Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Beautiful You

erschien 2014 im Verlag Doubleday.

Copyright © 2014 by Chuck Palahniuk

© dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-513-0

www.Festa-Verlag.de

 

Als Penny angegriffen wurde, starrte der Richter sie nur an. Die Geschworenen schreckten zusammen. Die Journalisten duckten sich auf der Pressegalerie. Niemand im Gerichtssaal kam ihr zu Hilfe.

Der Gerichtsschreiber protokollierte pflichtbewusst weiter, stenografierte Pennys Worte: »Hilfe, er tut mir weh! Halten Sie ihn auf!« Seine effizienten Finger tippten das Wort: »Nein!« Klackernd transkribierte der Stenograf ein langes phonetisches Stöhnen, ein Ächzen, einen Schrei. Darauf folgte eine Liste von Pennys Hilferufen.

Seine Finger tippten: »Hilfe!«

Und: »Aufhören!«

Es wäre sicherlich anders gewesen, hätten sich noch weitere Frauen im Gerichtssaal befunden, aber da gab es keine. In den letzten Monaten waren alle Frauen von der Bildfläche verschwunden. Der öffentliche Raum war völlig frauenlos geworden. Diejenigen, die bei Pennys verzweifeltem Ringen zusahen – der Richter, die Geschworenen, die Zuschauer –, waren allesamt Männer. Diese Welt war eine Männerwelt.

Der Gerichtsschreiber tippte: »Bitte!«

Und: »Bitte nicht! Nicht hier!«

Ansonsten bewegte sich nur Penny. Ihre Hose hing in einem Knäuel um ihre Fußgelenke. Ihre Unterwäsche war zerfetzt und bot sie den Blicken aller dar, die hinzuschauen wagten. Sie schlug mit Armen und Beinen um sich, versuchte zu fliehen. Auf den Sitzen in der ersten Reihe skizzierten die Gerichtszeichner mit schnellen Strichen ihr Ringen gegen den Angreifer, das Flattern ihrer Kleidungsstücke, das Peitschen ihrer wirren Haare. Ein paar Hände erhoben sich zögernd auf den Zuschauerbänken, alle mit einem Handy in der Handfläche, um ein verstohlenes Foto zu schießen oder ein paar Sekunden Film aufzunehmen. Pennys Schreie hatten alle Anwesenden erstarren lassen, ihre abgehackte Stimme hallte laut durch den ansonsten stillen Saal. Es war nicht länger der Lärm von nur einer Frau, die vergewaltigt wurde; die widerhallenden, flirrenden Geräuschwirbel klangen nach einem Dutzend Frauen, die überfallen wurden. Nach Hunderten. Die ganze Welt schrie um Hilfe.

Penny kämpfte im Zeugenstand. Verzweifelt versuchte sie ihre Beine zusammenzupressen und den Schmerz von sich zu stoßen. Sie hob den Kopf, um Blickkontakt mit jemandem herzustellen – mit irgendjemandem. Ein Mann presste die Handflächen an die Seiten seines Kopfes, hielt sich die Ohren zu, kniff die Augen fest zusammen, mit knallrotem Gesicht wie ein verängstigter kleiner Junge. Penny schaute zum Richter, der teilnahmsvoll seufzte angesichts ihrer Notlage, aber keine Anstalten machte, mit seinem Hammer den Saal zur Ordnung zu rufen. Ein Gerichtsdiener zog den Kopf ein und murmelte etwas in ein Mikrofon an seiner Brust. Die Waffe sicher im Holster verstaut, trat er nervös von einem Bein aufs andere und zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie schrie.

Andere schauten demonstrativ auf ihre Armbanduhren oder Handys, als schämten sie sich für Penny. Als müsste Penny sich schämen, dass sie so in der Öffentlichkeit herumschrie und -blutete. Als hätte sie sich diesen Überfall und ihr Leid selbst zuzuschreiben.

Die Anwälte schienen in ihren teuren Nadelstreifenanzügen zusammenzuschrumpfen. Geschäftig schoben sie ihre Papiere hin und her. Selbst ihr eigener Freund saß nur da und glotzte, völlig fassungslos über diesen brutalen Angriff. Offenbar hatte jemand einen Krankenwagen gerufen, denn kurz darauf kamen Rettungssanitäter den Mittelgang heruntergeeilt.

Schluchzend und wild um sich schlagend kämpfte Penny darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Wenn sie es schaffte, auf die Beine zu kommen, wenn sie aus dem Zeugenstand herauskam, dann konnte sie flüchten. Entkommen. Der Gerichtssaal war so gedrängt voll wie ein Bus während der Rushhour, aber niemand erhob die Hand gegen ihren Angreifer oder versuchte ihn fortzuziehen. Diejenigen, die stehen mussten, traten ein, zwei Schritte zurück. Alle Beobachter wichen so weit zurück, wie die Wände es erlaubten, und ließen Penny und ihren Vergewaltiger in einem immer größer werdenden leeren Bereich im vorderen Teil des Saales allein.

Die beiden Sanitäter schoben sich durch die Menge. Als sie Penny erreichten, schlug sie nach ihnen, immer noch keuchend und sich wehrend, aber sie hielten sie fest und beruhigten sie. Sagten ihr, dass sie jetzt sicher sei. Das Schlimmste war vorbei, und Penny war durchgefroren und schweißnass, zitterte unter dem Schock. In allen Richtungen war sie von einer Wand aus Gesichtern umgeben, deren Augen nach Stellen suchten, an denen ihre Blicke nicht anderen Blicken begegneten, in denen die gleiche gemeinsame Scham geschrieben stand.

Die Sanitäter hoben Penny auf eine Tragbahre. Einer wickelte eine Decke um ihren zitternden Körper, während der andere sie auf der Trage mit Gurten sicherte. Endlich benutzte der Richter seinen Hammer und ordnete eine Verhandlungsunterbrechung an.

Der Sanitäter, der die Gurte straff zog, fragte: »Können Sie mir sagen, welches Jahr wir haben?«

Pennys Hals brannte, ganz wund vom Schreien. Ihre Stimme klang heiser, aber sie nannte das richtige Jahr.

»Können Sie mir sagen, wer Präsident ist?«, fragte der Sanitäter.

Penny hätte beinahe Clarissa Hind genannt, bremste sich aber noch rechtzeitig. Präsidentin Hind war tot. Der erste und einzige weibliche Präsident der Vereinigten Staaten war tot.

»Können Sie uns Ihren Namen nennen?« Beide Rettungssanitäter waren natürlich Männer.

»Penny«, sagte sie. »Penny Harrigan.«

Die beiden über sie gebeugten Männer schnappten überrascht nach Luft. Ihre professionellen Mienen verrutschten für einen Moment und zeigten ein erfreutes Lächeln. »Ich wusste doch, dass ich Ihr Gesicht schon mal gesehen habe«, sagte der eine strahlend.

