cover.jpg

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Interludium

10.

Interludium

11.

Interludium

12.

Epilog

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

img1.jpg

 

Nr. 2267

 

Ich, Gon-Orbhon

 

Kosmokratenzögling, Schutzherr, Überläufer – ein Gott erzählt seine Geschichte

 

Leo Lukas

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

img2.jpg

 

Auf den von Menschen und ihren Nachkommen bewohnten Planeten der Milchstraße ist bereits das Jahr 1333 Neuer Galaktischer Zeitrechnung angebrochen. Aufgrund des so genannten Hyperimpedanz-Schocks herrscht in weiten Teilen der Galaxis eine Mischung aus wirtschaftlichem Niedergang und wagemutiger Aufbruchsstimmung.

Auf Terra, der Urheimat der Menschheit, leben zudem viele Bewohner in wachsender Angst: Der mysteriöse »Gott« Gon-Orbhon greift aus dem Dunkel heraus nach der Macht. Die Regierung vermutet sein Versteck in der Großen Magellanschen Wolke.

Die Expedition des Fernraumschiffs RICHARD BURTON und seiner Besatzung soll das Übel an der Wurzel packen. Schon vor einem halben Jahr brach der Raumer nach Magellan auf. In dieser Galaxis suchen die Terraner nach einem Mittel, die Macht des »Gottes« zu brechen.

Rasch muss die Besatzung erkennen, dass Gon-Orbhon seine Macht explosionsartig ausweitet – zuletzt fielen die Gurrads seinen mentalen Kräften zum Opfer. Das Geheimnis des »Gottes« kennt nur einer – seine Lebensbeichte könnte mit den Worten beginnen: ICH, GON-ORBHON ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gon-Orbhon – Der angebliche Gott gewinnt die Erinnerung an seine Jugendzeit zurück.

Der Lehrkörper der XIX. Kosmität – Streng, aber ungerecht erziehen sie Gon-Orbhon für seine große Aufgabe.

Bré Tsinga – Die Jüngerin dient ihrem Gott als Medium.

Das Specter – Ein blinder Passagier sieht mehr als die gesamte Besatzung.

Prolog

Das Phantom der RICHARD BURTON

 

Ein Gespenst ging um in der RICHARD BURTON.

Man hätte auch sagen können: Es spazierte. Bummelte, flanierte, schlenderte, promenierte. Lustwandelte kreuz und quer durch die ganze, große kleine, enge weite Welt.

Dem Specter gefiel seine neue Heimat. Sie war beschränkter als die letzte – von der vorletzten ganz zu schweigen –, jedoch in sich geschlossener, schlüssiger, konsequenter.

Rund.

Eine Kugel, 1800 Meter durchmessend; am Äquator sogar 2160, wegen der angedockten Ringwulst-Module. Das ergab ein Volumen von 3,47 Milliarden Kubikmetern, bei einer Masse von 620 Millionen Tonnen.

In dem Raumriesen – die volle Bezeichnung lautete »Omni-Trägerschiff für multiplen Einsatz ENTDECKER Typ II (SATURN-Klasse), S.N.C. 1-1345-8, Eigenname RICHARD BURTON« – lebten 7100 Crewmitglieder.

Sowie ein blinder Passagier: das Specter.

Aber es war alles andere als blind. Keiner an Bord sah, hörte, roch, schmeckte, fühlte und erfuhr auch nur annähernd so viel.

Denn das Specter wohnte im bio-positronischen Gehirn der BURTON. Und es bewegte sich gedankenschnell in deren Nervenbahnen. Nicht eine einzige Information, die durch die unzähligen Datenleitungen blitzte, blieb ihm verborgen.

Umgekehrt ahnte niemand etwas von seiner Existenz: weder die 1500 Spezialisten, die sich als Stammbelegschaft im Dreischichtbetrieb abwechselten, noch die insgesamt 4670 Männer und Frauen der Beiboot-Besatzungen; noch die 930 zu den Raumlande- und sonstigen Spezialeinheiten beziehungsweise zum Expeditionskommando zählenden Personen.

Auch den beiden autarken, jeweils variabel schaltbaren Großrechner-Netzwerken, die als Logik-Programm-Verbund das digitale Rückgrat des Schiffs bildeten, und den zusätzlichen positronischen und hyperinpotronischen Redundanz-Computern lag kein Indiz dafür vor, dass sich ein fremdes Etwas in ihnen eingenistet hatte.

