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Eva Ruth Wemme

Meine 7000 Nachbarn

Verlagssignet

Bebe, der Maler

Ich frage auch Bebe den Maler, ob er für das Buch etwas zeichnen könnte. Ich kenne seine Ölgemälde. Er hat sich das Malen selbst beigebracht, und jetzt ist es sein Beruf. Manchmal sind seine Ölbilder unheimlich, weil auf ihnen zwar die Sonne zu sehen ist, die Schatten zeigen aber, dass es noch ein anderes Licht geben muss, von dem der Betrachter nichts weiß.

Bebe sagte zu, vor allem auch, weil er Geld brauchte, denn sein Schwiegersohn war in Italien verunglückt und seine Tochter wusste mit ihren drei Kindern nicht ein noch aus.

Ich bat ihn, »etwas aus dem Leben der Roma« zu zeichnen. Er brachte Bilder, die nicht das Leben in Berlin zeigten. Ich fragte ihn, warum. Er sagte: »Das hat nichts mit Romaleben zu tun.«

Holzsammeln

»Ein Holzsammler. Davon leben viele von uns.«

Kesselschmied

»Das ist eine unserer Traditionen. Aber Kesselschmiede gibt es noch immer«, sagt Bebe. »Ancas Vater ist einer.«

Tanzbaer

»Tanzbären gibt es keine mehr, früher lebten manche von uns davon – sie spielten, der Bär tanzte.«

AlkoholundArmut

»Ein Mann, der säuft und seine Familie im Stich lässt.«

armesKindisst

»Ein armes Kind, das etwas isst.«

Armut1

»Eine arme Frau mit Kind vor einem zerfallenden Haus.«

DorfvonFerne

»Ein Dorf.«

Armut2

»Eine arme Frau mit vielen Kindern. Wie soll sie überleben.«

Planwagen

»Früher fuhren die Großeltern oder sogar Urgroßeltern mit dem Planwagen herum, sie sammelten für den Winter.«

Raucherleben

»Raucherleben.«

Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherei.de
© Verbrecher Verlag 2015

Lektorat: Kristina Wengorz
E-Book-Herstellung und Satz: Christian Walter
ISBN Printausgabe: 978-3-95732-080-3
ISBN Epub: 9783957321114
ISBN Mobipocket: 9783957321121

Der Verlag dankt Carolin Trauter
und Sofie Lichtenstein
.

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Über die Autorin

Wie der Alltag
aufhörte

All die Geschichten ergeben noch immer kein Bild. Seit drei Jahren erzählen wir sie uns, um die lange und leere Zeit in Wartezimmern, Warteschlangen, vor Büros und Praxen, während langer Busfahrten zu vertreiben; um den Tag hell werden zu lassen oder um uns gegenseitig zu sagen, wer wir sind.

Es heißt, es gebe einen Unterschied zwischen uns. Was ihn ausmacht, dafür sind in den letzten Jahrhunderten in Europa und in Deutschland viele Definitionen gefunden worden. Bis heute haben diese Definitionen gerechtfertigt, wie der eine Teil von uns, die Gadje (Nicht-Roma), mit den anderen, den Roma, umgeht – die Roma werden romantisiert, verniedlicht, schreibend eingeordnet, man gruselt oder fürchtet sich vor ihnen, verachtet sie, empfindet sie als zutiefst Fremde, man greift sie an, verjagt sie, tötet sie. Mehr als 500.000 Sinti und Roma wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Auch heute werden Roma aus Ländern wie Deutschland abgeschoben, selbst wenn sie ihr ganzes Leben hier verbracht haben und keinen Bezug zu ihrem Herkunftsland herstellen können. Die Geschichte dieses Unterschieds ist zu großen Teilen eine Geschichte der gesellschaftlichen Vor- und Fehlurteile, der strukturellen, institutionellen Gewalt und der daraus resultierenden Verstrickungen.

Die Roma, die ich in Berlin begleite, wissen noch genauso wenig wie ich, wie wir den Unterschied zwischen uns beschreiben könnten. Vor allem ist er für uns ein Anlass für Höflichkeit, Respekt, Neugier und Humor. Oft vergessen wir ihn auch. Manchmal bringt er uns zur Verzweiflung, wenn wir ihn in Möglichkeiten und Unmöglichkeiten messen. Unsere Gleichheit hat keine nennenswerte Historie, aber sie ist für diesen Moment unsere persönliche gemeinsame Geschichte.