Der andere schnippte mit den Fingern, etwas genervt, weil ihm die richtigen Worte nicht einfielen. »Sie sind … die sind Sie, die aus dem National Enquirer!«

Der Erste zeigte mit dem Finger auf Penny, die gefesselt und hilflos dalag, beobachtet von allen anwesenden männlichen Augen. »Penny Harrigan«, rief er, als wäre es eine Anklage. »Sie sind Penny Harrigan, das ›Nerd-Aschenputtel‹.«

Die beiden Männer zogen die Trage auf Hüfthöhe hoch. Die Menge teilte sich, damit sie sie zum Ausgang schieben konnten.

Der zweite Sanitäter nickte wissend. »Der Typ, dem Sie den Laufpass gegeben haben, war der nicht so was wie der reichste Mann der Welt?«

»Maxwell«, verkündete der Erste. »Sein Name war Linus Maxwell.« Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Nicht nur war Penny mitten in einem Bundesgerichtshof voller Menschen vergewaltigt worden, von denen kein Einziger auch nur einen Finger gekrümmt hatte, um ihr zu helfen – jetzt hielten diese beiden Rettungssanitäter sie auch noch für eine Idiotin.

»Sie hätten ihn heiraten sollen«, meinte der erste Sanitäter kopfschüttelnd auf dem Weg zum Krankenwagen. »Lady, wenn Sie den Typen geheiratet hätten, wären Sie jetzt reicher als Gott …«

Cornelius Linus Maxwell. C. Linus Maxwell. Aufgrund seines Rufs als Playboy nannte ihn die Regenbogenpresse oft »Climax-Well«. Der reichste Megamilliardär der Welt.

Die gleichen Klatschblätter hatten ihr den Titel des »Nerd-Aschenputtels« verliehen. Penny Harrigan und Corny Maxwell. Sie hatten sich vor einem Jahr kennengelernt. Das alles schien sich vor einem halben Leben abgespielt zu haben. In einer völlig anderen Welt.

Einer besseren Welt.

Niemals in der Geschichte der Menschheit hatte es eine bessere Zeit gegeben, um eine Frau zu sein. Penny wusste das.

Während ihrer Ausbildung hatte sie es sich immer wieder vorgesagt, wie ein Mantra: Niemals in der Geschichte der Menschheit hat es eine bessere Zeit gegeben, um eine Frau zu sein.

Ihre Welt war perfekt gewesen – mehr oder weniger. Vor Kurzem hatte sie ihr Jurastudium im oberen Drittel ihres Jahrgangs abgeschlossen, war dann aber zweimal durch die Anwaltsprüfung gerasselt. Zweimal! Es war nicht direkt Selbstzweifel, aber seit einiger Zeit plagte sie ein Gedanke. Es beunruhigte Penny, dass gerade wegen all der hart erkämpften Siege der Frauenbewegung es sich gar nicht so sehr wie ein Triumph anfühlte, eine fröhliche, ehrgeizige weibliche Anwältin zu werden. Nicht mehr. Es erschien kaum aufregender, als Hausfrau in den 50er-Jahren zu sein. Vor zwei Generationen hätte alles um sie herum sie zu einem Leben als brave Hausfrau und Mutter gedrängt. Jetzt ging der Druck dahin, Anwältin zu werden. Oder Ärztin. Oder Raumfahrtingenieurin. So oder so – die Bedeutung dieser beruflichen Rollen hatte mehr mit Mode und Politik zu tun als mit Penny selbst.

Als Studentin hatte sie sich ganz der Aufgabe gewidmet, die Anerkennung ihrer Professoren am Institut für Genderforschung der University of Nebraska zu erlangen. Sie hatte die Träume ihrer Eltern gegen das Dogma ihrer Dozenten ausgetauscht, aber keine der beiden Anschauungen war letztlich ihre eigene.

Die Wahrheit war, dass Penelope Anne Harrigan immer noch eine gute Tochter war – folgsam, klug, pflichtbewusst –, die das tat, was man ihr sagte. Sie hatte sich schon immer dem Rat anderer, älterer Menschen gefügt. Und doch sehnte sie sich nach etwas, das über die Anerkennung ihrer Eltern und Ersatzeltern hinausging. Mit stillschweigender Entschuldigung an Simone de Beauvoir wünschte sie sich, etwas anderes zu sein als ein feministisches Irgendwas der dritten Welle. Nichts gegen Bella Abzug, aber ebenso wenig wollte sie irgendein Post-Irgendwas sein. Sie wollte nicht die Siege von Susan B. Anthony und Helen Gurley Brown wiederholen. Sie wollte eine Wahl, die über Hausfrau oder Anwältin hinausging, über Heilige oder Hure. Eine Alternative, die nicht in den überkommenen Überbleibseln eines viktorianischen Traumes stecken geblieben war. Penny wünschte sich etwas, das weit über den Feminismus hinausging!

Beharrlich nagte an ihr der Gedanke, dass irgendein tief sitzendes Motiv sie daran hinderte, die Anwaltsprüfung zu bestehen. Dieser unterdrückte Teil von ihr wollte eigentlich gar nicht Anwältin werden. Immer noch hoffte sie, dass irgendwann etwas geschehen würde, das sie von ihren kleingeistigen, vorhersagbaren Träumen erlöste. Ihre Ziele waren die Ziele radikaler Frauen von vor einem Jahrhundert – Anwältin zu werden, auf Augenhöhe mit Männern zu konkurrieren. Aber so wie jedes Ziel aus zweiter Hand fühlte es sich mehr wie eine Bürde an. Es war bereits zehn Millionen Mal von anderen Frauen erreicht worden. Penny wünschte sich einen eigenen Traum – doch sie hatte keine Ahnung, wie dieser Traum aussehen sollte.

Sie hatte ihren Traum nicht darin gefunden, eine brave Tochter zu sein. Auch nicht darin, die engstirnige Ideologie ihrer Professoren nachzuplappern. Es tröstete sie ein wenig, dass sich jede junge Frau ihrer Generation der gleichen Krise gegenübersah. Sie alle hatten ein Vermächtnis der Freiheit geerbt, und sie schuldeten es der Zukunft, die Grenzen für die nächste Generation junger Frauen zu erweitern. Neuen Boden abzustecken.

Aber bis ein gänzlich neuer, origineller Traum sein glorreiches Haupt erhob, würde Penny verbissen den alten verfolgen: einen Einstiegsjob in einer Anwaltskanzlei – Donuts holen, Stühle schleppen, für die nächste Anwaltsprüfung büffeln.

Und schon jetzt, im Alter von 25 Jahren, befürchtete sie, dass es bereits zu spät sein könnte.

