cover

Inhalt

 

Alexander Eisenhardt ist Arzt aus Leidenschaft. Engagiert setzt er sich auch für die Versorgung der Armen ein. Im kaiserlichen Wien zur Mitte des 18. Jahrhunderts keine leichte Aufgabe, denn Geld gibt es dafür selten. Für den Lebensunterhalt der Familie reicht das geringe Einkommen kaum aus. An Heirat ist für Alexander nicht zu denken.

 

In dieser Situation kreuzt Constanze Lafarche seine Wege. Alexander ist hin und her gerissen zwischen der Zuneigung, die er zu der hübschen jungen Frau empfindet und seiner Ablehnung der Familie Lafarche gegenüber, die zwei Generationen zuvor die Eisenhardts ins Unglück gestürzt hatte.

 

Was wird siegen – die Liebe oder Alexanders Stolz? Alle Überlegungen enden abrupt durch den Ausbruch einer entsetzlichen Pockenepedemie bei der auch Ihre erhabene Majestät Maria Theresia erkrankt.

Die ausgebildete Historikerin Beata Solanger zeichnet eine feinfühlige Sittengeschichte über Wien im 18. Jahrhundert, mit zahlreichen Details aus dem Alltag und dem damaligen Heilwesen.

 

 

 

Impressum

 

Besuchen Sie uns im Internet: www.editiohistoriae.at

1. Auflage – Copyright © 2010 editio historiae, Verlag MMag. Dr. Marianne Acquarelli, 1180 Wien

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Redaktion: MMag. Dr. Marianne Acquarelli

Cover– und Layoutgestaltung: www.gairdarlun.at

Titelbild: Das Portrait, Wien

Satz: Adobe InDesign bei gair darlun

ISBN für Format EPUB: 978-3-9502862-7-4

Vorwort

VORWORT

Über viele Jahrhunderte war das Heilwesen in zwei große Bereiche geteilt – die inneren und die äußeren Curen. Seit dem Aufkommen von Badern und Bartscherern war es in deren Bereich gelegen, sich um Wunden und Blessuren als Teil der Körperpflege zu kümmern. Wie die Rasur gehörte auch der Aderlass dazu. Dass seit dem 12. Jahrhundert von diesen als Handwerker ausgebildeten Männern – später wurden sie Wundärzte oder Patrone der Chirurgie genannt – auch Amputationen und komplizierte Operationen durchgeführt wurden, ist auf mehrere Anordnungen von kirchlicher Seite zurückzuführen.

 

Die meisten von der Universität ausgebildeten Ärzte hatten im Mittelalter dem Klerus angehört. Die Kirche hielt das blutige Gewerbe der Chirurgie aufgrund der hohen Todesrate mit dem geistlichen Stand unvereinbar und beschränkte die Doctoren auf die cura interna – eine Kunst, die als wesentlich schwieriger angesehen wurde.

 

Diese zwei Ebenen hielten sich bis ins späte 19. Jahrhundert, wobei es immer wieder Versuche gegeben hatte, den Beruf des Wundarztes oder Patrons der Chirurgie durch Ausbildungen an speziell eingerichteten Akademien aufzuwerten. Da diesen Männern aber oft schon die nötige Schulbildung fehlte, kamen sie über den Stand der „niederen Heilkundigen“ nie hinaus.

 

Beim Militär waren beide Berufsgruppen zum Einsatz gekommen, wobei vor allem wohlhabende Regimentsinhaber das Geld für die wesentlich teureren Universitätsärzte aufbringen konnten. Der Normalfall war der Einsatz von Wundärzten, die auch speziell für die Versorgung von Kriegsverletzungen geschult worden waren – zum Beispiel im eigens dafür gegründeten Josephinum in Wien.

Prolog

PROLOG

Militärgericht, Wien

 

Oktober 1739

 

Mit sofortiger Wirkung wird er all seiner Rechte und Gerechtsame enthoben.“ Die Stimme des Vorsitzenden war fast zu einem Brüllen angeschwollen. Die dichten grauen Locken seiner Perücke zitterten unter der Heftigkeit der Worte. Das Gesicht des ehrenwerten Richters war dunkelrot angelaufen, was aber auch mit seiner unglaublichen Leibesfülle zu tun haben könnte. Seine schwammigen Wangen wackelten bei jedem seiner Worte mit, während der durch Seiner Majestät Gnade eingesetzte Richter über das Schicksal des Angeklagten entschied.

 

Mathias Quartus Graf Eisenhardt von Egersfeld wurde schwarz vor Augen. Nur verschwommen nahm er die Szenerie um sich herum wahr. Orientierungslos starrte er auf den Schreibtisch des Gerichtsschreibers. Das sorgfältig polierte Holz reflektierte die Sonnenstrahlen, die sich in diesen düsteren Saal des hohen Gerichts verirrt hatten. Dem alten Mann schienen sie fast wie tanzende Lichter, die erfreut über seine Niederlage auf und ab hüpften – zur der Musik des kratzenden Geräusches, das die Gänsefeder im Kontakt mit dem Papier hervorrief und die Geschehnisse für alle Ewigkeit festhielt.

 

Das letzte Kommando von Graf Eisenhardt vor dem endgültigen Ausscheiden aus den Diensten Seiner Kaiserlichen Majestät war nicht der Triumph geworden, von dem er seinem Enkelsohn Alexander an langen Abenden erzählen wollte, sondern die allergrößte Schmach seines Lebens. Nur langsam verarbeitete Mathias das eben Gehörte. Die verlorene Schlacht bedeutete nicht nur seinen Ruin, sondern den der ganzen Familie zusammen mit ihren kommenden Generationen.