Nur einer wusste um die Präsenz und die Fähigkeiten des Specters. Weil er die Wesenheit, die aus der TLD-Agentin Maykie »Mole« Molinas hervorgegangen war, selbst hierher geschmuggelt hatte: Gucky, der Mausbiber.

Aber Gucky war verschollen.

 

*

 

Das ungewisse Schicksal des aus dem Ilt, Reginald Bull und dem Haluter Icho Tolot bestehenden Risikokommandos war an jenem 8. Februar 1333 NGZ Thema in sämtlichen Haupt- und Nebenzentralen, Kommandoständen und Besprechungsräumen, Messen und Erholungsbereichen. Allerorts wurde darüber spekuliert, wo sich die drei Aktivatorträger gerade aufhielten.

Hatten sie den Planeten Parrakh überhaupt erreicht? War es ihnen gelungen, ins Herz der Macht, welche Terra und die Milchstraße bedrohte, vorzudringen? Verfügten sie mittlerweile über neue Erkenntnisse, wie man den »Gott Gon-Orbhon« abwehren konnte?

Und: Würden sie es schaffen, wieder zur BURTON zurückzukehren?

Das Specter bemerkte wohl, dass es begonnen hatte, Anteil zu nehmen an der über siebentausendfachen Aufgeregtheit.

Dem war nicht immer so gewesen. Nachdem es sich mit letzter Kraft – und Guckys tatkräftiger Unterstützung – aus dem Netz von Hayok in die BURTON gerettet hatte, war es erst einmal mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Lange Zeit hatte es damit verbracht, sich zu reorganisieren. Den Großteil des Flugs in die Große Magellansche Wolke hatte es gar nicht bewusst mit vollzogen.

Mittlerweile aber gierte das Specter fast ebenso sehr nach einem Lebenszeichen von Gucky und seinen Begleitern wie die Körperlichen.

 

*

 

»Es gibt keinerlei bekannten Plan, auf welchem Weg die drei den Planeten wieder verlassen wollen«, sagte eine Wartungstechnikerin in einem der Gravosquash-Kuben besorgt zu ihrem Partner. »Man sollte meinen, sie wüssten es besser, als sich blindlings in die Gefahr zu stürzen.«

»Alles, was wir tun können«, seufzte zeitgleich der Cheforter zur verfrüht angetretenen Ablösung und zupfte nervös an seinen rotblonden Haarzöpfen, »ist, so gut es geht, die Augen offen zu halten, ohne uns selbst zu verraten.«

»Sie haben mich ja nicht mitgenommen«, grollte die Leiterin der Abteilung Außenoperationen, eine fünfzehn Zentner schwere Ertruserin namens Reca Baretus, in der Extremweltler-Schwitzkammer. »Aber wäre ich an ihrer Stelle, ich würde versuchen, das Birnenschiff der Gurrads, das nach ihnen ins Parr-System gelangt ist, für den Rückweg zu benutzen.«

»Deshalb werden wir, sobald die Gurrads von Parrakh starten, den letzten Teil ihrer Flugbahn kurz vor dem Übertritt in den Linearraum akribisch absuchen«, wies Malcolm Scott Daellian seine Untergebenen von der Wissenschaftssektion an. »Für den Fall, dass der Teleporter Gucky dort mit den anderen ausgestiegen wäre.«

»Aua!«, rief Kantiran, Perry Rhodans und Ascari da Vivos Sohn, in der Krankenstation.

Jallanzy-Phory, die Wanderpflanze, die persönlich seinen Wundverband wechselte, obwohl sie als Vizemedikerin eigentlich für schwerere Fälle zuständig war, runzelte indigniert ihre stachelbewehrte Cephalo-Fangklappe. »So wehleidig wegen eines Rattenbisses? Ich dachte, du warst auf einer arkonidischen Eliteschule?«

Kantiran stöhnte unterdrückt. »Nicht die Verletzung ...«, stammelte er. »Ein psionischer Schwall ... wird immer stärker ...«

Er fiel in Ohnmacht.

Unmittelbar darauf verspürten es auch die anderen.

 

*

 

Die mentale Schockwelle schwappte über die RICHARD BURTON hinweg. Für Sekunden verlor ein Gutteil der Besatzung das Bewusstsein.

Auch die Übrigen gaben hinterher an, von einem starken geistigen Schlag getroffen oder zumindest gestreift worden zu sein. Übereinstimmend berichteten sie, dabei die Vision eines schlafenden Hünen empfangen zu haben – der mit einem Mal die Augen aufschlug!

