Jessica Gehres

In Zusammenarbeit mit Kerstin Dombrowski

Euer Hass hat
kein Gesicht

Mein Leben im Schatten des Cyber-Mobbing

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In dieser Reihe außerdem erschienen:
Ela Aslan: Plötzlich war ich im Schatten.
Mein Leben als Illegale in Deutschland
Anna B.: Ich werde die Bilder im Kopf nicht los.
Mein Leben nach dem Missbrauch
Bader/Braun/Sailer/Schober/Schreiber/Sellmaier:
Die Schüler von Winnenden.
Unser Leben nach dem Amoklauf
Christina Helmis: Mein Lollimädchen-Ich.
Mein Leben mit der Magersucht
Lisa-Marie Huber: Der Tod kriegt mich nicht.
Mein Leben mit der Leukämie
Sascha K.: Ich kannte kein Limit.
Mein Leben mit dem Alkohol
Julia Kristin: Online fühle ich mich frei.
Mein Leben im Netz
Josephine Opitz: Auf dem Laufsteg bin ich schwerelos.
Mein Leben als Model im Rollstuhl
Angela S.: Dann bin ich seelenruhig.
Mein Leben als Ritzerin
Mihrali Simsek: Mit 18 mein Sturz.
Mein Leben im Gefängnis
Sabrina Tophofen: So lange bin ich vogelfrei.
Mein Leben als Straßenkind

 

 

Zu diesem Buch wird eine Unterrichtserarbeitung erstellt.
Informationen darüber erhalten Sie beim Arena Verlag, Würzburg,
unter Telefon 0931/79644-0 oder www.arena-klassenlektueren.de.

Aus Datenschutzgründen wurden die Namen im nachfolgenden Text
von der Redaktion geändert.

 

 

 

 

 

 

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1. Auflage 2015
© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Juliane Hergt, unter Verwendung eines Fotos
von © plainpicture/A. da Cunha
ISBN 978-3-401-80480-4

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

 

»Das Motiv für Cyber-Mobbing ist höchst banal: Die meisten Täter geben an, aus Spaß oder Langeweile gemobbt zu haben. Online trauen sie sich plötzlich Dinge, die sie im wahren Leben niemals gemacht hätten. Kleine greifen Große an. Von Angesicht zu Angesicht undenkbar – im Internet geht das. Dadurch werten sich die Cyber-Mobber psychologisch auf – zumindest glauben sie das.

Bei unserer letzten Umfrage gaben 17 Prozent der Schüler an, dass sie schon einmal Opfer von Cyber-Mobbing waren. Dabei haben wir festgestellt, dass Cyber-Mobbing durchaus ein Mittel ist, um sich zu wehren: Mehr als ein Drittel aller Täter war selbst schon einmal Mobbing-Opfer, bevor sie ›die Seite‹ wechselten.

Wie gefährlich gerade das Cyber-Mobbing ist, ist den meisten nicht bewusst. Da wird gehetzt bis zur Vernichtung. Das liegt daran, dass die Täter ihr Opfer nicht sehen, wenn ihm die Verletzung zugefügt wird. Dadurch sinken die Hemmschwelle und die Schamgrenze. Das ist fatal. Denn gerade Jugendliche in der Pubertät sind besonders sensibel, sie bieten eine große Angriffsfläche.

Was jedem bewusst sein muss: Opfer kann grundsätzlich jeder werden. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Nach unserer Erfahrung ist es entscheidend, das Ganze sofort öffentlich zu machen! Es ist wichtig, schnell zu reagieren! Zwar nehmen mittlerweile die Präventionsmaßnahmen zu, Lehrer sind besser informiert und können dementsprechend reagieren. Trotzdem stellen wir leider fest, dass die Anzahl der Cyber-Mobbing-Fälle ständig zunimmt.«

Uwe Leest, Vorstandsvorsitzender Bündnis gegen Cyber-Mobbing

Prolog

»Mamas Medikamentenschrank plündern, ganz viele
Pillen schlucken, einschlafen.«

Tagebucheintrag von Jessica, Beginn 7. Klasse

Hi, ich bin’s, Kerry«, beginnt die neue Nachricht in meinem Posteingang.