Sie hatte nie ihren eigenen natürlichen Impulsen und Instinkten vertraut. Eine ihrer größten Ängste war, dass sie vielleicht nie ihre wahren Talente und Einsichten entdecken und entfalten würde. Ihre besonderen Gaben. Sie würde ihr Leben damit verschwenden, die Ziele zu verfolgen, die andere für sie setzten. Dabei wollte sie eigentlich eine Macht und Autorität zurückgewinnen – eine primitive, unwiderstehliche Kraft –, die über alle Geschlechterrollen hinausging. Sie träumte davon, eine urtümliche Magie zu beherrschen, die älter war als die Zivilisation selbst.

Während sie ihren Mut zusammenkratzte, um es ein drittes Mal mit der Anwaltsprüfung zu versuchen, arbeitete Penny bei Broome, Broome & Brillstein, der renommiertesten Kanzlei in Manhattan. Ehrlich gesagt war sie gar keine feste Mitarbeiterin. Aber sie war auch keine Praktikantin! Okay, manchmal rannte sie runter zum Starbucks unten im Foyer, um schnell noch ein halbes Dutzend caffè latte und koffeinreduzierte Sojacappuccinos zu holen, aber nicht jeden Tag. An anderen Tagen schickte man sie los, ein paar Extrastühle für eine wichtige Besprechung zu besorgen. Aber sie war keine Praktikantin! Penny Harrigan war keine Anwältin, noch nicht, aber ganz sicher war sie keine kleine Praktikantin.

Die Tage waren lang, hier bei BB&B, aber sie konnten auch aufregend sein. Heute zum Beispiel hörte sie lauten Donner, der zwischen den Wolkenkratzern von Lower Manhattan widerhallte. Es war das Dröhnen eines Hubschraubers, der auf dem Dach landete. 76 Stockwerke über dem Boden, auf dem Heliport ebendieses Gebäudes, landete jemand von immenser Wichtigkeit. Penny stand im Erdgeschoss und jonglierte mit einem schlabberigen Pappdeckel, auf dem ein halbes Dutzend heiße Kaffeebecher stand. Sie wartete auf den Fahrstuhl. Der polierte Stahl der Aufzugtüren zeigte ihr Spiegelbild. Sie war keine Schönheit. Aber auch nicht hässlich. Weder groß noch klein. Ihre Haare sahen hübsch aus, sauber und ordentlich wallten sie um die Schultern ihrer schlichten Brooks-Brothers-Bluse.

Ihre braunen Augen blickten groß und aufrichtig. Im nächsten Augenblick wurde ihr glatthäutiges, ruhiges Gesicht ausgelöscht.

Die Fahrstuhltüren glitten auf und eine Traube von bulligen Männern quoll aus der Kabine, wie ein angreifendes Footballteam in identischen marineblauen Anzügen. Als wollten sie einem Star-Quarterback den Weg bahnen, drängten sie aus dem Aufzug und schoben die ungeduldig Wartenden beiseite. Auch Penny war gezwungen, zur Seite zu treten, und unwillkürlich reckte sie den Hals, um zu sehen, wen die Männer da abschirmten. Alle, die eine Hand frei hatten, streckten den Arm nach oben und schossen mit ihren Handys Fotos und Videos aus der Vogelperspektive. Penny konnte durch den vorbeistürmenden Wall von blauem Stoff nichts erkennen, aber sie konnte nach oben schauen und das berühmte Gesicht auf den Displays der zahllosen Aufnahmegeräte sehen. Das Foyer war erfüllt von elektronischen Klicklauten. Vom Rauschen und Knistern von Sprechfunkgeräten. Und hinter alldem hörte man ein gedämpftes Weinen.

Die Frau auf den kleinen Displays der Myriaden Handys tupfte sich mit der Ecke eines Taschentuchs die Wangen. Das Leinen und die Spitze waren bereits mit Tränen und Mascara verschmiert. Selbst mit der überdimensionalen Sonnenbrille war das Gesicht unverkennbar. Und falls es noch irgendwelche Zweifel gegeben hätte, wurden sie von dem blendenden blauen Saphir ausgeräumt, der zwischen ihren perfekten Brüsten baumelte. Falls man dem glauben durfte, was man in der Kassenschlange im Supermarkt lesen konnte, dann war es der größte makellose Saphir der Geschichte, fast 200 Karat schwer. Dieser Stein hatte die Hälse ägyptischer Königinnen geziert. Römischer Kaiserinnen. Russischer Zarinnen. Es war für Penny unmöglich, sich vorzustellen, worüber eine Frau, die ein solches Juwel trug, wohl weinen mochte.

Plötzlich ergab alles einen Sinn: der Hubschrauber, der irgendeine Megaberühmtheit auf dem Gebäudedach absetzte, während diese traumatisierte Schönheit im Erdgeschoss nach draußen eilte. Die Seniorpartner der Kanzlei nahmen heute eidesstattliche Aussagen auf. Es ging um den großen Unterhaltsprozess.

Die Stimme eines Mannes in der Menschenmenge rief: »Alouette! Alouette! Lieben Sie ihn noch?« Eine Frau rief: »Würden Sie ihm noch eine Chance geben?« Die Menge schien ihren kollektiven Atem anzuhalten und verstummte, als warte sie auf eine Offenbarung.

Die weinende Schönheit, eingerahmt in die kleinen Bildsucher von hundert Handys, dokumentiert aus jeder Richtung und jedem Winkel, hob ihr elegantes Kinn und sagte: »Ich lasse mich nicht abservieren.« Zersplittert in all diese verschiedenen Perspektiven, schluckte sie. »Maxwell ist der beste Liebhaber, den ich jemals hatte.«

Eine neue Salve von Fragen ignorierend, bahnte sich das Sicherheitsteam seinen Weg durch die Menge der Neugierigen zum Gebäudeausgang, wo bereits eine Wagenkolonne wartete. Im nächsten Moment war das Spektakel vorüber.

Die Frau im Mittelpunkt der ganzen Aufregung war die französische Schauspielerin Alouette D’Ambrosia gewesen. Sie war sechsfache Gewinnerin der Goldenen Palme. Vierfache Oscarpreisträgerin.

Penny konnte es kaum erwarten, ihren Eltern zu mailen und von dieser Szene zu berichten. Das war einer der Vorteile, wenn man bei BB&B arbeitete. Auch wenn sie hier nur Kaffee holte, war Penny froh, dass sie von zu Hause fortgegangen war. In Nebraska bekam man niemals Filmstars zu Gesicht.

Die Wagenkolonne fuhr ab. Alle schauten noch in die Richtung, in der sie verschwand, als eine vertraute Stimme rief: »Omaha-Mädchen!«

Es war eine Kollegin aus der Kanzlei, Monique. Sie schnippte mit den Fingern und winkte, um Pennys Aufmerksamkeit zu erregen. Neben Monique mit ihren kunstvollen Porzellanfingernägeln voller blitzender österreichischer Kristalle und ihren Extensions, in die Perlen und Federn eingeflochten waren, fühlte Penny sich immer wie ein unscheinbarer grauer Spatz.