 

Weder inbrünstige Gebete zu Gott hatten zu einem Aufwachen aus diesem fürchterlichen Albtraum geführt, noch Bittgesuche auf nochmalige Anrufung des Oberbefehlshabers Graf Wallis zur Ausräumung dessen, was nur als kleines Missverständnis begonnen hatte – für die schwere Niederlage gegen die Osmanen im vergangenen Juli wurde Feldmarschallleutnant Graf Eisenhardt ans Messer geliefert.

 

Dabei hatte die Ausgangslage recht günstig ausgesehen. Das Osmanische Reich war nach herrschender Ansicht aller europäischen Potentaten kurz vor dem Kollaps gestanden. Die jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen mit den persischen Nachbarn hatten „Die Pforte“, wie das osmanische Reich auf Grund der Lage seiner Hauptstadt am Bosporus auch genannt wurde, merklich geschwächt zurückgelassen. Zarin Anna hatte ihre Chance gewittert, ihr riesiges Reich bis zur Schwarzmeerküste auszudehnen. Die russische Wirtschaftsmacht sollte endlich eine tragende Rolle im Seehandel nach Süden einnehmen.

 

Bei diesen Expansionsplänen hatten die Herren über diesen Teil der Erde aber mehr als ein Wörtchen mitzureden, denn sämtliche Küstenbewohner waren seit langer Zeit ihre Vasallen. Durch einen dichten Wall von osmanischen Besitztümern war das Schwarze Meer vor einem Zugriff durch den nördlichen Nachbarn geschützt. Die florierenden Handelsstädte Kaffa und Sudak auf der Halbinsel Krim waren fest in osmanischer Hand – alle Gewinne und Abgaben aus dem regen Güterverkehr flossen in die Truhen der islamischen Großmacht.

 

Angeblich um irgendwelche Tartarenüberfälle auf russisches Grenzgebiet zu rächen, hatte das Zarenreich im Frühjahr 1735 die Feindseligkeiten gegen die Osmanen eröffnet. Einige Erfolge wurden von Niederlagen begleitet, doch immer wieder hatte das russische Heer strategisch wichtige Punkte besetzen und halten können.

 

Der erhabene Erzherzog Karl von Österreich hatte sich auch einen Teil vom erlegten Bären sichern wollen und war an Gebietsgewinnen interessiert gewesen. Die großen Verluste aus dem erst kürzlich beendeten Polnischen Thronfolgekrieg steckten dem glücklosen Kriegsherren wie ein Stachel im Fleisch. Die Aussicht auf reiche Beute und eine Demütigung der Osmanen hatten den Habsburger dazu verleitet, Russland unter einem fadenscheinigen Vorwand und unter Berufung auf ein längst verjährtes Bündnis die Waffentreue zu halten.

 

Österreich sollte als siegreiche Nation einem siegreichen Russland zur Seite stehen. Unter der Führung des Oberbefehlshabers Graf Wallis war eine Armee von 60 000 Mann nach Grocka gesandt worden, um Ruhm und Ländereien zu gewinnen. Eine schwere Illusion, denn die Schlacht endete in einem Fiasko für die Österreicher.

 

Der nachfolgende Friedensschluss vom 18. September 1739 brachte nicht nur nicht die erhofften Gebietsgewinne, sondern noch weitere, sehr schmerzhafte Verluste – das reiche Banat und die blühende Stadt Belgrad waren unwiederbringlich an die Osmanen verloren gegangen. Die großen Errungenschaften des gefeierten Helden Prinz Eugen waren keine zwei Jahrzehnte später der Vergangenheit anheim gefallen.

 

Und wer musste dafür bezahlen? Nicht etwa der Souverän oder der Anführer der glücklosen Heere, sondern ein Befehlsempfänger, der angeblich den Osmanen geholfen hatte, wichtige strategische Pläne auszuspionieren. Der ganze Fall war eine mehr als undurchsichtige Angelegenheit, wäre da nicht ein geltungssüchtiger Hauptmann gewesen, der diese Intrige geschickt eingefädelt und Graf Eisenhardt angeschwärzt hatte.

 

Für die schwere Niederlage bei Grocka wurde der erfahrene und hoch dekorierte Offizier aus einer alten Aristokratenfamilie verantwortlich gemacht.

 

Die Stimme des Vorsitzenden des Militärgerichts schreckte den verurteilten Grafen hoch.

 

„In Anerkennung seiner makellosen Laufbahn und seiner Dienste darf er sein Adelsprädikat behalten.“

 

Der Gedemütigte senkte sein Haupt. Aus der anderen Ecke des Saales, wo die gehörten Zeugen saßen, war ein verächtliches Schnauben zu hören.

 

,Hauptmann Lafarche, dieser elende Wurm …‘, dachte Mathias verbittert, ,… dieser Emporkömmling.‘

 

„Ruhe im Saal!“, die Stimme des Gerichtsdieners hallte nach.

 

Doch das kostete Hauptmann Eugen Lafarche nur ein Grinsen. Die Belohnung für seine Zeugenaussage würde reichlich ausfallen. Graf Wallis hatte ihm den Auftrag erteilt, einen Dummen zu finden, der für das Debakel verantwortlich gemacht werden konnte. Und dieser Dumme war schnell gefunden – sein überheblicher Vorgesetzter Feldmarschallleutnant Graf Eisenhardt.

 

Einige gefälschte Dokumente und das mysteriöse Verschwinden von wichtigen Plänen tauchten die Rolle Eisenhardts vor und während der Schlacht in ein erdenklich schlechtes Licht. Mehrfach war der Vorwurf des Landesverrats gefallen – ein schweres Vergehen, das mit dem Tod durch den Strang geahndet wurde.