Komisch …, wundere ich mich. Kerry hat mir bis jetzt noch nie geschrieben. Wir kennen uns zwar, weil sie in meine Parallelklasse geht, aber normalerweise haben wir nichts miteinander zu tun. Wobei eigentlich niemand aus meiner Schule noch etwas mit mir zu tun hat, seit das mit der Mobberei wieder so schlimm geworden ist. Sofort pocht mein Herz mindestens drei Takte schneller und ich spüre Panik: Es bedeutet GARANTIERT nichts Gutes, wenn sich Kerry plötzlich übers SchülerVZ bei mir meldet. Automatisch umklammere ich die Maus etwas fester, so als könne ich mich an ihr festhalten. Dann schließe ich kurz die Augen, um die Tränen zu unterdrücken.

Ich habe es so satt! Ich will das nicht mehr! Ich kann das nicht mehr!

Zwei oder drei Mal hole ich tief Luft, dann habe ich mich wieder einigermaßen im Griff. Ich öffne die Augen, um zurück auf den Monitor zu schauen. Da steht: »Ich muss dir was sagen. Aber nur, wenn du schwörst, dass du niemandem verrätst, dass du es von mir hast! Ich möchte mit denen keinen Ärger bekommen.«

MIT DENEN!

Schon klar! Ich weiß, wen sie meint: meine alte Clique. Athina und die anderen.

Mir wird schlecht.

Schnell tippe ich: »Natürlich verrate ich dich nicht! Ich bin ja froh, wenn mir jemand sagt, was los ist.« Dann drücke ich auf »senden« und warte mit rasendem Herzen auf Kerrys Antwort. Die Ungewissheit nagt an mir. Was sie zu sagen hat, muss etwas Schlimmes sein, sonst hätte sich Kerry nicht bei mir gemeldet – ein Mädchen, das ich kaum kenne.

Jetzt füllen sich meine Augen doch mit Tränen. Da hilft auch kein Blinzeln oder tiefes Atmen mehr. Langsam kullern die Tränen über meine Wangen, sammeln sich kurz am Kinn und klatschen dann auf meine Arme, die ich schützend vor mir verschränkt halte. Meine Haut juckt. Das liegt an der Neurodermitis, die meldet sich zuverlässig, sobald ich Stress bekomme. Auch jetzt kann ich mir das Kratzen nicht verkneifen. Obwohl ich weiß, dass es nicht gut ist, kratze ich.

Mit einem Taschentuch tupfe ich mir die Tränen vom Gesicht. Dann lasse ich mich gegen die Lehne des Schreibtischstuhles fallen, die mich weich auffängt. Ich habe es so satt, dass ich brechen könnte! Diese ständige Angst, diese ständige Anspannung, dieses ständige Warten, was sie sich als Nächstes einfallen lassen, um mich fertigzumachen. Ich kann nicht mehr! Habe keine Kraft mehr. Die letzten anderthalb Jahre haben mich mürbe gemacht. SIE haben mich mürbe gemacht. Ich bin gar nicht mehr ich selbst. Ich bin gar nichts mehr. Ein richtiges Wrack.

Mein Blick hängt jetzt irgendwo zwischen Zimmerdecke und Fenster. Aber ich erkenne nichts – es ist einfach nur hell. Nichts von dem, was meine Augen sehen, kommt in meinem Gehirn an. Alles ist wie blockiert. Schockstarr.

Das Mobbing geht in eine neue Runde. Ich bin nicht mehr nur die fette, hässliche, stinkende Jessica. Das kennen ja schon alle. Deshalb würde mich Kerry nicht anschreiben. Leider lässt sie mich ein wenig zappeln. Wahrscheinlich muss sie noch mal abwägen, ob sie es mir wirklich verraten kann. Immerhin setzt sie sich damit der Gefahr aus, selbst in die Schusslinie zu geraten – so wie es bei mir angefangen hat. Ich wollte damals auch nur jemanden warnen …

Dabei kann sich Kerry ganz sicher sein, dass ich ihr das nicht antun werde. Außerdem bin ich wirklich zutiefst dankbar, wenn mich zwischendurch mal irgendjemand wie einen Menschen behandelt.

