatte der Staatsanwalt beschlagnahmt. Eine Zeitlang hatte er sich in würgendem Elend befunden; gerettet hatte ihn nur der eiserne Wille und trappistische Bedürfnislosigkeit. Endlich wurde man auf ihn aufmerksam. Ein Berliner Bankkonsortium hatte das Gut Hochlinden angekauft und das zur Durchführung seines Projekts notwendige Kapital zur Verfügung gestellt. Der Erfolg rechtfertigte den damals noch kühnen Versuch. Es war ein anmutiges Stück Erde, vom Talgrund in Hügelterrassen aufsteigend, stundenweit von Städten, mit Wiesen, Wald, Fruchtgärten, Wässern, Brunnen, Ställen, Meiereien, Tennisplätzen und zierlich verstreuten Häusern. Kaum ein Jahr verging, ohne dass die Wohn- und Schulgebäude nicht vermehrt und vergrößert werden mussten.

An einem regnerischen Sonntagnachmittag hatte sich eine Anzahl Knaben im Spielsaal versammelt, der das Erdgeschoß eines großen Pavillons einnahm. Zuerst wurden die Schachtische besetzt; um die Spieler gruppierten sich Zuschauer, die alsbald lebhafte Kritik an den Zügen übten. Der allgemeine Lärm verschlang ihre Stimmen. Belustigendes Einzelnes löste sich aus dem Getöse, ein horazischer Vers; eine chemische Formel; Streit über den Tonnengehalt eines neuen Ozeandampfers; Gelächter über einen Witz; Nachfrage um ein verlorenes Messer. Ein Rotkopf wettete, dass er auf den Händen gehen könne; als er das Kunststück zum Besten gab, erntete er Applaus. Der Ruhm stachelte einen andern; er behauptete, Bauchredner zu sein, aber da er es nur zu quiekenden Misstönen brachte, wurde er verhöhnt. Zu hören waren Stimmen in der Fistel und im prahlerischen Bass wie Durcheinander von Vogelgezwitscher und Bärengebrumm. Ein Präfekt rief vom offenen Fenster einen Namen herein; dann verirrte sich eine Schwalbe in den Raum und erzwang durch ihren ängstlichen Kreuzflug Sekunden neugieriger Stille.

Als es dämmerte, kam Doktor von der Leyen mit mehreren seiner Kameradschaft; sie hatten trotz des schlechten Wetters einen Gang durch den Wald gemacht, Mathys, Uschitzky und Kurt Fink. Oberlin hatte nicht daran teilgenommen; er hatte einen Brief an seine Mutter, die Ratsherrin, geschrieben und war erst vor kurzem in den Saal gekommen. Er saß am Klavier und spielte, unbekümmert um den Tumult, mit suchenden Fingern eine Melodie aus Carmen. Da trat Kurt Fink neben ihn, übermütig, händelsüchtig, und schnarrte in seinem Berliner Dialekt: »Pfui Deibel, das is ja, als ob deine Großmutter aus dem Grabe winselt«. Oberlin stutzte, spielte aber weiter, als hätte er nichts gehört. Kurt Fink erboste sich, fuhr mit der Linken über die ganze Tastatur, was ein kreischendes, dann dröhnendes Saitengeklirr hervorbrachte, schob dabei Dietrichs Hände weg und rief: »Schluss mit dem Schmachtfetzen.«

Oberlin erhob sich, und sie standen Aug in Auge. Da war etwas von der Feindschaft der Stämme drin; Norden gegen Süden. Die Knaben stellten sich im Kreis um Beide. Solche Auftritte waren selten. Fink spürte, Missbilligung erweckte und zu weit gegangen war; er brach in Lachen aus, das aber nichts gutmachte, sondern beleidigend klang. Oberlin verfärbte sich. Ein verwirrter und zorniger Blick musterte die Gesichter; er hätte sich am liebsten auf Fink gestürzt, aber die Anwesenheit Lucians lähmte ihn. Er senkte den Kopf, und als er die Augen wieder emporrichtete, begegneten sie denen von der Leyens, die ihn fragend oder forschend anschauten. Er missverstand den Ausdruck und glaubte, dass er Rechenschaft geben solle; seine Verwirrung wuchs, und sich an Lucian wendend, stieß er trotzig hervor: »Er soll aufhören zu lachen«. Das war kindlich, und auf einigen Gesichtern zeigte sich Grinsen.