 

Das Hohe Gericht hatte sich aber nicht nur für die verschwundenen Pläne interessiert, sondern der Vorsitzende wollte über alle Umstände informiert werden – immerhin handelte es sich bei dem Angeklagten um das Oberhaupt einer angesehenen Aristokratenfamilie. Während der Befragungen und der Analyse des Kriegsverlaufs war der Richter zu der Ansicht gekommen, dass jemand aus den eigenen Reihen dem Feind Informationsvorteile verschafft haben musste.

 

Nachdem der Feldmarschallleutnant Eisenhardt als Mitglied der höheren Offiziersränge Zugang zu den strategisch wichtigen Papieren gehabt hatte und bei der angeblichen Übergabe beobachtet worden war, fiel es dem ehrenwerten Richter nicht schwer, seine Rolle bei diesem widerlichen Spektakel zu spielen.

 

Sein langjähriger Freund Graf Wallis würde sich bei der nächsten Gelegenheit entsprechend revanchieren. Der hohe Staatsbeamte hatte sich aber strikt geweigert, seine Hände bei dieser Angelegenheit mit Blut zu beflecken. Ein Todesurteil war ihm entschieden zu weit gegangen. Eine komplette Enteignung des Besitzes sollte genügen, um den Feldmarschallleutnant aus dem Verkehr zu ziehen. Nach Ansicht des Belastungszeugen war das Urteil zu milde, doch wollte Hauptmann Lafarche auf jeden Fall verhindern, dass irgendjemand auf die Idee kam, seine Beteiligung an diesem Spionagefall genauer unter die Lupe zu nehmen.

 

Im Kopf des Verurteilten rasten die Gedanken. Bitterkeit, Verzweiflung und Panik lösten sich in atemberaubender Geschwindigkeit ab. Der alte Mann rang nach Luft. Für einen unseligen Moment wäre ihm der Strick lieber gewesen.

 

,Wie soll ich das meiner Familie erklären?‘, drängte sich ihm als erstes und größtes Problem auf.

 

Das riesige Anwesen in Egersfeld und das Stadtpalais in Wien vor Augen sowie all die Menschen, für die er seit Jahren die Verantwortung trug, nahm der Graf seine Umgebung nicht mehr wahr.

 

„Er kann sich zurückziehen!“ Die Zornesader des Vorsitzenden war deutlich hervorgetreten.

 

Geistesabwesend machte Mathias eine viel zu knappe Verbeugung. Mit ausdruckslosen Augen drehte er sich zur Zeugenbank. Die Mundwinkel von Eugen Lafarche zuckten nach oben, doch sein ehemaliger Vorgesetzter starrte ihn viel zu lange an. Der Hauptmann begann unruhig hin und her zu wetzen. Kaum merklich schüttelte Graf Eisenhardt den Kopf.

 

,Wie konntest du mir das antun?‘, war die unmissverständliche Botschaft dieser einfachen Geste.

 

Mit gesenkten Schultern und all seiner Energien beraubt, drehte sich Mathias in Richtung Tür und verließ den Saal. Ein Gerichtsdiener mit verschlossener Miene öffnete die Tür. Kaum fiel die riesige Flügeltür ins Schloss, musste sich der Graf an den Türstock lehnen. Der dort bereit stehende Gerichtsangestellte rückte ihm geistesgegenwärtig einen Sessel hin. Mathias zog an seinem eng gebundenen Halstuch und holte fast röchelnd Luft.

 

„Was soll ich mit dem Titel anfangen, wenn mir sonst nichts geblieben ist?“ Mit fast irrem Blick starrte er den Helfer an.

 

Doch der Beamte war viel zu gut ausgebildet, um einen Kommentar abzugeben. Er deutete einem Kollegen, eine Stärkung für den geschwächten alten Mann zu holen. Nach einem Schluck Wein schleppten die beiden Männer den Grafen zum Ausgang – der Zorn des ehrenwerten Richters sollte nicht noch mehr Nahrung bekommen. Auf der Straße nahmen die Bediensteten der Familie Eisenhardt den schwer angeschlagenen Mann entgegen. Nur unter größter Kraftanstrengung konnten sie Mathias in seine Kutsche hieven.

 

„Soll es zum Stadtpalais gehen, euer Liebten?“, fragte der Diener Josef besorgt.

 

Sein Herr starrte ihn aus leeren Augen an. Mehrere Atemzüge lang gab er keinen Ton von sich. Der Lakai fürchtete schon, dass sein Dienstgeber gleich einem Herzanfall erliegen würde.

 

„Nein“, die Stimme des Gegenübers war kaum zu hören. „Ich möchte zuerst in die Leopoldstadt.“

 

Verwundert über das eigenartige Ziel informierte der Lakai den Kutscher und sprang hinten auf. Mit einem Ruck zog das Gefährt an. Das leichte Ruckeln wirkte beruhigend auf die Nerven des alten Mannes. Er sah aus dem Fenster und ließ die Eindrücke der vorbeiziehenden Häuser auf sich wirken. Mit Sicherheit waren die Depeschen schon zu seinen Wohnsitzen unterwegs – mit einem einzigen Inhalt: Die Aufforderung zur Räumung derselbigen. An einem besonders schäbigen Wiener Haus blieb sein Blick hängen.

 

„Bald werden wir uns in so einer Bruchbude ein Zimmer teilen müssen.“ Ungläubig schüttelte Mathias den Kopf.