»Hast du gesehen?«, stammelte Penny. »Das war Alouette D’Ambrosia!«

Monique schlängelte sich durch die Menge und rief: »Omaha-Mädchen, du wirst im 64. gebraucht.« Sie nahm Pennys Ellbogen und zog sie zum wartenden Aufzug. Die Pappbecher mit dem heißen Kaffee gluckerten und drohten überzuschwappen. »Der alte Brillstein hat das ganze Team zusammengetrommelt, und sie schreien nach zusätzlichen Stühlen.«

Pennys Annahme war also richtig gewesen. Es ging um die eidesstattliche Aussage. Der Unterhaltsprozess D’Ambrosia gegen Maxwell. Jeder wusste, dass es sich nur um ein juristisches Manöver handelte. Einen Publicitygag. Der reichste Mann der Welt war 136 Tage lang mit der schönsten Frau der Welt liiert gewesen. Genau 136 Tage. Penny kannte alle Details des Falles aus der Warteschlange im Supermarkt. In New York waren die Kassiererinnen so langsam und mürrisch, dass man den kompletten National Enquirer von vorne bis hinten lesen konnte, während man darauf wartete, endlich seinen schmelzenden Ben-&-Jerry’s-Buttertoffee-Eisbecher bezahlen zu dürfen. Der Regenbogenpresse zufolge hatte der Milliardär der Frau den größten Saphir der Welt geschenkt. Sie hatten Urlaub auf den Fidschis gemacht. Die glorreichen Fidschis! Und dann hatte er die Beziehung beendet. Bei jedem anderen wäre das vermutlich das Ende der Geschichte gewesen, aber dieses Paar stand im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich um ihr Gesicht zu wahren, verlangte die geschasste Geliebte jetzt 50 Millionen Dollar als Entschädigung für emotionale Grausamkeit.

Als sie einen der Aufzüge betraten, rief eine fröhliche Stimme quer durch das Foyer: »Yo, Landei!« Die beiden Frauen drehten sich um und sahen einen grinsenden, rotwangigen jungen Mann in einem Nadelstreifenanzug auf sie zusprinten. Er schlug Haken um die anderen Leute und war nur noch ein paar Schritte entfernt. »Haltet den Fahrstuhl auf!«, rief er.

Aber Monique drückte stattdessen auf den Knopf, der die Türen schloss. Wiederholt stach sie mit ihrem juwelenbesetzten Daumen auf den Knopf ein, als sende sie ein Notsignal im Morsecode. Penny lebte jetzt seit sechs Monaten im Big Apple, aber noch nie hatte sie gesehen, dass jemand einen Aufzugknopf weniger als 20-mal drückte. Die Türen schlossen sich mit einem dumpfen Geräusch, nur Zentimeter vor der Adlernase des jungen Anwalts, und sperrten ihn aus.

Sein Name war Tad. Er flirtete jedes Mal mit Penny, wenn er sie traf. Sein Spitzname für sie war »Landei« und er repräsentierte das, was ihre Mutter »einen guten Fang« nennen würde. Penny hingegen vermutete etwas anderes. Insgeheim spürte sie, dass er ihr nur deshalb Aufmerksamkeit schenkte, weil er sich bei Monique einzuschmeicheln versuchte. Es war der altbekannte Trick, mit dem ein Mann sich an eine schöne Frau heranmachte, indem er um ihren fetten, stinkenden Hund herumscharwenzelte.

Nicht dass Penny stinken würde. Oder fett wäre. Nicht wirklich.

Und nicht dass es Monique interessiert hätte. Mit ihrer schrillen, bauernschlauen Art war sie mehr auf der Jagd nach einem Hedgefonds-Manager oder einem frischgebackenen russischen Oligarchen. Ungeniert erzählte sie jedem, dass ihr einziges Ziel im Leben darin bestehe, in einem Stadthaus in der Upper East Side zu leben, Pop-Tarts zu mampfen und den ganzen Tag im Bett abzuhängen. Mit einem mächtigen, vorgetäuschten Seufzer der Erleichterung sagte sie: »Omaha-Mädchen, wann lässt du endlich diesen armen Jungen seinen glitschigen kleinen Hering in dich reinstecken?«

Penny fühlte sich nicht im Geringsten geschmeichelt von Tads Zwinkern und Hinterherpfeifen. Sie wusste, dass sie nur der hässliche Hund war. Das Sprungbrett.

An Bord des Fahrstuhls taxierte Monique Pennys Alltagsoutfit. Monique stemmte eine Hand in die Hüfte und hob ihren Zeigefinger. An keinem Finger der modisch gestylten Frau war Platz für auch nur einen weiteren glitzernden Ring. Monique schürzte die Lippen mit den drei unterschiedlichen Schattierungen von rotem Lipgloss und sagte: »Mädchen, ich mag deine Retrofigur!« Mit einem Kopfschwung schleuderte sie ihre Perlenzöpfe über die Schulter. »Ich finde es toll, dass du dir nichts draus machst, so kräftige Oberschenkel zu haben.«

Zögerlich nahm Penny das Kompliment an. Monique war eine Kollegenfreundin, und das war nicht das Gleiche wie eine richtige Freundin. Das Leben hier verlief anders als im Mittleren Westen. In New York City musste man sich eingewöhnen.

In der Stadt war jede Geste darauf ausgerichtet, zu dominieren. Jedes Detail des Erscheinungsbildes einer Frau stand für sozialen Status. Penny drückte den Pappkarton mit den warmen Kaffeebechern an sich, hielt ihn fest wie einen nach Vanille duftenden Teddybären, plötzlich befangen.

Moniques Kopf ruckte abrupt zur Seite, schreckte zurück vor etwas, das sie in Pennys Gesicht erblickt hatte. Moniques Grimasse nach zu urteilen, musste es mindestens so ekelhaft sein wie eine brütende Tarantel. »Ein Laden in Chinatown …«, stieß Monique hervor. Sie trat einen Schritt zurück. »Da kümmern die sich um diese albernen Werwolfhaare, die um deinen Mund herum wachsen.« In einem Bühnenflüstern fügte sie hinzu: »Die sind so billig, dass sogar du dir das leisten kannst.«

In ihrer Jugend auf der Farm ihrer Eltern in Shippee, Nebraska, hatte Penny eingepferchte Hennen gesehen, die sich gegenseitig mit größerer Subtilität in blutige Stücke hackten.

Es war offensichtlich, dass einige Frauen nie das Memo über die universelle Schwesternschaft erhalten hatten.

Als sie im 64. Stock ankamen, öffneten sich die Fahrstuhltüren und die beiden jungen Frauen wurden von vier neugierigen Schäferhundnasen begrüßt. Bombenspürhunde. Ein stämmiger uniformierter Wachmann trat vor, um sie mit einem Metalldetektor abzutasten.