»Genug des Unsinns, Kurt«, mischte sich von der Leyen ein und legte die schwere Hand auf Oberlins Haupt. Die Knaben traten auseinander. Kurt Fink hatte seine Absicht erreicht, er nahm am Flügel Platz und begann einen Gassenhauer zu trommeln, den er mit parodistischem Krähen begleitete.

»Und wir beide? wollen wir nicht ein bisschen miteinander plaudern?« fragte von der Leyen den noch immer befangenen Dietrich.

»Gern, wenn du Lust hast«, antwortete er überrascht.

Eine Weile gingen sie im Saal auf und ab, der sich langsam leerte. Von der Leyen, den Knaben um die Höhe der Stirn überragend, hatte den Arm um seine Schulter geschlungen. Nachher setzten sie sich in eine Ecke, und das Gespräch wurde intensiver. Wenn Oberlin redete, hing sein offener, voller, beglückter Blick an dem Gesicht des Mannes; wenn dieser das Wort ergriff, bog er mit über den Knien verfalteten Händen den schmalen Körper nach vorn, und je wichtiger ihm das zu Sagende erschien, je gedämpfter klang seine Stimme. Erst als die Glocke zum Abendessen läutete, erhoben sie sich.

Von da ab verging kein Tag ohne ein solches Zusammensein von Lehrer und Schüler. Da der Unterricht, sofern es das Wetter irgend zuließ, im Freien abgehalten wurde, beim Lagern auf Wiesen oder im Wald und auf Wanderungen, boten sich die Gelegenheiten ungesucht. In dieser Zeit war Oberlin gegen die Kameraden schweigsam, auch gegen Mathys und Justus Richter, einen Heidelberger Professorssohn, an den er sich angeschlossen und dessen aufrichtige Art ihm Sympathie eingeflößt. Nur in seinen Mienen verriet sich eine nicht aussetzende Erregung.

Schwer war die Scheu vor dem Mann in ergrauenden Haaren zu überwinden gewesen, vor seiner Würde, seinem Wissen. Doch wenn er sprach, in seiner leisen, horchenden, sinnenden Art, verschwand Würde und Wissen, das ergraute Haar, das faltige Gesicht.

Was den Knaben am mächtigsten anrührte, dass er bis in die Knie gebannt war, gebannt emporsah, war der unergründlich tiefe, geistige Ernst. Das schnitt durch und durch, wie Eisluft von einem Gletscher. Das Lächeln, das heitere Wort, die herzliche Gebärde beleuchteten den Ernst nur, sie verdeckten ihn nicht.

Sich ihm zu nähern, war, als ob man sich erfrechte. Und doch war er selbst herangetreten und hatte einem den Arm um die Schultern geschlungen. Es ehrte unermesslich. Jeder einzelne Blutstropfen unterwarf sich. Die freiwillige, enthusiastische Unterwerfung war seliger Rausch.

Er stand ganz oben in Dietrichs Augen; befehlender Mensch, bestimmender Geist. Sein Wort glich einer Mauer, an die man sich lehnt und die Sicherheit gewährt. Die heimlichen und feurigen Gedanken von fünfundachtzig Knaben folgten ihm in seine wolkenhafte Höhe, und wer weiß wie vieler noch von draußen. Und er war herangetreten, um den Arm um seine Schultern zu schlingen. Schauderndes Gefühl.

