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David Casagranda

Tirolés

Roman

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Zum Buch

Ein historischer Lederhosenwestern – authentisch, spannend und mit Ironie erzählt.

Es ist schon ein Pech, dass Josef beim Wildern erwischt wird. Wirklich brenzlig wird es, als er – aus Versehen – den Herrn Baron erschießt. Jetzt muss er so schnell wie möglich so weit wie möglich weg, denn die Staatsgewalt in Gestalt des Oberstleutnants Rebitzki ist schon hinter ihm her. Josef schlägt sich von Südtirol bis nach Triest durch, heuert auf einem Schiff in die Neue Welt an. Wir schreiben das Jahr 1864, Mexiko gehört zum Habsburgerreich, und der Tirolés, wie sie ihn hier nennen, gerät bald in die Auseinandersetzungen zwischen Kaisertreuen und Rebellen. Doch auch als er sich in einem fruchtbaren Tal niederlässt und mit Indianern eine Kolonie gründet, kommt er nicht zur Ruhe. Rebitzki, nach Mexiko strafversetzt, ist ihm schon wieder auf den Fersen …

Der Autor David Casagranda

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Geboren 1955, war für die „Südtiroler Volkszeitung“, „Tandem“ und „Sturzflüge“ tätig.

Neben Gelegenheitsarbeiten als Kuhhirte, Erntearbeiter, Schankkellner, Portier usw. berufliche Erfahrungen als Mittelund Oberschullehrer, Schriftsetzer und Layouter. Arbeitet mittlerweile als freiberuflicher Übersetzer und Dolmetscher.

Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung.

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© Retina, Bozen 2017

Umschlag: Felix Obermair, Bozen
Umschlagbild: Foto Saguaro-Kaktus mit Umgebung von Linda/Shutterstock.com; Foto Tirolerhut von Volodymyr Krasyuk/Shutterstock.com und Foto Wildwest-Kulisse von winterbilder/Fotolia.com.

Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Lektorat: Joe Rabl, Innsbruck
Korrektur: Ex Libris Genossenschaft, Bozen
Printed in Europe

ISBN 978-88-99834-08-1
ISBN E-Book 978-88-99834-09-8

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.retina-verlag.com.
Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@retina-verlag.com.

Retina ist ein Imprint der Edition Raetia.

Freedom’s just another word for nothin’ left to lose

Kris Kristofferson / Fred Foster

Inhalt

Zum Buch

Der Autor David Casagranda

Tirolés

Nachwort

Anmerkungen

In der Nacht hatte es geregnet, weshalb der Almboden noch vom Morgennebel verdeckt war, der sich erst in ein paar Stunden lichten würde, sobald die Sonne warm genug schien. Auch aus diesem Grund war der Josef ein kleines Stück weit in den Wald abgestiegen. Hier, zwischen den Bäumen, hatte er ausreichend Sicht auf den Wildwechsel. Weil ihn fror, zog er den Lodenumhang enger um seine Schultern und drückte den Hut fester auf die krause Wolle, die auf seinem Sturschädel wuchs. Lange würde er ohnehin nicht mehr bleiben können. Wenn die Melkerinnen mit ihrer Arbeit fertig waren, musste er zurück sein und die seine als Kaser beginnen. Aha, da rührte sich doch was. Oho, ein ganzes Rudel Rehe. Vorneweg ein stattlicher Zehnender, ihm folgten drei Ricken. Für Kitze war es noch zu früh im Jahr. Moment, da kam noch eine vierte Geiß, hm, sie humpelte ein wenig; wahrscheinlich hing sie deshalb etwas zurück. Vielleicht war sie von einem Luchs angefallen worden und gerade noch entkommen. Die würde er aufs Korn nehmen. Da verhoffte der Bock, Josef konnte seinen Spiegel ganz klar ausmachen. Wie sich das bei Rotwild so gehört, blieben auch die Ricken stehen. Josef lag gut gegen den Wind. Er nahm den Stutzen lautlos von der Schulter, legte an, zielte und drückte ab. Die Geiß kippte um wie ein Bierkrug bei der traditionellen Rauferei auf dem Dorffest zur Kirchweih. Blattschuss.

Noch während er aufstand und sich auf den Weg zu seiner Beute machte, lud er den Stutzen neu. Er war geübt und geschickt, es dauerte nicht lange. Trotzdem dachte er einen Augenblick lang an die Geschichten von diesen neuen Hinterladern, mit denen die Preußen dem Hörensagen nach seit Kurzem ausgerüstet waren. Damit sollte man ungeheuer schnell und fast wie von selbst laden können. Bis so was allerdings den Weg in die österreichischen Alpen fand, würde noch viel Schnee schmelzen müssen. Er schaute wieder aufs Reh. Es tat keinen Mucks, aber man wusste ja nie. Wenn’s doch kein Blattschuss war, musste man dem Tier den Fangschuss geben. Auch sonst war’s bestimmt besser. Wildern konnte lebensgefährlich werden, falls man erwischt wurde. Tatsächlich, links hinter ihm raschelte es. Saggra, da war jemand auf dem Weg zum Hochstand. Kruzifix, das war der Toni, der Jagdaufseher. Bei ihm war der Baron, dem gehörte die Jagd, aber sollte der nicht in der Hauptstadt sein? Augenblick, da war noch ein Dritter, der Kleidung nach wohl dieser Oberstleutnant Rebitzki, ein Vetter des Barons, wie es schien, von dem die Leute beim Ochsenwirt erzählt hatten. Sie fürchteten den Polizeioffizier, auch die paar, die gar nichts ausgefressen hatten. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man, wenn auch nur ganz leise, er hätte sein Handwerk noch bei Metternich gelernt. Solche Leute reizte man nicht. Ganz im Gegenteil, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, ging man ihnen aus dem Weg. Außerdem hieß es, er würde schon bei nächster Gelegenheit zu einem der jüngsten Obersten der k. u. k. Polizei befördert.

Natürlich hatte der Toni den Josef erkannt. Und rief ihn an: „Bleib stehen, Oberkalmsteiner, ergib dich!“ Selbstverständlich rief der Toni den Josef nicht auf Hochdeutsch an, aber Tirolerisch hatte sich bislang unverständlicherweise noch nicht als Weltsprache durchgesetzt. Wir (Pluralis Majestatis für: der Schreiber) tragen diesem tragischen Umstand in der vorliegenden Erzählung Rechnung und verzichten weitgehend auf Dialektbegriffe.

