Klappentext

München, Anfang des 20. Jahrhunderts: Eine Frau aus guter Gesellschaft, Mingo Swieter ist ihr Name, wird in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Herzversagen heißt es. Zweifel an der Todesursache gibt es zunächst nicht, denn die Verstorbene war seit einiger Zeit schwer krank. Zwei Monate später, als das Testament eröffnet wird, die Überraschung: Das ganze Vermögen von 400.000 Mark erbt nicht die nächste Verwandte, sondern Mingos Ex-Mann Dr. Sigismondo Enea Deruga, von dem sie seit 17 Jahren geschieden ist.

Geht das mit rechten Dingen zu? Die Verwandte erwirkt gerichtlich die Exhumierung und Autopsie der Leiche. Man entdeckt Curare, ein hochwirksames Gift, das damals von Medizinern häufig verwendet wird. Beim Mordprozess gegen Deruga kommen erstaunliche Fakten ans Licht, die dem Fall wiederum eine neue Wendung geben.

In ihrem einzigen Kriminalroman behandelt Ricarda Huch ein tabuisiertes Thema, das heute wieder hochaktuell, und nach wie vor hochumstritten ist.

© Redaktion eClassica, 2018

 

Über die Autorin: Ricarda Octavia Huch (18. Juli 1864 – 17. November 1947) war eine deutsche Schriftstellerin, Dichterin, Philosophin und Historikerin. Als eine der ersten Frauen promovierte sie 1892 an der Universität Zürich – in Deutschland war das zu jener Zeit für Frauen noch nicht möglich. Huchs Werk umfasst eine enorme Themenbreite, von Philosophie, über geschichtswissenschaftliche Werke, bis hin zu Novellen, Lyrik und einem Kriminalroman.

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Neuntes Kapitel

Der Sonntag zeigte sich indessen Deruga unverhofft wohltätig, indem ein Freund seiner Kindheit und Jugend eintraf, Dr. Carlo Gabussi, Landarzt in einem Dorfe oberhalb Belluno, den Zeitungsberichte über den Prozess veranlasst hatten, nach München zu kommen, um Deruga allenfalls beizustehen. Die Freunde umarmten und küssten sich wieder und wieder, und es dauerte eine Weile, bis sie ein zusammenhängendes Gespräch zu führen imstande waren.

»Kommst du wirklich meinetwegen, Carlo, lieber Junge?« sagte Deruga. »Das ist doch der Mühe nicht wert, die Reise, die Kosten und alles das.«

»Unsinn,« sagte Gabussi, »ich war froh, Gelegenheit zu einer Reise zu haben. Ich bin ja seit zehn Jahren nicht von meinem gesegneten Dorfe heruntergekommen. Wenn ich aber etwas für dich tun könnte, wäre ich allerdings glücklich. Denke dir von den vielen Opfern, die du mir gebracht hast, einmal etwas wiederzugeben!«

»Ich dir?« lachte Deruga. »Meinst du, dass du monatelang Tag für Tag bei mir saßest, als ich krank im Spital lag?«

»Nun ja,« sagte Gabussi, »du bist zwar nicht mir zuliebe krank geworden, aber ich konnte doch zu dir kommen und brauchte nicht immer zu Hause zu sein, wo es so wenig Unterhaltung für mich gab. Du hörtest mir zu, wenn ich von meiner Angebeteten erzählte, und machtest mir Gedichte für sie.«

Deruga fragte, wie es ihr gehe, und ob sie noch immer nicht geheiratet hätten.

»Nein,« sagte Gabussi mit einem Anflug von Wehmut. »Dadurch, dass meine Mutter bei mir wohnt, und dass meine arme Schwester lahm ist, kann ich nicht gut noch eine Frau unterbringen. Geld verdienen könnte sie auf meinem Dorfe auch nicht, denn eine verheiratete Lehrerin wird nicht angestellt. Aber ich bin ja so glücklich, dass ich meine Mutter noch habe! Sie ist jetzt so leicht, dass ich sie auf einem Arme tragen kann, und ich trage sie jeden Abend ins Bett, obwohl sie sich fürchtet; aber ich kann es nicht lassen, und im Grunde hat sie es auch gern. Natürlich, meine Lisa hat jetzt einige weiße Haare in ihren schönen schwarzen Haaren. Sie sehen mir so aus wie eine Silberspur, die Gottes liebkosende Hand zurückgelassen hat. Kannst du dir das denken? Und wenn ich sie so gut und fröhlich zwischen ihren Schulkindern sehe, dann wird mir wohl das Herz eng, und ich denke: Wenn ihr so unsere Kinder an der Hand hingen! Aber das ist ja selbstsüchtig und unrecht, wenn ich bedenke, wie gut es mir geht, zum Beispiel mit dir verglichen, mein Dodo, mein alter, lieber Junge! Wie konntest du aber nur in solchen höllischen Wirrwarr verwickelt werden! Nein, sprich jetzt nicht davon, wenn du nicht magst! Wir haben Zeit, ich bleibe bei dir, solange du mich brauchst.«

»Die Schweinerei soll mir gesegnet sein,« sagte Deruga, »denn ohne sie hätte ich dich so bald nicht gesehen, Gabussi! Ein bisschen magerer bist du geworden, aber sonst ganz das liebe, alte, ehrbare, erschrockene Gesicht!«

»Aber du bist mein bronzener David nicht mehr,« entgegnete Gabussi. »Du siehst grau aus, das kommt vom Mangel an Luft und Bewegung. Lass uns spazieren Gehen — oder, noch besser, ich nehme einen Wagen, und du zeigst mir die Stadt und die Umgegend.«

Der Tag war grau und weich, und der offene Wagen fuhr langsam durch die tauenden Straßen, vom Geriesel der Tropfen wie von einem musikalischen Geleit begleitet. Deruga saß behaglich zurückgelehnt und gab Antwort auf die Fragen Gabussis, den die stattlichen Plätze und Gebäude entzückten. In einer stillen Straße, in die der Kutscher, dessen Gutdünken sie die Führung überließen, einlenkte, erkannte Deruga plötzlich ein schmiedeeisernes Tor. Der gepflasterte Weg, der an den Häusern entlang führte, lag verlassen, und das Fliedergebüsch war noch unbelaubt, nur eine Weide spannte keimende Zweige in einem feinen Strahlenbogen hinüber.

