Sophienlust ab 300 – 354 – Das geheimnisvolle Waldhaus

Sophienlust ab 300
– 354–

Das geheimnisvolle Waldhaus

Wie die Kinder aus Sophienlust der kleinen Katja beistanden ...

Elisabeth Swoboda

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-913-9

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Denise von Schoenecker hatte mit ihrem jüngsten Sohn Henrik ein befreundetes Ehepaar in Riemstein besucht. Das Töchterchen dieses Ehepaares hatte vor etwa einem Jahr eine Zeitlang in Sophienlust gelebt. Seit damals war Henrik eine Art Idol für das kleine Mädchen, was dem Jungen naturgemäß schmeichelte.

Während der Heimfahrt nach Wildmoos befand er sich daher in bester Stimmung und sprach vom Rücksitz aus unaufhörlich auf seine Mutter ein. Er erzählte, was er in den vergangenen zwei Stunden alles mit seiner kleinen Spielgefährtin unternommen hatte, lobte ihre Geschicklichkeit beim Ballspiel, erwähnte, dass sie einmal hingefallen war und hob hervor, dass sie über ihr arg verschmutztes Kleidchen kein bisschen gejammert hatte.

Plötzlich unterbrach er jedoch sein Loblied auf seine kleine Freundin und rief: »Mutti! Hast du gesehen? Das Waldhaus ist frisch verputzt. Dunkelgelb. Und die Fensterläden sind neu gestrichen. Braun. Früher waren sie weiß, aber die Farbe war total abgeblättert. Damals hat das Waldhaus unheimlich ausgesehen. Jetzt sieht es aus wie neu.«

»Ich habe nichts bemerkt«, sagte Denise. »Erstens musste ich auf die Fahrbahn achten und zweitens auf dein Geschwä – hm – Geplauder«, verbesserte sie sich rasch.

Henrik war nicht beleidigt, er schwätzte, beziehungsweise plauderte munter weiter. »Ob neue Bewohner in das Waldhaus eingezogen sind?«, rätselte er. »Ich hatte immer ein komisches Gefühl, wenn ich mit dem Fahrrad dort vorübergefahren bin. Und als ich noch ein kleines Kind war, glaubte ich, dass in dem Waldhaus die böse Hexe wohnte. So dumm und kindisch bin ich jetzt natürlich nicht mehr«, versicherte er.

»So? Bist du dir da sicher? Wer weiß, ob diese alte verfallene Villa nicht doch der Stützpunkt unheimlicher Mächte ist«, neckte Denise ihren Jüngsten.

»Ach, Mutti, halt mich nicht zum Narren«, brummte Henrik. »Ich glaube schon lange nicht mehr an böse Hexen und Geister. Außerdem ist die Villa nicht mehr verfallen. Sie ist tipptopp hergerichtet. Nur der Garten, der ist noch immer verwildert. Wenigstens hat er so ausgesehen. Du hättest langsamer fahren sollen, Mutti, dann hätte ich mehr gesehen. Aber du rast so schnell durch die Gegend …«

»Ich rase bestimmt nicht«, unterbrach Denise ihren Sohn, leicht entrüstet über seinen ungerechten Vorwurf. »Ich fahre sehr vorsichtig. Meist regst du dich über mein sogenanntes ›Schneckentempo‹ sogar auf.«

»Ich habe bloß einen Witz gemacht«, verteidigte sich der Junge. Dann wies er seine Mutter darauf hin, dass sie sich ganz in der Nähe von Bachenau befanden und eigentlich einen kleinen Umweg zum Haus des Tierarztehepaares von Lehn machen konnten. Denise war sofort einverstanden und bog bei der nächsten Kreuzung links ab.

Andrea von Lehn begrüßte ihre Stiefmutter und ihren Halbbruder in ihrer frischen impulsiven Art. »Wie schön, dass ihr euch wieder einmal bei mir blicken lasst«, rief sie. »Schade, dass Hans-Joachim nicht da ist. Er wurde nach Roggendorf zu einer erkrankten Kuh gerufen. Danach möchte er sich in Maibach nach preisgünstigem Baumaterial umsehen.«

»Und wo steckt Peterle?«, erkundigte sich Henrik nach seinem kleinen Neffen.