 

Traurig dachte er an seinen Sohn Ewald und dessen wunderschöne Frau Caroline. Sein Enkel Alexander war gerade zwei Jahre alt geworden und der ganze Stolz des Großvaters. Die Ankunft des zweiten Enkelkindes stand unmittelbar bevor.

 

„Mein Gott!“ Mathias merkte, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. „Wie wird es ihnen ergehen?“

 

Der faulige Geruch des Donauwassers riss den alten Feldmarschallleutnant aus seinen düsteren Überlegungen. Ohne über den teuren Gegenstand weiter nachzudenken, riss er sich die gepuderte Perücke runter. Seine verbliebenen grauen Haare standen wirr vom Kopf.

 

Entschlossen nestelte er sich den Knoten von seinem Seidenhalstuch auf und warf es achtlos zur Perücke auf den Boden der Kutsche. Mitten auf der Schlagbrücke zur Leopoldstadt ließ er den Kutscher mit einem energischen Klopfen anhalten. Sofort war Josef herabgesprungen und fragte höflich nach den Wünschen seines Dienstgebers.

 

„Ich möchte aussteigen.“

„Hier?“ Der livrierte Mann sah sich verunsichert um.

„Hier.“ Mathias bat mit einer knappen Geste, dass die Tür geöffnet werden sollte.

 

Der alte Graf setzte seine blank geputzten Lederschuhe ohne mit der Wimper zu zucken in den Schmutz, der die ganze Brücke wie eine dicke Decke überzog. Langsam knöpfte er seinen Überrock auf, ließ sich von Josef aus den engen Ärmeln helfen und warf ihn dann zu den anderen Gegenständen in die Kutsche zurück. Ohne den sichtlich erschrockenen Lakai weiter zu beachten, wandte sich der ehemals wohlhabende Graf Eisenhardt von Egersfeld ab. Nach zwei Schritten hielt er inne und drehte sich langsam um.

 

„Ich danke ihm für seine Treue, Josef.“

 

Mathias schlug die Hände geräuschvoll hinter seinem Rücken zusammen und schlenderte betont langsam zur Brüstung. Der Kutscher und der Lakai schenkten einander verwunderte Blicke. Mit einem Schulterzucken tat der Kutscher das eigenartige Verhalten seines Dienstgebers ab und widmete sich den Pferden. Tapfer versuchte er die wüsten Beschimpfungen der anderen Verkehrsteilnehmer zu ignorieren, die sich lauthals über die Blockade aufregten. Der alte Graf war im Strom der Menschen, die in die Leopoldstadt wollten, verschwunden.

 

Plötzlich zerriss der schrille Schrei einer Frau die Luft.

„Da geht jemand ins Wasser!“

 

Sofort stürzte Josef durch die Menge. In einer bösen Vorahnung rief er den Namen seines langjährigen Dienstherrn. Mit einem Keuchen erreichte er die Brüstung. Doch nur um einen letzten Blick auf den Grafen zu erhaschen, der ton- und bewegungslos in den Donaufluten verschwand.

 

„Nein!“, Josef brüllte aus Leibeskräften. „Nein!“

 

Auf der Brücke herrschte Aufruhr. Alle wollten ihren Teil von der Sensation abbekommen. Die alte Brüstung ächzte unter dem Gewicht der Leiber, die sich an das Holz pressten. Die Wiener Klatschmäuler hatten sofort wilde Theorien und Spekulationen parat, die sich in Windeseile in der Stadt verbreiten würden. In ein paar Stunden würde dieser Freitod das beherrschende Thema sein. Josef hielt sich verzweifelt an der Brüstung fest und suchte noch immer nach seinem Herrn.

 

Das durchdringende Horn der städtischen Rumorwache zerriss die Luft. Die heranpreschenden Pferde ließen die ganze Brücke zusätzlich erzittern. Rücksichtslos trieben die Wachbeamten die Menschen auseinander.

 

„Versammlungen sind nicht gestattet!“, der Befehl des Wachobersten zerschnitt den Tumult.

 

„Er soll mit der Kutsche sofort weiterfahren!“ Ein anderer Wachmann zeigte mit seinem Knüppel auf den erschrockenen Kutscher. Der ratlose Mann rief nach Josef, der das Wasser noch immer mit weit aufgerissenen Augen nach einem Zeichen von seinem Dienstherrn absuchte.

 

Der Lakai starrte den Wachmann regungslos an.

 

„Will er erst eine Kostprobe davon bekommen?“ Der Beamte schwang seine Waffe bedrohlich.

 

„Graf Eisenhardt, mein Herr …“, Josef rang hilflos mit den Händen und keuchte schwer, „ … er ist da unten.“

 

Der Hüter der städtischen Ordnung zuckte nur mit den Achseln. „Spätestens in Hainburg wird er gefunden. Dort werden fast alle Ertrunkenen angespült.“ Der Beamte zeigte mit Nachdruck auf die Kutsche. Mit seinem Knüppel unterstrich er seine Forderung.

„Mach’ er jetzt, dass er fortkommt!“

1

Freiberg in Sachsen

Oktober 1762

 

So, so, …“, der Regimentsschreiber hielt das Dokument in seinen dürren Fingern, als würde es sich um irgendeine Unappetitlichkeit handeln. Er nahm seinen Zwicker ab und sah den jungen Mann vor sich lange an. „Seine Studienleistungen sind beachtlich, aber verfügt er denn über die nötige Erfahrung?“, die Stimme des Älteren klang dünn.