»Was ist dir?« fragte Gabussi, seinen Arm in den des Freundes schiebend, der sich aufgerichtet hatte.

»Wir fuhren eben an dem Hause vorüber, wo die arme Marmotte wohnte,« sagte Deruga.

Gabussi schwieg. Erst nach einer langen Pause sagte er: »Du warst doch einmal glücklich, Dodo.«

»Nein, damals nicht,« erwiderte dieser. »Mein Gemüt war zu ruhelos, mein Herz zu empfindlich und mein Verstand zu scharf. Ich glaube, ich müsste ein Gott sein, um mit meinen Gaben glücklich zu sein.«

»Es ist doch aber auch schön, so begabt zu sein, wie du bist,« sagte Gabussi. »Weißt du noch, wie oft unser Religionslehrer zu dir sagte: ›Sigismondo, Verstand hast du, Verstand genug. Aber der Verstand ist ein höllisches Feuer, die Vernunft ist ein göttliches Licht. Und Vernunft hat mancher alte Besenbinder mehr als du.‹«

Deruga lachte. »Ja, auf den Verstand war er schlecht zu sprechen,« sagte er. »Und weißt du, wie er dich vor mir warnte und prophezeite, es würde ein Freimaurer und Atheist aus mir werden, wenn ich nicht etwa gar ein Heiliger würde.«

Der Wagen hatte inzwischen die städtischen Anlagen erreicht, und sie sahen einen schnellen, starken Fluss unter den dicken Stämmen alter Weiden und Pappeln durch weite Wiesen fließen. Eine schwere Erinnerung aus naher Vergangenheit vermischte sich in Deruga wunderbar mit den Erinnerungen der Kindheit und stimmte ihn weich und träumerisch.

»Damals, als wir Buben waren,« sagte Gabussi, »da warst du doch glücklich.«

»Wenn ich nicht tief unter dem Glück immer gefühlt hätte, wie hässlich, armselig, falsch und ungerecht alles um mich her war,« sagte Deruga.

»Du, der einen solchen Engel zur Mutter hatte!« rief Gabussi aus. »Und weißt du, wie gern du bei uns warst, und wie du stillhieltest, wenn meine Mutter dich auf die Stirn küsste und ›kleiner Fremdling‹ nannte? Und wie wir unter dem Dache saßen und unsere Aufgaben lernten und uns vor jedem Schatten fürchteten?«

Als die Freunde von der Fahrt zurückkehrten, war eine wohlige Zufriedenheit über Deruga gekommen.

»Wenn diese dumme Geschichte vorbei ist,« sagte er zu Gabussi, »werde ich ein neues Leben anfangen. Was meinst du, wenn ich zu dir in die Berge käme?«

»Aber, Dodo,« sagte Gabussi außer sich vor Freude, »das wäre ein Paradies für mich. Und wie würden meine Mutter und meine Schwester sich freuen! Und meine Lisa für mich! Das größte Glück für meine Lisa ist, wenn mir etwas Glückliches begegnet. Zu denken, dass du mich zuzeiten auf meinen Gängen begleitest und wir plaudern und schwatzen und Erinnerungen austauschen wie heute!«

Sie wurden durch ein feines Klopfen unterbrochen, das schon einige Male ungehört in das laute Gespräch geklungen hatte. Als Gabussi zur Tür ging und öffnete, sah er ein kleines, zierliches, blondhaariges Mädchen mit großen, dunkelbraunen Augen, die ihn ängstlich, doch mit Feuer, ansahen.

»Ich wünsche Herrn Dr. Deruga zu sprechen,« sagte eine helle, von der Erregung etwas gedämpfte und zitternde Stimme. »Sind Sie es?«

Gabussi schüttelte den Kopf und wies auf seinen Freund, indem er ihn zugleich mit den Augen fragte, ob er gehen solle.

»Nein, bleibe,« bat Deruga, die Hand auf seinen Arm legend; und er fragte das Fräulein, mit wem er die Ehre habe zu sprechen.

»Ich bin Mingo von Truschkowitz,« sagte die kleine Dame, »und komme, um Ihnen zu sagen, dass es mir sehr leid tut, dass meine Mutter den Prozess gegen Sie angefangen hat, und dass ich nichts, gar nichts damit zu tun habe. Da meine Tante Ihnen das Vermögen vermacht hat, kommt es Ihnen zu. Überhaupt hat meine Mutter nicht das mindeste Recht darauf, da sie sich nie um Frau Swieter bekümmert hat.«

»Armes Kind,« sagte Deruga, »es muss Ihnen schwer geworden sein, so allein zu mir zu kommen. So alt wie Sie würde meine kleine Mingo jetzt auch sein,« setzte er nach einer Pause hinzu, während welcher seine Augen liebevoll auf ihr geruht hatten.