Die Roma wissen, dass man eine falsche Vorstellung von ihnen hat. Eher hat man eine falsche Vorstellung als keine. Sie erzählen also auch gegen die falschen Bilder und Klischees an, während ich mit ihnen warte, bis ihre Namen aufgerufen werden und ich ihnen in die Behandlungsräume, Gerichtssäle, Büros folge.

Ich habe trotz dieser vielen Geschichten kein Gesamtbild von den auf vielerlei Weise zerschnittenen Leben der Roma und Romnija, mit denen ich die Stadt teile.

Eine Journalistin sagte vor zwei Jahren sehr aufgebracht zu mir: »Sie sind unsichtbar, niemand sieht hin, wenn eine Romni aus den Mülltonnen Essensreste sammelt.« Der Neuköllner Bürgermeister hingegen sagte in einer Fernsehsendung: »Ich sehe sie überall aggressiv betteln.«

Wie die Roma in der Öffentlichkeit gesehen und zugleich übersehen werden, daran wird sich so schnell nichts ändern lassen. Ich möchte in diesem Buch davon erzählen, wie ich viele einzelne, verschiedene Roma kennenlernte, wie ich und meine Denkweise dabei in Bewegung gerieten, und dass es in vielerlei Hinsicht hilfreich ist, die eigene Gestimmtheit (der Empörung über die Roma, der Angst vor ihnen …) bei Aussagen über sie zu untersuchen, und wenn es darauf ankommt, auf ein Gesamtbild zu verzichten.

In diesem Buch wird die Rede von rumänischen Roma sein (den bulgarischen Roma geht es allerdings kaum anders), denn ich bin Übersetzerin für rumänische Literatur. Manchmal dolmetsche ich für Schriftsteller bei Lesungen oder Interviews. 2011 denke ich: Ich will mich ein bisschen von meinem Schreibtisch und aus der Zone der stillen Künste wegbewegen. Ich will mich den Roma, die Berlin laut Zeitung »überschwemmen«, mithilfe meines erlernten Rumänisch zuwenden.

Als Dolmetscherin höre ich konzentriert auf Stimmen und mache sie den Ohren anderer Leute verständlich. Je mehr die Menschen, denen die Stimmen gehören, dabei im Blickfeld stehen, weil sie vielleicht berühmt sind oder einen glanzvollen Auftritt haben, desto unsichtbarer werde ich als Dolmetscherin. Warum nicht, manchmal ist das ein interessantes Gefühl.

Eines wusste ich sehr lange nicht: Mit den Roma ist es anders. Wer für Unsichtbare dolmetscht (ja, auch ich verwende diese Wendung, und meine damit nicht die Unsichtbarkeit einer ethnischen Gruppe, sondern die des einzelnen Mannes oder der einzelnen Frau, die als Mensch und Person übersehen wird), der wird beim Dolmetschen umso sichtbarer. Plötzlich treffen dich Blicke – von Beamten, Ärzten, Staatsdienern, Jugendamtsmitarbeitern, Lehrern, von Leuten wie dir und mir. Die Blicke sprechen Bände. Die Stimmen der Unsichtbaren lassen sich manchmal nur mit Kunstgriffen deutschen Ohren verständlich machen. Ich merke, man verlangt von mir zu handeln, man spricht mit mir über fremde Angelegenheiten, als wären es meine Anliegen, nicht die meiner »Klienten«. Ich sage dann: »Er hat zu mir gesagt …«, »jetzt hat sie zu mir gesagt …«, und lerne, auch Blicke zu dolmetschen. Ich übersetze manchmal Misstrauen in Freundlichkeit, damit die Stimmen deutlicher und die Ohren weniger taub sind.

Das betrifft nicht nur die Roma, sondern auch die anderen Neuankömmlinge, Rumänen und Bulgaren, die in hiesigen Augen und Ohren oft nicht viel bedeuten. Ich schreibe über die Reaktionen, die »deren« Anwesenheit auslöst. Ich beschreibe die Reaktionen der Berliner Mehrheit auf ihre neuen Nachbarn. Damit sind Vermieter, Bankangestellte und »empörte Anwohner« gemeint, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, Sozialarbeiter, Ärzte, Polizisten, ich selbst. Die Ankunft der Roma, die aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien anreisen, hat – so scheint es mir manchmal – einen allseitigen »Schock« ausgelöst: Sie kommen nicht illegal, sie bewerben sich nicht um Asyl, sie wünschen sich einfach ein normales und angemessenes Leben als EU-Bürger. Damit hatte man nicht gerechnet. Und wie verträgt sich dieser bürgerliche Wunsch der Neuankommenden mit den Bildern, die man von den Roma hat?