Mein Blick kehrt zum Monitor zurück. Sosehr ich Kerrys Antwort entgegenfiebere, so sehr habe ich Angst vor ihr. Doch als sie sich endlich mit einem Pling! ankündigt, kann ich sie nicht sofort lesen. Sobald der Briefumschlag auf dem Bildschirm erscheint, habe ich das Gefühl, man würde mir den Atem nehmen. Als würde der Raum um mich herum schrumpfen. Die restliche Luft weicht aus meinen Lungen. Ich verliere den Boden unter den Füßen. Alles ist weg. Und plötzlich schüttelt mich ein Heulkrampf. Stress, Anspannung und Panik überwältigen mich.

Ich habe doch jetzt schon keine Kraft mehr. Wie soll ich das, was nun kommt, noch ertragen?

Ich schluchze in die Hand, die ich mir so fest vor den Mund presse, dass ich kaum mehr Luft bekomme.

Dabei muss ich mich doch zusammenreißen! Muss mich sammeln. Es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit. Irgendwann werden sie aufhören. Bestimmt. Ich muss nur bis dahin durchhalten. DURCHHALTEN! Dann wird alles wieder gut.

Allmählich wird mein Atem ruhiger. Auch die Tränen kullern nun wieder ganz langsam und vorsichtig über mein Gesicht, fast so, als würden sie es streicheln. Jetzt endlich kann ich Kerrys Nachricht lesen.

Ich fahre mit der Maus auf den Briefumschlag. Da steht: »Sie haben im SchülerVZ eine Gruppe gegen dich gegründet. Sie heißt ›Wir hassen Jessica‹. Da schreiben sie lauter fiese Sachen über dich und haben auch ein Foto veröffentlicht.«

Ein Foto von mir? Im Internet?

»Was für ein Foto?«, schreibe ich, so schnell ich kann. Dabei ahne ich es schon. Nein, ich weiß es ganz genau. Es ist garantiert vom letzten Klassenausflug in den Wuppertaler Zoo. Den wollte ich eigentlich schwänzen.

An Schultagen habe ich wenigstens die Möglichkeit, mich in den Pausen im Klo zu verstecken. An Wandertagen habe ich gar keine Chance auf Deckung. Deshalb hatte ich schon vorher Angst, da hinzugehen. Und dann habe ich mich doch dazu durchgerungen. Ganz offenbar ein Fehler! Dabei hatte ich erst so ein gutes Gefühl … Im Zoo waren sie nämlich total nett zu mir. Ich habe mich darüber gefreut, weil ich ja immer hoffe, dass sie mich irgendwann in Ruhe lassen. In der Essenspause haben sie mich sogar gefragt, ob ich nicht mit ihnen »Wahrheit oder Pflicht« spielen möchte. Das ist bei uns gerade total angesagt. Wer dran ist, muss entweder eine unangenehme Frage ehrlich beantworten (»Wahrheit«) oder etwas machen, was die anderen bestimmen dürfen (»Pflicht«). Wir waren zu acht und Ben, mein Schwarm, war auch dabei. Er musste jemanden nach einer Zigarette fragen. Wir anderen haben uns natürlich schiefgelacht. Es war so lustig, weil Ben als überzeugter Sportler NIEMALS rauchen würde.

Nach ihm war Jasmin dran. Sie sollte nur am Kiosk neue Chips kaufen. Allerdings hat sie nur eine kleine Tüte genommen, aber ich habe mich gar nicht getraut zuzugreifen, weil ich Angst hatte, dass sie mich sonst wieder als fette Kuh beschimpfen.

Und dann kam ich an die Reihe. Ich entschied mich für »Wahrheit«. Das erschien mir sicherer, weil ich ja zur Not bei einer besonders unangenehmen Frage schwindeln könnte. Aber Athina – sozusagen die Anführerin der Clique und eigentlich sogar der ganzen Klasse – schüttelte den Kopf: »Nein, du musst auch ›Pflicht‹ nehmen«, bestimmte sie.