»Dasselbe,« sagte Mingo und zögerte einen Augenblick, »sagte Ihre verstorbene Frau, als sie mich sah.«

»Haben Sie meine Frau einmal besucht?« fragte Deruga. »Wann war es? Erzählen Sie mir davon.«

»Es war vor acht Jahren,« berichtete Mingo. »Ich besuchte sie, weil ich so vieles von ihr gehört hatte, was mich anzog. Bei uns fand ich alles herkömmlich und alltäglich und unbedeutend. Ich liebte mir vorzustellen, dass irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihr bestünde, weil ich so heiße wie sie. Sie gefiel mir so gut, sie war mir wie ein geheimnisvolles Märchen; aber sie sagte, ich solle nicht wiederkommen, wenn es ohne Wissen meiner Eltern geschehen musste. Vielleicht hatte mein Besuch sie auch traurig gemacht, weil ich sie an ihr verlorenes Kind erinnerte.«

»So lebt doch wenigstens ein kleiner Mingo,« sagte Deruga warm. »Nach Ihrer Meinung,« fragte er nach einer Pause, »bin ich also mit Unrecht angeklagt?«

»Nach dem, was Ihre Frau mir damals von Ihnen erzählte,« sagte sie mit Nachdruck, »bin ich überzeugt, dass Sie ihr absichtlich nie etwas zuleide getan haben.«

»Ich habe ihr viel zuleide getan,« sagte Deruga, »aber aus Liebe.«

»Das zählt nicht,« sagte Mingo entschieden und fuhr zögernd fort: »Ihre Frau zeigte mir auch ein Bild von Ihnen.«

»Es scheint aber nicht, dass es ähnlich war,« sagte Deruga lachend, »oder ich habe mich seitdem sehr verändert.«

»Nicht so sehr, wie es mir zuerst schien,« sagte sie.

Gabussi beteuerte, dass sein Freund sich nur zu seinem Vorteil verändert habe, und forderte das kleine Fräulein dringend auf, dies Urteil zu bestätigen.

»Das weiß ich nicht,« sagte sie, tief errötend, »aber wie ein alter Mann sieht Herr Deruga nicht aus.«

»Ihnen gegenüber bin ich sehr alt und weise,« sagte Deruga gütig, »und vermöge dieser Weisheit gebe ich Ihnen den Rat: Entzweien Sie sich meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter, wenn sie mir auch unrecht tut! Ein Kind schuldet seiner Mutter zu viel, um ihr jemals zum Gläubiger werden zu können. Sprechen Sie es aus, wenn Sie anderer Meinung als sie sind, aber nicht ohne den Ton zärtlicher Liebe! Versprechen Sie mir das?«

Er streckte ihr die Hand hin, in die Mingo völlig überwunden ihre kleine legte.

Carlo Gabussi umarmte, als das Fräulein gegangen war, seinen Freund mit Begeisterung, lobte die Kleine und erkundigte sich nach der Mutter, die eine Teufelin sein müsse.

»Wenn sie das noch wäre,« sagte Deruga. »Sie ist nur eine glatte, hohle, genusssüchtige Frau, zu oberflächlich selbst, um lasterhaft zu sein. Ein Bild unserer Gesellschaft, wo die großen Räuber geehrt und die kleinen gehangen werden. Äußerlich ist sie nicht unangenehm.«

»Und warum hasst sie dich so?« fragte Gabussi.

»Weil ich das Geld bekommen habe, worüber sie bereits zu ihren Gunsten verfügt hatte,« sagte Deruga. »Übrigens scheine ich ihr gar nicht zu missfallen.«

»Wie meinst du das?« fragte Gabussi. »Hast du denn mit ihr gesprochen?«

»Bis jetzt nur durch die Augen,« sagte Deruga. »Aber ich verstehe mich ja gut auf Weiber. Wenn ich darauf einginge, wäre sie sehr geneigt, eine Liebelei mit mir anzufangen.«

»Aber, Dodo,« rief Gabussi entrüstet aus, »das ist ja eine abscheuliche Entartung! Mit einem Manne kokettieren, den man ins Zuchthaus oder etwa gar auf das Schafott zu bringen im Begriffe ist. Ich verstehe solche Sachen nicht. Könnte ich dich nur aus den Weibergeschichten heraus wickeln, die die letzte Ursache deines Unglücks sind! Du solltest wieder heiraten, eine einfache, brave, liebe Frau, und dann zu mir hinauf in die Berge kommen. Was hast du von dieser heillosen Schlamperei? Luft, Licht, Sauberkeit, das sind die wichtigsten Verordnungen der modernen Gesundheitslehre.«

»Für gesunde Seelen ausgezeichnet,« sagte Deruga. »Aber Kranke brauchen warmen Dreck und mollige Fäulnis.«

»Unsinn,« sagte Gabussi in großer Erregung, »der Satz ist Unsinn, und die Voraussetzung, dass du krank bist, auch. Du bist nur bequem und zu gutmütig. Versprich mir, dass du nichts Neues anzettelst! Auch nicht aus Mitleid. Schließlich geraten die Frauen durch die Liebe nur noch tiefer in den Sumpf. Und versprich mir, sollte diese Baronin wirklich mit dir kokettieren wollen, dass du ihr die verdiente Abfertigung zuteil werden lässt!«

Deruga wollte sich ausschütten vor Lachen über seinen Freund, der, mit den langen Armen gestikulierend, wie ein Bußprediger vor ihm stand. »Ich habe höchstens Lust,« sagte er endlich, als er wieder sprechen konnte, »sie noch mehr zu reizen, um sie hernach desto empfindlicher kränken und beschämen zu können. Ich verabscheue diese Person.«

»Ach, Dodo!« seufzte Gabussi, »das ist schlüpfrig und gefährlich. Lass sie doch gehen, wenn du sie verabscheust! Tu es um der entzückenden Kleinen willen, wenn du es nicht aus Selbstachtung tust!«

In Derugas Gesicht kam ein weicher Ausdruck. »Kleine Mingo,« sagte er. »Ihr möchte ich wirklich nichts zuleide tun.«

»Siehst du,« sagte Gabussi eifrig. »Es war ein Unglück, dass du deine Tochter verlieren musstest. An ihrer Hand wärest du gewiss nur reine, schöne Wege gegangen.«

»Oder ich hätte sie mit mir in den Schlamm gezogen,« sagte Deruga, plötzlich verdüstert.