Das würd’ euch so passen. Bloß schade um das schöne Reh. Josef warf ihm noch einen bedauernden Blick zu, dann sprang er querab talwärts, so schnell er nur konnte. Keine hundertfünfzig Fuß weiter unten begann dichtes Unterholz, da konnten sie ihn lange suchen, zumal sie keine Hunde dabeihatten. Was war denn das? Zuerst spürte er den Luftzug, ganz knapp neben seinem rechten Ohr, dann schlug die Kugel in den Baum vor ihm ein. Erst jetzt hörte er den Knall, und gleich noch einen. Die schossen ihm nach! Aber nicht mit ihm. Er ließ sich fallen, rollte hinter eine dicke Fichte und brachte den Stutzen schon wieder in Anschlag. Bei seinen Verfolgern rührte sich was. Ohne nachzudenken drückte Josef ab, zum zweiten Mal an diesem Morgen. Eine Gestalt fiel ebenso unspektakulär um wie vorhin das Reh. Noch ein Volltreffer. Mist, das war der Baron. Es gab keinen Zweifel. Jacke und Hut, wie sie sich kein Dörfler jemals würde leisten können, sowie deutlich ergrauter Spitzbart. Der Toni trug einen schwarzen Vollbart, der ihm zugegebenermaßen ganz ausgezeichnet stand und mit dem er nicht nur bei den Mägden gut ankam, die Gerüchte im Dorf wollten von wenigstens zwei adligen Damen wissen, die zu seinen Opfern gehörten. Außerdem war ihm bestens bekannt, dass der Josef einen treffsicheren Stutzen führte, und er passte wohlweislich auf. Der Rebitzki war gut zwanzig Jahre jünger als der Baron, noch dazu kampferfahren. Deshalb war er, wie auch der Toni, rechtzeitig in Deckung gegangen. Nicht so der Baron. Herrgott, was musste dieser verwöhnte Stubenhocker derart langsam sein! Kein Mensch blieb bei einem Schusswechsel einfach stehen. Damit forderte man die Kugel doch geradezu heraus. Josef war stocksauer. Half aber alles nichts. Er wusste sofort, dass er jetzt so schnell wie möglich so weit weg musste, wie’s ging. Er konnte weder ins Dorf noch auf die Alm zurück. Wahrscheinlich versuchte der Toni, ihm den Weg auf die Alm abzuschneiden, während der Polizeipinsel ins Dorf lief. Selbst wenn Josef kurz vor ihm ankommen sollte – sowieso schwer, er durfte sich ja nicht sehen lassen, sonst bekam auch er ein Stück Blei ab –, würden ihm schon wenige Minuten später die Polizisten auf den Pelz rücken, die mit dem Rebitzki aufs Sommerschlösschen gekommen waren. Dass diese hochwohlgeborenen – was waren die eigentlich? Schön, er selbst war vielleicht ein Wilddieb, weil er sich ab und zu was schoss, aber damit war er in der Gegend beileibe nicht allein. Gut, waren diese Adligen eben Tagediebe. Dass die ohne Hilfe nicht einmal dorthin kamen, wohin sogar ihr Kaiser zu Fuß geht, dabei kann der nicht einmal das Hosentürl selber aufmachen. Die Polizisten waren auch gar nicht das größte Problem, die waren alle aus der Hauptstadt, die konnte er mühelos abhängen. Aber da waren die Jagdhelfer, die kannten sich in der Gegend genauso gut aus wie der Josef. Ein paar von denen wilderten zwar nicht weniger als er selbst, aber darauf würde jetzt niemand groß herumreiten. Schau, da kamen schon vier den Weg herauf. Hätte er sich ja denken können, dass solche Hearischen gleich ein halbes Dutzend Leute brauchten, um ein einziges mickriges Reh zu erwischen und ins Tal zu bringen. Nur nichts selbst machen. Ihm jedenfalls blieb nichts anderes übrig. Er würde erst ein paar Stunden lang nach Osten um den Bergstock herum bis fast zum kleinen Weiler laufen müssen. Das konnten sie nicht vor ihm schaffen. Bis die erste Meldung das Dorf erreichte und sich berittene Boten aufmachten, musste er da schon durch sein. Aber sich ja nicht sehen lassen, nicht einmal bei der Margareth, wie schade. Sonst hätte er gleich die halbe Tiroler Gendarmerie auf dem Hals. Gendarmen gab’s zwar erst seit gut zehn Jahren, aber schießen konnten sie trotzdem. Über den südlichen Sattel könnte er in nur einem Tag das Badiotische erreichen. Dann weiter ins Ampezzanische. Nur weg.

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Oberstleutnant Franz Ferdinand von Rebitzki war gar nicht wohl in seiner Haut. Zwar hatte er alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen, sogar einen Steckbrief anfertigen lassen, aber trotzdem gab es – eine volle Woche nach dem Anschlag – noch immer keine Spur von dem Bösewicht. Ein gewisser Josef Oberkalmsteiner, offensichtlich ein notorischer Wilderer. Da war Rebitzki allerdings vorsichtig. Seiner Ansicht nach waren alle Tiroler in der Hinsicht nicht ganz stubenrein. Mit diesem Oberkalmsteiner schien auch sonst so einiges nicht zu stimmen. Erst mal war er ein uneheliches Kind, gut, so was kam auch andernorts vor. In diesem Fall freilich war nicht einmal bekannt, wer der Kindsvater war. Im Dorf munkelte man von einem lombardischen Pferdehändler, einem windigen Hundsbratenfresser. Aber die Mutter, die seit mittlerweile acht Jahren verstorbene ehemalige Hausmagd Katharina Oberkalmsteiner, unverheiratet und, soweit bekannt, ohne zumindest nähere Verwandtschaft, hatte sich bis zuletzt beharrlich geweigert, seinen Namen zu nennen. Warum wohl? Unter Umständen hätte sie ein wenig Unterstützung für ihren Sprössling bekommen. Auf der einen Seite könnten sich so die Sympathien erklären, die der Oberkalmsteiner offensichtlich für die Märzrevolution hegte. Er hatte immerhin mehrmals, wenn auch in trunkenem Zustand – damit stand er bestimmt nicht allein da – im Wirtshaus kräftig gegen das angestammte Herrscherhaus gewettert.