Wovon bin ich ausgegangen, als ich anfing, mit den »unsichtbaren« Männern und Frauen zu sprechen? Ich nehme an, meine Hauptfrage lautete: Wer und was sind die Roma? Ich mochte diese etwas einfältige Frage zuerst, weil es mir interessant erschien, sie überhaupt zu stellen. Ich hatte angefangen, darüber zu lesen.

In der Schule hatten wir nur das eine und leider Irreführende gelernt: dass es Vorurteile gibt, die angeblich verschwinden, wenn man die Kultur der Roma kennt. Als Beispiel für so einen Vorgang dienten die großen Wagen von Mercedes. Wer sich auskannte, sagte nicht mehr: »Die Zigeuner sind reich und tun nur so arm«, sondern: »Sie sind arm und legen Wert auf das Statussymbol Mercedes, so ist ihre Kultur eben.« Damit verwandelte sich die Empörung allerdings nur in befremdetes, »wissendes« Schulterzucken, bei dem die Grundannahme immer noch eine undurchdringliche Fremdheit war. Dass viele verschuldete Deutsche sich trotz überzogener Konten ebenfalls große Autos auf Kredit kaufen, blieb dann etwas »ganz anderes«.

Ich wusste außerdem von den während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma. Ich kannte inzwischen die Zahlen der Roma, die vor und seit 2007 nach Deutschland kamen. Doch was sagten Zahlen, ihre Anzahl pro Land, Nation, Quadratmeter? Ihre Migration in Ziffern? Was beantwortete das? In Berlin-Neukölln lebten insbesondere ab 2007, dem EU Beitritt Rumäniens und Bulgariens, Saisonarbeiter in überfüllten Wohnungen, später blieben sie immer häufiger auch nach der Saison, manche meldeten sich polizeilich an. 29.000 Rumänen und Bulgaren könnten es in Berlin sein, davon 2.576 Rumänen in Neukölln, sagt der Roma-Statusbericht vom Mai 2014. Oder: 802 Kinder aus diesen beiden Ländern gingen hier 2012 zur Schule, 56 waren Analphabeten.

Ich fragte mich also: Wer sind die Roma? Bis sich kurz darauf herausstellte, dass die Antwort auf diese Frage sowohl unauffindbar als auch so gut wie irrelevant für das Zusammenleben ist.

Es ist 2010, als ich mir zum ersten Mal wünsche, mich genauer mit den Roma zu beschäftigen. Bisher hatte ich in Deutschland kaum über sie nachgedacht. Bei meinen – eigentlich literarischen – Reisen nach Rumänien drängt sich das Thema nun allmählich auf. An jedem Tag kommen sie in irgendeinem Gespräch vor, in Witzen, Anekdoten, Warnungen, Flüchen. Ich habe deshalb das immer unangenehmere Gefühl, die Roma nur vom Hörensagen zu kennen. Obwohl ich so viel Zeit in Rumänien verbracht und mich in den Neunzigern wie so viele in die »Romamusik« eingehört habe, habe ich noch nie mit einem Rom gesprochen.

Ich höre die romafeindlichen Beschimpfungen der Rumänen auf den Gängen der Hotels und auf der Straße. Ich begreife das Gängige, die Normalität dieser alltäglichen Sätze, in denen die Roma beleidigt werden. In der rumänischen Kultur kommen Roma eigentlich gar nicht vor und sind doch überall als Schreckgespenster anwesend. Die Kinder sollen sich in der U-Bahn hüten, nicht von den »Zigeunern« geklaut zu werden. Ich betrete einen dunklen Märchenwald aus Gerüchten. Ich höre Verschwörungstheorien – Roma verheirateten ihre schönen Töchter an rumänische Polizisten und Poli­tiker, sie heirateten den rumänischen Staat, bis er »dem Clan« gehorchen müsse, der Rumänien bald regieren werde.