»Er schläft«, erwiderte die junge Mutter. Sie führte Denise und Henrik in den Garten zu einer gemütlichen, mit bunten Polstern versehenen Sitzgarnitur. Henrik nahm die eisgekühlte Limonade, die ihm Andrea anbot, begeistert an. Denise lehnte dankend ab.

»Habt ihr vor, anzubauen?«, erkundigte sich Denise und blickte ihre Stieftochter fragend an.

»Anbauen? Wie kommst du darauf? Ach so – weil ich vorhin erwähnt habe, dass Hans-Joachim sich nach Baumaterial umschaut. Nein, wir wollen lediglich einige Ausbesserungsarbeiten in Angriff nehmen. Der letzte Sturm hat einige Dachziegel des Tierheimes beschädigt, außerdem bröckelt an manchen Stellen der Verputz ab. Im Moment macht das Tierheim von außen einen schrecklich schlampigen Eindruck. Ich liege dem armen Hans-Joachim seit Tagen damit in den Ohren. Ich will nicht, dass unsere vierbeinigen Schützlinge in einer verwahrlosten Bruchbude hausen müssen.«

Henrik, der gerade einen langen Schluck Limonade aufgesogen hatte, nahm den Strohhalm aus dem Mund. Das Tierheim lag ihm ganz besonders am Herzen, trotzdem weckten die Worte »verwahrloste Bruchbude« in ihm die Erinnerung an ein anderes Bauwerk. »Andrea, bist du vielleicht in letzter Zeit einmal am Waldhaus vorbeigekommen?«, erkundigte er sich.

»Nein. Die Straße, die dort vorbeiführt, benutze ich selten«, erwiderte Andrea. »Warum fragst du?«

»Jemand hat das Waldhaus renoviert«, erzählte Henrik.

Andrea runzelte nachdenklich ihre Stirn. »Da fällt mir ein – ja – ich habe gehört, wie die Leute darüber gesprochen haben. Die frühere Besitzerin, Frau Lackner, ist vor kurzem gestorben. Nein, nicht vor kurzem, es dürfte schon einige Monate her sein. Sie hat ihren gesamten Besitz ihrer Tochter vermacht, und diese ist angeblich sofort nach Testamentseröffnung in die Villa eingezogen. Ich kenne die Tochter nicht, sie ist wohl um einiges älter als ich, sonst wäre ich bestimmt schon in der Schule mit ihr zusammengetroffen. Sie soll ein Kind haben, aber keinen Mann. Die Leute reden ziemlich abfällig über sie, angeblich hat sie ihrer Mutter nichts als Kummer bereitet. Obwohl die Mutter …« Andrea hielt inne und zuckte mit den Schultern.

»Was war mit der Mutter?«, hakte Henrik prompt nach.

»Ach, nichts besonderes«, winkte die junge Frau ab, was Henriks Neugier erst recht entfachte. Er furchte nun seinerseits die Stirn und dachte nach.

Denise wollte gerade das Thema wechseln, doch ihr Sohn kam ihr zuvor.

»Es ist mir wieder eingefallen«, rief er plötzlich aus. »Vatis Arbeiter, sie haben einmal über die alte Frau in dem Waldhaus gesprochen. Einer hat behauptet, sie wäre geistesgestört, ein anderer hat gesagt, dass sie bloß wunderlich ist, und dass sie ihrer Schwester dankbar sein müsste, weil die für sie den Haushalt führt und alles macht.«

»Du solltest das nicht ernst nehmen, was die Leute so miteinander reden«, mahnte Denise ihren Sohn.