Andererseits hatte er Matura! Als uneheliches Kind hatte er das Gymnasium bei den Stiftsherren besucht und die Reifeprüfung mit guten Noten bestanden. Jetzt wusste niemand besser als Rebitzki, wie teuer so eine Stiftsschule war, er musste selbst zu Hause in Nimburg für zwei Söhne sorgen. Die Katharina hatte nichts gehabt, so viel war schon mal sicher. Wer hatte also für den Josef bezahlt? Oberstleutnant von Rebitzki war zwar pflichtschuldigst Katholik, aber nicht naiv. So was trieb einem der Polizeidienst schon bald aus. Die Verbindung Hausmagd, uneheliches Kind und für die unteren Stände unerschwingliche Schule im Stift ließ ihn eher an einen geistlichen Herrn denken. Schließlich gab es Geschichten in allen Dörfern, keineswegs nur im Habsburgerreich, denen zufolge ein Priester nach dem anderen genau den gleichen Versuchungen erlag wie ein junger Polizeioffizier. Im aufmüpfigen Oberitalien etwa wusste der Volksmund: scopa come un prete, er vögelt wie ein Pfaffe. Pfaffen galten dort als sexuell besonders leistungsfähig, da sie den lieben langen Tag keine schwere körperliche Arbeit zu verrichten brauchten und am Abend nicht zum Umfallen müde waren wie gewöhnliche Untertanen. Wie auch immer. An sich lag man in Österreich mit Matura sozusagen in trockenen Tüchern. Trotz allgemeiner Schulpflicht seit nahezu hundert Jahren sah’s mit den tatsächlichen Lese-, Schreib-, Rechen- und sonstigen schulischen Künsten im Allgemeinen düster aus. Aber der Oberkalmsteiner war Jahr für Jahr als Kaser auf die Alm gegangen, anstatt es sich in einer bequemen und ordentlich entlohnten Stelle in irgendeiner Schreibstube gemütlich zu machen. Das stimmte doch hinten und vorn nicht. Nur, wenn schon im Dorf niemand mehr wusste, kannte der Oberkalmsteiner selbst überhaupt seinen Vater? Bei wem sonst konnte er sich verstecken?

Hier im Dorf war so weit alles unter Kontrolle. Aber mittlerweile war der Täter schon seit einer Woche flüchtig. Zu Fuß konnte er in den Bergen allerdings nicht weit gekommen sein. Andererseits, wie sollte man in so einem Gelände einen einzigen Menschen finden? Außer, jemand verriet ihn, wie damals beim Andreas Hofer und den anderen Anführern des Tiroler Aufstands. Wie lange war das eigentlich her? Auch schon bald fünfzig Jahre. Oder sogar schon mehr? Tatsächlich, schon fünfundfünfzig. Überhaupt, diese Berge. Rebitzki sehnte sich nicht zum ersten Mal in sein schönes, flaches Böhmen zurück. Da konnte man ein beliebig großes Gebiet einfach von Truppen durchkämmen lassen, sofern einem genug Leute bewilligt wurden. Aber hier? Überall Felsen und Schluchten. Abgesehen von Adel und Geistlichkeit kein Mensch, mit dem man hätte reden können. Und wenn man mal mit einem reden musste, verstand man ihn nicht. Die Leute hier grummelten ein Kauderwelsch, mein lieber Herr Gesangsverein! Weiter im Süden sprach man wenigstens Italienisch und noch so eine merkwürdige Sprache, wie hieß die gleich? Ladinisch, genau. Das waren zumindest richtige Sprachen, entweder man konnte sie oder eben nicht. Aber dieses Tirolerisch!

Apropos Süden. War der Oberkalmsteiner vielleicht doch nach Süden geflohen? Hoffnungslos. Gut, die Leute im Dorf behaupteten auch, er könne klettern wie eine Gams. Also könnte er heil über die Berge gekommen sein. Zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Nehmen wir mal an, sein Vater wäre wirklich ein Lombarde, er kannte ihn und suchte entweder bei ihm selbst oder seinen Angehörigen Schutz. Dazu müsste er erst durchs Ampezzanische, dann runter bis an den Unterlauf der Etsch, wohl nach Padua. Von da an müsste er sich westlich halten, in Richtung Mailand. Aber der Oberkalmsteiner hatte höchstwahrscheinlich keinen einzigen Kreuzer in der Tasche. Zu Lichtmess hatte er zwar seinen Lohn als Kaser erhalten, wie es seit alters her Brauch war, aber Rebitzkis Leute hatten alles, auf Heller und Pfennig, in seiner Unterkunft auf der Alm sicherstellen können. Abgesehen vom Lohn waren da noch fünf alte Silbertaler. Der Bursche hatte augenscheinlich ordentlich gespart. Bei sich trug er ziemlich sicher kein Geld. Wer nahm schon Geld zum Wildern mit? Er müsste sich durcharbeiten oder aufs Stehlen verlegen. Schön, er war gesund und kräftig, konnte auch ein wenig Italienisch und Ladinisch, dank seiner Schulbildung sogar Latein und Altgriechisch. Rebitzki seufzte. Er hatte den Steckbrief an alle Amtsstuben in der weiteren Umgebung schicken lassen, aber das dauerte natürlich seine Zeit. Noch dazu gab auch die Personenbeschreibung nicht gerade viel her. Vierundzwanzig Jahre alt, etwas mehr als fünfeinhalb Fuß hoch, schlank, aber kräftig, braune Augen, dunkles, gelocktes Haar, 130 bis 135 Wiener Pfund schwer. Keine besonderen Kennzeichen. Davon gab’s viele im Reich. Mit der Kleidung konnte man ebenfalls nicht viel Staat machen. Genagelte Schuhe, Lederhosen sowie Hüte, Jacken und Umhänge aus Loden waren in Tirol naturgemäß alltäglich. Wenn sich der Verbrecher inzwischen nicht schon neues Gewand besorgt hatte.