 

Alexander Sixtus von Eisenhardt verbeugte sich mit einer knappen Geste, um seinen Respekt vor Herrn von Baumgarten zu unterstreichen. „Ein Jahr an der Seite eines erfahrenen Arztes.“

 

Die Augenbrauen des Regimentsschreibers wanderten langsam in die Höhe. Erkennbare Skepsis breitete sich in seinem ganzen Gesicht aus. Er überflog noch einmal das Schreiben. „Er ist doch noch keine fünfundzwanzig Jahre alt. Erklärt er mir bitte, wie sich das mit einem kompletten Medizinstudium ausgehen soll?“

 

„Das Stipendium seiner hochfürstlichen Gnaden des Herzogs von Württemberg war an die Einhaltung der Mindestzeit gebunden …“, Alexander lächelte, „ … und ich hatte einen sehr guten Mentor.“

 

Die Gedanken des jungen Mannes wanderten in die Vergangenheit. Er hatte seinem ehemaligen Lehrer viel zu verdanken! Hector von Leiprecht hatte sich vor zehn Jahren des viel versprechenden jungen Grafen persönlich angenommen und ihn unzählige Stunden außerhalb des Klassenzimmers die aufregendsten Dinge aus den Bereichen Biologie, Physik und den anderen Naturwissenschaften gelehrt.

 

Besonders angetan hatten es Alexander die zahlreichen medizinischen Schriften aus dem arabischen Raum, die Hector akribisch zusammengetragen hatte und laufend übersetzte. Es war berauschend. Die diffizilen Zusammenhänge im menschlichen Körper, das ganzheitliche Verstehen von Krankheiten, Studien über Symptomverläufe und komplizierte Operationen, die zum Tagesgeschäft gehört hatten.

 

Alexanders Vater, Ewald von Eisenhardt, war schon damals bei schlechter Gesundheit gewesen und es hatte sich unabwendbar abgezeichnet, dass die Versorgungslast für die Familie bald auf den Erstgeborenen übergehen würde. Die Laufbahn als Arzt schien auf den ersten Blick die perfekte Lösung zu sein.

 

Da die Finanzierung eines Studiums für das familiäre Budget ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, hatte sich Hector auf die Suche nach einem Gönner gemacht. Nach vielen Briefen an sämtliche Inhaber von Regimentern, die dafür bekannt waren, auch dem Sanitätswesen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, hatte es eine Zusage des Herzogs Karl Eugen von Württemberg gegeben.

 

Der Besitzer des größten Truppenkontingents im Heiligen Römischen Reich wollte seine Männer – wohl mehr aus Prestigegründen als aus Philanthropie – von Doctoren, die von der Universität ausgebildet worden waren, versorgt wissen. Mit der Auflage, zu Kriegszeiten im Feld zu dienen und nachher die invalid gewordenen Soldaten weiter zu betreuen, wurden junge Studenten rekrutiert und mit einem kleinen Stipendium ausgestattet.

 

Durch den allseits bekannten „Soldatenhandel“ war es dabei völlig unerheblich, dass Württemberg eigentlich dem Schwäbischen Reichskreis im Reich angehörte und die Stadt Wien im Österreichischen Reichskreis lag. Taugliche Männer wurden quer durch das ganze Heilige Römische Reich für den Militärdienst verpflichtet und eingesetzt.

 

Doch der junge Graf Eisenhardt hatte sich schwer getan. Schon vom ersten Tag an war er davon angewidert gewesen, wie von der angeblich fortgeschrittenen Medizin mit dem Wunder Mensch umgegangen wurde. Moderne Ideen hatten kaum Eingang in das verstaubte Denken der älteren Militärärzte gefunden. Die meist gehörte Antwort war: zur Ader lassen und amputieren.

 

Der ehemalige Leibarzt Maria Theresias, van Swieten, hatte die Geschicke der Universität nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt geleitet und mit seinen Reformen viel bewirkt, aber noch saß die alte Generation von Ärzten an den wichtigen Stellen. Als verknöcherte Spitalsdirektoren oder Beamte blockierten sie die frisch ausgebildeten Kollegen, wo sie nur konnten.

 

Für das Wohl seiner Familie hatte Alexander alle Prüfungen stets mit Höchstnoten bestanden und die Praktikantenzeit über sich ergehen lassen, doch wirklich passend hatte er sich beim Militär nie gefühlt. Es musste etwas anderes geben, als gebrochene Knochen einzurichten, Schusswunden zu flicken und übergewichtige Offiziere um ihr Blut zu erleichtern – das konnte auch jeder normale Wundarzt tun.

 

Aber nun war Alexander hier. In Freiberg. Kurz nach Abschluss seiner Ausbildung und abkommandiert zur Betreuung der Soldaten des fünften Infanterieregiments, um Knochen einzurichten und Schusswunden zu flicken. Der Auslöser der misslichen Situation war Friedrich II. von Preußen gewesen. Durch seine feindliche Einnahme des Landes Sachsen hatte er einen schweren Landfriedensbruch gegenüber dem Heiligen Römischen Reich begangen. In der darauf folgenden Reichsexekution hatte sich seine hochfürstliche Durchlaucht Herzog Karl Eugen von Württemberg auf die Seite der zuerst überaus erfolgreichen Reichsarmee gestellt.

 

Nach mehreren Schlachten im Verlauf des Jahres war die Angelegenheit Mitte Oktober von einer Lösung weiter entfernt denn je, doch das Wetter hatte in diesem Jahr sehr frühzeitig umgeschlagen und es herrschte eine Eiseskälte. Alexander hatte seine Stellung nach wochenlanger Anreise erreicht und die Truppen organisierten bereits das Winterquartier.