Daellian, in Stellvertretung Bulls amtierender Expeditionsleiter, ließ den Alarmzustand ausrufen. Hektische Aktivität setzte ein. Vorerst wurden keine Schäden an Schiff oder Mannschaft festgestellt. Dennoch war höchste Vorsicht geboten.

Denn das Bild des Hünen stand für Gon-Orbhon oder kurz: Gon-O. Für den »Gott«, der bislang im Halbschlaf agiert hatte – und nun offenbar erwacht war.

Die BURTON brummte vor Besorgnis. Hunderte stellten in diesem Augenblick die selbe bange Frage: Wie mochten Bull, Gucky und Tolot diese parapsychische Eruption überstanden haben? Sie weilten, wenn alles nach Plan verlaufen war, direkt auf Parrakh, also sehr viel näher dran.

Oder hatten die drei den Schock womöglich sogar ausgelöst?

Plötzlich kam ein weiteres Alarmsignal dazu. Der für deren Überwachung zuständige Knotenrechner hatte eine signifikante Veränderung im Verhalten Bré Tsingas registriert.

 

*

 

Malcolm S. Daellians »Sarg« raste zum Gefängnis-Container. Das Specter traf via Datenleitung natürlich viel früher dort ein.

Die ehemalige Spitzen-Exopsychologin der LFT, die überführte Mörderin Bré Tsinga, war in ihrer Zelle vollkommen isoliert. Sie besaß keinerlei Kontakt zur Außenwelt, wusste nicht einmal, dass sie sich in einem Raumschiff befand, geschweige denn, dass dieses eine lange Reise durch den Leerraum zwischen den Galaxien hinter sich hatte. Bré lag auf dem Boden der Kammer, die Augen weit aufgerissen, doch blicklos, wie in Trance.

Die Aufzeichnung des Knotenrechners zeigte, dass sie sich kurz zuvor wie unter einem heftigen Schmerz aufgerichtet und einen markerschütternden Schrei ausgestoßen hatte. Exakt zum selben Zeitpunkt, an dem die mentale Schockwelle ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Ihre Lippen bewegten sich, als bemühe sich die Kosmopsychologin, Laute zu formen. Wörter eines fremden Idioms ... die das Specter, zusammen mit den Bordrechnern, als zur Sprache der Mächtigen gehörig identifizierte.

Bré Tsinga war als »menschlicher Seismograf« nach Magellan mitgenommen worden. Die Schiffsführung hoffte, aus dem Verhalten der Jüngerin Gon-Orbhons Rückschlüsse auf ihren Gott ziehen zu können.

Trat dieser Fall jetzt ein? Hatte sie, trotz der vielfältigen Abschirmungen, Kontakt? War die Verbindung zu ihrem Meister auch nach dem Schockschwall aufrecht geblieben?

Aus dem Gelalle wurden bruchstückhafte Sätze. »Als Erster zu Bewusstsein ... von Satrugar getrennt ... seit Jahrtausenden wieder ... als Individuum ... Muss mich fassen, auf mich selbst besinnen ...«

Wer immer durch Bré Tsingas Mund sprach, rang um seine Identität und um geistige Stabilität. Das Specter konnte diesen Zustand aus eigener Erfahrung gut nachempfinden.

»Erinnere mich ... Habe plötzlich ... Zugang zu ... Ah!« Ein Ruck ging durch die Gefangene. Sie übergab sich. Danach berichtete sie mit klarer Stimme, in bestens verständlichen Sätzen.

1.

Die endlose Halle

 

»Na, ausgeschlafen?«

Ich blinzelte zweimal. Meine Pupillen verengten sich, da der Raum hell erleuchtet war. Die konvexe Linse hinter der Iris krümmte sich stärker, stellte auf die Person scharf, die mich angesprochen hatte.

Humanoid war das Wort, das mir einfiel: symmetrischer Körperbau, zwei Arme und Beine, zwei Augen und Ohren. Zwei sehr große Brüste unter einem straffen weißen Kittel.

Weiblich, gab mir dieselbe unhörbare Stimme ein: Frau.

Ich senkte den Blick, betrachtete meinen eigenen, nackten Körper: Mann.

Sie hatte mir eine Frage gestellt, die ich nicht beantworten konnte, wiewohl mir das Begriffsfeld Schlaf bekannt war. Also schwieg ich.

