Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2019, 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

© Shutterstock Bildnr. 1075702958 und 788381914

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98511-5

E-Book ISBN 978-3-608-11553-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meine Mutter

Vorwort

Meine Mutter steht in ihrem Leinenmantel auf einer Düne auf Norderney. Es stürmt, ihre Haare fliegen im Wind. Sie hält den Griff des rotweiß gestreiften Buggys fest. Neben ihr stehe ich, hellblonde Haare, winzig klein. Ich schaue zu ihr hoch und da passiert es: Eine heftige Windböe wirbelt Sand auf, ängstlich greife ich nach ihrer Hand und in diesem Augenblick reißt der Arm meiner Mutter ab. Was für schaurige erste Sätze in einem Buch über Mütter und Töchter. Aber vermutlich kennen auch Sie diese Träume, in denen Sie Ihre Mutter zu verlieren drohen. Verlustangst, Liebe, Wut, Trauer und Eifersucht sind nur einige der intensiven Gefühle, die wir mit unseren Müttern verbinden.

In meinem Freundeskreis wimmelt es vor komplizierten Mutter-Tochter-Beziehungen. Und auch ich fühlte mich als Kind, soweit ich mich zurückerinnern kann, in meiner Familie oft fremd, wie ein grünes Schaf unter weißen. Grün, weil anders, nicht schlechter, nicht besser, aber nicht wirklich zugehörig. Später trug ich die wunderschönen Ringe mit den bunten Steinen, die meine Mutter in wochenlanger Feinarbeit in ihrer kleinen Werkstatt für mich goldschmiedete, und trotzdem zweifelte ich manchmal an ihrer Liebe. Ehe ich lernte, sie nicht nur als Mutter zu sehen, sondern als ganz normalen Menschen mit Stärken und Schwächen.

Waren meine Konflikte typisch? Wie geht es anderen Töchtern? Gibt es auch vollkommen gelungene Mutter-Tochter-Beziehungen? Ich möchte erwachsenen Töchtern eine Stimme geben und ihre unterschiedlichen Erfahrungen aufschreiben. Im Internet suche ich Wissenschaftler, die sich mit Müttern und Töchtern befassen, und finde die Entwicklungspsychologin Sabrina Sommer, die an der Universität Paderborn über familiäre Beziehungen forscht. Was sie sagt, überrascht mich: Mütter und Töchter haben im Erwachsenenalter in den meisten Fällen eine sehr innige Beziehung. Sie verweist auf die aktuelle Längsschnittstudie Pairfam, die dokumentiert, dass sich Erwachsene mehr mit ihren Müttern als mit ihren Vätern verbunden fühlen und, das verwundert nun nicht mehr, dass Mütter im Alter mehr Unterstützung von ihren Kindern bekommen als Väter. Weil das emotionale Band zwischen ihnen stärker ist. Das wiederum liegt an unserer Kindheit: Mütter verbringen in der Regel nach wie vor mehr Zeit mit ihren Kindern als Väter. Irgendwann zahlt sich das anscheinend aus.

Ich durchforste wissenschaftliche Artikel und stoße auf den renommierten britischen Kinderpsychiater John Bowlby. Er analysierte in seiner dreibändigen Bindungstheorie (1969 bis 1980) die intensive Bindung von Säuglingen an ihre engste Bezugsperson, meistens die Mutter. Als einer der Ersten erkannte er, dass die frühe Trennung von Mutter und Kind, beispielsweise aufgrund eines Klinikaufenthaltes, gravierende seelische Folgen haben kann. Seine Mitarbeiterin Mary Ainsworth entwickelte seine Forschungsergebnisse weiter und belegte in Studien, dass die Feinfühligkeit und Zugewandtheit einer Mutter ihrem Kind gegenüber die Voraussetzung schafft, dass es eine gesunde Bindungsfähigkeit entwickeln kann.