»Warum nicht?«, fragte Henrik. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Für gewöhnlich interessiert es mich auch nicht, aber bei der alten Waldhausfrau war das etwas anderes. Als ich noch klein war, habe ich manchmal in der Nacht von dem verfallenen Haus geträumt. Schlimme Sachen. In meinen Träumen befand ich mich stets im Erdgeschoss, aber etwas Unbekanntes zwang mich die Treppe zum oberen Stockwerk hochzusteigen. Dabei wusste ich genau – oben lauerten Gespenster und böse Geister auf mich, aber ich konnte nicht anders, ich musste hinauf.« Er schüttelte sich.

»Von diesen Albträumen höre ich zum ersten Mal. Weshalb hast du nie davon erzählt, Henrik?«, fragte Denise verwundert und ein wenig vorwurfsvoll.

Der Junge rümpfte die Nase. »Sobald ich aufwachte, war der Spuk ja verschwunden, und ich wusste, dass ich nur geträumt hatte. In meinen Träumen war das Innere des Hauses seltsam verschwommen, ganz schmutzig und voller Spinnweben. An den Fenstern hingen keine Vorhänge, sondern ausgefranste Lumpen. Spinnen und fette schwarze Käfer krochen überall herum.«

»Ich bitte dich, hör auf, Henrik«, bat Andrea ihren Bruder. »Das klingt ja, als ob du uns ein Spukschloss aus einem Gruselfilm schildern wolltest. – Obwohl, ich gebe zu, die alte Villa hat auch meine kindliche Phantasie angeregt. Ich träumte zwar niemals davon, aber ich stellte mir oft vor, dass eine verzauberte Prinzessin darin wohnte und auf ihren Prinzen wartete. Die Inneneinrichtung malte ich mir höchst romantisch aus. Keine ausgefransten Lumpen, Spinnen und Käfer, sondern schimmernde Marmorböden, geschwungene Treppen mit zierlichen Geländern, funkelnde Kristalllüster und mit seidigen Stoffen bezogene Möbelstücke. In meinen Vorstellungen nahm die alte Villa die Ausmaße eines herrschaftlichen Schlosses an.«

»Merkwürdig, worauf Kinder kommen«, sagte Denise. »Für mich war dieses Haus nie etwas anderes als ein vernachlässigter Besitz. Ich habe nie darüber nachgedacht. Höchstens bedauerte ich im Vorüberfahren flüchtig die Bewohner, weil sie es so weit zu den nächsten Geschäften und zu den übrigen Einrichtungen des öffentlichen Lebens haben.«

Andrea nickte, doch ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. »Ich bin zwar schon erwachsen«, sagte sie langsam, »trotzdem würde ich gerne einmal die alte Villa von innen sehen.«

»Ich auch«, pflichtete Henrik seiner Schwester eifrig bei. »Aber natürlich können wir nicht einfach hinfahren, läuten und bitten, dass sie uns hineinlassen. – Puh, nein, das können wir auf gar keinen Fall. Wenn die Tochter, die jetzt drinnen wohnt, auch geistesgestört ist, so wie ihre Mutter …«

»Henrik! Übertreib nicht«, wies Denise den Jungen zurecht. »Die alte Frau Lackner war keinesfalls geistesgestört. Vielleicht ein bisschen wunderlich, aber bestimmt nicht irre.«

»Bist du ihr denn jemals begegnet, Mutti?«, erkundigte sich Henrik.

»Ich – nun, ich kann mich nicht entsinnen«, musste die Gutsbesitzerin eingestehen.

»Woher willst du dann so genau wissen, dass sie nicht geistesgestört war?«, bohrte Henrik weiter.

»Dein Vater lebt seit seiner Geburt in Wildmoos. Er weiß über sämtliche alteingesessenen Familien Bescheid. Er hätte es mir sicher erzählt, wenn es irgendwo in der Umgebung eine Wahnsinnige geben würde.«

»Mutti hat recht, Henrik«, ließ Andrea sich vernehmen. »Dieses ganze Getuschel um die alte Frau Lackner war nichts anderes als ein bösartiges Gerücht. Ich kann auch nicht genau sagen, ob ich ihr jemals begegnet bin. Das einzige, was ich weiß, ist, dass die ein sehr zurückgezogenes Leben geführt hat. Sie war menschenscheu. Mag sein, dass das mit dem vaterlosen Kind ihrer Tochter zusammenhing. Leider blüht auf dem Land der Klatsch, insbesondere über Leute, die sich absondern und in Ruhe gelassen werden wollen.«

Henrik widmete sich wieder seiner Limonade, die Erwachsenen unterhielten sich über die Ausbesserungsarbeiten, die Andrea an dem Tierheim vornehmen lassen wollte.