Dietrich hatte nie einen gegenwärtigen Zustand an einem vergangenen oder einem möglichen gemessen. Es hatte ihm immer geschienen, musste; es anders zu wünschen, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Jetzt sah er sich um wie einer, der aus Träumen erwacht, in denen er gedemütigt worden ist, ohne es zu merken; er erwacht verwundert und beschämt. Von der Leyens bloße Nähe bewirkte, dass er ungern zurückdachte; Heimat und Vaterhaus waren öde, weil dort keiner war, zu dem man bewundernd emporsehen konnte.

Das Du, das ihm erlaubt war, vermehrte die Ehrfurcht und Dankbarkeit nur. Es war wie ein überkostbares Geschenk, das man selten zu gebrauchen wagt. Er war plötzlich voller Zweifel in bezug auf sich selbst. Früher wäre es ihm fern gewesen, sich zu fragen, ob das, was er gesagt, getan, wie er sich hielt, sich gab, richtig und gut war. Jetzt prüfte er sich innen und außen; ein übereiltes Wort quälte ihn; ein begangener Fehler machte ihn in der Erinnerung erbleichen; er spürte bedrückend das Langsame seiner Auffassung, das träge Beharren in seiner Natur; er war voll Unruhe, voll brennenden geheimen Eifers, voll Angst, nicht erfüllen zu können, was von ihm erwartet wurde; was Er erwartete. Gab er ihm denn so viel Vorsprung, dass er so freundlich war? Sammelte er Forderungen in der Stille, um ihm dann seine Unzulänglichkeit desto bündiger zu beweisen? Warum war er freundlich? Warum redete er wie zu einem Gefährten? Vielleicht überschätzte er ihn; Oberlin zitterte vor dem Tag, der ihn, Dietrich, in seiner wahren Gestalt zeigen missgebildeten Beschaffenheit.

Er war sich unwert. Er gefiel sich nicht. Dennoch wollte er Ihm gefallen, um jeden Preis. Kein Opfer war zu hart; nur Ihn nicht enttäuschen, nur nicht zurückgestoßen werden, da man doch, aus unerklärlichen Gründen freilich, einmal vorgezogen war; nur nicht wieder ein Unbeachteter sein, verdeckt, versteckt unter den Andern, nur nicht wieder hinab in die gefühllose Leere, wo kein Glanz war, kein Gerufenwerden, kein Arm-in-Arm-Wandeln, kein Gehörtwerden. Er hätte beten mögen darum.

Bisweilen warf er einen musternden Blick in den Spiegel und hasste sein Gesicht, weil es nicht edler und bedeutender war, nahm ein schwer verständliches Buch zur Hand und hasste sein Gehirn, weil es nicht leichter begriff. Er schrieb seinen Namen auf die Löschblätter und fand ihn hässlich, nichtssagend, plump. Alles war Ungenügen, Verzagen, Kriechen im Schatten; alles Hunger und Begier nach Seinem Wort, Seinem Einverständnis, Seiner Billigung.

War er in Lucians Gesellschaft, so blühte das Leben. Er hatte Pläne, er wollte etwas werden und etwas können. Nach und nach fasste er Mut zu Fragen, die ohne Wortkleid in ihm geschlummert hatten, über Menschen und alltägliche Vorfälle. In der Freude am Sichüberliefern las er ihm Briefe seiner Mutter vor. Erzählte vom Vater, von abendlichen Gängen ins Gebirge, von der Ermatinger Villa am Bodensee, wo die Familie den Sommer zu verbringen pflegte, von Regatten, Wettschwimmen, Fischpartien. Es gab harmlose Erlebnisse, die er mit lebhafter Eindringlichkeit vortrug. Sie sollten bezeugen und bezeugten auch einen Schatz von bereits gesammelten Erfahrungen. Lucian von der Leyen nahm es in diesem seriösen Sinn auf. Unter anderem berichtete er von einer Katze und einem Hund, die er seit ihrer Geburt besessen; wie die Tiere sich zur Verwunderung aller miteinander angefreundet und schließlich unzertrennlich gewesen seien; stets um ihn und mit ihm, sogar die Katze folgte treulich bis zur Bootshütte; eines Nachts weckt ihn ein Schrei, wie er nie einen vernommen; er lauscht, wirft sich in Kleider, eilt ins Freie; wieder ein Schrei, als ob ein Mensch erstochen würde; sogleich denkt er an die Katze, er läuft durch den Garten ans Seeufer, da kommt ihm der Hund entgegen, verbrecherhaft geduckt, er stellt ihn zur Rede; man könne das; Hunde antworteten; und der Hund habe gestanden, aus bösem Gewissen heraus; er führt ihn zum Zaun, dort liegt, in schwachem Mondlicht sichtbar, die schöne Katze mit dem getigerten Fell ausgestreckt in ihrem Blut. Von der Leyen sagte: »Zwischen denen mag etwas Schlimmes passiert sein, bevor ihre Freundschaft ein so jähes Ende genommen. Wer das wüsste viel von verborgenen Dingen. War dir nicht nachher in der Phantasie der Moment der schrecklichste, wo du die Katze wehrlos unter den Zähnen des Hundes gedacht hast? So weit reicht bei den meisten die Vorstellungskraft nicht, und deshalb steht es mit ihnen so übel.«