Dass ausgerechnet ihm so etwas passieren musste. Schon das mit dem Reh war nichts weniger als eine Blamage. Der Adel pochte auf seine Vorrechte, da kannten die nix. Wilddiebstahl war kein Kavaliersdelikt, wie diese Bergtrottel zu denken schienen. Andererseits sind die auch alles andere als Kavaliere. Aber der Baron! Gut, Rebitzki hatte ihn nicht besonders gut leiden können, eigentlich hielt er ihn für einen halbsenilen Weichling. In Ordnung, wie es so schön hieß, man konnte sich seine Familie nicht aussuchen. Dafür hatte der Baron Verbindungen bis direkt zum Hof. Seine Gattin war immerhin die Lieblingsbase des Ministers, seines eigenen ranghöchsten Dienstherrn, abgesehen von Ihro Majestät, dem Kaiser, selbstverständlich. Wenn sie, seine Tante, die Gräfin, nicht völlig in diesen unfähigen Dödel verschossen gewesen wäre, hätte es diese Heirat nie und nimmer gegeben. Ein einfacher, nicht einmal besonders begüterter Baron! Nur weil er gut aussah. So was hätte es früher nicht gegeben. Da entschieden noch die Familien, wer wen bekam. Das kam davon, dass in letzter Zeit sogenannte Liebesehen modern geworden waren. Sogar Erzherzog Maximilian sagte man eine solche nach. Ob das überhaupt stimmte? Bis vor Kurzem war er doch Hals über Kopf in die portugiesische Maria Amalia verliebt gewesen, die war immerhin eine Prinzessin. Obwohl nur in Brasilien, aber doch standesgemäß. Eigentlich schade, dass sie so früh gestorben war. Und schon ein Jahr später ehelichte er die belgische Prinzessin Charlotte. Auch standesgemäß. Soll trotzdem eine Liebesheirat gewesen sein. Der Max, dieser Schwerenöter, kam also auch bei den Damen gut an, nicht nur beim Volk. Aber so war’s nun mal. Rebitzki seufzte noch einmal. Besonders tief. Der Minister soll getobt haben. Dass Rebitzki überhaupt nichts dafürkonnte, stand gar nicht zur Debatte. Sollte der Oberkalmsteiner nicht schon sehr bald gefasst werden, konnte er, Oberstleutnant Franz Ferdinand von Rebitzki, trotz all seiner sonstigen Verdienste damit rechnen, einen kleinen Polizeiposten irgendwo auf dem Balkan zu befehligen. Wenn er Glück hatte.

„Was gibt’s?“, schnauzte er den Wachhabenden an, der nach den vorgeschriebenen drei Schritten vorschriftsmäßig stehen blieb, die Hacken zusammenknallte, dass die Gläser auf der kleinen Anrichte neben Rebitzkis Sekretär leise klirrten, salutierte und schnarrte, was zwar nicht vorgeschrieben, aber gerade bei sehr jungen Leutnants sehr beliebt war, sie kamen sich dann besonders schneidig vor: „Melde gehorsamst, Herr Oberstleutnant, wir haben ihn gesehen.“

„Wer hat wen gesehen?“

„Melde gehorsamst, der Posten in Auronzo hat den Oberkalmsteiner gesehen.“

„In Auronzo? Seid ihr sicher?“ Er riss dem wachhabenden Leutnant die Depesche ungeduldig aus der Hand.

„Auf jeden Fall hat man einen gesichtet, auf den das Signalement passt, Herr Oberstleutnant. Er war mit einem welschen Grattler dort, der aus dem Val Badia, dem Gadertal, kam, schreiben sie.“

„Ich kann selbst lesen, Leutnant!“, erwiderte Rebitzki in seinem kältesten Tonfall, der auch noch höheren Diensträngen als Leutnants den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Hm, er ist einem Diensthabenden dort eigentlich nur aufgefallen, weil er zum ersten Mal da war. Und noch dazu mit einem Grattler, der zwar immer zum Viehmarkt dorthin fuhr, aber bislang jedes Mal allein gekommen war.

„Warum hat man ihn nicht gleich verhaftet?“ Die Kälte in der Stimme gefror zu Packeis.

„Melde gehorsamst, Herr Oberstleutnant, ich kenne auch nur die Depesche.“ Der blutjunge Polizeileutnant Giovanett aus dem Etschtal litt Höllenqualen. Er fürchtete wohl nicht ganz zu unrecht, dass dem Vorgesetzten das italienische Sprichwort ambasciator non porta pena, den Boten trifft keine Schuld, wenn nicht unbekannt, so doch egal war.

„Wie sind wir eigentlich mit Auronzo verbunden?“ Giovanett glaubte, nicht richtig zu hören. Rebitzki hatte indirekt zugegeben, etwas nicht zu wissen.

„Brieftauben. Nicht direkt. Zwischenstation in Cortina.“

„Wie lange?“ Giovanett, der heimlich las, sogar Gedichte, hegte den Verdacht, Polizei und Militär pflegten diese extrem knappe Ausdrucksweise, die sich praktisch auf Stichworte beschränkte, hauptsächlich, um Peinlichkeiten wie Grammatik- oder Satzbaufehlern zuvorzukommen.

„Halber Tag.“

„Sofort Depesche. Gott, wenn wir endlich Kabelverbindung bekämen. Verstärkt Kontrollen auf allen Straßen – Moment, er wird versuchen, über Longarone und Belluno entweder nach Vicenza oder Padua, dann nach Verona und von dort aus weiter nach Westen zu kommen. Wir müssen ihn unbedingt erwischen, bevor er entweder die Grenze zu den Venedigern im Süden oder gar die Lombardei im Westen erreicht. Konzentriert euch auf die Straßen nach Westen. Ich fresse einen Ladestock, wenn er nicht dahin will.“

„Zu Befehl.“ Giovanett machte auf dem Absatz kehrt. Er war froh, vorerst unbeschadet davongekommen zu sein. Auch er war trotz seiner Jugend nicht mehr ganz naiv und ihm war klar, dass jetzt, da das nigelnagelneue Königreich Italien alle Anstrengungen unternahm, sich die frühere Republik, die berühmte Serenissima, unter den Nagel zu reißen, keine Amts- und von der Bevölkerung ohnehin nirgends Hilfe zu erwarten war. In der Lombardei noch weniger als anderswo. Dort hatten sie den Radetzky noch lange nicht verdaut.

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„Pfiati, Nando. Grazie di tutto.“

„Ciao, Sepp. Fil Klik.“ Nando sprach Italienisch und Ladinisch viel besser als Deutsch, schlug sich aber mehr als achtbar, wenn man bedachte, dass er nicht einmal lesen und schreiben gelernt hatte. Schulpflicht hin oder her, arme Leute setzten ihre Kinder nach wie vor in irgendeiner Form zum Geldverdienen ein, sobald sie nur gehen konnten.