 

„Der Preuße hat den Krieg in letzter Zeit besonders schonungslos und bar jeder Rücksicht geführt.“ Die Stimme des Regimentschreibers holte Alexander in das zugige Zelt zurück. „General von Werner hat die Parole zu Mord und Brandschatzung ausgegeben. Die Flammen davon sollten noch in Wien gesehen werden können.“

 

Der alte Mann lächelte dünn, als er seinem Gegenüber den Schreck ansehen konnte. „Es wird in den kommenden Monaten ruhig sein. Auch der Preuß’ zieht sich ins Winterlager zurück …“, der Schreiber griff nach seinem Zwicker, „… vor allem nachdem wir General Seydlitz einen Denkzettel verpasst haben.“

 

Alexander erinnerte sich an diesen fulminanten Sieg der Reichsarmee unter der Führung von Graf Hadik bei Teplitz im vergangenen August. Ein großer Teil Sachsens war dem Zugriff Preußens dabei wieder entrissen worden, doch war es fraglich, ob Friedrich II. diese Niederlage auf sich sitzen lassen würde.

 

„Hat er schon die werten Herren Kollegen kennen gelernt?“ Herr von Baumgarten rückte sich auf seinem unbequemen Klappsessel zurecht.

 

Alexander dachte an den fettleibigen Wundarzt, der vor allem sich selbst – mit Alkohol – versorgte, aber sonst ein ganz passabler Kerl war.

 

„Ja, Herr van der Vries hat mich schon einer ersten Einweisung unterzogen.“ Der junge Graf hob die Augenbrauen. „Mit Herrn von Hermannsthal hatte ich noch nicht die Ehre.“

 

Alexander unterdrückte tapfer jede Gesichtsregung, denn der blasierte Kollege Hermann von Hermannsthal – man fragte sich, warum seine Eltern bei der Namensgebung nicht einfallsreicher gewesen waren – hatte sich bisher nur zu einem Kopfnicken herabgelassen. Dieser Arzt war Alexander von der ersten Sekunde an herzlich zuwider gewesen. Wahrscheinlich beruhte das auf Gegenseitigkeit, denn Alexander hatte in Erfahrung gebracht, dass von Hermannsthal das Feld der hohen Heilkunde neben allen Wundärzten bisher allein für sich beanspruchen hatte können. Nun war ein unerwünschter Konkurrent aufgetaucht.

 

„Viele der Soldaten leiden noch unter den Nachwirkungen der letzten Kämpfe und müssen versorgt werden.“ Herr von Baumgarten griff nach einer Liste. „Kollege von Hermannsthal war so freundlich, eine Liste für ihn zusammenzustellen.“ Er hielt Alexander einen Stapel dicht beschriebener Blätter hin.

 

,Stehen da etwa alle 13 Kompanien des Regiments drauf?‘, fragte sich Alexander im Stillen, wagte es aber nicht, seinen Unmut zu zeigen.

 

Der junge Mann nahm die Auflistung entgegen und verbeugte sich in der Annahme, dass er entlassen war respektvoll vor dem Regimentsschreiber. Mit diesem Grandseigneur durfte es sich Alexander nicht verscherzen – rechnete Herr von Baumgarten doch jene Dienststunden ab, zu denen sich der frisch gebackene Arzt als Gegenleistung für die Ausbildung verpflichten hatte müssen.

 

Van der Vries war unauffindbar. Es war unwahrscheinlich, dass sich der alternde Wundarzt irgendwo hingebungsvoll um die Bedürfnisse der Soldaten kümmerte. Alexander sah sich selbst im Behandlungszelt um. Die Instrumente für den Aderlass thronten an prominenter Stelle, aber sonst ließ sich nicht viel ausmachen, was auf ein breites Spektrum von Behandlungsmöglichkeiten hingewiesen hätte.

 

Alexander holte tief Luft und beschloss, sich ein paar Truhen genauer vorzunehmen, die verschmäht in einer Ecke standen. Zu seiner Freude vernahm er ein leises Klirren, als er die erste Kiste zum Behandlungstisch trug. Der Inhalt war eine echte Überraschung. Unzählige original verschlossene Glasflaschen enthielten eine überlegt zusammengestellte Mischung aus Medikamenten – Salben zur Behandlung der Krätze, Öle zur Wundversorgung, Mittel gegen Durchfall, Tinkturen gegen Augenentzündung und sogar etwas zur Entlausung.

 

Der Inhalt der zweiten Kiste bereitete Alexander schon weniger Behagen – Zangen, Sägen, Winden und Klemmen – Utensilien, die vielleicht jeden Folterknecht erfreut hätten, aber nicht einen Arzt, der auf eine Erhaltung des Lebens bedacht war. Bei seiner Ankunft hatte der junge Arzt ein paar invalide Soldaten ausgemacht, die aufgrund einer kürzlich vorgenommenen Amputation noch nicht marschbereit waren – vielleicht standen diese armen Hunde ja auch auf seiner Liste.

 

Mit einem Seufzer stellte sich Alexander ein paar Dinge, von denen er dachte, dass sie nützlich sein würden, in Griffweite und machte sich auf die Suche nach seinen Patienten. Keine leichte Aufgabe – durch den erst kürzlich begonnen Aufbau des Lagers fehlte noch eine klare Struktur. An allen Ecken und Enden berieten Unteroffiziere noch über die Anordnung und Verteilung der Unterkünfte.

 

Von Hermannsthal hatte die Namen in Gruppen zusammengeschrieben. Alexander hatte aber keine Ahnung, ob die Einteilung nach den Kompanien, aus denen die Versehrten stammten, erfolgt war oder nach irgendwelchen anderen Kriterien. Nach nur wenigen Augenblicken hasste er die ganze Liste und den Verfasser gleich dazu – das Gekrakel war kaum zu entziffern.