»Mensch, führe nicht so verzweifelte Reden!« schalt Gabussi, »sonst könnte sogar ich an dir irre werden.«

Deruga umarmte und küsste seinen Freund. »Immer der alte,« lachte er. »Hast du vergessen, dass man mich nicht so ernst nehmen muss? Ich bin kein am Spalier gezogener Pfirsich. Man kann meine Worte nicht so ohne weiteres genießen, es muss erst etwas Schmutz herausgekocht und abgeschäumt werden. Hast du das vergessen?«

Auch Gabussi lachte nun. »Du hast recht, ich bin ein schwerfälliger Dummkopf,« sagte er. »Es ist kein Wunder, wenn dich in deiner unglücklichen Lage manchmal tolle Launen überkommen. Der muss vor allen Dingen ein Ende gemacht werden.«

Der Justizrat, den er befragte, sprach sich ziemlich hoffnungsvoll aus. Deruga habe zwar nicht durchaus einen guten Eindruck gemacht, und es bleibe zu vieles im Dunkeln, als dass jeder Verdacht aufgehoben würde, aber die vorhandenen Indizien genügten seiner Ansicht nach durchaus nicht, dass gewissenhafte Geschworene daraufhin ein Schuldig aussprechen könnten. Gabussis freundschaftliche Gefühle waren davon nicht befriedigt; er bestand darauf, als Zeuge aufzutreten, damit die Menschen Deruga mit seinen Augen, das heißt, wie er wirklich wäre, sähen und ihn freisprächen, nicht, weil er nicht überführt werden könnte, sondern von seiner Schuldlosigkeit überzeugt.

»Sie sind mit Vorurteilen an dich herangetreten,« sagte er. »Sie haben nur einen Ausschnitt von dir kennengelernt. Könnte man ein Gemälde richtig beurteilen, wenn man nur ein millimetergroßes Stückchen davon betrachtet? Ich will ihnen von deiner Kindheit und deinen Jugendjahren erzählen, so wie du bist, ohne Übertreibung und künstliche Beleuchtung. Das ist eine induktive Methode, die den wissenschaftlichen Deutschen zusagen muss.«

Gabussis Erscheinung machte einen günstigen Eindruck. Man fand, dass seine ehrlichen braunen Augen, sein schlichtes Auftreten und freimütiges Reden eines Deutschen würdig wären. Da er ein paar Semester in Wien studiert hatte, sprach er ziemlich gut Deutsch, wenn er langsam und vorsichtig vorging. Er sei, erzählte er, mit dem Angeklagten seit früher Kindheit bekannt, sie hätten dieselbe Schule und später dasselbe Gymnasium besucht. Dodo, wie er genannt wurde, sei in seinem, Gabussis, elterlichen Hause gern gesehen worden. Man habe bewundert, wie viel er geleistet, unter wie schwierigen Verhältnissen er sich durchgearbeitet habe.

»Worin bestanden die schwierigen Verhältnisse?« fragte der Vorsitzende.

»Seine Familienverhältnisse waren ungünstig,« erklärte Gabussi. »Er wurde zu Hause viel beschäftigt, so dass er oft die Nacht zu Hilfe nehmen musste, um mit den Schularbeiten fertig zu werden.«

»Wie kam das?« fragte der Vorsitzende, »was war sein Vater?«

»Sein Vater war damals Obstverkäufer,« antwortete Gabussi. »Er hatte ein kleines Gewölbe hinter dem alten Rathaus.«

»So,« sagte der Vorsitzende, in den Akten blätternd. »Nach Derugas Angabe war sein Vater Kaufmann.«

»Nun ja,« sagte Gabussi, »ein Obstverkäufer ist doch ein Kaufmann.«

»Übrigens,« setzte er hinzu, indem er einen beunruhigten Blick auf seinen Freund warf, »hat er nicht immer dieselbe Beschäftigung gehabt. Er war ein guter, aber ruheloser Mann.«

Der Vorsitzende bat den Zeugen, Derugas Vater etwas ausführlicher zu charakterisieren.

Er habe ihn zu wenig gesehen und gesprochen, um ein maßgebendes Urteil fällen zu können, sagte Gabussi. Wenn er da gewesen wäre, habe er meist schwermütig und ohne Anteil zu nehmen in einem Winkel gesessen, nur selten einmal sei er mutwillig gewesen und habe dann laut gelacht und gescherzt.

»Er war also nicht immer da?« sagte Dr. Zeunemann.

»Nein,« sagte Gabussi, »er bekam zuweilen einen Anfall, der ihn zwang, die Familie zu verlassen und sich irgendwo herumzutreiben. Er blieb dann oft wochenlang, ja monatelang aus.«

»Trank er?« fragte der Vorsitzende.

