WESTEND

Ebook Edition

Sascha Pommrenke
Marcus B. Klöckner (Hg.)

Staatsversagen
auf höchster Ebene

Was sich nach dem Fall Mollath
ändern muss

WESTEND

Die Inhalte in diesem Buch sind von Autoren, Herausgebern und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autoren beziehungsweise des Verlags und dessen Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Publisher

ISBN 978-3-86489-515-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: SWR/Report Mainz
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Michael Kasperowitsch
Justiz ratlos – was Staatsanwälte und Richter über den Fall Mollath schon lange hätten wissen können, aber nie zu fragen wagten

Johannes Ludwig
Wie der Fall Gustl Mollath ans Tageslicht kam – über engagierte Menschen, traditionelle Medien und anonyme Whistleblower

Martin Runge
Der Politik- und Justizskandal Mollath – Streiflichter aus dem Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags und politische Forderungen

Marcus B. Klöckner
Der Fall Mollath: Es war nicht nur »das System« – Kämpfe um die Grenzen der Justiz- und Psychiatriekritik

Ernst Fricke
»Gut Ding braucht Weile« – der Rechtsstaat, die Öffentlichkeit und die Kritik an der Justiz

Jan Bockemühl
Welche Konsequenzen muss die Justiz aus dem Fall Mollath ziehen?

Tobias Rudolph
Die »Lebenslüge der Justiz« oder der Umgang mit den eigenen Fehlern

Henning Ernst Müller
Der Fall Mollath, ein Fall für die Rechtswissenschaft?

Maria E. Fick
Die Rolle der Ärzte im Fall Gustl Mollath

Rudolf Sponsel
Die grundlegenden Fehler der forensischen Gutachter und des Rechts: Worüber man nichts weiß, darüber kann man auch nichts sagen – und erst recht nicht gutachten

Arnold Torhorst
Der Fall Mollath und das Zusammenspiel von Psychiatrie und Justiz

Harald Rauchfuss
Die antastbare Würde des Menschen – zur notwendigen Reform des Maßregelvollzugs

Johannes Fiala, Peter A. Schramm
In kriminelle Machenschaften verstrickt – wie Banken systematisch und illegal bei Steuerhinterziehung helfen

Hans See
Gustl Mollath und das Bankensystem – über Wirtschaftsmacht und Menschenrechte

Uwe Dolata
Der Fall Mollath und die Wirtschaftskriminalität

Sascha Pommrenke
Der Fall Mollath – Verschwörungstheorien und Paranoia

Gustl Mollath
»Macht braucht Kontrolle, wirksame Kontrolle«

Chronologie

Anmerkungen

Die Autorinnen und Autoren

»Die deutsche Justiz tut sich schwer damit, Banker für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen.«

Uwe Dolata

»Gustl Mollath ist ein – wenn auch extremer – Fall von vielen.
Er ist exemplarisch, mit einem Unterschied zu vielen ähnlichen Fällen: Seinen Namen kennt inzwischen fast jeder.«

Hans See

»Eine aktive Strafverteidigung in deutschen Gerichtssälen ist auf dem Rückzug. Die Verständigung, der Deal ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Dabei bleibt in vielen Fällen die Wahrheit auf der Strecke. Oft ist der Mandant der Leidtragende.«

Jan Bockemühl

»Meiner Meinung nach kann ein Urteil nur gesprochen werden, vor allem ›im Namen des Volkes‹, wenn mit Sorgfalt alle Gründe, alle Beweise, alle Aussagen geprüft und ausführlich recherchiert wurden.«

Maria E. Fick

»Die Gesetzgebung kann auf den Fortschritt der Gesellschaft erst antworten und Reformen einleiten, wenn die Lücke im Gesetz entdeckt ist.«

Harald Rauchfuss

»Gutachten ohne persönliche Untersuchungen, ohne ausreichende Datengrundlage, ohne schlüssige Nachvollziehbarkeit und Begründung sind der unerträgliche Alltags-›Standard‹ – leider gedeckt von Richtern, die nicht in der Lage oder gar willens sind, die Sachverständigen kritisch und kompetent anzuleiten, zu kontrollieren und zu prüfen.«

Rudolf Sponsel

»Der Richter seinerseits hätte auch selber erkennen können und müssen, dass das Gutachten nicht kunstgerecht erstellt wurde. Voraussetzung wäre gewesen, dass er das Gutachten gelesen hätte.«

Arnold Torhorst

»Justizministerin Beate Merk, CSU, macht daraufhin das, was ignorante Politiker üblicherweise machen – sie wiegelt ab: ›In einem Rechtsstaat wird keiner willkürlich untergebracht, weil er Strafanzeige erstattet!‹«

Johannes Ludwig

»Die große Anzahl an Rechtsverstößen, teilweise schwerwiegender Art, im Verfahren und in der Gerichtsentscheidung gegen Gustl Mollath deutet auf Rechtsbeugung hin.«

Martin Runge

»Der Fall Mollath zeigt ein ums andere Mal, dass das Justizsystem schweren Angriffen aus dem Innern ausgesetzt ist.«

Marcus B. Klöckner

»Dass sich Rechtswissenschaftler zum aktuellen Rechtsgeschehen äußern dürfen und sogar sollten, dafür sprechen für mich gute Argumente.«

Henning Ernst Müller

»Der Anschein der Normalität und der unfehlbaren Rechtsstaatlichkeit soll mit allen Mitteln aufrecht erhalten bleiben. Sei es im Bereich Politik, Justiz, Psychiatrie oder der Medien.«

Sascha Pommrenke

»Bisher sind keine Anstrengungen der Justiz erkennbar, zu ergründen, welche Umstände oder Motive der beteiligten Personen im Fall Mollath zu dem für viele erschreckenden Versagen der Justiz geführt haben.«