Und alle anderen nickten bestätigend: »Ja, musst du!«

Eigentlich kannte ich das Spiel zwar so, dass jeder frei wählen durfte, aber ich war so froh, dass sie mich überhaupt mitspielen ließen. Da wollte ich mich nicht alleine gegen die Gruppe stellen. Dann also »Pflicht«.

Athina grinste breit. Das hätte mich misstrauisch machen sollen!

Sie hatte natürlich sofort eine Idee, was ich tun könnte. Laut krakeelte sie: »Du musst Ben küssen!«

Das war ein mittelschwerer Schock für mich. Ausgerechnet Ben! Den coolen Ben, in den ich heimlich verliebt war. Er war der sportlichste, witzigste, hübscheste Junge unseres gesamten Jahrgangs. Ein richtiger Sonnyboy! Ich glaube, außer mir schwärmen auch alle anderen Mädchen für ihn – wahrscheinlich sogar von der fünften bis zur achten Klasse.

Mein Herz raste. Ausgerechnet ihn sollte ich nun küssen! Noch dazu wäre es mein erster Kuss!

Am liebsten hätte ich mich gedrückt, aber dann hätten sie mich bestimmt gleich wieder ausgeschlossen oder ausgelacht. Und es war ja schließlich nicht meine Idee, sondern nur wegen des dämlichen Spiels. Ich nahm meinen Mut zusammen, drehte meinen Kopf und drückte Ben einen schnellen Schmatzer auf die Lippen.

Klick! Bevor ich mich versah, hatte Jasmin schon ein Foto mit ihrem Handy geschossen.

»Hey!«, rief ich. »Was soll das?«

Aber Jasmin ging gar nicht darauf ein, sondern versuchte abzulenken, indem sie stichelte: »Nicht gleich rot werden!«

Und Nadine stänkerte hinterher: »Na, war’s schön? Das wolltest du doch!«

Ihre Seitenhiebe fand ich zwar blöd, weil Ben nun natürlich ahnen musste, dass ich ihn gut fand. Aber vor allem beunruhigte mich das mit dem Foto. Wozu hatte sie es gemacht?

Als Jasmin merkte, dass ich sie die ganze Zeit wütend anstarrte, hantierte sie demonstrativ an ihrem Handy herum und behauptete, dass sie das Bild wieder gelöscht hätte.

Ich hatte zwar ein blödes Gefühl, aber was hätte ich denn tun sollen? Ihr das Handy entreißen? Unmöglich! Also versuchte ich, den Gedanken zu verdrängen. Unsere Essenspause war eh vorbei und es ging weiter. Dennoch ließ mich die Sache mit dem Foto bis zum Abend nicht los. Dann rief mich Athina zu Hause an. Ich dachte erst, Mama hätte sich verhört, als sie mich ans Telefon rief.

»Ja?«, meldete ich mich unsicher.

»Hi, ich bin’s!«, rief Athina fröhlich in den Hörer.

Und ich wiederholte noch einmal: »Ja?« Ich konnte kaum glauben, dass es tatsächlich Athina war!

Dann sagte sie: »Mensch, Jessica! Ich wollte dir nur sagen, dass du dir wegen des Fotos keine Gedanken machen musst. Das haben wir doch nur geschossen, weil wir wissen, dass du in Ben verknallt bist.«

Mir hatte es endgültig die Sprache verschlagen und es entstand eine kurze Pause.

Aber dann sprach Athina weiter: »So etwas macht man eben unter Freundinnen!«

Unter Freundinnen! Klar, wir WAREN früher mal Freundinnen. Aber jetzt? Jetzt machten sie mich bei jeder Gelegenheit fertig. Und obwohl ich es nach so langer Zeit voll Hetze und Spott besser wissen sollte, war »Freundinnen« für mich immer noch so etwas wie ein Zauberwort. Irgendwie hat es alle Bedenken sofort weggewischt. Ich freute mich sogar ein bisschen. Deshalb sagte ich: »Okay! Dann danke!«

Später schlief ich mit einem wohligen Bauchkribbeln ein: Ich habe meinen Schwarm geküsst und Athina hat mich als Freundin bezeichnet.