»O nicht besonders viel,« sagte Gabussi; »er war nur sehr eigentümlich. Er bekam von Zeit zu Zeit eine unwiderstehliche Sehnsucht, etwas zu erleben, einen Drang nach Abenteuern. Für das Familienleben war er nicht geschaffen, und das war für seine Frau und seine Kinder ein Unglück. Glücklicherweise war seine Frau ein Engel, einfach ein Engel, und Dodo, der älteste Sohn, nicht weniger. Er war ihr Ebenbild innen und außen.«

»Es waren also noch mehr Geschwister da?« schaltete der Vorsitzende ein. »Was ist aus ihnen geworden?«

»O nichts besonders Gutes,« sagte Gabussi zögernd. »Sie haben des Vaters unglückliche Sucht nach Abenteuern geerbt.«

»Und der Älteste hatte nichts davon?« fragte Dr. Zeunemann.

»Im Gegenteil,« sagte Gabussi mit Feuer. »Er war schon als Kind die Stütze seiner Mutter. Er pflegte die kleinen Geschwister, er half in der Küche, im Hause und im Geschäft, und sang dazu wie eine Lerche. Auch seine Mutter war stets heiter und von Dank gegen Gott erfüllt, dass er ihr einen solchen Sohn gegeben hatte. ›Den holdseligsten seiner Engel hat er mir geschickt,‹ pflegte sie zu sagen, ›so dass ich schon auf Erden in der himmlischen Seligkeit bin.‹ Verursachte es ihr Kummer, dass er so angestrengt arbeiten musste, tröstete sie sich dadurch, dass Gott seinem Liebling die Kraft geben werde. Während er nachts seine Schularbeiten machte oder später den Studien oblag, saß sie neben ihm und nähte oder flickte. So lebten sie in Wahrheit im Paradies, solange der Vater fort war.«

»Misshandelte er Frau und Kinder?« fragte der Vorsitzende.

»Darüber kann ich nicht viel sagen,« antwortete Gabussi, indem er wieder einen beunruhigten Blick nach seinem Freunde warf, »denn weder Dodo noch seine Mutter äußerten sich darüber. Nach ihrem Tode gab es allerdings zuweilen Auftritte zwischen Vater und Sohn; denn die Arme hatte ihn stets etwas in Schranken gehalten.«

»Geschäft und Haushalt kamen vermutlich herunter?« fragte der Vorsitzende.

»Mein Freund tat, was möglich war,« erzählte Gabussi. »Er war Vater und Mutter für seine unerwachsenen Geschwister, obwohl er damals selbst ein zarter Jüngling war. Er fuhr sogar zuweilen abends, wenn es dunkelte, Waren auf seinem Karren in die Häuser. Der Vater wurde allerdings mehr und mehr unzurechnungsfähig. Namentlich reizte er selbst die jüngeren Kinder zu Unarten und bösen Streichen. Er würde unermessliches Unheil angerichtet haben, wenn er sich nicht vor Dodo gefürchtet hätte.«

 

 

»War er hinfällig und gebrechlich geworden?« fragte der Vorsitzende.

»Durchaus nicht,« sagte Gabussi lebhaft, »er war ein großer, muskulöser Mann, viel stärker als Dodo. Aber im Zorne schienen sich Dodos Kräfte zu verhundertfachen. Seine arme Mutter würde gesagt haben, dass Gott ihn mit seinem Atem erfüllte, um seinen Liebling zu schützen. Ich habe seinen Vater vor ihm davonschleichen sehen wie einen Hund, der weiß, dass er Prügel verdient.«

Langsam richtete sich der Justizrat zu seiner vollen Höhe auf. »Meine Herren,« sagte er, »ich glaube zu wissen, was viele von Ihnen jetzt denken: Da sehen wir wieder das unbezähmbare, gefährliche Temperament dieses Menschen! Wer sich an seinem Vater vergreift, warum sollte der sich nicht an seiner Frau vergreifen — und so weiter. Ich, meine Herren, habe im Gegenteil gedacht: Wieder bricht diese beinahe krankhafte Heftigkeit hervor, wenn es sich darum handelt, Böses zu verhüten oder zu bestrafen. Wir haben in Deruga einen ungewöhnlich reizbaren Menschen, aber was ihn reizt, ist das Schlechte, Hässliche, Unharmonische. Dass er sich aus selbstsüchtigen Gründen an jemandem vergriffen oder jemandem unrecht getan habe, dafür liegt bis jetzt kein Beispiel vor.«

»Eifersucht ist denn doch wohl Selbstsucht,« entgegnete der Staatsanwalt, »besonders wenn keine Ursache dazu gegeben wird. Auch geht es nicht an, besonders bei Menschen, die krankhaft veranlagt sind, oder, richtiger ausgedrückt, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, das reifere und höhere Alter der Kindheit und Jugend gleichzustellen. Wir sehen bei dem Vater des Angeklagten, wie seine verhängnisvollen Anlagen mit dem Alter mehr hervortreten, und wie verderblich ihm das Wegfallen der Hemmung wurde, die die Gegenwart seiner frommen Frau für ihn bedeutete. Etwas Ähnliches liegt bei dem Angeklagten vor: Mit der Trennung von seiner durchaus anständigen, guten Frau beginnt sein Fall.«

»Sein Fall!« sagte der Justizrat gelassen, »da muss ich protestieren, oder den Ausdruck dahin präzisieren, dass es sich um ein Abweichen von der herkömmlichen, ausgetretenen Laufbahn handelt. Es ist allerdings bei Deruga eine gewisse Vernachlässigung der äußeren Stellung, äußerer Würden, äußerer Ehren eingetreten. Damit braucht aber der Verfall des sittlichen Menschen nicht Hand in Hand zu gehen. Es kann sogar eine größere Verinnerlichung damit zusammenhängen. Als Staatsangehöriger bin ich allerdings für die bürgerliche Ordnung. Wir dürfen aber doch nicht vergessen, dass auch der Staat und jede von Menschen geschaffene Form von Kräften lebt, die ihm von außen, sagen wir meinetwegen aus dem Chaos, zuströmen.«