Michael Kasperowitsch

»Der Rechtsstaat benötigt eine kritische Öffentlichkeit. Der Fall von Gustl Mollath belegt das eindrucksvoll.«

Ernst Fricke

»Um Schuldige zu finden, muss man erst einmal die Fehler erkennen. Eben dies wird im deutschen Strafrecht systematisch verhindert.«

Tobias Rudolph

»Was helfen die besten Gesetze, wenn diese hintergangen und missachtet werden?«

Gustl Mollath

»Manches Bundesland verschont die ansässigen Unternehmen vor allzu intensiven Steuerprüfungen, um für die Ansiedelung von Firmen attraktiver zu sein, zumal auch Steuernachforderungen vielfach primär dem Bund zugutekommen.«

Johannes Fiala, Peter A. Schramm

Vorwort

Ein Fall Mollath ist in einer Gesellschaft, in der an den Schaltstellen juristischer, psychiatrischer und politischer Macht Menschen mit einem funktionierenden Gewissen sitzen, nicht möglich. Wenn aber egoistische Motive und der persönliche Vorteil humanistisch-ethische Grundsätze verdrängen, gerät der Rechtsstaat ins Wanken. Der Fall Mollath wirkt hier wie eine Lupe. Durch den begrenzten Einzelfall lassen sich strukturelle, gesellschaftliche Probleme besser erkennen, die ansonsten durch ein zu lautes Grundrauschen verdeckt sind. Der Fall Mollath, daran besteht kein Zweifel, berührt grundsätzliche Bereiche unseres demokratischen Gemeinwesens.

Die Autoren in dem Band decken die Hintergründe der unterschiedlichen Skandale im Fall Mollath auf, benennen die grundlegenden Probleme, sie sprechen über die Verantwortlichen, und sie führen die Konsequenzen an, die nun zu ziehen sind. Das Buch bietet also einen Einblick in die verhängnisvollen Verhältnisse, die im Fall Mollath sichtbar geworden sind.

Wenn ein Mensch aus der Mitte unserer Gesellschaft aufgrund fragwürdiger Entscheidungen jahrelang weggesperrt und seiner Grundrechte beraubt wird, dann geht es uns alle an.

Die Idee zu diesem Buch reifte, als uns klar wurde, dass wichtige Diskussionsbeiträge, wichtige Analysen und wichtige Hintergrundinformationen nur im Internet zugänglich sind. Hier zu recherchieren, setzt aber voraus, mit dem Internet grundsätzlich vertraut zu sein. Es erschien uns wichtig, mehr Menschen zu einer Meinungsbildung im Fall Mollath anzuregen und die zentralen Debatten, die das Staatsversagen umgeben, sichtbar zu machen.

Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge von ausgewiesenen Kennern aus den Bereichen Justiz, Psychiatrie, Politik, Gesellschaftswissenschaft und Journalismus sind nicht als eine umfassende Aufarbeitung des Fall Mollaths zu verstehen. Sie dienen vielmehr dazu, der Leseöffentlichkeit Aspekte des Falles in komprimierter Form zugänglich zu machen und die Diskussionen um das Staats-, Justiz- und Psychiatrieversagen weiter anzustoßen. Die Beiträge sollen informieren und, wo möglich und nötig, auch empören. Und letztlich sollen die Beiträge auch zu weiteren Recherchen anregen, da im Fall Mollath, insbesondere was die illegalen Bankgeschäfte und die Macht psychiatrischer Gutachter angeht, noch viel aufzuarbeiten ist.

Ungerechtigkeit mitansehen zu müssen, kann manche Menschen stark motivieren. Der Fall Mollath hat gezeigt, dass es viele Menschen in diesem Land gibt, die nicht bereit sind wegzuschauen, wenn Justiz, Psychiatrie und Staat einem ihrer Mitbürger ein so gravierendes Unrecht antun.

Wir bedanken uns herzlich bei allen Autoren, die sich darauf eingelassen haben, innerhalb weniger Wochen in Analysen, Meinungsbeiträgen und Essays gleich mehrere spannende Schlaglichter auf den Fall Mollath zu werfen.

Unser Dank gilt auch dem Westend Verlag, der die Strukturen für diese Unternehmung bereitgestellt und uns an vielen Stellen professionell unterstützt und konstruktiv bei der Gestaltung des Bands mitgewirkt hat. Namentlich möchten wir insbesondere Rüdiger Grünhagen nennen, der uns immer wieder zur Seite stand und das Buchprojekt mit Verve koordinierte.

  Sascha Pommrenke, Marcus B. Klöckner
  Oktober 2013

Einleitung

Ist es in Deutschland möglich, dass ein bis dahin völlig unbescholtener Bürger aus der gesellschaftlichen Mitte gerissen und für über siebeneinhalb Jahre in einer forensischen Psychiatrie weggesperrt wird? Man möchte ausrufen, dass sei doch Unsinn. Das klingt doch wie eine Verschwörungstheorie, Deutschland ist doch schließlich ein Rechtsstaat.

Und doch: Es ist möglich!

Der Fall Gustl Mollath, der seit Monaten die Öffentlichkeit beschäftigt, zeigt, was mit einem unbequemen, störenden Menschen passieren kann, wenn alle Sicherungsmechanismen versagen oder ausgeschaltet werden. Justiz, Psychiatrie, Steuerbehörden, Politik und Medien: Die Liste der Institutionen, die im Fall Mollath auf eine geradezu ungeheuerliche Weise gehandelt haben, ist lang.