Den Tastrezeptoren auf Rücken, Gesäß, Waden und Fersen zufolge lag ich auf einer glatten, beschränkt nachgiebigen Fläche. Ein noch weicheres Objekt stützte meinen Hinterkopf.

Matratze + Polster = Bett.

Diese und viele andere Ausdrücke strömten mir ganz von selbst zu. Offenbar befanden sie sich bereits in meinem Gedächtnis und wurden nun aktualisiert. Abstraktes Wissen verwandelte sich schnell und mühelos in anwendbares; aus Theorie wurde Praxis.

Im Raum hing ein schwacher Duft von verwelkenden Blumen. Deutlich stärker roch die Frau: nach Seife, frischem Schweiß und leicht süßlichem Parfüm.

Sie verzog den Mund zu einem Lächeln. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Kannst du mich verstehen? Bist wohl noch sehr verwirrt, was?«

»Ja; ja; nein.«

Sie stemmte die Fäuste in die breiten Hüften. »Wer sagt's denn. Bringst die Zähne also doch auseinander. Willkommen zu Hause, mein Junge.«

Ihr einnehmendes Verhalten beunruhigte mich, doch äußerte ich mich dazu vorerst nicht, da ich über viel zu wenige Informationen verfügte. Ich erhob mich und deutete auf einen Stapel zusammengefalteter Stoffteile (Kleidung).

»Soll ich das anziehen?«

»Falls du eine alte Jungfer nicht länger in Verlegenheit bringen willst, wäre das angebracht, ja.«

»In welcher Reihenfolge?«

Sie half mir. Unterhose und Strümpfe waren von hellgrauer Färbung, wiesen einen hohen Dehnungskoeffizienten auf und lagen eng, doch nicht unangenehm am Körper an. Das etwas weiter geschnittene, kurzärmelige, leuchtend rote Hemd wurde außen über dem bis zu meinen Knien reichenden, dunkelbraunen Faltenrock getragen. Alles saß wie maßgeschneidert. Auch die weichen schwarzen Schuhe passten sich binnen Sekunden perfekt an die Form meiner Füße an.

»Steht dir gut. Bist ein hübscher Kerl«, sagte die Frau. »Das lange Warten hat sich wirklich gelohnt.«

Ich sah mich um. Außer dem Bett, auf dem ich erwacht war, gab es einen Tisch, einen Stuhl, ein Waschbecken, einen Schrank und eine Multimedia-Konsole. Auf einem aus der farblosen Wand ragenden Bord stand eine Vase mit bunten Blütengewächsen.

»Dein Privatgemach«, sagte die Frau. »Zufrieden?«

Ich gab keine Antwort, da mir auch diese Frage sinnleer erschien, rhetorisch.

»Du kannst es selbstverständlich nach deinem Gusto gestalten«, schwatzte die Frau weiter. »Paar nette Bilder aufhängen, ein Holofenster programmieren und so. Das hier ist dein Reich, da redet dir niemand rein.«

Sie war deutlich kleiner als ich, pummelig; mit rosigen Wangen und gelblichen, zu einem Knoten zurückgebundenen Haaren. Über dem Kittel trug sie eine blassblaue Schürze.

»Wer bist du?«, fragte ich.

»Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt!« Sie schlug sich an die Stirn, wodurch eine leichte Rötung entstand. »Hach, wo habe ich bloß meine Gedanken! Bitte entschuldige, die Aufregung ... Ich bin deine Zimmerwirtin. Man nennt mich Madam Broncé, aber du kannst Emili zu mir sagen.«

Ich zeigte mit dem zweiten Finger meiner rechten Hand auf die Tür. »Was ist da draußen?«

Sie starrte mich verblüfft an. »Hat man dir denn nicht ...« Den Rest des Satzes verschluckte sie.

Ich verspürte einen Anflug von Ungeduld. »Was?«

Sie schüttelte den Kopf. Murmelte etwas, das sich wie »Befugnisse nicht überschreiten« anhörte, dann drehte sie sich abrupt um und huschte hinaus.

Ich sah davon ab, sie zu verfolgen, wandte mich stattdessen der Multimedia-Konsole zu. Der Versuch, diese zu aktivieren, misslang. Ich erkannte die Schriftzeichen und Symbole auf den Eingabefeldern, jedoch fand ich keine Kombination, mit der sich das Gerät hätte einschalten lassen. Was ich auch anstellte, der Schirm blieb dunkel.

Frustriert setzte ich mich wieder aufs Bett und horchte in mich hinein.