Ein ironisches Lächeln verzerrte das Gesicht des Staatsanwalts. »Das ist Philosophie,« sagte er, »und mit Philosophie lässt man sich auch die Notwendigkeit von Massenmördern und Giftmischern beweisen. Wir dagegen haben es ganz schlechtweg und einfältig mit strafbaren Handlungen zu tun. Christus durfte sich erlauben, die Zöllner und Sünder zu lieben, wir müssen uns bescheiden, sie zu strafen.«

Der Vorsitzende machte die Handbewegung, mit der man Kreidestriche von einer Tafel löscht. »Das führt zu weit,« sagte er, und dann zum Zeugen gewendet: »Haben Sie selbst jemals Auftritte mit Ihrem Freunde gehabt?«

»Ich? Niemals, niemals!« sagte Gabussi lebhaft, »und doch ist gewiss nicht leicht mit mir auszukommen. Mein phlegmatisches Temperament, das mir die Natur nun einmal gegeben hat, muss eine feurige Natur, wie mein Freund ist, schon an sich reizen. Meine Langsamkeit im Auffassen hätte ihn oft ungeduldig machen können. Anstatt dessen war er stets opferwillig und hilfsbereit.«

»Ein Engel,« setzte der Staatsanwalt grinsend hinzu.

»Hatte der Angeklagte noch viele Freunde außer Ihnen?« fragte Dr. Zeunemann.

»Er stand mit fast allen gut,« sagte Gabussi, »aber befreundet war er nur mit mir. Ich bin überzeugt, dass kein einziger sein Inneres so gut kannte wie ich.«

»Das ist eigentlich sonderbar,« meinte der Vorsitzende, »bei einem Menschen, dessen feuriges, geselliges Temperament Sie selbst hervorheben.«

»Ja, so möchte man denken,« sagte Gabussi, »und wenn man ihn unter seinen Schulgefährten und später unter seinen Studiengenossen sah, so musste man meinen, er sei mit allen verbrüdert. Ich erinnere mich, dass ich mich zuerst nicht an ihn heranwagte, weil ich dachte, ich mit meiner Schwerfälligkeit könne ihm nichts sein, der von so vielen wie von einer Familie umringt war. Aber diese Umgänglichkeit, die er an sich hatte, und die jeden anzog, war nur der Schleier, in den er seine Seele hüllte, um sie unzugänglich zu machen. Niemand ist schwerer zu kennen, als er, der das Herz auf der Zunge zu haben scheint. Es gibt zurückhaltende Menschen, die durch Schweigsamkeit oder unnahbares Wesen die anderen von sich abwehren. Das war seine Art nicht. Er richtete durch Gesprächigkeit und Vertraulichkeit eine Mauer um sich auf.«

In dem Maße, wie Gabussi eifriger wurde, um dem Präsidenten seines Freundes Eigenart zu erklären, wuchs das verständnisvolle Interesse des Vorsitzenden. »Ich begreife Sie, ich begreife Sie,« sagte er, »das kommt bei leidenschaftlichen, übermäßig reizbaren Naturen vor. Sie müssen immer auf der Hut sein, dass sie nicht zu viel von sich verausgaben, und schaffen doch ihrer Lebhaftigkeit einen gewissen Ausweg.«

»Ja, ja, so ist es,« bestätigte Gabussi. »Er war im Grunde weich und leicht verletzlich, schämte sich, das den anderen zu zeigen, die so viel gleichgültiger und härter waren, und verhüllte sich auf seine Art. Er war kein Tier, das zu seinem Schutze Stacheln oder Schuppen hervorbringt, er konnte nur bunte Fäden spinnen und mit solchem Blendwerk sich unkenntlich machen. Das bewahrte ihn wohl vor der allzu nahen Berührung wesensfremder Menschen, nicht aber vor allen schmerzhaften Zusammenstößen mit der Außenwelt, die sein Herz bluten machten. Ach, was für eine Tragik, dass er so oft beschuldigt wurde, anderen Leid zugefügt zu haben, der immerfort durch andere litt!«

»Sehr interessant,« sagte Dr. Zeunemann. »Aber worunter litt er denn so sehr? Nun ja, unter seinem Vater. Dafür hatte er doch aber eine gute, liebevolle Mutter, er hatte Sie und den Verkehr mit Ihrer Familie.«

»Seine Mutter liebte er allerdings unendlich,« erklärte Gabussi, »und durch sie litt er gewiss nicht, wohl aber durch die Lage, in der er sie sah. Seine Seele fühlte sich nie heimisch in der Umgebung, in die sie gepflanzt war. Er hatte einen lebhaften Schönheitssinn, und alles Geschmacklose, sowohl an den Gegenständen wie an den Menschen, stieß ihn ab. Da er in ärmlichen oder wenigstens sehr beschränkten Verhältnissen geboren war und aufwuchs, kam es mir immer wunderbar vor, dass er gegen alles Kleinliche und Hässliche, und was sie mitbringen, so überaus empfindlich war. Ich selbst habe das erst allmählich verstehen lernen, anfangs klangen mir seine darauf bezüglichen Klagen wie Dichtungen in arabischer oder persischer Sprache. Es bildete oft den Gegenstand unseres Gesprächs und war ein Punkt, wo wir nie zusammenkamen. Da ich ihn nicht begriff, war ich oft ungerecht gegen ihn, wenn er zum Beispiel Reichtum als das aller Erstrebenswerteste hinstellte. Ich predigte dann wie ein rechter Moralphilosoph auf ihn ein, vielmehr an ihm vorüber. Denn von den Bedürfnissen, die ihn Reichtum ersehnen ließen, hatte ich keine Ahnung. Meine einfachere, derbere Seele fand sich in jeder Umgebung zurecht, sie ist gewissermaßen ein Naturlaut, und wenn man sie nur nicht in einen glänzenden Salon versetzt, so kann sie harmonisch einstimmen. Mit einer reichen Symphonie ist es anders. Mein Freund brauchte Schönheit um sich herum, in der sich die unendlich vielen, daher oft einander widerstrebenden Töne auflösten.«

»Hier ist also doch ein Punkt, wo Sie voneinander abwichen,« sagte Dr. Zeunemann.