»Das ganze Gebäude oberhalb dieser Etage ist abgeriegelt«, erklärte Monique. »Weil Du-weißt-schon-wer hier drin ist, haben sie alles zwischen dem 64. und dem Dach evakuiert.« Keck wie immer nahm Monique Penny beim Ellbogen und erinnerte sie: »Stühle, Mädchen! Holen!«

Es war grotesk. BB&B war die mächtigste Anwaltskanzlei im Land, aber nie gab es genug Sitzplätze. Es war wie bei der Reise nach Jerusalem: Wenn man zu spät zu einem wichtigen Meeting kam, musste man stehen. Jedenfalls so lange, bis irgendein Handlanger wie Penny losgeschickt wurde, um Stühle zu besorgen.

Während Monique zur Besprechung rannte, um etwas Zeit zu schinden, versuchte Penny eine Tür nach der anderen zu öffnen und fand sie alle abgeschlossen vor. Die Flure waren seltsam verlassen und durch das Fenster neben jeder verschlossenen Tür konnte Penny die Stühle sehen, die die Angestellten ordentlich hinter ihren Schreibtischen zurückgelassen hatten. Hier oben in der dünnen Luft der Vorstandsetagen war es immer leise und gedämpft, aber diese Stille war schon gespenstisch. Keine Stimmen oder Schritte hallten von den getäfelten Wänden wider oder den geschmackvollen Landschaftsgemälden des Hudson River Valley. Offene Flaschen mit Mineralwasser waren so eilig zurückgelassen worden, dass es noch leise perlte.

Penny hatte ein vierjähriges Bachelorstudium in Genderpolitik abgeschlossen und zwei Jahre lang Jura studiert, und jetzt musste sie hier Stühle einsammeln für Leute, die zu faul oder zu wichtigtuerisch waren, um ihre eigenen zu einem Meeting mitzunehmen. Es war so demütigend. Das hier, nein, das war definitiv nichts, was sie ihren Eltern mailen würde, um damit anzugeben.

Ihr Handy vibrierte. Es war eine SMS von Monique: »SCHWESTER, WO BLEIBEN DIE STÜHLE?!« Mittlerweile rannte Penny durch die Flure. Den Karton mit den Kaffeebechern mühsam mit einer Hand balancierend, stürzte sie sich auf die Türen und berührte die Knäufe gerade lange genug, um festzustellen, ob sie sich drehen ließen. Sie war kurz davor, alle Hoffnung fahren zu lassen, während sie atemlos von einem verschlossenen Büro zum nächsten hetzte. Als sich ein Türknauf tatsächlich drehen ließ, rechnete sie gar nicht damit. Die Tür schwang nach innen, und sofort verlor sie das Gleichgewicht. In einem Sturzbach aus heißem Kaffee fiel sie durch die Tür und landete auf etwas, das so weich war wie Klee. Platt auf dem Bauch liegend, sah sie aus nächster Nähe das ineinander verschlungene Grün, Rot und Gelb von wunderschönen Blumen. Vielen Blumen. Sie war in einem Garten gelandet. Exotische Vögel hockten zwischen den Rosen und Lilien. Aber direkt vor ihrem Gesicht schwebte ein blank geputzter schwarzer Schuh. Ein Männerschuh, etwas angehoben, als wollte er sie gleich in die Zähne treten.

Es war kein echter Garten. Die Vögel und Blumen waren nur Muster auf einem orientalischen Teppich. Handgefärbt und gewebt aus reiner Seide war er der Einzige seiner Art in der ganzen Kanzlei. Penny wusste genau, wessen Büro dies war. Sie sah ihr Spiegelbild im dunklen Glanz des Schuhs: ihr kaffeenasses Haar, das ihr in die Augen hing, ihre geröteten Wangen und ihren schlaffen Mund, während sie keuchend und außer Atem auf dem Boden lag. Ihre Brust hob und senkte sich. Beim Sturz war ihr Rock hochgerutscht, ihr Hintern ragte in die Luft. Dem Himmel sei Dank für die guten altmodischen undurchsichtigen Baumwollhöschen. Hätte Penny einen gewagten Stringtanga getragen, wäre sie auf der Stelle vor Scham gestorben.

Ihr Blick wanderte den Schuh aufwärts zu einem kräftigen, sehnigen Fußknöchel in einer Burlington-Socke. Selbst das fröhliche grün-goldene Muster der Socke konnte nicht die darin eingehüllten Muskeln verbergen. Jenseits davon befand sich der Saum eines Hosenaufschlags. Von unten schauend, folgte ihr Blick der scharfen Bügelfalte eines grauen Flanellhosenbeins bis hinauf zu einem Knie. Peinlich genaue Maßschneiderei zeichnete die Konturen eines kräftigen Oberschenkels nach. Lange Beine. Tennisspielerbeine, dachte Penny. Von dort führte sie der Innensaum der Hose zu einer ansehnlichen Beule, wie eine große Faust, umhüllt von glattem, weichem Flanellstoff.

Sie spürte die heiße Feuchte zwischen sich und dem Boden. Sie wälzte sich auf den zerquetschten Kaffeebechern. Eine Gallone von durchmischtem fettarmem koffeinreduziertem Soja-Latte-Mokka-Chai-Macchiato-To-Go saugte sich in ihre Kleidung und ruinierte den unbezahlbaren Bodenbelag des Raumes.

Sogar in dem düsteren, polierten Leder des Schuhs konnte Penny erkennen, wie die rote Färbung ihrer Wangen sich noch vertiefte. Sie schluckte schwer. Und dann durchbrach eine Stimme den tranceartigen Bann des Augenblicks.

Ein Mann sagte etwas. Die Stimme klang fest, aber weich wie der Seidenteppich. Freundlich und leicht verwirrt wiederholte er noch einmal: »Sind wir uns schon vorgestellt worden?«

Pennys Augen schauten durch den Schleier ihrer langen, nervös flatternden Wimpern nach oben. Ein Gesicht zeichnete sich in der Ferne ab. Am entferntesten Punkt dieses grauen Flanellpanoramas schwebten die Gesichtszüge, die sie so oft in den Klatschblättern im Supermarkt gesehen hatte. Seine Augen waren blau; seine Stirn wurde umrahmt vom jungenhaften Schopf seiner blonden Haare. Sein liebenswürdiges Lächeln ließ ein Grübchen in jeder seiner glatt rasierten Wangen erscheinen. Sein Gesichtsausdruck war sanft und freundlich wie der einer Puppe. Keine Falten in Stirn oder Wangen deuteten darauf hin, dass er sich jemals Sorgen gemacht oder sein Gesicht verzogen hätte. Penny wusste aus der Boulevardpresse, dass er 49 Jahre alt war. Aber ebenso verrieten keine Krähenfüße, ob er viel lächelte.