Als ich im selben Jahr einen Sommer lang wie eine neugierige Katze durchs Stadtzentrum von Bukarest schlendere, weil es mir so düster, magisch und zerzaust vorkommt wie ein versunkenes Schiff, begegne ich »ihnen«. Während der Ceauşescu-Zeit sind die Roma hier in den alten, baufälligen Häusern angesiedelt worden. Für die »weißen Rumänen«, die bis dahin im Zentrum gewohnt hatten, boten die Hochhauswohnungen der Sechziger mit Warmwasser und Zentralheizung damals mehr Komfort. In diesen Betonwohnungen, die nicht weit vom Zentrum entfernt liegen und sich bis in die Außenbezirke erstrecken, sitzen die Rumänen nun auch nach dem Tod des Diktators und schütteln die Köpfe über die Roma, die im Stadtzentrum die schönen alten Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende, aus den goldenen Zwanzigern, zugrunde richten. (Die goldenen Zwanziger tauchen in vielen Geschichten auf, ich fange an zu glauben, sie seien das Symbol für einen paradiesischen, europäischen Wunschzustand ihres Landes. »Jetzt sind wir so sehr Balkan, dass man uns mit den Zigeunern verwechselt«, sagen die Rumänen wehmütig oder gar wütend, »damals waren wir Europa.«) Geschichten werden erzählt: Nach der Revolution hätten »sie« das Parkett der alten Häuser verheizt, Wasserleitungen seien als Altmetall verkauft worden. (Ich vermute, die nach der Revolution plötzlich arbeitslos gewordenen Roma hatten keine andere Wahl, als das zu tun.) Die »Zigeuner« zerstörten – so sagen die Rumänen – die letzte Erinnerung an das alte, europäische »Paris des Ostens« und vor allem: den Weg dorthin zurück!

Ein Mann mit Hut, der im Bukarester Zentrum schwarz mit Antiquitäten handelt, ist meine einzige wirkliche Begegnung mit einem Rom – einem, den die Gadje einen »echten« Rom nennen würden. Ich bin nicht weniger blind als der Rest der Weißen, eine Weile glaube ich sogar an die Verschlagenheit der Roma, an die besondere Sinnlichkeit von Romafrauen, an deren »Unheimlichkeit«. Das entdecke ich beim Lesen alter Tagebucheinträge. Offenbar ist das der geistige Bodensatz eines Lebens in meiner unhinterfragt antiziganistischen Welt.

Bukarester Freunde, Schriftsteller, hatten mir ihre Meinung auseinandergesetzt: »Sobald eine Kultur nicht mehr Teil des eigenen Musters ist, sobald sie wirklich fremd ist, löst sie eben Ablehnung aus. Man kann eine Kultur nicht verstehen, die auf – sagen wir – Nomadentum basiert. Nach ’89 kamen die Westeuropäer und erklärten uns, dass man sich ordentlich gegenüber Minderheiten benehmen soll, sie wunderten sich über den Rassismus, dem sie hier begegneten. Und plötzlich befinden sie sich selbst in unserer Lage. Ich erinnere mich, dass sie uns sehr nachdrückliche Lektionen über den Umgang mit Minderheiten erteilt haben. Sie hatten sich Kusturicas Filme angesehen und Bregovićs Musik gehört. Antirassismus und Minderheitenschutz beschränkten sich auf diese beiden Namen. Dann schoben sie selbst die Roma ab. Man hat von Rumänien verlangt, offen für die Werte einer Kultur zu sein, deren Grundlage es ist, dass eine Gemeinschaft von Ort zu Ort zieht, dass gestohlen wird, dass andere Hygienevorstellungen gelten, andere Vorstellungen von Legalität.« Nach Meinung anderer Dichterkollegen »ist das Leben der Roma ein so freies, poetisches. Sie legen sich einfach ins Gras an den Straßenrand und lassen den Tag Tag sein, viele von ihnen sind sehr begabt, große Musiker. Wir könnten große positive Überraschungen mit ihnen erleben, würden wir sie auf unsere Bühnen lassen und vor allem: Könnten wir sie dazu überreden, das professionell zu betreiben, zu arbeiten.« Und so weiter.

Man redet von Clans, Nomadentum, unbegreiflicher Fremdheit, Musikerromantik, Kriminalitätskultur, sogar mangelnder Hygiene als »Roma-Kulturgut«. All das habe ich später in keiner der Romafamilien gesehen, die ich kennengelernt habe. Damals glaubte ich jedes Wort.

Aus diesem Land kamen also meine »Klienten«. Anfang der Neunziger als Erste aus den Fabriken entlassen, mussten sich viele Roma nach einer neuen Beschäftigung umsehen. Schon damals versuchten viele ihr Glück in Westeuropa. Spätestens nach der Finanzkrise und den neuen Steuergesetzen, die den Gebrauchtwagenhandel, den viele von ihnen betrieben, als eine Verdienstmöglichkeit nicht mehr lukrativ sein ließen, machten sie sich auf nach Deutschland. Es gab auch im weiteren Umkreis keine Arbeit mehr.