Im Ton niemals eine Mahnung an die Kluft der Jahre. Brüder redeten. Einer, der den Kreis der Welt durchlaufen und atemholend zurückschaut; einer am Beginn. Fülle des Schicksals hier, Unbekanntschaft mit ihm dort; das machte die Brücke fester, das Hinübergehen lockender, die Tiefe unten, den fließenden Strom. Auch von der Leyen erzählte; selten Begebenheiten in einer Folge, noch seltener Erlittenes; im Vorüberstreifen, seinem verschlossenen Wesen abgestohlen, riss er eine Stunde aus der Erinnerung, in der Entscheidung gefallen war; ein Antlitz tauchte auf; ein Freund, ein Gehilfe; ein Feind, ein Verderber; der Tod, Trennung; Irrfahrten; Bittwege; Canossawege; wieder das Juwel eines gefundenen Herzens: ein Freund.

Oberlin lauschte entzückt. Lucian hielt ihn also nicht für zu gering, um sich mitzuteilen; darauf war Verlass. Eid war nicht bindender als einbezogen sein in das Vertrauen. Allmählich schmolz ihm Zug um Zug in dem Bild des Mannes zusammen, das er verklärte über jeden Begriff. Er erriet die Einsamkeit dieses Lebens; er wollte ihr ein Ende bereiten; er spürte die Entbehrungen; er wollte sie vergessen machen. Es dünkte ihm ein Ziel, er sah eine Aufgabe.

Lucian von der Leyen kannte nur Ein Verknüpfendes zwischen Menschen, das war Freundschaft. Der Freund war ihm die reife Frucht des Schaffens und Seins. Er hatte kein Gefühl für Familienbeziehungen, Neigung zwischen Eltern und Kindern, zärtliche Rücksicht auf Blutsverwandte und Pflichten der Pietät; nicht einmal Verständnis, nur Spott und abschätziges Bedauern. Es waren ihm animalische Instinkte oder klug benutzte, unter dem Mantel der Heuchelei gepflegte Mittel zur Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft. Vor vielen Jahren hatte er in einer Schrift, die sogar die Entrüstung der Umsturzlüsternen erregt hatte, die Gründung staatlicher Institute vorgeschlagen, Findelhäuser großen Stils, in denen alle Neugeborenen männlichen Geschlechts als Namenlose und des Namens Entkleidete bis zum zwanzigsten Jahr erzogen werden sollten. Er hatte verheißen, eine derart umgeformte Menschheit würde nach einem halben Jahrhundert Siechtum und Verfall überwunden haben.

So erblickte er auch in der Liebe zwischen Mann und Weib nichts anderes als eine Form der Leibeigenschaft. Seine Äußerungen darüber geschahen unter merklichem Widerwillen. Eine Frau war ihm ein Geschöpf aus einer fremden, untergeordneten Region. Dass alle Dichtung auf Erotik gestellt war, begründete er mit dem Hang des Menschen zu Traum und Symbol, die in den hohen Beispielen der Deutung bedürftig waren, in den niederen ihrer umnebelnden und lügenhaften Wirkungen halber zur Abwehr und Verachtung zwangen.