Erst als Denise und Henrik sich verabschiedeten, kam der Junge neuerlich auf das Waldhaus zu sprechen. »Wir werden wohl nie erfahren, wie es innen aussieht«, meinte er. »Ob es unheimlich und staubig ist, wie ich es geträumt habe, oder prächtig und glitzernd, wie Andrea es sich vorgestellt hat.«

*

Wenige Tage später war Andrea bei ihrem Maibacher Zahnarzt für eine Routineuntersuchung vorgemerkt. Da das Hausmädchen Marianne mit dem Putzen der Fenster, dem Abnehmen, Waschen und Wiederaufhängen der Gardinen genug zu tun hatte, wollte Andrea ihr nicht auch noch Peterle aufhalsen. Sie nahm daher den Kleinen nach Maibach mit.

Auf der Hinfahrt war Peter mit seiner Mutter höchst unzufrieden. Ganz im Gegensatz zu sonst ging sie nicht auf sein Geplapper ein, sie summte auch nicht fröhlich vor sich hin, sondern verharrte in einem düsteren Schweigen.

Nein, Peter verstand wirklich nicht, was mit seiner Mami heute los war. Er gab sein Geplapper auf und schwieg nun gleichfalls.

Sein Schweigen hielt auch noch in der Praxis des Zahnarztes an und er war froh, als sie wieder beim Parkplatz waren und seine Mami den Wagen aufschloss.

Noch glücklicher allerdings war Andrea selbst. »So, das hätten wir hinter uns«, teilte sie ihrem Sohn mit strahlendem Lächeln mit. »Jetzt habe ich wieder ein halbes Jahr Ruhe.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr und fügte gutgelaunt hinzu: »Wir haben noch eine Menge Zeit. Fahren wir ein bisschen spazieren und sehen, was es Neues in der Gegend gibt.«

Andrea war eingefallen, was Henrik ihr neulich über das Waldhaus erzählt hatte. Das alte Gebäude hatte schon immer eine faszinierende Wirkung auf sie gehabt, deshalb beschoss sie, hinzufahren und es in Augenschein zu nehmen.

Die Landstraße war zu dieser Tageszeit wenig befahren. Sie waren nicht mehr weit vom Waldhaus entfernt, als Andrea ein Kind, das hinkend sein Fahrrad am Straßenrand entlangschob, überholte.

»Mädl ahm! Mädi wehweh!«, piepste Peter.

»Ja, das Mädl ist arm«, bestätigte Andrea. »Wir werden fragen, ob wir ihm helfen können. Sei schön brav, ich komme gleich zurück.« Andrea hatte den Wagen längst angehalten. Nun stieg sie aus, ging ein Stück zurück, auf das humpelnde Kind zu. Es mochte etwa zehn, elf Jahre alt sein. Das hübsche Gesicht war tränenverschmiert, der rosa-weiß gemusterte Dirndlrock war zerrissen, die Knie waren aufgeschürft und bluteten.

»Deine Knie sehen aber böse aus«, entfuhr es Andrea. »Ich werde dich schleunigst zu Frau Dr. Frey bringen, damit sie dich verarztet.« Diese Fürsorge entsprang ganz Andreas impulsiver Art, deretwegen sie des öfteren von ihrem Mann Hans-Joachim geneckt wurde.

Das fremde Kind schüttelte wortlos den Kopf, doch Andrea ließ nicht locker. »Du musst sofort zu einem Arzt«, beharrte sie. »Keine Angst, Frau Dr. Frey wird sehr behutsam mit deinen Verletzungen umgehen. Steige in meinen Wagen. Mit dem Auto ist es nicht weit zu Frau Dr. Frey.«

»A – aber – mein Fahrrad«, stammelte das Mädchen.