Der Nürnberger Gustl Mollath war 49 Jahre alt, als die 7. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth unter dem Vorsitz von Richter Otto Brixner ihn vom Vorwurf der Körperverletzung und Sachbeschädigung frei sprach, aber die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnete. Was danach für Gustl Mollath folgte, gleicht einem einzigen Alptraum: Weggesperrt in verschiedenen forensischen Psychiatrien, zerbrach das Leben des ehemaligen Ferrari-Restaurateurs. Sein Elternhaus wurde zwangsversteigert, nahezu seine gesamte Habe verschwand, und er wurde zeitweise entmündigt.

Wie konnte es zu all dem kommen?

Mollath führte das, was man als relativ normale, durchschnittliche bürgerliche Existenz bezeichnen kann. Er war verheiratet, lebte zusammen mit seiner Frau in Erlenstegen, einem vornehmen Stadtteil Nürnbergs im Haus seiner Eltern.

Seine Frau war Vermögensberaterin bei der HypoVereinsbank Nürnberg. Mollath selbst hatte ein Maschinenbaustudium abgebrochen, um seine kranke Mutter zu pflegen, machte sich später mit einem Motorradreifen- und Autozubehörhandel selbständig, spezialisierte sich unter anderem auch auf das Restaurieren von Oldtimern. Er nahm an Oldtimer-Ralleys teil und engagierte sich in der Friedensbewegung.

Doch bald sollte es zu einem schweren Bruch in seiner Ehe und seinem Leben kommen. Mollath beobachtete die Bankgeschäfte, in die seine Frau verstrickt war, mit zunehmender Skepsis. Er hatte herausgefunden, dass sie in dubiose Geschäfte verwickelt war. Aus Angst vor den möglichen rechtlichen Konsequenzen für seine Frau und für sich selbst bat er sie, mit den illegalen Geschäften aufzuhören. In der Folge kam es zu einem Zerwürfnis der Eheleute.

In seiner zunehmenden Verzweiflung trat Mollath schließlich direkt an die HypoVereinsbank heran und machte das Geldinstitut auf die Geschäftspraktiken seiner Frau und einiger ihrer Kollegen aufmerksam: »Seit Jahren belasten mich diese Geschäfte, seelisch und dadurch auch körperlich. Über die vielen rechtlichen Probleme gar nicht zu reden. Mir ist seit Jahren nicht möglich, meine Frau zu einem Ausstieg bzw. zu einem durchweg legalen Handeln in diesen und anderen Dingen zu bewegen. Da meine umfangreichen Versuche erfolglos sind, muss ich Sie um Hilfe und Rat bitten. Wie kann ich erreichen, ohne Konsequenzen für Sie oder sonst jemanden, meine Frau auf den Boden der Legalität […] zurückzuführen?«1

Die Bank leitete daraufhin eine interne Untersuchung ein. In einem Sonder-Revisionsbericht aus dem Jahr 2003 wurde deutlich, dass Mollath mit seinen Anschuldigungen im Wesentlichen recht hatte und er unbezweifelbar über Insiderwissen verfügt: »Alle nachprüfbaren Behauptungen haben sich als zutreffend herausgestellt. […] Es ist nicht auszuschließen, dass Herr Mollath die Vorwürfe bezüglich des Transfers von Geldern von Deutschland in die Schweiz in die Öffentlichkeit bringt. Er selbst spricht in diesem Zusammenhang auch vom ›größten und wahnsinnigsten Steuerhinterziehungsskandal‹, in den auch die HypoVereinsbank verstrickt sei. Herr Mollath, der einen Handel mit Autoersatzteilen betreibt, war bisher auf finanzielle Unterstützung durch seine Frau angewiesen. […] Dies birgt die Gefahr, dass er eventuell versucht, sein Wissen zu ›verkaufen‹. Hinzu kommt, dass Herr Mollath möglicherweise noch über vertrauliche Belege/Unterlagen aus dem Besitz seiner Frau verfügt.«2

Doch auch die Untersuchungsergebnisse der Bank nutzten Mollath nichts: Dass er immer wieder an Institutionen herantrat und auf die illegalen Geschäfte aufmerksam machte, wurde ihm längst als »Schwarzgeldwahn« ausgelegt. Mollath wurde für viele Menschen zunehmend zu einem Störenfried.

Hinzu kamen Anschuldigungen seiner Frau, wonach Mollath sie im Jahr 2001 geschlagen, gebissen und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt habe. Ein ärztliches Attest, das nicht nur etwa zehn Monate nach der angeblichen Tat ausgestellt wurde, sondern auch noch, wie nun das Oberlandesgericht Nürnberg im August dieses Jahres klarstellte, eine »unechte Urkunde« war, erkannte das Gericht als Beweis für Mollaths Übergriffe an. Die Anklage warf Mollath auch vor, Autoreifen von Personen zerstochen zu haben, die er als Beteiligte der Schwarzgeldgeschäfte betrachtet haben soll.

Ein Gutachter, von dem sich Mollath nicht untersuchen ließ, diagnostizierte bei ihm eine wahnhafte psychische Störung – allein nach Aktenlage und vermeintlichen Verhaltensbeobachtungen. Aufgrund von Mollaths nicht vorhandener »Krankheitseinsicht« und der Ablehnung jeglicher Behandlung seien von ihm weiter allgemeingefährliche Taten zu befürchten. Ausschließlich durch psychiatrische Behandlung sei Besserung zu erwarten.

Was passiert, wenn man sich nicht behandeln lassen möchte? Wenn man nicht bereit ist, die Unwahrheit zu akzeptieren? Wenn man trotz aller persönlichen Nachteile auf Recht und Gerechtigkeit besteht?