Er war ohne Anhänglichkeit an Dinge, ohne Streben nach Besitz, ohne sinnliche Verkettung. Genüsse reizten ihn nicht. Begierden beunruhigten ihn nicht, Ansprüche an Wohlbehagen stellte er nicht. Zu empfinden vermochte er nur für den Freund. War es eine ihm innewohnende verfeinerte oder vergeistete Sehnsucht? Aber an den Gleiches Wollenden, Gleichgearteten schloss er sich nicht an. Es war auch keiner da, man erfuhr von keinem. Er stand so sichtbar allein, dass man ihn verbündet und mit Gefährten kaum denken konnte. Doch wenn von den Zöglingen einer nur ihm an der Seite ging, es brauchte nicht ein Erwählter zu sein, war er plötzlich nicht mehr der Abgekehrte, der Unverbundene; dann war in seinem Aug zu lesen: du und ich. Dies du und ich war keuscheste Hoffnung, furchtsamster Wunsch; Wollust von einem, der Seelen an sich presst und ihr efeuhaftes Ranken mit der eigenen nährt.

Er sagte zu seinen Schülern, seit die Freundschaft aufgehört habe, ein Element des sozialen Lebens zu sein, sei die abendländische Welt mit unaufhaltsamer Gesetzmäßigkeit gesunken, und der brüderliche Geist des Humanismus wandle sich in verfolgungssüchtige Barbarei. Er erzählte ihnen von berühmten Freundschaften, und die karge Reinheit seiner Darstellung gab den Nüchternsten Bild und Begriff; wie nur Freundschaft das Einzelschicksal aus dem tragischen Grauen zu heben vermöge, das der Kreatur als solcher angeboren. Die Griechen hätten es gewusst und den Altar der Freundschaft zum heiligsten gemacht; daher die Größe des Volks und die fast unbegreifliche Zahl schöpferischer Menschen. »Heute aber,« sagte er, »ist die Entzückung nicht mehr da von Mann zu Mann, der Glaube nicht, die Macht von Gemüt zu Gemüt nicht. Der Freund ist zum Gespielen geworden, zum Mitwisser, zum Zeitverderber, und später ist er Herr oder Sklave oder Feind. Lasst doch lieber die Erde absterben und die Nationen vergehen, als dass ihr so weiter lebt, so arm, so halb.«

Bei solchen Worten liebten ihn die jungen Herzen noch mehr als sonst.

Es konnte ihm aber nicht entgehen, dass er in Oberlin einen gewonnen hatte, der ihm wesentlicher anhing und beharrlicher folgte als je einer zuvor. Den hatte er aus dem Innersten entfaltet und in die Flamme hineingetrieben, wo er nun mit Adorantenhänden stand. Es bewegte ihn sehr. Er hätte nicht kühner begehren können, als es nun die Wirklichkeit schenkte.

Manchmal schaute er in das erschlossene Jünglingsgesicht und dachte froh: ein Schüler! Was lag da nicht drin an Gewähr, an Unvergänglichem! So konnte es also sein! Manchmal auch erschrak er: bin ich dem gewachsen? Da war kein Einschränken und Sträuben; der volle Akkord aus der Tiefe, glockenklar.

Zarteste Obliegenheiten erwuchsen daraus. Selbstprüfung, Selbstbewachung; ein Führen wie an seidenen Fäden. Er wurde gespannter, elastischer, beredter. Im Maße wie es ihn ergriff, erfuhr er die hundertmal erfahrene Angst von neuem: Angst vor Verlust, vor der Brüchigkeit, vor der Zeit und dem räuberischen Geschick. Auch dieser Ikarus wird mir in den Abgrund stürzen, sagte er sich.