Aber wie ergeht es uns, frage ich mich jetzt, wenn unsere Mütter nicht so zugewandt waren und uns Töchtern nicht das Gefühl vermitteln konnten, uns so zu lieben und zu schätzen, wie wir nun mal sind? Die US-Autorin Peg Streep schreibt im Magazin Psychology Today über nicht geliebte Töchter, zu denen sie auch sich selbst zählt:

»Das Bedürfnis einer Tochter nach der Liebe ihrer Mutter ist eine urtreibende Kraft, und dieses Bedürfnis verringert sich nicht, nur weil die Liebe nicht verfügbar ist. Es koexistiert mit der schrecklichen und Schaden anrichtenden Einsicht, dass die eine Person, die dich ohne Bedingung lieben soll, genau das nicht tut. Der Kampf um Heilung und Bewältigung ist ein gewaltiger. Er betrifft viele, wenn nicht gar alle Teile des Selbst, und besonders unsere Beziehungen.« Und weiter: »Der Sinn hinter der genauen Betrachtung unserer Wunden liegt aber nicht darin zu klagen und die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen angesichts der Mutter-Liebeskarten, die wir nun mal ausgespielt bekamen. Es geht darum, sich ihrer bewusst zu werden. Bewusstsein ist der erste Schritt zur Heilung. Aber nur zu oft akzeptieren wir unser inneres Geschehen einfach, ohne seinen Ursprung zu kennen.« Nicht jammern, weil wir es als Kind schwerer hatten, sondern die Schublade aufziehen, die verletzten Gefühle herausholen, anschauen, annehmen und dann heilen lassen. Leicht gesagt, denke ich, und nehme mir vor, mindestens eine Tochter für mein Buch zu finden, der das gelungen ist.

Nun überlege ich mir Themen, die ich zur Sprache bringen will: Adoption, Unterstützung der Enkel, Krankheit der Tochter, Leistungsdruck in der Kindheit, Kontaktabbruch, Pflege der Mutter, Schuldgefühle, unterschiedliche Ansichten zu moralischen Werten, Suizid, kontroverse Interessen. Über meinen Freundeskreis, über familiäre und berufliche Kontakte, über Internetforen und Fernsehbeiträge suche ich Töchter, die mir zu diesen Themen etwas sagen können. Ich vereinbare Interviewtermine, telefoniere, reise in den Süden und in den Norden Deutschlands, höre zu, staune und schreibe auf.

Mit der 33-jährigen Suleika laufe ich an der Flensburger Förde entlang und höre berührt zu, wie sie über ihre Liebe zu ihrer Geige spricht und darüber, wie sie als Teenager nicht mehr damit klarkam, dass ihr Geigenlehrer zugleich ihr Stiefvater war. Anschließend fahre ich nach Wolfenbüttel zu Karin, die von ihrer leiblichen Mutter als Kleinkind zur Adoption freigegeben wurde und sich mit Mitte sechzig auf die Suche nach ihr machte. Ich möchte wissen, wie es ist, gleich zwei Mütter zu haben, eine leibliche und eine Adoptivmutter. Weil sie ihre leibliche Mutter erst kennenlernte, als diese knapp neunzig war, bitte ich auch Ekkehard, ihren Zwillingsbruder, als einzigen Sohn in meinem Buch zu erzählen. Wie hat er die Mutter in der Kindheit erlebt, nachdem sie seine Schwester weggegeben hatte? Und wie kam er damit zurecht, erst mit vierundsechzig Jahren zu erfahren, dass er ein Zwilling ist? »Wer bin ich, dass ich moralisch über meine Mutter urteile?«, sagt Ekkehard und ich zucke zusammen, weil ich schon oft über meine Mutter urteilte, und zwar in weitaus unbedeutenderen Situationen.

Tagsüber beschäftigen mich die Mütter aus meinem Buch. Abends denke ich über meine eigene Mutterbeziehung nach. Im Urlaub in der Provence – das Manuskript ruht nach fünf Monaten erstmals – greife ich spontan zum Telefon und frage meine Mutter, ob ich ihr fremd war als Kind, ob sie auch das Gefühl hatte, dass ich nicht so richtig zur Familie gehörte. »Du kannst es ehrlich sagen«, schiebe ich mutig und ermutigend hinterher. »Nein«, sagt sie mit fester Stimme. »Ich habe dich von Anfang an geliebt, du bist mein Kind, ich fand dich genau richtig, so wie du warst. Und es tut mir ganz schrecklich leid, dass du das nicht so empfunden hast.« Warum kommt die Wertschätzung manchmal einfach nicht an?