Wie dämlich! Gerade komme ich mir wie eine Idiotin vor, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Jasmin dieses Foto nicht gelöscht hat. Nein, sie hat es ins Netz gestellt.

Meine Haut juckt wie verrückt.

In diesem Moment kommt eine neue Nachricht von Kerry. Sie bestätigt meine Befürchtung: »Auf dem Foto küsst du Ben. Und darunter steht: ›Kein Wunder, dass Ben jetzt Herpes hat.‹ Und dann schreiben sie noch, dass du eh schon mit allen Sex hattest. Auch mit Älteren. Sie zählen sogar ein paar Namen auf. ›Die ist doch leicht zu haben‹, heißt es und so etwas. Aber mehr möchte ich jetzt wirklich nicht sagen.«

Es ist, als würde mein Herz aussetzen. Ich soll mit allen Sex gehabt haben? Ausgerechnet ich? Was für ein Unsinn! Was für eine gemeine Lüge! Die wissen ganz genau, dass ich nicht so bin! Ich habe ja noch nicht einmal jemanden geküsst. Zumindest nicht richtig …

Hilflos wie ein dummes Schaf sitze ich vor unserem Familienrechner, während Athina und die anderen im Netz fiese Lügen über mich verbreiten. Und jeder kann mitmachen! In ihrer Scheiß-»Wir hassen Jessica«-Gruppe.

Inzwischen jagen die Gedanken durch meinen Kopf wie Silberkugeln beim Flippern. Es rappelt und scheppert in meinem Gehirn, wenn einer von ihnen greifbar wird.

Irgendwo tief drin im Netz, ganz weit hinter meinem Monitor, schreiben sie über mich. Wahrscheinlich genau in diesem Moment. Und nicht nur Athina! Es ist eine ganze Gruppe. Eine GRUPPE! WAS genau schreiben sie da? Und vor allem: WER? Nur Athina und ihre Clique oder auch andere?

Ich möchte es selbst lesen. Ich möchte wenigstens wissen, was sie verbreiten. Die Vorstellung macht mich wahnsinnig, dass da im Verborgenen etwas wächst und wächst, das niemand eindämmen kann. Es ist wie ein Tumor im Netz. Ich habe einen Tumor im Netz! Eine bösartige Geschwulst, die man nicht mehr einfach herausschneiden kann.

Mit zittrigen Fingern gebe ich auf SchülerVZ meinen Namen als Suchbegriff ein und finde die Gruppe sofort: »Wir hassen Jessica.«

Tatsächlich. Da steht es.

Schlagartig fühlt es sich an, als hätte jemand meinem Leben den Ton abgedreht. Ich höre nichts mehr und ich fühle mich ganz alleine auf der Welt. Dazu reicht dieser eine Satz und das Gefühl, von allen gehasst zu werden. Fassungslos starre ich auf den Gruppennamen, der so nett in Rosa und Pink auf der Seite leuchtet. Überhaupt sieht hier alles irgendwie harmlos, plüschig und freundlich aus. Kaum zu glauben, dass hier so grausame Dinge passieren.

»Wir hassen Jessica.« In Babyrosa.

Das ist wie ein niedlicher Stofftierkuschelhase mit einem blutigen Hackebeil. Total fehl am Platz. Irgendwie surreal.

SchülerVZ – was soll das überhaupt? Ein soziales (!) Netzwerk für Schüler. SOZIAL! Von wegen!

Mir ist speiübel. Vom Starren auf den Monitor werden meine Augen trocken. Es tut schon weh, nur hinzugucken. Meine Haut juckt und blutet. Ich muss aufs Klo, aber ich kann den Blick nicht abwenden.

Eine Gruppe, denke ich immer wieder. Sind es wirklich schon so viele, dass es sich lohnt, eine Gruppe zu eröffnen? Ich bekomme keine Luft mehr. »Wir hassen Jessica« – dieser Satz raubt mir den Atem, raubt mir das letzte bisschen Kraft.