Mollath verschwand für Jahre in der Psychiatrie. Nur aufgrund seines Unterstützerkreises und engagierter Medien wie den Nürnberger Nachrichten, Report Mainz und der Süddeutschen Zeitung kam schließlich im November 2012 Bewegung in den Fall. Nun kam auch der Sonder-Revisionsbericht der HypoVereinsbank, der bis dahin von der Bank unter Verschluss gehalten wurde, ans Tageslicht.

In einem monatelangen Tauziehen zwischen den Verteidigern Gustl Mollaths und der Justiz um die Freilassung und Wiederaufnahme des Verfahrens gab sich der Rechtsstaat eine Blöße nach der anderen. Die Justiz, unter Rückendeckung der bayerischen Justizministerin Beate Merk, hat zunächst beharrlich versucht, das schwere Versagen im Fall Mollath kleinzureden. Merk bezeichnete Mollath noch im Dezember 2012 vor dem Bayerischen Landtag als »kranken Menschen« und sagte, sie habe »deutlich machen wollen, dass er an einem verzerrten Wahrnehmungsbild« leide. Und das zu einem Zeitpunkt, als längst jedem, der sich ernsthaft mit dem Fall beschäftigte, klar war, dass Mollath in Bezug auf die Schwarzgeldvorwürfe im Kern recht hatte.

Selbst Bundespräsident Joachim Gauck, der das Thema Freiheit immer wieder in der Öffentlichkeit anspricht und Menschrechtsverstöße überall auf der Welt anprangert, zeigte scheinbar kein Interesse am Schicksal Mollaths. Dieser Eindruck entstand zumindest, als einer der Herausgeber dieses Bandes den Bundespräsidenten im Mai 2013 kontaktierte, um in Erfahrung zu bringen ob der Fall Mollath Gauck bekannt sei und ob er dazu Stellung beziehen wolle. Ein Sprecher des Bundespräsidialamtes teilte mit, dass »Bundespräsident Gauck durch einen Bürgerbrief vom Dezember 2012 Kenntnis von den Geschehnissen um Herrn Mollath« hatte. Weiter heißt es: »Der Bundespräsident äußert sich jedoch nicht zu laufenden Verfahren. Ebenso wenig kommentiert er Entscheidungen der unabhängigen Justiz.«3 Dass ein Bundespräsident noch nicht mal ansatzweise auf einen so gravierenden Fall von Unrecht im eigenen Land eingehen will, lässt tief blicken. Doch der ganze Fall Mollath leidet darunter, dass Amts- und Funktionsträger sich »nicht einmischen« wollten.

Die mangelnde Transparenz, die Neigung, Fehler zu verdecken, die Weigerung, den Fall aufzuklären, die stümperhafte Krisenkommunikation mit einem unwürdigen Versuch, eine Gegenmeinung in wohlgesinnten Medien zu platzieren, und das völlige Fehlen von Selbstkritik beteiligter Protagonisten – all das erweiterte den Justizskandal zu einem Psychiatrie- und Politikskandal.

Es bleibt der Eindruck, dass Mollath gestört hat. Er hat seine Frau gestört, die ihn loswerden wollte. Er hat die Verantwortlichen bei der HypoVereinsbank gestört, die sich auf Fusionen, Abspaltungen, Altlasten in Milliardenhöhe und Börsengänge konzentrieren wollten. Und negative Presse geschweige denn Aufmerksamkeit konnte man nun gar nicht gebrauchen. Er hat Gerichte und Psychiatrien beschäftigt und mit seinem Beharren auf Gerechtigkeit auch hier die Abläufe gestört. Und wer stört, muss weg. Die Ruhe, die Normalität muss wieder hergestellt werden, auch wenn das für das Einzelschicksal die Zerstörung der bisherigen bürgerlichen Existenz bedeutet. Dazu bedarf es im Grunde genommen keiner Verschwörung. An allen entsprechenden Positionen agieren die Entscheider offensichtlich lediglich zu ihrem Vorteil und gegen die Würde des Betroffenen.

Allerdings: Im Fall Mollath wird noch sehr viel Recherchearbeit notwendig sein, um wirklich darzulegen, ob es sich hier schlicht um ein Kollektivversagen einzelner, voneinander unabhängiger Behörden und Personen handelt oder ob es an einzelnen Stellen vielleicht doch zu einem zielgerichteten, interessengeleiteten Handeln bestimmter Akteure gekommen ist. Wer sich seriös mit dem Fall Mollath beschäftigt, muss beide Möglichkeiten in Betracht ziehen.

Die Autoren in diesem Band richten den Fokus auf unterschiedliche Aspekte im Fall Mollath und die Problemzonen, die diesen Fall umgeben. Sie haben sich bereits, auf die eine oder andere Weise, in den vergangenen Monaten in den Fall Mollath eingemischt und ihre Stimme erhoben. Mit ihren Einlassungen haben sie, direkt oder indirekt, dazu beigetragen, dass der Öffentlichkeit das Schicksal von Gustl Mollath ins Bewusstsein gerufen wurde.

In dem vorliegenden Band äußert sich etwa der Journalist der Nürnberger Nachrichten, Michael Kasperowitsch, um aufzuzeigen, wie er fast zwei Jahre lang im Fall Mollath recherchiert hat und was er dabei erleben musste. Kasperowitsch gibt einen Einblick in seine Recherchearbeit, aus der deutlich wird, wie unmöglich sich Behörden und Funktionsträger verhalten haben. Bis heute, so kritisiert Kasperowitsch beispielsweise, habe »kein Staatsanwalt und kein Richter auch nur den Versuch unternommen«, die Ärztin zu befragen, die damals der Ehefrau von Mollath eine Bescheinigung ausstellte, wonach Gustl Mollath, zu dem sie überhaupt keinen direkten Kontakt hatte, »mit großer Wahrscheinlichkeit an einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung« leide.