»Allerdings,« gab Gabussi zu, »aber über freundschaftliche Meinungsverschiedenheit ging das nie hinaus. Wir ließen uns beide gelten, und er beneidete mich wohl sogar manchmal, weil ich so viel leichter zufriedenzustellen bin.«

»Es wundert mich,« fuhr Dr. Zeunemann gemütlich fort, »dass Ihr Freund bei seinem leichtverletzlichen Schönheitssinn das Studium der Medizin ergriff, bei dem es so viel Abstoßendes zu überwinden gibt.«

»O,« sagte Gabussi, »da kam ihm wieder seine Hilfsbereitschaft und Liebe für alle Kranken und Leidenden zugute. Er hatte insofern eine geradezu geniale Begabung für seinen Beruf. Dazu kam, dass er auf diesem Wege am ehesten zu Gelde zu kommen dachte, was sowohl wegen seiner Familie wünschenswert war, wie er es auch aus den erwähnten Rücksichten für sich erstrebte.«

»Und woran liegt es denn Ihrer Ansicht nach,« fragte der Vorsitzende, »dass es ihm damit doch nicht geglückt ist?«

»Jedenfalls nicht daran,« sagte Gabussi, »dass er untüchtig gewesen wäre. Aber ich sagte schon, dass seine Seele reich und vielstimmig war. Er sehnte sich nach Geld und verachtete es andererseits; er warf zwei Hände voll weg für eine Handvoll, die er eingenommen hatte. Er arbeitete flink und gut; aber er träumte noch besser. Er war geboren mit allen Tugenden, Reichtum auf edle Art zu genießen, mit keiner von denen, die Reichtum machen. Beim Reichwerden kommt es ebenso sehr wie auf die Fähigkeit des Erwerbens auf die des Festhaltens an, und die hatte er nicht. Es war jener tragische Zwiespalt in ihm, der meiner Ansicht nach nur dadurch auszugleichen ist, dass man die Nichtigkeit des Reichtums einsieht und alles dessen, was der Reichtum verschafft. Auch der Ärmste kann Schönheit im Überfluss genießen, wenn er sich in die Natur zurückzieht. Es war der einzige Fehler, den Deruga beging, dass er das nicht von Anfang an getan hat. In der großen Welt konnten die Konflikte seiner Seele keine Lösung finden.«

»Wir haben Ihnen ein sehr feines Bild Ihres Freundes zu verdanken,« sagte Dr. Zeunemann freundlich. »Nicht minder brauchbar, weil von Freundeshand entworfen.« Dann schloss er das Verhör ab, nachdem er noch einige belanglose Fragen gestellt hatte.

Als der Justizrat mit den beiden Freunden das Haus verließ, war die Zeit des Feierabends. Die Straßen füllten sich mit Menschen, aber in den Anlagen hinter dem Gerichtsgebäude war es still wie immer. Mit dem Lichte schienen die Gegenstände ihr buntes Kleid abgeworfen zu haben und in sanft schimmernder Nacktheit am Ufer der unendlichen Nacht zu feiern, bevor sie in das tiefe Bad hinuntertauchten. Gabussi erklärte sich mit dem Ergebnis seiner Aussagen nicht ganz zufrieden. Es sei alles anders herausgekommen, sagte er, als er beabsichtigt hatte. Man werde da, ohne zu wissen wie, von einer Strömung ergriffen, die einen von der eingeschlagenen Richtung abbrächte.

»Was du sagtest, war alles schön und gut,« tröstete Deruga. »Es kam mir nur überflüssig vor, wie wenn man einem Deutschen einen feinen Mailänder Risotto vorsetzt, der doch nur die Nase dazu rümpft und nach seinen Kartoffeln verlangt. Was macht das aber? Für mich war es schön, mit dir von der Vergangenheit zu träumen.«

»Ja,« sagte der Justizrat, »das vergangene Leiden dient, wie Shakespeare sagt, zu desto süßerem Geschwätz.«

»Während umgekehrt nichts weher tut, wie unser Dante sagt, als sich im Unglück vergangenen Glückes zu erinnern,« fügte Gabussi hinzu.

Bei dem Abhange, wo jetzt ein erstes Schneeglöckchen die gelbliche Spitze herausstreckte, blieb Deruga stehen.