 

Mit einem Anflug von Ärger fragte sich Alexander durch, bis er zu einem Zelt gewiesen wurde, das eine Art Aufenthaltsraum für die Soldaten war – mit dem Vorteil, dass dort ein kleiner Ofen für Wärme sorgte. Am Rande seiner Geduld wollte der Arzt nicht jeden nach seinem Namen fragen, sondern erbat sich kurz einen Klappsessel. Er platzierte ihn so, dass er bei einer Zeltstange Halt hatte, und stieg auf sein Podest.

 

Sofort waren fast hundert Augenpaare auf ihn gerichtet. „Alexander Eisenhardt, halten zu Gnaden. Ich bin als zusätzlicher Regimentsarzt hier.“ Er ließ seine Worte kurz wirken und schaute sich um. Was ihm da aus den Gesichtern entgegenschlug, war alles andere als Begeisterung. Alexander ließ sich nicht entmutigen.

 

„Ich habe hier eine Liste der Männer, die sich für eine Behandlung angemeldet haben. Ist zufällig jemand hier, der nun meine Hilfe möchte?“

 

Eisiges Schweigen. Von irgendwo kam eine Bemerkung, die einen Kommentar über einen Grünschnabel aus Österreich enthielt. Alexander lächelte. Eine andere Reaktion hätte ihn mehr als überrascht. Er sprang von seinem Podium und drehte betont langsam eine Runde durch die Männerversammlung. Ohne Scheu blickte er lange in die verdutzten Gesichter. Hin und wieder glitt sein Blick auch auf die Gliedmaßen der Soldaten oder auf die eben nicht mehr vorhandenen.

 

„Verbandswechsel nötig … eitrige Fingernägel … Augenentzündung …“, Alexander ging unbeirrt weiter und sprach seine Vermutungen laut aus.

 

Bei einem älteren Soldaten, dessen schwarz-gelber Rock offen stand, blieb er stehen und griff ihm unerwartet auf den prominenten Bauch. Der Mann stöhnte unter der Berührung gequält auf.

 

„Tut weh, was?“ Alexander hatte die Augenbrauen mitfühlend zusammengezogen, sagte aber nichts weiter. Während er weiterging, zogen die anderen Soldaten lieber ihre Eingeweide ein. Zurück beim Zelteingang drehte sich Alexander kurz um.

 

„Meine Herren, ich empfehle mich. Sie finden mich im Sanitätszelt.“

Seine hochfürstliche Gnaden Herzog Karl Eugen von Württemberg,
allergnädigster Landesherr

 

 

In der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober dieses Jahres war die Preußische Armee unter der Leitung von Prinz Heinrich in vier Abteilungen auf das befestigte Lager der Reichsarmee vorgerückt. General von Belling hatte den ersten Angriff geführt und innerhalb kürzester Zeit die Anhöhe bei Freiberg eingenommen. Die preußische Armee hatte den rechten Flügel beschossen, während das Husarenregiment von der Avantgarde komplett aufgerieben worden war. Unter der Leitung des Generals Seydlitz hatte die preußische Kavallerie unsere gesamte Infanterie gesprengt. Die Schlacht hatte kaum zwei Stunden gedauert und war für General Hadik zu seiner bisher größten Niederlage geworden. Die Truppen Seiner allerchristlichsten Majestät haben 4.000 Gefangene und den Verlust von 3.400 Mann zu beklagen. Über die Anzahl der Versehrten gibt es noch keine genauen Zahlen …

 

 

Ich empfehle mich dem Wohlwollen Eurer hochfürstlichen Gnaden und lege mich vertrauensvoll in Euer Liebten Hände

 

 

Von Baumgarten
Regimentschreiber

2

Kaiserliche Residenzstadt Wien

März 1767

 

Alexander Sixtus von Eisenhardt deckte seine Patientin liebevoll zu. Endlich war das Fieber gesunken. Der Herzschlag war schwach, aber stetig. Erleichtert legte er das Hörrohr in seine Ledertasche. Mit einem Seufzer strich er sich über seine brennenden Augen – den säuerlichen Geruch seiner Hände ignorierte er. Der Mediziner hatte die ganze Nacht über die hoch fiebernde Frau gewacht und ihr in regelmäßigen Abständen Laudanum verabreicht. Ohne Unterlass hatte er die Leinenbinden an ihren Füßen abgenommen, in kaltem Essigwasser gespült und wieder vorsichtig um die mageren Glieder geschlungen.

 

Erschöpft blies er die Luft aus. Ein Geräusch an der Tür ließ ihn aufsehen. Die schwer gezeichnete Mutter der jungen Patientin blickte Alexander müde an. Mit einem leichten Nicken signalisierte er ihr, dass das Schlimmste überstanden war. Sein Gegenüber schloss die Augen. Im blassen Schein der Kerze war zu erkennen, dass sich die Lippen der alten Frau bewegten – ein Dankgebet an den Herrn, dass er das Leben der Tochter diese Nacht noch einmal verschont hatte.

 

Mit zitternden Händen hielt sie ihm eine Schale frisches Wasser hin. Der junge Arzt nahm die Waschmöglichkeit dankbar entgegen und griff nach einer Spezialseife, die er ständig bei sich trug. Aufmerksam wusch er sich die Hände und das Gesicht. Einmal und noch einmal – er sollte bei seinen nächsten Patienten kein Krankheitsherd sein. Alexander fischte nach einem ausgekochten Leinentuch, das in einem Seitenfach seiner Behandlungstasche steckte. Später wollte er es durch ein frisches Wäschestück ersetzen.