Auch der Regensburger Rechtsprofessor Henning Ernst Müller, der auf seinem Blog im Internet den Fall Mollath und seine Entwicklungen immer wieder mit klarem Sachverstand und Fachkenntnis diskutierte und thematisierte – auch zum Missfallen so mancher Akteure aus dem Justizsystem –, meldet sich zu Wort. In seinem Beitrag geht Müller der Frage nach, ob der Fall Mollath auch ein Fall für die Rechtswissenschaft ist. Müller spricht sich deutlich dafür aus, den Fall auf seine »systematischen und strukturellen Fehlsteuerungen« hin zu analysieren und die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.

Der Rechtsprofessor Ernst Fricke, der sich in mehreren Beiträgen für Focus Online mit dem Fall Mollath beschäftigt hat, verdeutlicht, dass »Kritik an der Justiz keine Majestätsbeleidigung« ist, und bemerkt: »Die bisher zugunsten von Gustl Mollath entschiedenen Verfahren haben schon Rechtsgeschichte geschrieben.«

Der forensische Psychologe Rudolf Sponsel, der sich in der Causa Mollath auch immer wieder zu Wort gemeldet hat, geht in seinem Beitrag mit dem Gutachterwesen, das für Forensiker typisch ist, scharf ins Gericht. Von grundlegenden Fehlern, die nicht nur im Fall Mollath immer wieder zum Vorschein kommen, spricht Sponsel und verdeutlicht, dass so manches Gutachten nicht mehr als ein »Meinungsachten« ist.

In weiteren Beiträgen gehen die Autoren auf Schwachstellen im Recht ein und liefern Verbesserungsvorschläge, um einem Fall wie dem von Gustl Mollath in der Zukunft vorzubeugen. Sie verdeutlichen, dass es einen Kampf um die Grenzen einer legitimen Justiz- und Psychiatriekritik gibt und wie dieser Kampf geführt wird. Die Beiträger zeigen dem Leser auch auf, wie aus dem Fall Mollath überhaupt erst ein öffentlicher Fall wurde, also welche Rolle die Medien spielten, und nicht zuletzt werden auch die Rolle der Banken und ihre ganz besonderen Geschäfte thematisiert.

Gustl Mollath erhält das Schlusswort, das ihm so häufig in diesem Fall verwehrt wurde. Er kritisiert mit deutlichen Worten die Missstände in der Psychiatrie und das Unrecht, das ihm angetan wurde. Mollath spricht davon, was »das System« Psychiatrie aus den Menschen macht und auf welch unerträgliche Weise Justiz und Psychiatrie ihn seiner Freiheit beraubt haben. Und er fordert: Macht braucht Kontrolle, und zwar wirksame Kontrolle.

Michael Kasperowitsch
Justiz ratlos – was Staatsanwälte und Richter über den Fall Mollath schon lange hätten wissen können, aber nie zu fragen wagten

Am Anfang war eine Frage. Die journalistische Schöpfungsgeschichte des skandalösen Justizfalles Gustl Mollath begann mit einem Rätsel, das es zu lösen galt: Warum haben vor allem Staatsanwälte und Richter den Inhalt der umfangreich vorliegenden Dokumente auf eine so verhängnisvolle Weise nicht in vollem Umfang zur Kenntnis genommen? Wie in Stein gemeißelt stellten die beteiligten Justizstellen bis hinauf zu Bayerns Justizministerin Beate Merk der Öffentlichkeit jahrelang ein starres Bild des Nürnberger Technikers zur Schau. Sie präsentierten ihn als psychisch gestörten Wahnkranken, von dem eine enorme Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe. Gestützt haben sie diese Ansicht in unermüdlichem Eifer immer wieder auf Gutachten und Urteile auch höchster Gerichte, selbst dann noch, als die Brüchigkeit dieser Stützen kaum mehr zu übersehen war. Zwei Jahre hat es gedauert, bis dieses monolithische Werk fast zu Staub zerbröselte. Da war der Nürnberger bereits über sieben Jahre in Krankenhäusern für psychisch gestörte Straftäter eingesperrt.

Mit hemmungsloser Häme über Gustl Mollaths in der Tat gelegentlich verwirrend wirkende und weit ausschweifende Briefe haben auch einige bayerische Abgeordnete im Parlament gemeinsam mit Merk dieses Bild wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Er müsse weggesperrt bleiben, weil er der krankhaften und völlig aus der Luft gegriffenen Vorstellung unterliege, Opfer eines Bankensystems von Schwarzgeldverschiebern zu sein. In diesem Wahn, in den er beliebig unbeteiligte Personen einbeziehe, habe er seiner einstigen Ehefrau schließlich brutale Gewalt angetan und Autoreifen ihm missliebiger Menschen zerstochen, was nur wegen glücklicher Umstände nicht zu lebensgefährlichen Unfällen geführt habe. Andere Schattierungen dieses Bildes, die spätestens im Sommer 2011 sichtbar hervortraten, hatten Politik und Justiz zwar vor Augen, sie schlossen diese aber davor geflissentlich. Dazu gehörte die Aussage des Zahnarztes Edward Braun, eines Freundes des Paares Mollath. Er hatte der Justiz bis hinauf zur Ministerin mitgeteilt: »Mich erreichte ein Anruf von Petra Mollath. Sie erklärte mir wörtlich: ›Wenn Gustl meine Bank und mich anzeigt, mache ich ihn fertig. Ich habe sehr gute Beziehungen. Dann zeige ich ihn auch an, das kannst du ihm sagen. Der ist doch irre, den lasse ich auf seinen Geisteszustand überprüfen, dann hänge ich ihm was an, ich weiß auch wie.‹« Diese Erklärung war mitsamt schwerwiegender Expertenzweifel an den bekannten Psychiatriegutachten Anlass für meine Reportage über den Fall Gustl Mollath Anfang Oktober 2011 in den Nürnberger Nachrichten. Es war bundesweit der erste Medienbericht.