»Das nehmen wir selbstverständlich mit«, erklärte Andrea munter. »Zum Glück hat mein Wagen einen großen Kofferraum. Ich werde dein Rad dort verfrachten.« Sie setzte ihre Worte augenblicklich in die Tat um. Obgleich es ein Kinderrad war und der Kofferraum wirklich ziemlich geräumig war, passte es nicht hinein. »Spielt keine Rolle«, meinte Andrea fröhlich. »Wir lassen den Kofferraumdeckel eben einen Spaltbreit offen und befestigen ihn mit einer Schnur. Die habe ich dabei. Du siehst, ich bin für jeden Notfall gerüstet. – So, das hätten wir geschafft. Steig vorsichtig ein, halte deine Knie möglichst steif.«

Andrea platzierte das Mädchen auf den Rücksitz neben Peterle.

»Mädl wehweh. Blut. Viel Blut«, krähte der Kleine.

Das Mädchen schluchzte auf und wischte sich mit dem Handrücken über die ohnehin schon verweinten Augen.

»Lass das Mädi zufrieden«, befahl Andrea ihrem Sohn, während sie den Wagen wendete.

»Mädi viel Blut. Fu – Fuhi kapuut«, krähte Peterle unverdrossen weiter.

»Nein, die Fussi von dem Mädi sind nicht kaputt«, widersprach die Mutter. »Das Mädi hat sich die Knie bloß ein bisschen aufgeschürft. Das wird schnell wieder verheilen.« Andrea wusste selbst, dass »ein bisschen aufgeschürft« ein zu milder Ausdruck für die stark blutenden Knie des Kindes waren, aber sie wollte es nicht noch mehr aufregen.

»Fuhi kapuut«, wiederholte Peter eindringlich. »Ganz kapuut. Viel Blut.«

»Mädi wehweh. Viel wehweh«, piepste der Kleine.

Andrea beschloss einen kurzen Abstecher nach Hause zu machen und ihren Sohn der Obhut Mariannes anzuvertrauen.

Sie lieferte also Peter zu Hause ab, beantwortete Mariannes erstaunte Fragen nur kurz und fuhr dann sogleich weiter zu Dr. Anja Frey.

Das fremde Mädchen hatte die ganze Fahrt über kein Wort gesprochen, sondern nur leise in das Taschentuch hineingeschluchzt, das Andrea ihr in die Hand gedrückt hatte.

Die Kinderärztin Dr. Anja Frey war eine vertrauenerweckende, junge Frau. Mit ihren sanften braunen Augen lächelte sie dem verstörten Kind beruhigend zu und sagte beschwichtigend: »Das werden wir sofort in Ordnung bringen. Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird ein wenig weh tun, aber ich bin überzeugt, dass du ein besonders tapferes Mädchen bist.«

Das Kind wurde auf eine Liege gebettet, dann begann die Ärztin behutsam die Wunde zu säubern. Dabei sprach sie freundlich auf das Kind ein, erzählte von ähnlichen Verletzungen, die sie schon behandelt hatte und die alle tadellos wieder verheilt waren. Allmählich legte sich die Aufregung des Kindes, sein blasses Gesicht nahm wieder eine gesündere Farbe an, es reagierte auf Fragen, indem es nickte, oder den Kopf schüttelte.

»Du bist also mit deinem Fahrrad gestürzt, und Frau von Lehn hat dich auf der Landstraße aufgelesen«, fasste Anja kurz zusammen, was sie bisher über das Mädchen wusste.

»Wer?«, murmelte das Kind.

»Ich heiße Andrea von Lehn«, stellte Andrea sich vor. »Dabei fällt mir ein, dass ich deinen Namen noch nicht kenne.«

»Katja. Ich heiße Katja Lackner. Ich wohne …« Das Mädchen hielt inne und beobachtete die Ärztin, die beide Knie gründlich desinfiziert hatte und nun einen Mullverband anlegte.