Alle hassen mich. WARUM? Bin ich so schlimm? Ich habe doch niemandem etwas getan. Ich habe niemandem den Freund ausgespannt, habe sie nie verpetzt, egal was sie getan haben. Wir waren doch sogar mal Freundinnen! Deshalb habe ich immer gehofft, dass die Mobberei von alleine aufhört.

Aber das passiert nicht.

Meine Hand zittert, als ich mit der Maus auf den Gruppennamen fahre und versuche, ihn anzuklicken, versuche, in ihre Welt einzutauchen. Aber es geht nicht. Natürlich nicht. Ich bin ja nicht Teil ihrer Gruppe. Nicht Teil ihrer Welt.

Ich frage mich, wen sie alles eingeladen haben. Auf jeden Fall sind meine ehemaligen Freundinnen (!) Athina, Jasmin und Nadine in der Gruppe. Ganz bestimmt auch Paul und Mehmet. Aber wer sonst noch? Ben? Die ganze Klasse? Dazu noch die Parallelklasse? Alle siebten Klassen? Die ganze Schule? Kerry ist nicht mal besonders beliebt, eher eine Außenseiterin, und selbst DIE ist in dieser Gruppe.

Wieder starre ich auf den Satz.

»Wir hassen Jessica.«

Mich!

Ich fühle mich wie erschlagen. Und ein bisschen wünschte ich, ich wäre es auch. Wenn jetzt einfach die Decke runterkäme, einfach alles beenden würde … Ich fühle mich, als hätte jemand meine Energieversorgung gekappt. Da ist nichts Festes mehr in mir, nichts Stabiles, nichts, was mich aufrecht hält. Als wäre ich ein Häufchen Brei. Oder Matsch.

Seit anderthalb Jahren geht das nun so. Mal ist es schlimmer, dann wieder leichter. Manchmal lassen sie mich sogar ein paar Tage lang ganz in Ruhe, aber dann geht es wieder los. Meine Haut sieht so schlimm aus wie noch nie. Kein Wunder.

Ich bin müde, total k.o.

Und trotzdem soll ich jeden Tag zur Schule gehen und so tun, als wäre nichts. Mich in den Unterricht setzen, mich auf Mathe und Deutsch konzentrieren und in den Pausen aufpassen, dass ich keinem von denen in die Arme laufe. Die machen sich inzwischen ja schon einen Spaß daraus, mich quer über den Schulhof zu hetzen.

Und jetzt geht es nach der Schule im Internet weiter – Cyber-Mobbing. Das ist das Schlimmste, denn es passiert im Verborgenen. Ab jetzt kann ich nicht mehr sagen, wer sich beteiligt, was genau passiert und was sie planen. Mein Feind wird plötzlich unsichtbar und gleichzeitig noch mächtiger. Er ist jetzt überall. Es ist, als würde ich gegen einen bösen Geist kämpfen. Ich konnte mich vorher schon nicht wehren, jetzt zermalmt es mich.

Plötzlich habe ich das Gefühl, als würden sich Beschimpfungen und Demütigungen in der Luft um mich herum verdichten. Ich werde immer kleiner … Hastig schalte ich den Computer aus, renne in mein Zimmer und stürze bäuchlings auf mein Bett. Ich weine, schlage ins Kissen, ich schreie, so laut ich kann. Bis meine Stimme irgendwann versagt.

Ich kann nicht mehr.

Kapitel 1: 5. Klasse, erstes Halbjahr

»Ich bin in eine neue Klasse gekommen.
Da habe ich ein paar neue Freundinnen, die
sind aber irgendwie komisch. Sie heißen
Athina, Nadine und Jasmin.«

Tagebucheintrag von Jessica, Beginn 5. Klasse

»Einmal waren wir im Freibad, als Jessica ungefähr zehn Jahre alt war. Da haben ein paar größere Jungs einen kleineren geärgert, ihn geschubst und ausgelacht.