Sie reichten sich die Hände und umarmten sich kurz. Als er Nando kurz vor Pedraces getroffen hatte, war Josef gerade dabei gewesen, einen fürchterlichen Bock zu schießen. Er kannte die Gegend nur vom Hörensagen und hatte beabsichtigt, bei La Villa nach Westen ins Grödnertal zu gelangen. Der Grattler Nando war im Lauf seines langen Lebens mit seinem von einem Muli gezogenen Karren schon fast überall gewesen und erklärte Josef die Wegverbindungen sowie die mit den jeweiligen Strecken verbundenen Gefahren sehr genau. Als Grattler beförderte man häufig nicht nur amtlich zugelassene Güter und war sowieso zu arm, um notfalls dem Wachtmeister ein kleines Trinkgeld zustecken zu können. Folglich setzte man alles dran, es gar nicht erst zu Begegnungen mit den k. u. k. Kontrollposten kommen zu lassen. Durch das Grödnertal wäre Josef nach Brixen, dann möglicherweise Bozen und vielleicht sogar bis Trient gekommen, aber abgesehen von den Reichsgrenzen gab es im Augenblick wohl keine besser bewachte Strecke als die zwischen Innsbruck und Verona. Die k. u. k. Südbahn fuhr schon seit einigen Jahren bis Bozen. Von dort bis Innsbruck arbeitete man wie besessen und selbstverständlich unter strengster Militär- sowie Polizeiaufsicht an der Brennerüberführung. Viel zu gefährlich.

Nando hatte ihm den Flüchtling auf den ersten Blick angesehen, aber nichts gesagt. Josef wusste, er wäre verloren, würde ihn der betagte Grattler verraten. Er war fix und fertig, als er ihn traf. Zum Glück gab’s in den Bergen überall Wasser, so hatte er wenigstens keinen Durst leiden müssen. Aber er hatte seit drei Tagen nichts Richtiges mehr zwischen die Zähne bekommen, nur Kräuter und Wurzeln gekaut. Für Beeren und Pilze war’s genauso wie für Kitze noch viel zu früh im Jahr, an schattigen Stellen lag der Schnee noch fast bis in die Talniederungen. In seiner Lage durfte er keinen Schuss wagen, darauf warteten die doch nur. Fallenstellen kaum auch nicht infrage, das dauerte viel zu lange. Er wusste, früher oder später würde er sich jemandem anvertrauen müssen. Abgesehen vom Hunger, hatte er sich auch noch verlaufen. Was heißt verlaufen, er wusste schon ziemlich genau, wo er sich befand, aber er hatte keine genauen Vorstellungen davon, wohin er überhaupt flüchten sollte. Nach dem ersten Schreck hatte er sich noch zu seiner Entscheidung beglückwünscht, den Weg nach Süden zu suchen. Aber wohin auf dem Stiefel? Er erinnerte sich noch bestens an die Landkarte aus dem Schulunterricht und wusste im Großen und Ganzen um die politische Lage. Ab und zu war eine gediegene Ausbildung wirklich nicht zu verachten. Zwar war ganz Venetien unter österreichischer Herrschaft, aber seit der Märzrevolution kam es immer wieder zu Aufständen. Es war klar, dass die Habsburger langsam, aber sicher die Kontrolle verloren. Dort wäre er schon mal besser aufgehoben als in den sogenannten Kernländern, in denen k. u. k. Uniformen nicht automatisch als Bedrohung wahrgenommen wurden. Trotzdem, die Kaiserlichen hatten ihre Finger überall. Die offiziell unabhängigen Herzogtümer Modena, Parma und Toskana hingen am österreichischen Tropf. Der Kirchenstaat hing von Frankreich ab, das seinerseits mit Österreich gegen Preußen klüngelte. Das sogenannte Königreich der zwei Sizilien lag dermaßen weit im Süden, viel zu riskant. Wirklich sicher würde er sich wohl nur im sogenannten Königreich Sardinien-Piemont fühlen können, dazu gehörte seit ein paar Jahren auch die Lombardei, aber der Weg dorthin führte durch bestens bewachtes, von Österreich besetztes Gebiet. Augenblick, stimmte das alles überhaupt noch? Er hatte die Landkarte noch aus seiner Schulzeit im Kopf, aber inzwischen gab es doch das neue Königreich Italien. Auch in Tirol hatte man das eine oder andere von den Kämpfen um die Einigung gehört, von Garibaldi, Mazzini, von Cavour und vielen anderen. Also, was war noch wie früher? Venetien gehörte noch immer zum österreichischen Herrschaftsgebiet, so viel war klar. Den Kirchenstaat gab es auch noch. Aber bei allen anderen Gebieten war sich Josef nicht mehr sicher. Zum Beispiel das Königreich der beiden Sizilien. Gehörte das inzwischen schon zum Königreich Italien? Wahrscheinlich, warum sonst hätte Franz II. abhauen und in Welschtirol, in Arco, Schutz suchen müssen? Unwichtig, Josef, ist sowieso viel zu weit weg.

Nando hatte ihn nur angeschaut, das Maultier angehalten, das den Karren zog, seinen Vorratsbeutel geöffnet und Josef den kleinen Brocken hartes Brot und das noch kleinere Stück Käse gegeben, die noch drinnen waren. Josef konnte genau sehen, dass das Säckchen nachher leer war, der alte Mann hatte ihm buchstäblich sein letztes Essen abgegeben. Man konnte Josefs Dank nur undeutlich verstehen, weil er schon kaute, als er noch nicht einmal fertig geredet hatte. Aber dann, kaum war er wieder ein wenig zur Ruhe gekommen, begann ihre Glückssträhne. Nando führte auf seinem Karren so ziemlich alles mit, was er zum Überleben in den Bergen benötigte. Aus einem Stück dünner Schnur fertigte Josef eine Schlinge und fing noch vor der Abenddämmerung einen Hasen. Ein leckeres Nachtmahl war gesichert. Am nächsten Morgen stieg er wieder bis über die Waldgrenze. Nando hatte ihm erzählt, Schüsse wären in der Gegend nicht selten, da würde sich niemand groß was dabei denken. Also traute er sich und erwischte tatsächlich einen mehr als achtzig Wiener Pfund schweren Gamsbock. Schon in St. Kassian konnte Nando den Kopf mit den Krucken und den Rücken samt Widerrist gegen gute Vorräte eintauschen. Einem wohlhabenden Bauern kam das Wild gerade zum rechten Zeitpunkt. Ein paar Tage später erwartete er seinen künftigen Schwiegersohn und dessen Eltern zu den Verhandlungen um die Mitgift für seine Tochter. Bei so was fühlten sich Bauern überall in den Alpen verpflichtet, zu klotzen, was das Zeug hielt. Ein schmackhafter Wildbraten war da mehr als willkommen. Bis die Gäste eintrafen, konnte der Bartbinder im Dorf – auch ein Wilderer – den Aalstreif waschen, rupfen und zu einem schönen Gamsbart binden. Damit war der gute Eindruck eigentlich schon gesichert. Der Bauer war auch gar nicht kleinlich gewesen und hatte den beiden einen ordentlichen Sack Roggenmehl, ein Stück Speck, ein Dutzend Eier, Salz, ein wenig Gemüse und ein Fläschchen selbstgebrannten Zwetschgenschnaps überlassen. Die Bäuerin legte sogar noch ein Stück Strudel drauf, ein Festschmaus.