»Da ist eins von den kleinen Geschöpfen,« sagte er, »es guckt wie eine Maus aus ihrem Loch hervor.«

»Sehen Sie,« triumphierte der Justizrat. »Sie lachten mich damals aus, als ich ihm die trockenen Blätter vom Kopf weg stocherte.«

»Sie hatten auch unrecht,« entgegnete Deruga, »denn nun holt es wahrscheinlich die Katze.«

»Meinen Sie den Nachtfrost?« fragte der Justizrat. »Diese frühen Pflanzen können viel vertragen, sie sind darauf eingerichtet. Hören Sie, mein Lieber,« setzte er hinzu, indem er seinen Klienten fortzuziehen suchte, »Sie werden sentimental, das gefällt mir nicht.«

Deruga rührte sich nicht von der Stelle und starrte versunken auf die feuchte Erde. Eine Zeile aus einem alten Gedicht lag ihm im Sinn, und er führte sie an, als er sich darauf besonnen hatte:

»La doglia mia cresoe coll’ ombra.«

»Das klingt wie ein Ton von einer Amati,« sagte der Justizrat, die Musik des Verses mit sichtlichem Genuss schlürfend. »Was heißt das?«

»Mein Weh wächst mit den Schatten,« übersetzte Deruga. »Das will also sagen, mit der wiederaufgehenden Sonne verschwindet es und bedeutet nicht mehr als eine Abendstimmung.« Er schüttelte sich, als werfe er die trübe Laune von sich, und wandte sich rasch dem Ausgang zu.

»Wenn du erst bei mir in meinem Bergdorfe bist,« sagte Gabussi, »werden dich solche Stimmungen bald ganz verlassen. Das ist der Kohlenstaub der großen Stadt, den der reine Himmel der Höhen verzehrt.«

»Ob mir diese Luft wirklich so gut anschlagen würde, wie du meinst?« sagte Deruga. »Ich bin nun einmal kein Bauer.«

»Du wirst einer werden,« rief Gabussi lebhaft aus. »Wenn du erst gelernt hast, dich für nichts als unsere paar Kühe und Ziegen zu interessieren, dann wirst du gesund sein.« Er forderte den Justizrat zur Bestätigung seiner Meinung auf.

»Ein bisschen zu verbauern, täte Ihnen gewiss gut,« sagte dieser vorsichtig.

»Sie meinen,« sagte Deruga, »wenn man den verzwickten Kerl in seine Bestandteile auflösen und einen ganz neuen daraus machen könnte, dann wäre ihm allenfalls geholfen.«

Der Justizrat lachte.

»Aber wenn man den alten Deruga gar nicht mehr herauskennte,« meinte er, »das wäre doch schade.«

Als Gabussi mit Deruga allein auf seinem Zimmer war, fuhr er fort, ihm das Leben auf seinem Dorfe auszumalen. Deruga könne ihn auf seinen Gängen begleiten, er verstehe ja mit einfachen Leuten umzugehen und werde bald der Gott der ganzen Gegend sein. Übrigens würden seine Frauen genug mit ihm zu schwatzen haben, und wenn er außerdem noch eine Beschäftigung haben müsse, so könne er ja diese oder jene medizinische Frage bearbeiten. Auch zu handwerklicher Beschäftigung gebe es Gelegenheit. Die Leute dort oben wären um mehr als hundert Jahre zurück, hätten Werkzeuge aus der Urwelt. Da wäre ein Feld für seine Erfindungsgabe und Geschicklichkeit.

»Ach,« sagte Deruga, »wie wenig du mich kennst! Begreifst du nicht, dass ich mich nach acht Tagen langweilen und nach vierzehn Tagen dich oder mich umbringen würde?«

»Langweilen?« wiederholte Gabussi erstaunt, seine großen Augen noch weiter öffnend. »Langweilst du dich denn in der Stadt?«

»Nein, hier geht es an,« sagte Deruga, »dies Gewimmel von Würmern auf der Fäulnis unterhält mich. Ich verabscheue es, aber ich gebrauche es. Es ist die Form des Lebens, die ich aufnehmen kann. Deine Berge wirken wie nasse Knödel auf meinen Magen.«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte Gabussi, sich ereifernd, »das kann dein Ernst nicht sein. Einem guten Menschen muss das Große und Einfache wohl tun.«

»Ach, Gabussi,« erwiderte Deruga ungeduldig, »der Mensch ist kein Dreieck, worauf man den Pythagoräischen Lehrsatz anwenden kann. Glaube mir, dass ich schließlich deine gute, alte Schwester verführen würde, nur um die klare Atmosphäre ein bisschen zu trüben!«

»Dodo, wenn deine arme Mutter dich so reden hörte!« klagte Gabussi. »Es sind nur Reden, nur Worte; doch die Worte schon zerreißen mir das Herz.«

Die Unterredung setzte sich bis tief in die Nacht fort, ohne dass die Freunde zu einem Verständnis gekommen wären. Gabussi bestand darauf, in München zu bleiben, bis der Prozess beendigt wäre, und dann, falls er nach Wunsch erledigt wäre, Deruga sofort mitzunehmen, wogegen dieser eine stets wachsende Abneigung ausdrückte. Vielmehr redete er Gabussi zu, ohne Zeitverlust abzureisen, da er zu Hause von Mutter und Schwester und von seinen Kranken ungeduldig erwartet würde, hier aber jetzt nichts nützen könne. Gabussi gab endlich nach, aber er war traurig und enttäuscht.

Im Augenblick der Trennung umarmte Deruga ihn mit der alten Herzlichkeit und mit Tränen in den Augen. »Vergiss das verzweifelte Zeug, das ich geredet habe,« sagte er, »und glaube nur das eine, dass mein Herz immer dasselbe ist. Und wenn dich morgen der Schlag trifft und zu einem schlottrigen Idioten machte, der seinen Mund nicht mehr finden kann, so würde ich dich zu mir nehmen und dich eigenhändig füttern, solange du lebtest. Dasselbe lass mich von dir glauben! Was für ein Strudel von Dreck wäre das Leben, wenn es nicht unwandelbare Herzen gäbe!«

»Gott sei Dank,« sagte Gabussi, dessen große braune Augen glänzten, »ich glaube, ich hätte dem Himmel über meinem Kopfe misstraut, wenn ich den Glauben an dich verlieren müsste!«