 

Mit einem letzten Blick auf seine tief schlafende Patientin verließ der Arzt das Krankenlager. So leise wie möglich schloss er die schlecht eingehängte, fürchterlich knarrende Türe. Die ärmlich gekleidete Mutter hatte auf ihn gewartet und führte ihn einen muffigen Gang entlang, der in einem Raum endete, der als Vorraum, Küche, Ess- und Wohnzimmer der Familie diente.

 

In der Eile am Vorabend war Alexander der Weg nicht aufgefallen. Frau Brugg hatte ihn regelrecht zum Krankenlager gezerrt – panisch vor Angst vor dem höchst besorgniserregenden Zustand ihrer Tochter. Auch jetzt schenkte Alexander der Behausung so wenig Beachtung wie möglich – er konnte es nicht, denn die Armut dieser Menschen war bedrückend.

 

Auf dem Tisch lagen zwei Münzen bereit. Diese Bezahlung würde nicht einmal die Kosten für das verabreichte Laudanum decken, doch Alexander wusste, dass diese Frau ohnehin alles gab, was sie hatte. Hätte die verzweifelte Mutter ihre Tochter in die Räume des Soldatenspitals vor den Toren Wiens gebracht, wäre der Preis für die Behandlung zehn Kreuzer gewesen. Doch nur bei tatsächlich nachgewiesener Bedürftigkeit. Wohlhabendere Patienten wurden um einen halben Gulden erleichtert, wenn sie in den Genuss ärztlicher Zuwendung kommen wollten.

 

Unsicher legte Eleonoras Mutter ihre raue, von der täglichen schweren Arbeit gezeichnete Hand auf Alexanders Unterarm. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

„Bitte, lassen Sie mich zumindest eine Suppe für Sie richten.“

 

„Haben Sie Dank, Frau Brugg, das ist mir sehr willkommen.“ Der Arzt neigte seinen Kopf und unterstrich sein Einverständnis mit einem Lächeln.

 

Die Mutter seiner Patientin nickte zufrieden und zeigte auf einen Holzschemel, der nicht den Eindruck machte, als würde er das Gewicht eines erwachsenen Mannes noch tragen können. Mit einigem Respekt nahm Alexander Platz. Er war zwar schlank – das Gefühl des Hungers kannte auch er –, aber recht groß.

 

„Für ihre Tochter wird eine kräftigende Brühe auch das Richtige sein.“ Damit hielt er seine Gastgeberin davon ab, zu großzügig in eine Holzschale einzuschenken.

 

Mit leicht zitternden Händen stellte die alte Frau die Suppe vor Alexander ab. Der Geruch verriet, dass kräftig die letzte Bezeichnung war, die das Gebräu verdient hätte, doch seinem leeren Magen sollte das dünne farbige Wasser vorerst reichen.

 

„Nein, vielen Dank.“ Mit einer schwachen Handbewegung lehnte der Mediziner das angebotene Brot ab und tat sich an der Suppe gütlich. Über den Schalenrand beobachtete er die leidgeprüfte Mutter. Zusammengesunken saß sie ihm gegenüber auf einem anderen Schemel und starrte meist ins Leere.

 

„Eleonora ist das letzte Kind, das mir geblieben ist“, sie sprach so leise, dass Alexander sie fast nicht verstehen konnte. Ohne aufzublicken, fuhr sie fort. „Die anderen Mädchen haben die Pocken erwischt und meine beiden Söhne sind in Freiberg gefallen.“ Die Traurigkeit in der Stimme der Frau schnürte Alexander die Kehle ab. Beklommen dachte er an die grauenvolle Schlacht, die dem Siebenjährigen Krieg endlich ein Ende gesetzt hatte. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper lief. Es konnte gut sein, dass einer dieser Söhne unter seinen Händen gestorben war, während er verzweifelt versucht hatte, den Soldaten zu retten. Doch die meisten waren schon halbtot gewesen, als sie von ihren – meistens auch schwer verwundeten – Kameraden ins Sanitätszelt geschleppt worden waren.

 

Alexander war auch klar, dass Eleonoras Mutter nur die Kinder erwähnte, die das Säuglingsalter oder zumindest die ersten paar Jahre überlebt hatten. Er dachte an seine eigenen Geschwister: seinen jüngeren Bruder Christian und seine beiden Schwestern, die Nesthäkchen der Familie – doch auch dazwischen hatte es drei Kinder gegeben, die das erste Lebensjahrzehnt nicht erreicht hatten.

 

Mitleidsvoll schloss Alexander kurz die Augen. „Bitte lassen Sie es mich sofort wissen, wenn sich der Zustand von Eleonora wieder verschlechtern sollte.“ Er erhob sich. „Ich werde unverzüglich kommen.“

 

Das Geld lag immer noch auf dem Tisch. Alexander strich seine Weste glatt, zog sich seine Jacke an und griff nach seiner schwarzen Ledertasche. Schon wollte er sich Richtung Ausgang umdrehen, als er von der alten Frau zurückgehalten wurde. Mit überraschend eisernem Griff hielt sie seine Hand fest. Er spürte das Metall auf seiner Handfläche.

 

„Es wäre mir lieber, wenn Sie etwas Nahrhaftes für ihre Tochter kauften.“ Alexander blickte die entschlossene Mutter sanft an.

 

„Ich verdanke Ihnen ihr Leben.“ Sie sah ihn eindringlich an. „Beschämen Sie mich nicht, indem Sie mir die Bezahlung verwehren.“

 

Der junge Mediziner zögerte. Langsam setzte er sich seinen Hut auf das schwarze Haar, das er nach der aktuellen Mode mit einer Samtschleife im Nacken zusammengefasst trug.