Den Rest vom Bock zerlegte Nando in kleine Stücke, die er einsalzte und innen an das Verdeck hängte. Damit hatten sie fürs Erste was zu beißen. Nando war auf dem Weg nach Hause. Er stammte gar nicht aus dem Gadertal, wie die Polizei glaubte, sondern aus San Stefano in Cadore, hinter Auronzo. Im Gadertal hatte er nur ein wenig Kleinhandel getrieben. Sein Angebot umfasste in etwa dieselben Waren, wie sie auch Hausierer feilboten. Früher war er tatsächlich selbst viele Jahre lang mit einem Bauchladen zu Fuß unterwegs gewesen. In seinem Alter war daran leider nicht mehr zu denken. Das sah er klaglos ein. Aber nach einem langen Leben auf Wanderschaft hielt er es zu Hause nicht lange aus. Zumal auch seine Gattin vor ein paar Jahren gestorben war. Zum Glück hatte sein einziger Sohn Matteo ein ordentliches Handwerk gelernt und sogar die Meisterprüfung als Wagner bestanden. Bei all den Unruhen im Reich mangelte es ihm nicht an Aufträgen, vor allem vom Heer, hauptsächlich handelte es sich dabei um Reparaturen. Das Militär hatte zwar seine eigenen Stellmacher, aber nur in den größeren Stützpunkten. Die kleinen Posten im Gebirge mussten sich an ortsansässige Handwerker wenden. Matteo hatte in kurzer Zeit nicht nur das Lehrgeld zurückzahlen, sondern schon nach gar nicht vielen Jahren etliche Gulden auf die Seite legen können. Und seinem alten Vater einen fast ebenso alten, aber bestens erhaltenen Karren mit Drehschemel und Verdeck sowie das Muli besorgt.

Schon am ersten Abend, als sie den Hasenpfeffer aßen, vertraute sich Josef Nando an. Abgesehen von Hunger und Müdigkeit war er nicht daran gewöhnt, allein zu sein. Sowohl im Dorf wie auch auf der Alm waren immer Menschen um ihn gewesen. Ab und zu hatte es Streitereien gegeben, aber das ging auch allen anderen nicht besser. Gut, stritt man sich eben. Ab und zu kam es sogar zu Raufereien, aber selten in der Gemeinschaft selbst, wenn schon ging’s gegen die Burschen vom Nachbardorf oder aus dem Nebental. Nach drei Tagen Einsamkeit konnte er jedenfalls nicht mehr. Er musste mit jemandem reden. Und wenn’s ein Polizeispitzel war. Nein, aber doch nicht der. Zwar hatte Josef noch kaum Gelegenheit gehabt, seine Menschenkenntnis auf die Probe zu stellen, aber in diesem Augenblick war’s ihm einerlei. Er wagte es einfach. Das zerfurchte Gesicht und der offene Blick flößten ihm Zutrauen ein. Er sollte es nicht bereuen.

Sie kamen nur langsam voran. Die Wege waren teilweise noch zugeschneit und dermaßen vereist, dass auch das Muli seine liebe Not hatte. Außerdem hielten sie unausgesetzt Ausschau nach Uniformen jeder Art. Josef hielt sich zwar nicht direkt versteckt, blieb aber tunlichst im Hintergrund, wenn sie, was selten genug vorkam, anderen Menschen begegneten. Er war jederzeit darauf gefasst, sich mit ein paar gewagten Sprüngen wieder in die Wildnis schlagen zu müssen, und hielt den Stutzen sicherheitshalber stets schussbereit. Aber sie hatten Glück. Kurz vor Cortina d’Ampezzo blieben sie sogar zwei Tage lang stehen. Nando besserte die Schäden an der Ausrüstung aus, Josef brachte bei einem Bauern, dessen Knecht sich beim Holzhacken verletzt hatte, Mist aus. Dafür bekam er ein paar Kreuzer und ein wenig Lebensmittel. Immerhin.

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Wohin konnte dieser Mistkerl nur geflohen sein? In Auronzo hatten ihn seine Leute ganz knapp verpasst. Rebitzki schäumte vor Wut. Vor allem, weil er ratlos war. Er hatte alle Wege nach Süden und Westen schon vor Tagen sperren lassen. Niemand konnte unbemerkt nach Belluno oder dort vorbei. Aber genau dort musste der Oberkalmsteiner durch. Es ging gar nicht anders. Zurück konnte er nicht, da wartete der Galgen auf ihn. Nach Osten auch nicht. Da war alles fest unter österreichischer Fuchtel. Na ja, als er fest dachte, beschlich ihn doch der eine oder andere Zweifel. Es gab inzwischen überall mehr oder weniger offenen Widerstand gegen das Kaiserreich. Rebitzki hätte es nie und nimmer offen zugegeben, aber er traute vor allem den Franzosen nicht über den Weg. Seiner Ansicht nach hatte Ihro Majestät sich da fein einseifen lassen. Wenn’s nach ihm gegangen wäre, säh’s genau umgekehrt aus, Österreich wäre jetzt mit Preußen gegen Frankreich und die vielen kleinen Fürstentümer verbündet gewesen, die zwar militärisch nicht viel hergaben, aber allesamt steinreich waren und unverhältnismäßig viel politischen Einfluss besaßen. Beziehungsweise das Königreich Italien, zu dem sich die meisten dieser Fürstentümer mittlerweile zusammengeschlossen hatten. Da müsste man dazwischenhauen, bevor die sich von den Kämpfen um die Einigung erholt hatten. Wenn Ihro Majestät wartete, bis die da unten ein richtiges Heer ausgehoben hatten, wurde es nur noch schwerer. Abgesehen davon, dass man auf diese Weise dem dritten Napoleon ein bisschen was von dem heimzahlen könnte, was der erste angerichtet hatte. Da schrien die Geldsäcke beileibe nicht nur in den früheren Republiken – die hätte er zur Not gerade noch verstehen können, aber zur Raison waren sie trotzdem zu bringen – nach Bürgerrechten, Freiheit und Unabhängigkeit. Wenn man ihn nur ließe, da würde er dazwischenfahren wie – im Augenblick fiel ihm kein geeigneter Vergleich ein, aber er würde denen ihre Flausen schon austreiben. Ohne die Franzosen wären derart ketzerische Gedanken erst gar nicht ins Reich gekommen. Bei so einem österreichischpreußischen Bündnis käme man sich außerdem gegenseitig kaum in die Quere. Sollten die Preußen doch nach Norden und Osten. Da gab’s ohnehin nicht viel zu holen. Aber wenn Österreich Italien und die Iberische Halbinsel hätte, was sollten da die Franzosen schon gegen ein gut geführtes österreichisch-preußisches Heer ausrichten? Außerdem, dann wäre der Weg nach Amerika richtig offen, nicht nur auf dem Umweg über Frankreich. Ganz heimlich gestattete sich Rebitzki solche Träume, manchmal machten sich seine Gedanken regelrecht selbstständig. Um ein derartiges Heer zum erwünschten Erfolg zu führen, würde sich Ihro Majestät an einen verdienten Polizeioffizier wenden, ihn mit Ehren und Dankesbezeigungen überhäufen. Er gab sich einen Ruck. Zurück zum Oberkalmsteiner. Wie war der bloß an Belluno vorbeigekommen? Dass er da durch war, stand eigentlich außer Zweifel. Oder er hatte irgendwo in den Bergen einen Unterschlupf gefunden. Vielleicht wollte er abwarten, bis etwas Gras über die Angelegenheit gewachsen war. Immerhin möglich. Dass die Straßen bewacht wurden, konnte er sich denken, der Mistkerl war ja nicht dumm. Wie lange würde er durchhalten? Und wie lange würde er selbst durchhalten? Von oben kam immer mehr Druck, aber keine Hilfe. Im Offizierskorps lachten sich einige sogenannte Kameraden schon ins Fäustchen, hielten auch ihre Häme kaum zurück. Denen würd’ er auch heimleuchten, wenn man ihn bloß ließe.