Jessica ist aufgesprungen und sofort dazwischengegangen. Sie hat die Jungs wütend angebrüllt, dass sie damit aufhören sollen, den Kleinen zu ärgern: ›Ihr könnt sonst gerne mal versuchen, mich so herumzuschubsen!‹, hat sie getobt. Da sind die großen Jungs kleinlaut abgezogen. Und ich war so stolz auf meine Jessica!«

Birgit Gehres, Jessicas Mutter

Die Wuppertaler Gesamtschule liegt nur fünf Gehminuten von meinem Zuhause entfernt. Meine vier Grundschulfreundinnen haben sich dort bereits angemeldet, nur ich zögere noch. Das liegt vor allem daran, dass Anna, meine beste Freundin seit dem Kindergarten, unbedingt auf die etwas weiter entfernte Realschule gehen will, die auch meine ältere Schwester Denise besucht. Ich bin unsicher.

Eine Weile überlege ich mit meinen Eltern hin und her, was ich nun machen soll. Schließlich entscheiden wir uns für die Gesamtschule – einfach weil es praktisch ist und ich zur Schule laufen kann.

Ich freue mich riesig auf die neue Schule. Auch wenn es natürlich ärgerlich ist, den Status der Schulältesten zu verlieren, den wir nach der vierten Klasse auf der Grundschule hatten. Bis jetzt waren die Erstklässler die Babys – nach den Sommerferien sind wir es wieder.

Aber das hat meine neue Gesamtschule sehr schlau gelöst: Alle Fünftklässler sind gemeinsam in einem Gebäudetrakt untergebracht. Wir sind also unter uns und müssen uns nur in den Pausen klein fühlen.

Insgesamt gibt es fünf fünfte Klassen. Dementsprechend ist unser Trakt riesig. Wir sind schwer beeindruckt, als wir auf dem langen Gang unsere Klasse suchen – es ist das dritte Zimmer. Meine vier Grundschulfreundinnen und ich betreten gemeinsam den Raum der 5c.

Am ersten Schultag sind wir ziemlich aufgeregt und wollen natürlich unbedingt zusammen an einem Tisch sitzen, aber leider vermiest unsere neue Klassenlehrerin diesen Plan und verteilt uns kreuz und quer über den Raum. Mich setzt sie direkt neben ein Mädchen, das groß, schön und blond ist. So muss Barbie mit zehn Jahren ausgesehen haben!, denke ich total fasziniert. Denn wenn wir mal bei dem Puppenvergleich bleiben wollen, dann wirke ich neben ihr vermutlich wie ein Monchichi: Zwar habe ich keinen Mecki-Haarschnitt, sondern schöne lange dunkle Haare, aber ansonsten bin ich eher niedlich, kuschelig, freundlich und tendenziell eher rund als lang. Nicht dick, das nicht. Aber eben auch keine Barbie.

Als meine neue Sitznachbarin ihr Federmäppchen herausholt, sehe ich nur noch Pferde. Auf dem Radiergummi, dem Bleistift, dem Mäppchen.

»Magst du Pferde?«, frage ich sie neugierig.

Nadine nickt und erzählt, dass sie – genau wie ich – eine begeisterte Reiterin ist. Damit haben wir gleich ein Gesprächsthema. Ich reite schon, solange ich denken kann, und gehe drei Mal pro Woche in einen nahe gelegenen Reitverein. Nadine erzählt, dass sie sogar ein eigenes Pferd hat und es mir gern zeigen würde. Schon nach der ersten Stunde bin ich richtig froh, dass meine Lehrerin mich neben sie gesetzt hat. Nadine ist wirklich supernett. Was für ein Glück!

Das zweite spannende Mädchen in meiner neuen Klasse heißt Athina. Sie sitzt zwar nicht mit uns am Tisch, fällt mir aber trotzdem sofort auf, weil sie laut und aufgeweckt und kein bisschen schüchtern ist – und das, obwohl sie niemanden in der Klasse kennt! Sie ist genauso groß wie Nadine, hat aber dunkle Locken und leuchtend grüne Augen. Ihre Nase ist etwas groß und spitz, aber das macht ihr Gesicht eigentlich nur noch interessanter. Sie hat sogar schon richtig Busen, wo sich bei mir nur eine leichte Wölbung abzeichnet. Und das Erstaunlichste: Sie trägt ihn stolz zur Schau, während ich meinen am liebsten verstecken würde.