Deutlichere Risse bekam das bis dahin mit großer Hartnäckigkeit und unbeugsamer Vehemenz aufrechterhaltene Mollath-Kunststück der Justiz mit der Antwort auf meine Anfrage bei der Zentrale der HypoVereinsbank in München im November 2011, bei jenem Geldinstitut, dessen Mitarbeiter samt seiner damaligen Ehefrau Gustl Mollath bedrohlich belastet hatte. Der Inhalt dieser Anfrage stützte sich einzig und allein auf eine gründliche, etwa zweistündige Durchsicht der Unterlagen, die Mollath schon acht Jahre zuvor bei der Nürnberger Justiz abgegeben hatte. Damals, das war 2003, brauchte eine Staatsanwältin zwei Monate, um eine Anzeige Mollaths wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung gegen seine lange bei der HypoVereinsbank beschäftigte Ehefrau mit einem Federstrich abzuwehren. Dieser Anzeige seien keine »zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte« zu entnehmen. Der Anzeigenerstatter habe »nur pauschal den Verdacht« vorgetragen, dass Schwarzgeld in großem Umfang in die Schweiz gebracht werde. Aus solchen »unkonkreten Angaben ergibt sich kein Prüfungsansatz, der die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens rechtfertigen würde«.

Ganz anders stellte sich dies aus Sicht der HypoVereinsbank dar, wie mir die Münchner Zentrale in kürzester Zeit in vier glasklaren Sätzen auf meine Anfrage Ende 2011 mitteilte: »Frau Mollath war Mitarbeiterin unserer Bank und für die Betreuung von Privatkunden zuständig. Diverse Schreiben des Herrn Mollath hatten damals zu einer internen Untersuchung geführt. Es wurde festgestellt, dass sich Mitarbeiter im Zusammenhang mit Schweizer Bankgeschäften, u. a. mit der AKB-Bank, einer Tochter der damaligen Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank AG, weisungswidrig verhalten hatten. Dies führte zu entsprechenden personellen Konsequenzen.«

Diese überraschende Auskunft gab natürlich jede Menge Anlass für Nachfragen. Die Bank verweigerte aber strikt jede weitere Erklärung. Immerhin lag jetzt als Ergebnis dieser Recherche ein erster Beleg dafür vor, dass Gustl Mollath seine an die Justiz weitergereichten Informationen über fragwürdige Geldgeschäfte und -transaktionen keineswegs von grünen Marsmännchen empfangen hatte.

Erst diese Veröffentlichung in den Nürnberger Nachrichten am 11. November 2011 veranlasste die Nürnberger Staatsanwaltschaft, erstmals selbst bei der HypoVereinsbank eher schüchtern nachzufragen, was es denn mit den Vorgängen um Mollath auf sich habe. Die Staatsanwaltschaft bekam daraufhin von der HypoVereinsbank einen siebzehnseitigen vertraulichen Sonderrevisionsbericht zugesandt. Er ist vom 19. März 2003 datiert. »98 Prüftage« haben sich die Bankexperten demnach intern mit Mollaths Angaben und Vorwürfen auseinandergesetzt. Der brisante Bericht ging an Konzernvorstände, Niederlassungsleiter und Verwaltungsratschefs. Darin werden unter anderem grobe Verstöße gegen das Geldwäschegesetz festgestellt. Darüber hinaus habe ein Angestellter einer Kundin – in dem Bankbericht wird sie anonym als »allgemein bekannte Persönlichkeit« beschrieben – mit Geschäften einen »Gefallen« getan, die nicht in Er scheinung treten wollte, »zumal es sich um Schwarzgeld handelte«.

Das zusammenfassende Ergebnis der Prüfer zu Gustl Mollaths Angaben lautet: »Alle nachprüfbaren Behauptungen haben sich als zutreffend herausgestellt.« Und die Experten formulierten eine Warnung. Es sei nicht auszuschließen, dass der Nürnberger an die Öffentlichkeit gehe und er möglicherweise noch über andere vertrauliche Unterlagen verfüge. Außerdem sei »Herr Mollath« auf finanzielle Unterstützung durch seine Frau angewiesen. »Das birgt die Gefahr, dass er eventuell versucht, sein Wissen zu ›verkaufen‹.« Das alles heißt: Im Jahre 2003, also zur gleichen Zeit, als die Bank wegen Mollaths Aktivitäten in höchster Besorgnis war, erkannte die Staatsanwaltschaft nicht den zarten Hauch eines Verdachts. Dabei standen beiden Seiten, der Justiz wie der HypoVereinsbank, dieselben Unterlagen zur Verfügung. Aber nicht einmal, als sie diesen schonungslos offenen Bankbericht in Händen hielt, sah die Nürnberger Staatsanwaltschaft einen Anlass, ihre bisherige Bewertung zu überdenken. Gustl Mollath schmorte weiter in der Psychiatrie. Das tat er selbst dann noch, als die Nürnberger Steuerfahndung aktiv wurde. Das war Mitte 2012, wie meine weiteren Recherchen ergaben.