Immer noch auf dem Boden liegend, keuchte Penny: »Sie sind es!« Sie quiekte: »Sie sind er! Ich meine, Sie sind Sie!« Er war kein Klient der Kanzlei. Ganz im Gegenteil, er war der Beschuldigte im Unterhaltsprozess. Penny konnte nur vermuten, dass er hier war, um seine eidesstattliche Erklärung abzugeben.

Er saß in einem Gästestuhl, einem der hohen, geschnitzten und mit rotem Leder gepolsterten Chippendale-Lehnstühle der Kanzlei. Der Geruch nach Leder und Schuhcreme beherrschte den Raum. Gerahmte Diplome und ledergebundene juristische Fachbücher zierten die Wände des Büros.

Hinter ihm befand sich ein Mahagonischreibtisch, der blutrot schimmerte von einem Jahrhundert des Handpolierens mit Bienenwachs. Am anderen Ende des Schreibtisches stand eine gebeugte Gestalt, deren kahler Kopf voller Altersflecken war und fast ebenso rot leuchtete. In dem hageren Gesicht funkelten die wässrigen Augen vor Empörung. Hinter schmalen, zittrigen Lippen waren nikotinfleckige Zahnprothesen zu erkennen. Auf allen Diplomen, Urkunden und Auszeichnungen, in kunstvoller gotischer Kalligrafie, stand der Name Albert Brillstein, Esq.

In höflicher Reaktion auf ihr Gestammel fragte der jüngere der beiden Männer unaufgeregt: »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Sie ist niemand«, fauchte der Mann hinter dem Schreibtisch, der Seniorchef der Kanzlei. »Sie sollte nicht einmal hier sein! Sie ist nur das Mädchen für alles. Sie ist dreimal durch die Anwaltsprüfung gefallen!«

Die Worte trafen Penny wie ein Schlag. Voller Scham wandte sie den Blick von den blauen Augen ab und schaute wieder auf ihr Spiegelbild im Schuh des jüngeren Mannes. Ihr Chef hatte recht. Sie war nur ein Laufmädchen. Sie war niemand. Nur eine dumme Bauerngöre, die nach New York gezogen war und davon träumte, hier irgendein geheimnisvolles Schicksal zu finden. Die brutale Wahrheit war, dass sie wahrscheinlich niemals ihre Prüfung bestehen würde. Sie würde den Rest ihres Lebens damit verbringen, Akten abzuheften und Kaffee zu holen, und nichts Wundervolles würde ihr jemals widerfahren.

Ohne darauf zu warten, dass sie aufstand, bellte Mr. Brillstein: »Raus!« Er richtete einen zitternden, knochigen Zeigefinger auf die offene Tür und schrie: »Entfernen Sie sich!«

In der Tasche ihres Rockes begann ihr Handy zu vibrieren. Penny musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass es Monique war, berechtigterweise verärgert.

Brillstein hatte recht. Sie sollte nicht hier sein. Sie sollte im spießigen Omaha sein. Sie sollte glücklich mit einem freundlichen, gleichmütigen Akademiker verheiratet sein. Sie sollte zwei Kinder haben und ein drittes erwarten. Das war ihr Schicksal. Ihre Klamotten sollten voller Babyspucke sein und nicht voller überteuerter doppelter Espressos.

Sie sah sich als Spiegelbild im Schuh, so winzig, wie Alouette D’Ambrosia in den Displays der vielen Handys ausgesehen hatte. Penny spürte, dass ihr die Tränen kamen, und beobachtete eine dabei, wie sie über ihre Wange rollte. Eine Welle von Selbsthass überflutete sie. Mit einer Hand wischte sie die Tränen weg und hoffte, dass keiner der Männer etwas bemerkt hatte. Sich mit gespreizten Fingern auf dem Teppich abstützend, versuchte sie sich hochzustemmen, aber die Mischung aus Schlagsahne, Karamell und Schokoladensirup klebte sie regelrecht am Boden fest. Und selbst wenn sie es schaffen sollte, auf die Beine zu kommen, fürchtete sie, dass die heiße Flüssigkeit ihre Bluse durchsichtig gemacht hatte.

Ungeachtet ihrer fröhlichen Farbe beobachteten die blauen Augen sie so konzentriert und unverwandt wie Kameralinsen. Sie vermaßen sie und zeichneten sie auf. Er war auch nicht gutaussehender, als sie schön war, aber sein Kinn hatte eine entschlossene Linie. Er strahlte Selbstbewusstsein aus.

Mr. Brillstein stammelte: »Mr. Maxwell, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzt ich über diese unverschämte Störung bin.« Er nahm sein Telefon in die Hand und tippte ein paar Zahlen ein. »Seien Sie versichert, dass ich diese junge Dame augenblicklich aus dem Gebäude entfernen lasse.« In den Hörer blaffte er: »Sicherheit!« Der Heftigkeit in seiner Stimme nach zu urteilen, würde es kein simpler Rauswurf werden. Es klang, als hätte er vor, sie vom Dach des Gebäudes werfen zu lassen.

»Darf ich Ihnen meine Hand anbieten?«, fragte der Blonde und streckte den Arm aus.

Ein Siegelring mit einem großen roten Stein glänzte an seinem Finger. Später würde Penny erfahren, dass es der drittgrößte Rubin war, der jemals in Sri Lanka gefunden wurde. Er hatte Sultanen und Maharadschas gehört, und jetzt kam er hier zu ihrer Rettung. Sein Funkeln blendete sie fast. Die Finger, die sich um ihre schlossen, waren überraschend kalt. Eine gleichermaßen erstaunliche Kraft zog sie hoch, während seine Lippen, diese Lippen, die Penny Filmstars und reiche Erbinnen hatte küssen sehen, sagten: »Jetzt, da Sie den Abend freihaben …« Er fragte: »Würden Sie mir die Freude machen, mir heute Abend beim Essen Gesellschaft zu leisten?«

Die Verkäuferin bei Bonwit Teller beäugte Penny mit verächtlicher Miene. »Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit einem höhnischen Grinsen in der Stimme.

Penny war jede Treppe hinaufgerannt, alle acht Straßenblocks von der U-Bahn bis zum Kaufhaus, und sie war noch nicht wieder zu Atem gekommen. »Ein Kleid?«, stammelte sie. Etwas entschlossener fügte sie hinzu: »Ein Abendkleid.«

Die Augen der Verkäuferin musterten sie von oben bis unten, kein Detail auslassend. Nicht Pennys traurige Jimmy-Choo-Billigimitate, gekauft bei einem Schuhdiscounter in Omaha. Nicht ihre Umhängetasche mit dem ausfransenden Schulterriemen und den Nusstortenflecken. Ihr Beinahe-Burberry-Trenchcoat konnte die Tatsache nicht vertuschen, dass ihre Kleidung mit kaltem Kaffee und klebriger Schlagsahne versaut war.