„Keine Störung, hab ich gesagt!“ Rebitzki brüllte fast schon grundsätzlich. Er ging davon aus, dass ein Offizier, der freundlich zu seinen Untergebenen war, von vornherein auf verlorenem Posten stand.

„Zu Befehl, Herr Oberstleutnant, aber die Papiere wären jetzt gekommen.“ Wachtmeister Scharrer war schon viel zu lange dabei, um sich von überkandidelten Offizieren noch aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Welche Papiere? Lass er sich doch nicht die Würmer aus der Nase ziehen!“ Rebitzki war an diesem Tag nicht zum ersten Mal kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

„Die vom Abt, Herr Oberstleutnant.“ Scharrer zuckte mit keiner Wimper. Offiziere waren seiner Ansicht nach bei der Polizei ebenso wie beim Heer ohnehin nur Dekoration. Die Arbeit leisteten die Unteroffiziere. Gut, die Mannschaft schon auch. Ohne die ging’s nur schlecht. Aber Offiziere? Wer brauchte schon Offiziere? Warum sollte man so einem helfen, der einen bloß behinderte und nichts als Scherereien verursachte?

Gut, das war ja wider Erwarten schnell gegangen. Schien auch alles aus Oberkalmsteiners Schulzeit da zu sein, Zeugnisse, Zwischenberichte, Disziplinarmaßnahmen – oha, das war aber eine schöne Latte! – und das Wichtigste, der Bericht. Der Abt, er war gleichzeitig Rektor am Stiftsgymnasium, hatte den mehrseitigen Brief allerdings in einem für Rebitzkis nicht gerade großartige Schulbildung etwas zu hochgestochenen Deutsch-Latein-Gemisch verfasst. Schon nach der ersten Seite standen Rebitzki vor lauter Anstrengung Schweißperlen auf der Stirn und er war endgültig dabei, aus der Haut zu fahren.

„Leutnant Giovanett zu mir, sofort!“ Der hatte ja auch eine sogenannte höhere Schule besucht und ließ seine humanistische Bildung im Offizierskasino ab und zu recht gerne raushängen.

„Zu Befehl!“ Als ob er hinter der Tür gewartet hätte.

„Übersetzen Sie das Geschreibsel da so, dass es auch normale Leute verstehen.“

Giovanett zog es vor, nicht nachzufragen, was man unter normal zu verstehen hätte. Er nahm den Brief in die Hand und blätterte ihn erst mal durch. Vier Blatt ausgesprochen schönes Schreibpapier, die Stiftsherren wussten auch Weltliches durchaus zu würdigen, jedes Blatt vorne und hinten in kleiner, sauberer Handschrift beschrieben, die letzte Seite nur halb. Er kehrte zum Anfang zurück und begann, halblaut zu lesen.

„Behalten Sie Ihr Halbverdautes für sich, sagen Sie mir nur, was da drinsteht!“ Rebitzki galt sogar im Vergleich mit anderen höheren Offizieren als außergewöhnlich taktlos.

Giovanett schluckte, verstummte und las lautlos zu Ende. Wachtmeister Scharrer fiel auf, dass das Leutnantbubi nur halb so lang wie der Alte brauchte und den Brief noch dazu zu verstehen schien. Allerdings bloß einfacher Landadel, der würde es nicht besonders weit bringen. Schade, hätte vielleicht einer der wenigen Offiziere werden können, die von ihren Soldaten respektiert statt nur gefürchtet wurden.

Giovanett räusperte sich und fing sofort zu reden an, als ihm Rebitzki einen Blick zuwarf, als ob er ihn mit Haut und Haaren verschlingen wollte.