2012. Ich werde im Zug Bukarest–Chişinău Richtung Moldawien wegen meines Akzents für eine Moldauerin gehalten. Ein Mann, ein Rumäne mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und einer Bierflasche, ist sich sicher, ich sei gestern auf meinem illegalen Weg nach Westen an der rumänischen Grenze geschnappt und in diesem Zug zurückgeschickt worden. Ich bin seiner Meinung nach auf dem Heimweg in die moldauische Republik, in mein tristes Leben ohne Sinn, Arbeit, Zukunft, Geld. Er ist ein rumänischer Sportlehrer, er lächelt, und stumpfe Überlegenheit spiegelt sich in seinem Gesicht. Er bietet mir an, eine rumänische Geburtsurkunde für mich zu besorgen. Er erzählt mir von seiner Bekannten in der rumänischen Botschaft und wie er vor den Öffnungszeiten seine Geschäfte dort abwickelt. Mit der falschen Urkunde solle ich meine rumänische Staatsbürgerschaft beantragen und mit einem schönen, nagelneuen rumänischen Pass endlich Richtung Deutschland oder Italien aufbrechen, um dort mein Glück zu finden … Und ich weiß: Während meiner neugierigen, aber keinesfalls existentiellen Fahrt nach Osten reisen echte und unechte rumänische Staatsbürger gen Westen in ein neues Leben. Der Sportlehrer sagt, er habe schon viele Geburtsurkunden verkauft. Mit der »teilweisen Freizügigkeit« dürfen Rumänen jetzt als Gewerbetreibende auch offiziell in Deutschland leben und arbeiten.

»Sprach- und Kulturmittlerin« heißt die Tätigkeit, die ich am Ende offiziell und nach einem Jahr Ehrenamtlichkeit gegen Honorar ausübe. Als Dolmetscherin spreche ich zwar für sie, die »Klienten«, hier will ich aber nicht versuchen, für sie das Wort zu ergreifen.

Ist es verlockend, für andere zu sprechen? Ja – es macht dich mächtig. Wenn TV-Journalisten »die Roma« filmen wollten, um in ihrem Namen etwas zu sagen, und mich wegen möglicher Kontakte anfragten, schrieb ich oft ein und dieselbe Mail: Die Kameras sollten sich nicht auf die Roma richten, nicht sie sollten angestarrt werden, die Kameras sollten sich lieber um 180 Grad drehen.

Ermächtigt über sie haben wir uns sowieso über jedes anständige Maß hinaus. Im Laufe unserer Geschichte und auch jetzt. Grobheit im Umgang mit Fremden resultiert oft aus einer gewissen moralischen, politischen, historischen Ungebildetheit. Aber deshalb möchte ich gerade das nicht: jemandem eine Stimme verschaffen – das steht außerhalb meiner Möglichkeiten; für jemanden sprechen – dazu bin ich nicht berufen.

Ich drehe meine »Kamera« also um, da sitze ich an meinem Rechner und schreibe darüber, was sie mit uns zu tun haben und wo die Grenze verläuft, die wir alle zusammen überwinden müssten. In welches Land käme man dann? Wäre es ein freies und gerechtes Land? Und würde man sich dort noch die Frage stellen: Warum helfe ich jemandem, der wie ich nach einem guten Leben sucht, der aber den Weg – nicht aus persönlichen, sondern aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen, die auch ich hervorrufe – nicht finden kann?

Plötzlich, im Bildausschnitt ein und derselben »Kamera«, ist zu sehen, dass um mich herum etwas stattfindet, was nicht einmal ich täglich zu sehen bereit bin: Elend. Warum ist es unsichtbar, wie die aufgebrachte Journalistin es formulierte? Weil es unvorstellbar ist.

Vor vielen Jahren ging ich in einem rumänischen Dorf mit einer Freundin, die kurzzeitig für eine Hilfsorganisation arbeitete, in den unteren, heimlichen Teil des Dorfes, die Roma­siedlung. Wenn man den Namen des Dorfes nannte, war diese Siedlung nicht mit gemeint. Wir kamen mit Säuglingskleidung, eine Familie lud uns in ihre winzige Baracke ein. Das Licht schien durch die Ritzen in den Wänden, ich erinnere mich an Dunkelheit und Enge und eine stumme Verblüffung in den Augen der Gastgeber. Wir saßen auf einer Art Sofa, die weißen Frauen, und nahmen Haltung an. Wir übergaben die Babykleider in den Tüten, meine Freundin hatte noch ein paar Ratschläge. Dann gingen wir, und alles, was wir auf dem Heimweg taten, war, bedauernd den Kopf zu schütteln. »So leben sie also«, sagten wir und konstatierten einen Zustand. An mehr erinnere ich mich nicht. Wir scheinen das offensichtliche Elend nicht gesehen zu haben. Warum? Weil wir es uns nicht vorstellen konnten. Wir konnten das Gesehene nicht mit unseren Leben verknüpfen und nahmen an, dass sie eben so leben – womöglich, weil sie so leben wollen. Denn könnte es sein, dass sie so leben müssen? Egal ob mit oder ohne individuelles Selbstverschulden? Diese Vorstellung hätte unser Selbstverständnis in vielerlei Hinsicht gesprengt.