Als Nächstes rufe ich Veruschka auf Hawaii an, die ihre frühe Kindheit mit ihrer alkoholabhängigen Mutter am Strand zwischen Hippies und Dealern verbrachte und heute – weit entfernt von der Mutter – wieder dort lebt. Nach unserem Interview muss ich tief durchatmen. Veruschka hätten die liebevollen Worte meiner Mutter sicher auch gutgetan. Wochen später lerne ich Veruschkas charismatische Mutter kennen. Wir treffen uns in einem Hamburger Café und sogleich spüre ich die Last ihrer Schuldgefühle, als sie über ihre Zeit im Gefängnis erzählt und über ihre letzten Worte an die Tochter (»Mami ist in zwei Stunden zurück!«), ehe sie für Jahre hinter Gittern verschwand. Hinter der großen schwarzen Sonnenbrille, die sie nicht einmal kurz absetzt, erahne ich ihre Tränen.

Je mehr Interviews ich führe, desto besser verstehe ich: Während die eine Tochter wütet, weil die Mutter ungefragt ihren Kleiderschrank aufräumt, verzeiht die andere der Mutter ohne große Worte, dass sie als Baby weggegeben wurde. So unterschiedlich unsere Mutter-Beziehungen sind, so verschieden sind unsere Möglichkeiten, mit unseren Müttern umzugehen. Wir Töchter können nicht beeinflussen, wie wir in der Kindheit von ihnen geprägt wurden. Aber eben doch, was wir aus unseren Prägungen machen.

Über eine Facebook-Gruppe, in der sich Töchter von Kriegskindern über ererbte Traumata austauschen, komme ich in Kontakt mit Sigrid. Sie erzählt mir von den Wahnvorstellungen ihrer Mutter als psychische Folge der Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs. Und – das interessiert mich jetzt besonders – schildert, welche Folgen die Traumatisierung ihrer Mutter auf ihre eigene Beziehung zu Männern hatte. Sigrid sagt: »Erst nachdem es mir gelungen ist, Mitgefühl mit meiner Mutter aufzubringen, schaffte ich es auch, Mitgefühl mit mir als Kind aufzubringen.«

Jetzt beschließe ich, Stefanie Stahl, die bekannte Psychologin und Autorin des von mir geschätzten Ratgebers Das Kind in dir muss Heimat finden, um ein Interview zu bitten. Ich möchte mit ihr über Glaubenssätze und Übergriffigkeit, ausbleibende Entschuldigungen, fehlende Wertschätzung, Eifersucht auf Geschwister und die Chance auf eine späte Versöhnung sprechen. Frau Stahl lädt mich in ihre Ferienwohnung ein und dann sagt sie, dass es auch mit vierzig, fünfzig oder siebzig Jahren noch sehr gut möglich ist, sich auszusöhnen und das eigene Selbstwertgefühl endlich nicht mehr von der Wertschätzung der Mutter abhängig zu machen.

Zuhause krame ich die alten Super-Acht-Filme aus meiner Kindheit heraus, die jahrelang unberührt in meinem Schreibtisch lagen. Ich schaue auf meine schöne Mutter, die in einem Schafstall kniet und mir lachend zeigt, wie man ein Lämmchen mit der Flasche füttert. Bin das wirklich ich, dieses fröhliche kleine Mädchen? Warum erinnern wir so oft die schlechten und nicht die schönen Erlebnisse?