Die Prüfer des Finanzamtes verschickten demnach zu diesem Zeitpunkt an Bankkunden, die Mollath schon 2003 in verschiedenen Mitteilungen aufgelistet hatte, unmissverständliche Briefe: »Nach Erkenntnissen der Steuerfahndungsstelle hat bzw. hatte Ihr Mandant Kapitalanlagen in der Schweiz. Diese Erkenntnisse beziehen sich auch auf weitere Personen. Dabei hat sich gezeigt, dass die vorliegenden Erkenntnisse in mehreren Fällen zutreffend waren.« Verlangt wurden sogenannte Negativerklärungen von einer Reihe Schweizer Banken, in denen diese verbindlich bestätigen sollten, dass in den Jahren 2000 bis 2010 »keine Konten, Depots, Schließfächer oder Verwahrstücke vorhanden waren«. Insbesondere wurde nach Nummernkonten mit den Bezeichnungen »Pythagoras«, »Selingstadt 2986«, »DVD 6006«, »Klavier 2285« oder »Laim 1112« gefragt. Das sind allesamt Details, die ausschließlich aus Mollaths ersten Anzeigen stammen.

Mit den gesammelten Mollath-Unterlagen, in denen diese Daten zu finden waren, hatte die Nürnberger Staatsanwaltschaft wahre Zauberkunststücke vollbracht. Im Oktober 2011 galten sie als verschwunden. Auskünfte zum Inhalt der Akten könnten nicht mehr gegeben werden, teilte die Behörde schriftlich mit, weil sie »in Übereinstimmung mit der Verordnung über die Aufbewahrung von Schriftgut der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizbehörden« ausgeschieden und vernichtet worden seien. Um zu belegen, dass dabei alles mit rechten Dingen zugegangen war, sandte mir eine Justizsprecherin diese Aufbewahrungsordnung obendrein in Kopie zu. Einen Monat später kam das brisante Material auf Druck des damaligen Mollath-Anwalts dann an anderer Stelle bei der Justiz wieder zum Vorschein. Wie dieser Justiztrick funktioniert, hat bisher niemand verraten.

Die wundersame Erscheinung des Ordners mit zahlreichen Briefen Mollaths hinderte die Sprecherin allerdings kurz darauf nicht daran, sich in einem belehrenden Brief an die Nürnberger Nachrichten über »Unrichtigkeiten« in der Berichterstattung zu beschweren. Unter anderem legte sie höchsten Wert auf die Feststellung, dass die »damalige Ehefrau des Verurteilten« im Januar 2003 Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen ihren Mann erstattet habe. Gustl Mollath habe dann am ersten Verhandlungstag im September die Unterlagen übergeben. Und erst im Dezember habe er Anzeige gegen seine Frau wegen der Geldschiebereien erstattet. Dieser zeitliche Ablauf sollte aus Sicht der Staatsanwaltschaft plausibel machen, dass Mollaths für wirr gehaltene Aktivitäten offenbar eine simple Retourkutsche im Rosenkrieg der Eheleute waren. Hätte sich die erfahrene Juristin ein paar Minuten Zeit genommen, diese Papiere zu lesen, hätte sie herausgefunden, dass Mollath seine Frau schon Monate zuvor inständig gebeten hatte, von ihren seiner Ansicht nach verwerflichen und illegalen Bankgeschäften zu lassen. »Ich werde nicht locker lassen«, schrieb er bereits 2002. Er drohte auch: »Wenn du weiterhin die Sache verschleppen willst, bin ich gezwungen, alleine zu handeln.« Er habe dafür gesorgt, dass die Welt erfährt, was gespielt wird. »Von deinen Helfern lasse ich mich doch nicht einschüchtern.« Petra Mollath stand demnach unter enormem Druck. Erst nach diesen Auseinandersetzungen kam die Anzeige wegen Körperverletzung. Weder Staatsanwalt noch Gericht hatten bis dahin offenbar jemals in Erwägung gezogen, dass dieser Schritt der damaligen Ehefrau vielleicht wohlüberlegt war, um Gustl Mollath und seine Anzeigen unschädlich zu machen.

Der vermeintliche Bankenwahn Gustl Mollaths war also nach gut einem Jahr meiner Recherchen als tragende Stütze der bis dahin mit allen politischen Kräften aufpolierten Justizkonstruktion weggebrochen. Nun suchten die Behörden zunehmend Halt an der zweiten Säule. Es sei eigentlich völlig gleichgültig, hieß es mit Hinweis auf vorliegende psychiatrische Gutachten, ob Gustl Mollath mit seinen ewigen Schwarzgeldvorwürfen und wilden Verschwörungstheorien, die um »einen fernen Punkt von Unrecht« kreisten, recht habe oder nicht, wirklich krankhaft sei nämlich in Wahrheit sein Bemühen, völlig wahllos unbeteiligte Dritte mit hineinzuziehen. So argumentierten die Justizministerin und die Staatsanwaltschaft. Es dauerte nicht lange, bis sich auch diese Stütze als wenig taugliche Krücke erwies.

In dem Urteil, das Mollath 2006 in die Psychiatrie brachte, wird nur eine auf den ersten Blick außenstehende Person genannt, die der Nürnberger in seinen »Wahn« einbezog. Dabei handelt es sich um Michael Wörthmüller, einen Arzt des Erlanger Bezirkskrankenhauses, der als Erster vom Gericht einen Auftrag bekommen hatte, den Angeklagten auf seinen psychischen Zustand hin zu untersuchen. Der Mediziner erklärte sich allerdings nach einigen Tagen für befangen, weil er zufällig mit einem Nachbarn ein Gespräch über seinen Patienten geführt habe, in dem dieser nicht sonderlich gut weggekommen sei. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei diesem Nachbarn um einen früheren Kollegen der Ex-Frau Mollaths. Das wusste Gustl Mollath. Er hatte demnach gute Gründe, dem Arzt zu misstrauen. Später brachte der Mediziner unter den gegebenen Umständen für diese Vorbehalte, die Mollath ohne Umschweife äußerte, selbst Verständnis auf. Gehört wurde dieser Arzt von Justizstellen bis zum damaligen Zeitpunkt nie.