Indessen wurden die andern Knaben, namentlich die in der Kameradschaft, ungeduldig. Die Bevorzugung des hübschen, aber nach dem allgemeinen Urteil etwas simplen Oberlin verärgerte viele. Es hatte stets Begünstigte gegeben, doch so weit war es nie gediehen. Während aber die Unzufriedenheit in den meisten nur still gärte, auch durch ein Wort oder Lächeln von der Leyens leicht zu beschwichtigen war, übte Kurt Fink hämische Kritik. Dabei blieb es nicht; er verbündete sich mit dem Präfekten Rottmann, und das Einverständnis gewann herausfordernden Charakter; denn zwischen Rottmann und von der Leyen bestand eine ernstliche Verstimmung. In einer Frage von prinzipieller Wichtigkeit hatte der Präfekt dem Schulleiter Widerpart geleistet und im Verlauf einer scharfen Auseinandersetzung sogar mit der Öffentlichkeit gedroht.

Von der Leyen hatte die Verfügung erlassen, die gemeinsamen Leibesübungen sollten völlig nackt, auch ohne die übliche Lendenhose vorgenommen werden. Er nannte dies Kleidungsstück unzüchtig und sagte, es versetze in den Zustand des Ausgezogenseins, nicht des Nacktseins. Die Knaben waren auf Doktor von der Leyens Seite und erklärten sich bei der Schulversammlung einhellig für ihn; danach aber hatte Rottmann eine Gegenpartei zu bilden vermocht, die er heimlich aufwiegelte. Er pochte auf seine Verwandtschaft mit einem der Geldgeber der Anstalt, war aber dabei ein armer Teufel, aus welchem Grund sich auch von der Leyen nicht entschließen konnte, ihn brotlos zu machen.

»Hört mal, Kinder, so geht das nicht weiter«, polterte eines Abends Justus Richter. »Rottmann schleicht im Schlafsaal herum, wenn man müde ist, spioniert und stänkert. Ich erlaube nicht, dass hier gestänkert wird. Hier hat gute Luft zu sein, basta. Was hat er denn von dir gewollt, Oberlin, als er dich beiseite nahm?«

Dietrich antwortete: »Ich habe ihn nicht verstanden. Er tat so geheimnisvoll. Er sagte, Lucian beginge Unrecht an sich und an uns. Seine ideale Absicht wäre nicht zu bezweifeln, aber er wäre sich nicht klar darüber, dass er widernatürliche Triebe in uns wecke.«

Richter, der schon im Bett lag, schnellte auf. »O das Schwein!« rief er. »Hier gelob ichs, wenn er wieder das Lokal betritt, werf ich ihn die Treppe hinunter. Was für ein schmutziges Schwein. Und was hast du ihm erwidert?«

»Ja, ich wusste nicht,« sagte Dietrich zögernd, »ich wusste gar nicht, was er meinte. Was sind denn das: widernatürliche Triebe?«

Herzliches Gelächter folgte der Frage. Eine Weile noch wurde Dietrich geneckt, dann drehte der Zimmerälteste das Licht ab. Mehrere schimpften, aber zehn Minuten darauf war rhythmisch durchatmete Ruhe. Dietrich allein konnte lange keinen Schlaf finden. Mitten in der Nacht erhob er sich. Mattes Licht klebte an den Scheiben; er sah die schlummernden Gesichter der Kameraden, einige glatt und heiter, einige wie im Schmerz verzogen; ein Seufzen von irgendwo, ein geflüsterter Laut wieder; draußen rauschten Bäume, es war so schwül, so eigen; auf den Zehen schlich er zum Fenster, öffnete es und beugte sich hinaus, weit, durstig, beklommen, träumend halb, die Welt war wie ein Wurm, der im Kriechen müd geworden ist und regungslos liegt, der Himmel oben wie eine zugemachte Tür. »Was tust du, Oberlin?« fragte eine leise Stimme.

Dietrich kehrte sich betroffen um. Es war Georg Mathys, der mit aufs Kissen gestütztem Arm ihn still forschend betrachtete.