Stefanie Stahl hatte mich ganz erstaunt angeschaut, als ich erwähnte, dass mir erst mit Ende dreißig klar wurde, dass die eine oder andere Sollbruchstelle meines Lebens mit der phasenweise komplizierten Beziehung zu meiner Mutter zusammenhing. »Aber die Frage, wie uns die Mutter prägt, liegt doch sehr nah«, sagte sie. Das stimmt. Aber jede Tochter hat ihr individuelles Tempo. Und ich habe das Glück, ein Buch über Mütter schreiben zu dürfen und von anderen Töchtern lernen zu können. Ich werde die Geschichten meiner Protagonistinnen in der Ich-Perspektive aufschreiben – so unmittelbar, wortgetreu und wertfrei, wie es diese Textform ermöglicht. Manche der Töchter aus diesem Buch mussten Mut beweisen und sehr weit zurückgehen, um bei sich selbst anzukommen. Und manchmal sind unsere Wunden, so formuliert es Hermann Hesse in Siddhartha, auch nicht dazu da, um in ihnen zu wühlen; sie sollen zur Blüte werden und strahlen.

Zum Abschied drückte mir Stefanie Stahl fest die Hand. Sie sagte: »Eine Tochter kann ihre Mutter nicht ändern, aber sie kann darüber nachdenken, ob sie mit dem, was die Mutter ihr geben kann, nicht vielleicht doch zurechtkommen könnte.« Oft ist das, was wir bekommen, sobald wir den Blickwinkel ändern, viel mehr, als wir ursprünglich dachten.

Kapitel 1

»Meine Mutter hat ihr Bestes gegeben«

Sie gilt als Geigenwunderkind, gewinnt früh erste Musikwettbewerbe. Doch in der Pubertät kommt Suleika, 33, nicht mehr damit klar, dass ihr Geigenlehrer ihre Mutter liebt und zugleich ihr Stiefvater ist. Sie verliert ihre Leichtigkeit und rebelliert gegen alles und gegen alle. Als ihre erste große Liebe tödlich verunglückt und ihr Leben aus den Fugen gerät, lernt sie ihre Mutter ganz neu kennen – und lieben.

»Suleika, was du alles kannst, wie mutig du bist, ich bewundere dich«, sagte meine Mutter vor ein paar Tagen zu mir. Wir verbrachten eine Ferienwoche auf Mallorca zusammen. »Ohne dich würde ich das alles nicht erleben«, sagte sie. Ich hatte den Flug gebucht, das Hotel reserviert, unsere Ausflüge geplant und im Restaurant mit meinem Improvisationsspanisch das Essen bestellt.

Meine Mutter ist ein sehr schüchterner Mensch, sie ist so vorsichtig, so zart, sie ist das Gegenteil von mir. Sie fühlt sich wohl, wenn sie nicht im Mittelpunkt steht. Am liebsten kümmert sie sich zu Hause im Garten um ihre Blumen. Zusammen mit Peter, ihrem Mann, meinem ehemaligen Geigenlehrer.

Als Teenie schrieb ich seitenweise Tagebuch. »Alle sind gegen mich, erst wenn ich tot bin, werden sie merken, wie sehr sie mich vermissen!« Ich fühlte mich klein und minderwertig, überflüssig, oft ungeliebt, einfach falsch in der Welt. Würde meine Mutter einige Passagen aus meinen Tagebüchern lesen, es würde ihr unglaublich leidtun. »Mama macht immer nur das, was Peter will, ich bin ihr total egal«, steht dort.

Es ist traurig, wenn Mütter ihre Kinder lieben, aber die Liebe nicht so ankommt, wie sie gemeint ist. Bei mir hat alles mit der Geige zu tun, das Schöne, aber auch das Schwere.

Als Jugendliche hatte ich immer das Gefühl, mich furchtbar anstrengen zu müssen, um Anerkennung zu bekommen und geliebt zu werden. Meine Eltern lebten getrennt voneinander, meinen Vater sah ich selten. Der Alltag bei meiner Mutter kreiste um meine Leistungen an der Geige. Hatte ich zu kurz oder zu schlampig geübt, war die Stimmung am Abendbrottisch im Keller. »Schade, Suleika, du verschenkst dein Talent«, sagte meine Mutter mit traurigem Blick. Bei mir kam an: »Ich bin so enttäuscht von dir.« Ich hatte genug Talent, aber ich war oft faul. Täglich hätte ich nach der Schule noch drei Stunden üben müssen, um mein Talent nicht zu verschleudern. Obwohl ich meine Geige liebte, setzte mich das sture Üben unter Druck. Es war mir zu viel. Noch schlimmer war, dass die Geigenstunde gefühlt kein Ende nahm. Denn wie gut ich die Etüden nachmittags hinbekommen hatte, wurde während des Abendessens von meinem Stiefvater und meiner Mutter nochmal ausgewertet. Es gab wenig Zeit, in der ich nur Suleika sein konnte und niemand irgendetwas von mir erwartete.