Dass überhaupt eine psychiatrische Untersuchung Mollaths ins Spiel kam, hat seine Ex-Frau angebahnt. Sie erzählte dem Gericht wie beiläufig von »Bewusstseinsstörungen«, unter denen ihr Mann wohl schon seit längerem leide, und sie legte bei Gericht eine merkwürdige Bescheinigung vor, die Gabriele Krach, eine Kollegin Wörthmüllers, ausgestellt hatte. Mollath selbst ist dieser Ärztin nie begegnet. Sie gehe aufgrund der Erzählungen seiner Frau davon aus, so schrieb sie, dass dieser »mit großer Wahrscheinlichkeit an einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung« leidet. Sie empfahl dringend eine Untersuchung seines Geisteszustands. Die wurde dann prompt angeordnet. Noch bis heute hat kein Staatsanwalt und kein Richter auch nur den Versuch unternommen, bei dieser Ärztin, einer Angestellten des Bezirks Mittelfranken, nachzufragen, wie sie denn zu einer solch folgenschweren Äußerung gekommen ist. Die Sprecherin der Nürnberger Staatsanwaltschaft hat trotz dieses dokumentierten Ablaufs noch im Januar 2012 den Nürnberger Nachrichten wider möglich besseren Wissens mitgeteilt: »Die Begutachtung des Angeklagten in dem gegen ihn geführten Strafverfahren wurde auch nicht auf Betreiben seiner Ehefrau veranlasst. Vielmehr war Anlass für die Anordnung der Begutachtung der persönliche Eindruck, den das Gericht in der Hauptverhandlung von ihm gewonnen hatte.«

Spätestens gegen Ende 2012, ein Jahr nach Veröffentlichung der ersten Recherchen der Nürnberger Nachrichten, zogen auch überregionale Medien mit einer Berichterstattung nach. Vor allem als der ganze Wortlaut des internen Bankberichts öffentlich wurde, stieg das Interesse bei Rundfunkanstalten und Zeitungen bundesweit enorm an – und damit auch der Eifer im journalistischen Wettbewerb. Dabei versuchte das Kollegen-Duo eines bedeutenden Blattes, sein eigenes Ehrgeizsüppchen zu kochen. Es unternahm hinter den Kulissen Anstrengungen, meine Recherchen gezielt zu behindern und setzte dabei den großen Namen seiner Zeitung bewusst ein. Man werde sich überlegen, nicht zu berichten, wenn man auch von mir angefragte Unterlagen nicht exklusiv bekäme, kündigten sie gegenüber Unterstützern Mollaths an. Diese zögerten, weil sie natürlich das größte Interesse daran hatten, das Thema zugunsten Mollaths vor allem in überregionalen Medien weiterzuspielen. Einen anderen Informanten baten sie kurz vor dem von beiden Zeitungen geplanten Erscheinungstermin, gegenüber den Nürnberger Nachrichten bereits zugesagtes Material doch bitte zurückzuhalten. Mit dem Kodex des Deutschen Presserates ist das alles nicht unbedingt in Einklang zu bringen. »Die Unterrichtung der Öffentlichkeit über Vorgänge oder Ereignisse, die für die Meinungs- und Willensbildung wesentlich sind, darf nicht durch Exklusiverträge mit Informanten oder durch deren Abschirmung eingeschränkt oder verhindert werden«, heißt es da in Richtlinie 1. Erfolgreich war das Duo mit diesen Anstrengungen übrigens nicht.

Hinzu kam die kreative Ausdeutung einer Aussage von Justizministerin Beate Merk vor dem Mollath-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag im Frühjahr 2013. In diesem Ausschuss zitierte die Politikerin den Bericht der Nürnberger Nachrichten vom 30. November 2012. Ich hatte darin aufgedeckt, dass der Mollath-Richter schon 2004 bei der Steuerfahndung angerufen und Mollath dabei als verrückten Spinner bezeichnet hatte. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch gar kein psychiatrisches Gutachten. Die Finanzbehörden hielten den Vorgang daraufhin für erledigt. Als die Ministerin diesen Bericht am Tag seines Erscheinens zur Kenntnis bekam, »habe ich innerhalb einer halben Stunde den Wiederaufnahmeantrag angeordnet«, sagte sie vor den Parlamentariern. Wer das überhört hat, konnte das in einer anschließend vom Ministerium herausgegebenen Pressemitteilung nachlesen. In ihrer Veröffentlichung brachten sich auch die Kollegen dann gleich mit als Auslöser für die entscheidende Kehrtwende im Fall Mollath in Verbindung.

In der Drucksache 16/16 408 des Bayerischen Landtags vom 16. April 2013 ist nachzulesen, welche Auswirkungen die Berichterstattung der Nürnberger Nachrichten auf die Behandlung des Falles Mollath hatte. Dieses Papier enthält den Fragenkatalog des Untersuchungsausschusses, in dem es um ein »mögliches Fehlverhalten bayerischer Justiz- und Finanzbehörden, der zuständigen Ministerien, der Staatskanzlei und der politischen Entscheidungsträger im Zusammenhang mit der Unterbringung des Herrn Gustl Mollath in psychiatrischen Einrichtungen und mit den Strafverfahren gegen ihn« ging. Bei den Kernpunkten bezieht sich dieser Fragenkatalog mehrfach auf die Veröffentlichungen in den Nürnberger Nachrichten seit Oktober 2011. Die schwarz-gelbe Mehrheit im Ausschuss kam am Ende zu dem sibyllinischen Ergebnis, die Entscheidungen der damaligen Ermittler seien vertretbar und nachvollziehbar, sie hätten aber auch anders getroffen werden können. Die Opposition sprach von einem Versagen der Justiz.