Die Geschichten, die ich in den letzten drei Jahren von den Berliner Roma hörte und mit ihnen erlebte, sprengen es ebenfalls. Sie bereiten Kopfzerbrechen, Schwindel, Empörung, manchmal Freude, oft Schmerzen. Auch deshalb schreibe ich sie auf. Wenige Schultern tragen, was alle Schultern tragen müssten. Alle Schultern haben sich schließlich blind aneinander gedrängt und sind gegeneinander gestoßen, sodass der Lauf der Dinge sich so und nicht anders ereignet hat. Alle Schultern haben sich abgewendet, ohne die Last des Elends zu spüren, die auf ihnen stumm aber todsicher lastet.

Es kommt mir irreal vor, als hätte ich das alles nur in einem Buch – vielleicht über das 19. Jahrhundert – gelesen: Krankheit und Elend, Wohnungen ohne Heizung, ohne Fens­terscheiben, Sklavenarbeit, strukturelle Demütigung und Kinder in Polizeigewahrsam. Ob es nun Roma sind oder nicht, ist egal, da bin ich mir sicher. An ihnen zeigt sich nur, was man so lange nicht wahrhaben wollte. An ihnen kann man das Elend jetzt sehen und sagen: »Diese da sind arm, nicht wir, aber sie sind selbst schuld oder jedenfalls ein biss­chen. ›Echte‹ Europäer aber, wie Italiener, Belgier, Portugiesen oder auch Rumänen, würden nicht im Elend leben, Europa ist so nicht« – ein gegenteiliger Gedanke würde das europäische Selbstbild kurzerhand auslöschen.

Und die »Kultur der Roma«? Erstens glaube ich nicht recht an so etwas. Die Roma sind zu divers, haben schon lange nicht mehr nur eine Geschichte, sind ohnehin angepasst an die Gesellschaft ihrer Herkunftsländer. Zweitens wäre die Rede von Kultur ein Ablenken davon, dass die Menschen sich in dieser Welt schon lange nicht mehr nach »Kulturen« unterscheiden, sondern hauptsächlich nach wirtschaftlichem Status. Die Kenntnis dessen, was als Kultur bezeichnet wird, kann auch nicht vor Rassismus schützen. Die eine oder andere Tradition diesseits und jenseits des Unterschiedszauns soll aber erwähnt werden. So, wie sie bei der Begegnung ziemlich normaler Leute eben zur Sprache kommt.

Eine Grundfrage hat mich während meiner Arbeit immer beschäftigt. Sie hat mich, weil ich Übersetzerin bin, ohnehin interessiert: Was geschieht in den beginnenden Beziehungen einander fremder Menschen? Was geschieht mit ihren Urteilen, ihren kleinen, persönlichen Rassismen? Und in diesem Fall: Was hat es mit der Beziehung zwischen Menschen auf sich, die sich als Roma verstehen, eine fremde Sprache sprechen und arm sind – und solchen, bei denen das nicht so ist?

Ich schreibe also von uns, die blind sind, und von den anderen, die verinnerlicht haben, sich unsichtbar zu machen. Das sind die zwei Seiten derselben Medaille – wo Blinde sind, sind auch Unsichtbare.

Die in den Texten vorkommenden Roma sind, soweit ich sie erreichen konnte, informiert darüber, dass es dieses Buch geben wird. Die meisten von ihnen kommen aus dem rumänischen Dorf Fântânele nahe Bukarest. Dort haben sie bis zur Wirtschaftskrise von Autohandel gelebt, Landwirtschaft für den Eigenbedarf war weit verbreitet, oft reisten die Männer mit ihren Söhnen durch Europa, um mit Musik und dem Verkauf von Kleinigkeiten nach einem Sommer Geld nach Hause zu bringen. Manche reisten auch nach einem gut durchdachten Plan von Festival zu Festival, um Tausende von Pfandflaschen einzusammeln und zu verkaufen.