Viel war nicht zu hören. Ich besaß keinerlei Erinnerung daran, wie ich hierher gelangt war, wusste weder über diesen Ort Bescheid noch über mich selbst. Zwar konnte ich meinen Zustand als Totalamnesie diagnostizieren, doch was nützte mir das schon?

Mein Körper war ausgewachsen und in hervorragender Verfassung, auch geistig fühlte ich mich fit und aufnahmebereit. Schön. Und? Wie weiter?

 

*

 

Die Tür, die Emili bei ihrem überstürzten Abgang hinter sich zugeschlagen hatte, erwies sich als unverschlossen.

Sie führte in eine Halle von Schwindel erregenden Ausmaßen. So krass war der Kontrast zur schmucklosen Zweckmäßigkeit meines kleinen Zimmers, dass mir der Atem stockte – eine psychosomatische Fehlreaktion, die ich rasch wieder korrigierte.

Quadratische, abwechselnd schwarz und silbern glänzende Fliesen bedeckten den Boden. Das Muster erstreckte sich schier unendlich weit nach allen Seiten; in großer Entfernung schienen sich die Linien zu krümmen, aufzuwölben, ja zu verknoten. Ich sah keine Wände, dafür unzählige Säulen, viel dicker noch als meine Zimmerwirtin, und Hunderte Meter hoch.

Den Kopf in den Nacken gelegt, schaute ich nach oben. Sosehr ich meinen Blick fokussierte, ich vermochte keine Decke zu erkennen, nur bogenförmige Verästelungen, die im Nichts endeten wie skizzenhafte Andeutungen eines Gewölbes.

Als sich meine Hals- und Schultermuskulatur vor Anstrengung zu verhärten begann, gab ich das fruchtlose Unterfangen auf, die gigantische Halle in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Ich fühlte mich von den Dimensionen erdrückt, verloren in dieser Endlosigkeit, jeglicher Selbstsicherheit beraubt.

Halt suchend, tastete ich nach dem Türknauf in meinem Rücken. Fand ihn nicht, wandte mich um.

Und stellte fest, dass sich die Tür, aus der ich gerade getreten war, mitnichten in einer Wand, sondern in einer der Säulen befand, die auch auf dieser Seite zu Hunderten aufragten.

Dass mein Zimmer, dessen Ausmaße ich auf etwa sechs mal vier Meter schätzte, unmöglich in der Säule Platz finden konnte, kümmerte mich in jenem Augenblick nicht. Ich wollte nur zurück hinein, mich in nüchterner Enge verkriechen, flüchten vor dieser grässlichen Unüberschaubarkeit, dieser monströsen Unberechenbarkeit und Ungewissheit.

Doch der Knauf ließ sich nicht drehen, die Tür nicht öffnen. Der Weg zurück war mir versperrt.

 

*

 

Ich widerstand der Versuchung, gegen die Tür zu treten oder sie gar mit roher Gewalt aufzubrechen. Ein kleines, ovales Schild erweckte meine Aufmerksamkeit. Es war in Augenhöhe befestigt und trug Schriftzeichen, die ich entziffern konnte.

GON-ORBHON, las ich. Und darunter: STUDENT.

Ich hatte also einen Namen und eine Funktion.

Gon-Orbhon. Gon-Orbhon.

Lautlos formte ich die Silben mit Lippen und Zunge, zerkaute sie ein ums andere Mal. Sie bedeuteten mir nichts; kein Wiedererkennungseffekt trat ein.

Student ...

Ein Verdacht beschlich mich. Stellte das, was ich seit meinem Erwachen durchlebte, bereits eine erste Prüfung dar? Wurde ich heimlich beobachtet, bewertet, beurteilt?

Ansatzlos wirbelte ich herum. Überraschen konnte ich damit freilich niemand. Nichts rührte sich, nirgends war eine Bewegung zu erkennen.

Nur in den goldenen Lichtstrahlen, die in verschiedenen Winkeln aus der unermesslichen Höhe herabfielen, tanzten winzige Staubpartikel.

Ich wagte es nicht, nach Emili, der Zimmerwirtin, zu rufen. Die Stille in der endlosen Halle zu stören erschien mir wie ein Sakrileg.

Mein Herzschlag hatte sich beschleunigt, die Atemfrequenz war ebenfalls erhöht. Ich konzentrierte mich darauf, meine Körperfunktionen wieder zu regulieren, was mir nach einigen Sekunden auch gelang.