„Wenn ich das zusammenfassen darf“, von Rebitzki kam nur noch verärgertes Brummen, also sprach Giovanett weiter, „der Oberkalmsteiner kam mit guten Noten von der Grundschule und hatte ein Empfehlungsschreiben dabei, das liegt bei den Zeugnissen dort. Solche Empfehlungen sind in der Regel als Bittbriefe verfasst, in denen die Empfänger – in diesem Fall das Gymnasium – angefleht werden, sich im Namen christlicher Nächstenliebe um das gegenständliche Kind der Sünde zu kümmern, es zu einem ordentlichen Christenmenschen und Untertanen zu erziehen.“

„Wer hat den Bittbrief unterschrieben?“

„Das war der alte Dorfpfarrer. Ist aber schon lange tot.“

„Pech, also weiter.“

„Stiftsschulen unterrichten nicht allein aus christlicher Nächstenliebe. Aus diesem Grund stellt das Empfehlungsschreiben klar, dass sich ein Förderer gefunden habe, der bereit sei, für die Unkosten aufzukommen, also Schulgeld, Kleidung, Unterkunft und Verpflegung zu übernehmen.“

„Wer war der Förderer?“

„Das steht nicht drin. Die geben das nie an, sonst könnte der Förderer den Brief ja gleich selbst schreiben. Normalerweise bekommt der Pfarrer eine kleine Spende, die er nach eigenem Gutdünken verwenden kann.“

„Lässt sich wenigstens feststellen, woher das Geld kam?“

„Ja und nein. Hier steht, dass an jedem Stichtag ein Bote von der Klause kam, in die sich hochrangige Ordensmitglieder mehr oder weniger aufs Altenteil zurückziehen. Das Geld kam immer pünktlich und wurde von einem gewissen Pater Bernhard geschickt. Moment, nein, der ist zwei Monate vor Oberkalmsteiners Matura gestorben. Oh, unerwartet steht da, er war erst siebenundfünfzig und sonst gesund. Herzkasper, wie’s aussieht.“

„Augenblick, Herr Leutnant, wollen Sie mir weismachen, dass die Ordensbrüder in dem Alter schon im Ruhestand sind?“

„Kann vorkommen. Meist aus gesundheitlichen Gründen, in diesem Fall wohl eher nicht. Vielleicht war er aufgefallen.“

„Aufgefallen?“

„Na ja, manchmal können auch Priester – übrigens, Pater Bernhard war geweihter Priester, nicht bloß Ordensbruder – ihre Finger nicht von Frauen, Kindern oder anderen Männern lassen.“

„Verstehe, die setzt man dann irgendwo hin, wo sie keinen Schaden anrichten können.“ Rebitzki verstand wirklich. Auch bei der Polizei ging man schließlich ähnlich vor. Oberstes Gesetz: Wenn sich wer von den eigenen Leuten einen Fehltritt leistet, darf vor allem nichts nach draußen dringen. Dann hing’s vom Rang ab. Mannschaft konnte man notfalls hängen lassen, höhere Offiziere musste man wegloben.

„Wie auch immer“, auch wenn er ihn als Mensch nicht ausstehen konnte, ein paar Redensarten hatte Giovanett trotzdem von seinem Vorgesetzten abgekupfert, „das Schulgeld war im Voraus bezahlt, also konnte der Oberkalmsteiner noch seine Reifeprüfung ablegen. Dann war natürlich Schluss.“

„Von nichts kommt nichts“, knurrte Rebitzki.

„Die barmherzigen Schwestern, die in der Klause für die geistlichen Herren sorgen, fanden noch eine kleine Truhe in Pater Bernhards Zelle, als sie dort nach seinem Tod ausräumten. Drinnen lagen ein neues Gewand, bestehend aus Lederhose, genauer einer Kniebundhose, aus Jacke und Umhang aus Loden, jägergrün, aus guten genagelten Schuhen und einem Hut mit ziemlich breiter Krempe, ebenfalls aus Loden, aber schwarz, mit einem flachen Hutband aus geflochtenen Lederschnüren. Dazu ein fast neuer Stutzen in einwandfreiem Zustand samt Zubehör, also Pulverhorn, Kugelform, ein paar Dutzend Zündhütchen, etliche schon gegossene Kugeln, ein Döschen Schmierfett, was man eben für eine Büchse braucht. Obendrauf noch ein Hirschfänger mit schön gearbeitetem Horngriff und Lederscheide sowie ein Lederbeutel mit fünf Silbertalern. Zuoberst lag offenbar ein Zettel, auf dem Oberkalmsteiners vollständiger Name, sein Geburtsdatum und Heimatdorf standen. Die Mönche schickten alles an das Stift, das die Kiste dem Oberkalmsteiner noch an dem Tag aushändigte, an dem er seine Prüfung bestanden hatte.“

Na also. Somit erklärte sich zumindest, wie so ein Habenichts schon in jungen Jahren zu einer Schusswaffe kam. „Was ist mit dem Zettel?“

„Den haben sie dem Oberkalmsteiner mit der Kiste mitgegeben. Wir haben ihn aber bis jetzt nicht gefunden.“

„Wissen wir, ob es Pater Bernhards Handschrift war?“

„Leider nicht, die Stiftsherren halten sich in solchen Fällen vornehm zurück.“

Wohlweislich, dachte Rebitzki, schwieg aber aus Gründen, für die dasselbe Adverb in Anspruch genommen werden könnte. Laut fragte er: „Kommt dieser Pater Bernhard als Kindsvater überhaupt infrage?“

„Theoretisch auf jeden Fall, er war bis vor fast fünfundzwanzig Jahren als Lehrkraft für Deutsch, Geschichte, Latein und Griechisch am Stift tätig. Die Katharina war damals auf dem Bauernhof in Dienst, der das Stift mit Milch, Käse und Fleisch versorgte. Das steht zwar nicht im Brief, aber das hat die Gendarmerie inzwischen herausgefunden. Die beiden könnten sich durchaus begegnet sein. Andererseits ist es auch nicht unüblich, Priester als Mittelsmänner einzuschieben. Vor allem Beichtväter sind beliebt, wenn etwa adlige Herren offiziell lieber nichts von ihren Bankerten wissen wollen.“

Klang alles recht plausibel. Wieso wusste so ein junger Spund eigentlich so viel über kirchliche Interna? Bei dem niedrigen Dienstgrad und seiner ländlichen Herkunft? Den würde man besser im Auge behalten, allzu aufgeweckte Untergebene konnten bedeutend gefährlicher werden als Feinde oder Verbrecher. Rebitzki konnte man da nichts vormachen. Seine eigene Karriere war schließlich auch nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen. „Woher stammte dieser Pater Bernhard eigentlich?“

„Schon aus dem Süden, Welschtirol, Landadel, angesehene, wohlhabende Familie. Dritter Sohn.“

Natürlich, hätte er sich denken können. War so üblich. Der erste erbte, der zweite kam zum Militär, der dritte wurde Priester oder ging ins Kloster. Aber Welschtirol? Hat sich was mit lombardischem Hundsbratenfresser. Rebitzki wurde es plötzlich unerträglich heiß in seinem Uniformrock. War es ein Fehler gewesen, auf den Dorftratsch zu hören? War der Hundsfott womöglich gar nicht nach Westen geflohen?

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