Die Leute aus Fântânele sind allesamt Pfingstler. Sie spielen auch deshalb nicht mehr auf Hochzeiten, weil die neue Religion ihnen diese Art von Musik, Alkohol und Tanz verbietet.

Die Pfingstler aus Fântânele folgten allesamt einem vor über zehn Jahren nach Berlin ausgewanderten schwulen Predigersohn, der als Junge in Berlin auf einen freundlichen, älteren Mann traf, der ihm Schule und Ausbildung verschaffte. Er hatte Glück. Von seiner Familie wird noch zu sprechen sein.

Für die »anderen« Roma, die aus den Vorstädten, haben die Pfingstler oft nur Verachtung übrig. Auch davon werde ich erzählen. Von den Leuten aus Bacău, die zum Teil haltlos, ohne jeden konkreten Maßstab für ein besseres Leben durch Europa taumeln und lediglich versuchen, über die Runden zu kommen. Von den Leuten aus Craiova, den Gábor-Roma aus Târgu Mureş, den Leuten aus Alexandria, die in Berlin im Görlitzer Park leben. Alle Namen werden aber erfunden sein.

Als ich von Deutschland hörte

Als ich zum ersten Mal von Deutschland hörte, habe ich geweint. Ich wollte nicht herkommen, und meine Großmutter sagte: »Aber wenn du nicht mit nach Deutschland fährst, wo sollst du dann wohnen?«

Und nach einem Jahr kam meine Großmutter zu Besuch nach Berlin und sagte: »Bald wirst du wieder nach Hause kommen.« Und jetzt weiß ich nicht: Wann fahre ich nach Hause?

Das Haus in Rumänien

Zwei Obstbäume standen hinter dem Haus.

Und drei davor. Ich hatte einen Hund, aber leider starb er, und ich war traurig, und auch wütend war ich. Aber dann hatte ich eine Katze, und sie warf kleine Kätzchen. Und sie waren schön und ich nahm sie auf den Arm, und sie miauten. Und jetzt habe ich keine Katzen mehr, sie sind in Rumänien. Aber ich sehe manchmal einen Hund auf der Straße, und ich berühre ihn und bitte die Menschen um Erlaubnis. Sie lassen mich und sagen: »Du kannst meinen Hund anfassen«, und ich sage zu ihnen: »Danke.«

Geschichte aus dem Garten

Wir hatten Tomaten im Garten. Alles Mögliche wuchs im Garten, und ich sage: »Natürlich, Gemüse wächst im Garten.« Wir hatten auch Gurken und Oliven und Möhren.

Geschichte mit Früchten

Wir hatten Pflaumenbäume und Apfelbäume. Viele Früchte hatten wir. Aber die Raben kamen und haben sie gefressen.

Geschichte für die Rosen

Wir hatten Pfingstrosen, meine waren rosa. Wir hatten: Tulpen und Narzissen und rote Rosen. Sie waren schön, und wenn es anfing zu schneien, dann sammelte ich sie ein und legte sie in mein Zimmer.

Raluca (13)

2011. An einem Sommermorgen stehe ich von meinem Schreibtisch auf, fahre Rad und komme erfrischt in Neukölln an. Das ist mein erster Weg als Dolmetscherin für die Roma. So habe ich es mir vorgestellt, als Erfrischung. Ich komme in ein mit Papieren vollgestopftes Büro im Nachbarschaftsheim Neukölln. Wir stehen zu viert um einen Schreibtisch, der Schreibtisch hat keine Bedeutung für uns, aber wir starren alle darauf, um uns besser konzentrieren zu können. Die Kitaleiterin des Nachbarschaftsheims sieht wiederum einer runden Frau namens Mirela auf die Hände. Um die Frau herum kreiselt ein kleines rosafarben gekleidetes Mädchen.

Die Kitaleiterin erklärt, dass das Kind in ihrer Kita keinen Platz habe, aber dafür in die Nachbarkita gehen könnte, da habe man es schon auf eine Liste gesetzt, die Frau solle das endlich verstehen und nicht mehr dauernd nachfragen.

Mirela steht im Sonnenlicht, sie hat ein freundliches Gesicht mit roten Wangen. Sie sieht wie eine Bäuerin aus, denke ich. Sie trägt einen knielangen Jeansrock und ein transparentes Kopftuch, wie meine Oma manchmal eines an windigen Tagen aufsetzte. Mirela sieht mich an, lächelt lange, um dadurch verständlicher zu machen, was sie der Leiterin nicht hat erklären können. Dann sagt sie, dass die Nachbarkita viel zu weit weg ist! Dass sie nie weiter als bis hierher ins Nachbarschaftsheim geht, höchstens noch zum Supermarkt, dass ihr Kind also nur hierher in die Kita kommen kann, und deshalb müsse es so sein, weil es doch Deutsch lernen soll.