Ein paar Fliegen hatten den Geruch verlockend gefunden und waren ihr vom überfüllten Bahnsteig aus gefolgt. Penny versuchte, sie mit einer nonchalanten Handbewegung zu verscheuchen. Für einen unbeteiligten Beobachter musste sie wie eine verwirrte Person aussehen. Das abschätzige Taxieren der Verkäuferin schien eine Ewigkeit zu dauern und Penny unterdrückte den Drang, auf ihren abgelaufenen Fersen kehrtzumachen und dieser eingebildeten Frau stolz den Rücken zuzuwenden.

Die Verkäuferin für ihren Teil hätte auch eine High-Society-Lady vom Beekman Place sein können, die sich ein bisschen unters gemeine Volk gemischt hatte. Alles Chanel-Sowieso. Mustergültige Fingernägel. Keine nervtötenden schwarzen Fliegen schwirrten um ihren perfekten französischen Zopf oder summten vor der makellosen Haut ihrer Stirn. Nach der eiskalten Bestandsaufnahme schaute die Verkäuferin Penny in die Augen. In sprödem Ton fragte sie: »Ist es für eine besondere Gelegenheit?«

Penny wollte schon anfangen, ihr die Situation zu erklären, bremste sich aber noch rechtzeitig. Der reichste Mann der Welt hatte sie für heute Abend zum Essen eingeladen. Er hatte vorgeschlagen, um acht Uhr bei Chez Romaine zu sein, dem vornehmsten Fressschuppen der Stadt. Wahrscheinlich der ganzen Welt. Die Leute reservierten ihre Tische Jahre im Voraus. Jahre! Er war sogar einverstanden gewesen, sich dort mit ihr zu treffen. Auf gar keinen Fall wollte Penny, dass er die winzige Bude im fünften Stock ohne Aufzug sah, die sie sich mit ihren zwei Mitbewohnerinnen teilte. Natürlich platzte sie fast, wurde beinahe erstickt von dem Verlangen, irgendjemandem davon zu erzählen. Gute Neuigkeiten kamen einem nie wirklich real vor, bevor man sie mindestens einem Dutzend Freunden erzählt hatte. Aber diese misstrauische Fremde in der Modeabteilung von Bonwit Teller würde ihr niemals glauben. So eine unglaubliche Geschichte würde nur den Eindruck verstärken, dass Penny eine obdachlose Irre war, die nur hier war, um die wertvolle Zeit der Verkäuferin zu verschwenden.

Eine Fliege landete auf ihrer Nasenspitze und Penny verscheuchte sie. Sie zwang sich dazu, sich zu beruhigen. Sie war keine Bekloppte. Und sie würde auch nicht weglaufen. Die Angst aus ihrer Stimme verdrängend, sagte sie: »Ich würde gerne das neue Wickelkleid von Dolce und Gabbana sehen, das mit der gekräuselten Taille.«

Wie um sie zu testen, verengte die Verkäuferin die Augen und fragte: »In Krepp-Chiffon?«

»In Satin«, konterte Penny schnell. »Mit dem asymmetrischen Saum.« All die langen Warteschlangen vor der Supermarktkasse hatten sich wieder einmal bezahlt gemacht. Das Kleid, das sie im Sinn hatte, war das, welches Jennifer Lopez letztes Jahr bei der Oscarverleihung auf dem roten Teppich getragen hatte.

Die Frau taxierte Pennys Körper und fragte: »Größe 14?«

»Größe 10«, feuerte Penny zurück. Sie wusste, dass Fliegen in ihrem Haar landeten, aber sie trug sie, als wären es schwarze Perlen aus Tahiti.

Die Verkäuferin verschwand, um das Kleid zu holen. Penny betete fast schon darum, dass sie nicht zurückkehrte. Was sie hier machte, war vollkommen verrückt. Sie hatte noch nie mehr als 50 Dollar für ein Kleid ausgegeben, und das, nach dem sie gefragt hatte, konnte nicht weniger als 5000 Mäuse kosten. Ein paar Wischer auf ihrem Handy verrieten ihr, dass ihr Kreditrahmen das gerade eben noch hergab. Wenn sie das Kleid auf Rechnung kaufte, es zwei Stunden lang beim Abendessen trug und am nächsten Morgen zurückgab, dann hätte sie eine Geschichte, die sie für den Rest ihres Lebens erzählen konnte. Sie gestattete sich nicht, sich irgendetwas vorzustellen, das über heute Abend hinausging. Heute Abend, das war ein Schuss ins Blaue, mit wenig Aussicht auf mehr. Cornelius Maxwell war bekannt für seine galanten Gesten. Nur so war es zu erklären. Er hatte zugesehen, wie sie auf dem Teppich liegend von ihrem wütenden Boss gedemütigt wurde, und versuchte hiermit, ihren Stolz zu retten. Das war wirklich ritterlich von ihm.

Nach allem, was Penny in den Klatschblättern gelesen hatte, war Cornelius Maxwell berühmt für seine Ritterlichkeit.

Seine und ihre Herkunft unterschieden sich gar nicht so sehr. Er war in Seattle geboren worden, wo seine alleinerziehende Mutter als Krankenschwester gearbeitet hatte. Sein Traum war es immer gewesen, sie später in großem Stil zu versorgen, aber dann starb seine Mutter bei einem Busunglück. Als es passierte, studierte Cornelius noch an der University of Washington. Ein Jahr später gründete er in seinem Zimmer im Wohnheim die Firma DataMicroCom. Schon ein Jahr später gehörte er zu den reichsten Unternehmern der Welt.

Eine der ersten Frauen in seinem Leben war Clarissa Hind gewesen, eine wenig aussichtsreiche Kandidatin für den Senat des Staates New York. Mit seiner finanziellen Unterstützung und seinen politischen Beziehungen gelang es ihr, die Wahl zu gewinnen. Noch bevor ihre erste Amtszeit vorüber war, hatte sie es sich zum Ziel gesetzt, die jüngste Senatorin zu werden, die der Bundesstaat je nach Washington, D. C. entsendet hatte. Es schadete nicht, dass die Medien das Paar vergötterten: die schöne junge Senatorin und der unorthodoxe Hightech-Milliardär. Dank seines Geldes und ihrer Zielstrebigkeit gewann sie mit haushohem Vorsprung. Und drei Jahre später hatte Clarissa Hind nicht nur ihre eigenen Träume erfüllt, sondern auch die Träume von Millionen amerikanischer Frauen. Sie war zum ersten weiblichen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.