Die Kitaleiterin seufzt und lässt mich übersetzen, dass 200 Meter bis zur anderen Kita doch kein langer Weg sind. Aber Mirela schüttelt den Kopf. Sie hat Angst vor den unbekannten Straßenecken, hinter denen man sich verirren kann, und dass sie in der fremden Stadt in dem unbekannten Land nie mehr nach Hause zurückfindet, weil einen niemand versteht.

Die Kitaleiterin schlägt vor, dass wir zusammen zur anderen Kita gehen könnten. Gegen einen Spaziergang hat Mirela nichts. »Dann komme ich ein bisschen raus«, sie greift unternehmungslustig nach dem Kind, und wir gehen die 200 Meter.

»Aha«, sagt Mirela, »das ist nicht so weit.« Sie überlegt – hat noch immer Zweifel. »Aber mein Kind wird weinen, wenn es alleine hierbleiben muss.« Ich übersetze ihr umständlich das Wort Eingewöhnungsphase. Sie ist mit dem Berliner Modell vorerst einverstanden: »Gut, wir versuchen es.« Ich sehe sie an, um mir möglichst viel von der Art und Weise zu merken, wie sie mit allen Wörtern Herzlichkeit austeilt.

Die Kitaleiterin schlägt vor, dass wir zu Mirelas Haus gehen. In dem Eckhaus, in dem Mirela wohnt, wohnen sie alle. »Viele Familien mit vielen Kindern, sie haben zu viele Kinder. Sie verhüten nicht, weißt du«, sagt die Kita­leiterin und seufzt. Während wir dorthin laufen, fragt sie mich auch, ob ich einverstanden sei, wöchentlich in einer Mutter-Kind-Gruppe für Roma als Dolmetscherin zu arbeiten, wir würden die Gruppe jetzt hier im Stehen gründen, und dann könnten wir die Frauen aus Mirelas Haus gleich einladen. Ich nicke, es geht in diesem Augenblick nicht anders.

Vor dem Haus sitzen auf dem Bürgersteig in der Sonne fünf Frauen auf Plastikstühlen und unterhalten sich. Alle sind in gedeckten Farben gekleidet und tragen die durchscheinenden Kopftücher, die sie wie altmodische Krankenschwesterhauben über ihre Haarknoten gebunden haben. Die Frauen sehen uns wie sehr fremde Leute an, denen nichts Gutes zuzutrauen ist. In meinem Kopf tauchen sofort alle Warnungen auf, die ich je gehört habe, und machen mich genauso miss­trauisch. So wie ich ihnen, kommen die Frauen auch mir außerordentlich fremdartig und finster, geradezu undurchschaubar vor. Finstere Frauen sind wir wohl alle miteinander.

Die Kitaleiterin sagt: »Übersetze ihnen, sie sollen ihre Kinder in Kitas schicken und sie nicht auf der Straße herumlaufen lassen.« Die Frauen sehen die Kitaleiterin und mich schief an, sie wissen, worauf das hinausläuft, was können sie schon von solchen wie uns erwarten. Eine ältere Frau hat die Augenbrauen zusammen gezogen, hat sich sehr gerade hingesetzt, statt aufzustehen, und sagt schließlich mit einer tiefen Stimme: »Übersetz das: Sie fragt sich vielleicht, warum wir viele Kinder haben. Bestimmt wird sie das gleich fragen. Aber wir töten keine Kinder. Das ist Sünde. Wir bekommen Kinder und tun diese schlimmen Dinge nicht, Tabletten gegen Kinder nehmen und Babys aus dem Bauch kratzen. Wir sind Pfingstler. Sag ihr das.« Mirela lächelt. Um die Fremdheit und Strenge ein bisschen aufzuweichen, sagt sie noch einmal in freundlichem Ton: »Wir machen so was nicht.« Ich breche das Gespräch über das Kinderkriegen ab und lade die Frauen für Donnerstag mit ihren Kindern zur nagelneuen Mutter-Kind-Gruppe ein.

Auf dem Nachhauseweg denke ich an Mirela und die anderen Frauen. Es ist, als würde ich um eine fremde Straßenecke biegen müssen, einen Spaziergang machen, von dem ich vielleicht nie mehr zurückkomme.