Während der ganzen Zeit hatte Corny Maxwell unermüdlich Wahlkampf für sie gemacht, sie ständig privat und in der Öffentlichkeit unterstützt. Aber die beiden hatten nie geheiratet. Es wurde etwas von einer Fehlgeburt gemunkelt. Es gab sogar Gerüchte, sie habe ihn gebeten, als Vizepräsident an ihrer Seite zu kandidieren, aber sobald die Wahl vorüber war, gaben die beiden in einer gemeinsamen Presseerklärung das Ende ihrer Beziehung bekannt. Auf dem Podium einer Pressekonferenz bestätigten die frisch gewählte Präsidentin und ihr forscher Partner ihre gegenseitige Zuneigung und Hochachtung, aber ihre Romanze war beendet.

Penny wusste, dass ein solcher Erfolg harte Arbeit und große Opfer erforderte, aber die Paparazzifotos ließen alles so einfach und mühelos aussehen. Präsidentin Hind war Pennys Inspiration dafür gewesen, Anwältin zu werden. Durfte sie es wagen zu träumen? Suchte Corny Maxwell womöglich nach einem neuen Schützling? Es erschien ihr nicht unmöglich, dass er irgendein angeborenes Potenzial in ihr erkannt hatte. Heute Abend, das war vielleicht eine Art Vorstellungsgespräch, und wenn sie gut abschnitt, mochte es sein, dass Penny Harrigan dazu aufgebaut wurde, eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne zu spielen. Sie stand kurz davor, Mitglied des exklusivsten Frauenclubs der Welt zu werden.

Ihre Spekulationen wurden jäh unterbrochen von einer dicken Fliege, die ihr in den Mund flog. Mitten in ihrem Tagtraum in der Modeabteilung von Bonwit Teller begann Penny zu husten und zu krächzen.

Das war vielleicht auch besser so. Sie ließ sich viel zu sehr von ihren Fantasien mitreißen, und die Zukunft hatte die Angewohnheit, einem das Herz zu brechen, wenn man zu viel erwartete. Man musste sich nur C. Linus Maxwell ansehen, der sich durch eine misslungene Affäre nach der anderen lächelte. Laut Clarissa war er mit einem Mitglied der britischen Königsfamilie zusammen gewesen. Eine echte Prinzessin, und zwar nicht etwa eine von diesen hässlichen, durch Inzucht gezeugten Trantüten. Prinzessin Gwendolyn war wunderschön. Sie war die Dritte in der Thronfolge, nur zwei Herzschläge davon entfernt, Königin zu werden. Und wieder schien es die ideale Kombination von europäischer Aristokratie und amerikanischem Hightech-Know-how zu sein. Die ganze Welt wartete auf die Bekanntgabe eines Hochzeitstermins. Als der König von der Kugel eines Anarchisten niedergestreckt wurde, war es Corny, der die weinende Prinzessin beim Begräbnis ihres Vaters stützte. Und als ein skurriler Unfall, ausgerechnet ein abstürzender Satellit, den designierten Thronfolger, Gwendolyns Bruder, tötete, war ihre Krönung eine sichere Sache.

Von Rechts wegen sollte Corny Maxwell heute eigentlich Prinzgemahl sein und ein luxuriöses Leben im Buckingham Palace führen, aber die Geschichte wiederholte sich – der Tycoon und die Aristokratin trennten sich einvernehmlich.

Zweimal hatte er eine mögliche Hochzeit mit einer der mächtigsten Frauen der Welt ausgeschlagen.

Wenn man den Gerüchten glauben durfte, so fühlte er sich von Frauen bedroht, deren gesellschaftlicher Status seinen in den Schatten stellte. Die Klatschblätter lästerten über ihn. Aber Penny hatte den Verdacht, dass C. Linus Maxwell immer der kleine Waisenjunge sein würde, der nach der verlorenen Mutter suchte, um sie mit seiner Liebe und seinem Reichtum zu überschütten.

Keine von Maxwells Ex-Flammen schien bei ihrer Liebesaffäre mit ihm schlecht weggekommen zu sein. Clarissa Hind war von der schüchternen Politikanfängerin zur Anführerin der freien Welt hochkatapultiert worden. Gwendolyn war anfangs ein Pummelchen gewesen – hübsch, aber etwas übergewichtig; während ihrer Beziehung mit Maxwell hatte sie abgenommen, und seither galt die Königin als Trendsetterin in Sachen Mode. Selbst Alouette hatte mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen gehabt. Die Regenbogenpresse war voll von Berichten über ihre Alkohol- und Drogenexzesse. Maxwell hatte sie clean gemacht. Seine Liebe hatte etwas bewirkt, das ein Dutzend gerichtlich verfügte Entziehungskuren nicht vermocht hatten.

Während Penny noch im Kaufhaus wartete, begann ihr Handy zu vibrieren. Es war Monique. Nicht länger über fehlende Stühle meckernd, simste Monique: »RUF MICH AN!«

Jeder bei BB&B musste inzwischen von der Neuigkeit erfahren haben. In gewisser Weise wäre es Penny lieber gewesen, keiner hätte es mitgekriegt. Es würde bestimmt peinlich sein, in den Augen der Leute mit Präsidentin Hind, Königin Gwendolyn und Alouette D’Ambrosia in eine Reihe gestellt zu werden. Penny durchforschte ihr Gedächtnis nach den Romanzen, die sich in der Zwischenzeit abgespielt hatten. Da war diese Dichterin gewesen, die den Literaturnobelpreis bekommen hatte. Die Erbin eines japanischen Stahlimperiums. Die Zeitungsbaronin. Bis heute hatte noch keiner dieser Füße in den gläsernen Pantoffel gepasst. Penny bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, aber was sie zwischen jetzt und Mitternacht tat, konnte durchaus über den Rest ihres Lebens entscheiden.

Bevor sie auf Moniques SMS antworten konnte, kam die Verkäuferin zurück. Über ihrem Arm hing eine Stoffbahn aus rotem Chiffon. Eine ihrer bleistiftdünnen Augenbrauen skeptisch hochgezogen, näselte die Frau: »Bitte schön … Größe 10.« Sie bedeutete Penny, ihr zu den Umkleidekabinen zu folgen.

Präsidentin Penny Harrigan. Mrs. C. Linus Maxwell. Ihre Gedanken wirbelten. In der morgigen Post würde ihr Name in Fettschrift zwischen den Prominentennamen auf Seite 6 stehen. Morgen würde diese eingebildete Kuh wissen, dass sie keine Lügnerin war. Jeder in der Stadt würde Pennys Namen kennen.

Was auch geschehen mochte, sie würde dieses Kleid sehr, sehr vorsichtig tragen.

Es war drei Uhr. Das Essen war um acht. Sie hatte noch genug Zeit, sich die Beine zu wachsen, ihre Haare machen zu lassen und ihre Eltern anzurufen. Vielleicht würde ihr das helfen, die Situation als realer zu empfinden.

Auf dem Weg zur Umkleidekabine fragte Penny die Verkäuferin nervös: »Sie bieten doch eine vollständige Geld-zurück-Garantie an, oder?« Und sie hoffte inständig, dass der Reißverschluss bis oben hin zuging.