Dabei hatte ich mir die Geige sehnlichst gewünscht. Meine Mutter spielte in einem Folklore-Ensemble. Wenn sie ihre Noten auf unsere Holzkommode legte und Mozart übte für das Vorspielen in der Neubrandenburger Philharmonie, wo sie gerne arbeiten wollte und später auch angenommen wurde, saß ich auf dem Teppich, puzzelte oder malte und war glücklich. »Ich will auch Geige lernen«, bettelte ich monatelang. Es war mein sehnlichster Wunsch, einmal so schön zu spielen wie sie. Sie sagte immer: »Frühestens mit sechs!« Als ich sechs war, kam Peter, einer der renommiertesten Geigenlehrer unserer Gegend, für meine erste Stunde zu uns nach Hause in den vierzehnten Stock eines Hochhauses. Sechsundzwanzig Jahre älter als meine Mutter, gutmütig, als Lehrer aber auch sehr anspruchsvoll. Er legte mir die Geige unter das Kinn, zeigte mir, wie ich sie mit der linken Hand halte und schon strich ich mit ganzem Bogen über die Saiten. »Schau, wie sie das macht!«, rief er. »Sie fängt gleich virtuos an!« Noch heute höre ich seine begeisterte Stimme und sehe den überraschten Gesichtsausdruck meiner Mutter vor mir. Sie war so stolz auf mich. Nur fünf Minuten hielt ich aus, dann legte ich die Geige weg, rannte zu meinem Schaukelpferd und begann, wie verrückt darauf zu reiten. Ich rannte zurück, schnappte mir wieder die Geige, setzte sie an, spielte noch einmal fünf Minuten. Ich fand es wunderschön und unglaublich aufwühlend.

Von da an kam Peter jeden Tag zu uns. »Sie ist ein unglaubliches Talent«, sagte er. Schon bald spielte ich erste Wettbewerbe und gewann regional alles, was man gewinnen kann. Journalisten von der Lokalzeitung besuchten uns, machten Fotos von dem blonden Mädchen mit der Stupsnase und der Geige, das nicht aufhören konnte, von ihrer Mutter und ihrem Vater und der Tante und dem Stiefvater zu erzählen, die auch alle Geige spielten wie sie. Ich ging davon aus, dass Peter ausschließlich meinetwegen zu uns kam, auch wenn er nach dem Unterricht oft noch mit uns Abendbrot aß. Erst allmählich verstand ich, dass seine Besuche noch andere Gründe hatten. Vor meiner Einschulung fuhren wir mit Peter in den Urlaub ins sächsische Markneukirchen, wo eine weltberühmte Geigenbauerdynastie lebt. Wir schauten uns die Geigen- und Bogenbauer-Werkstätten an, sie gehören zu den ältesten und bedeutendsten im deutschsprachigen Raum. Es war mein erster richtiger Urlaub, absolut paradiesisch. Peter und ich gingen jeden Morgen Brötchen holen, ich schob den Kinderwagen meiner kleinen, über alles geliebten Schwester Friedi die Hügel herunter. Dass Peter und meine Mutter in diesen Tagen ein Paar wurden, bekam ich nicht mit. Bis heute sind sie sehr glücklich miteinander. Erst ein Jahr nach unserem herrlichen Urlaub ahnte ich, dass mein Lehrer nicht nur meinetwegen in die frei gewordene Wohnung unter uns gezogen war. Mein tägliches Üben lobte oder kritisierte er von nun an mit Klopfzeichen an seine Zimmerdecke. »Bist du etwa in Peter verliebt?«, fragte ich meine Mutter. Sie schaute mich ganz entgeistert an und sagte: »Ach, klar! Was denkst du denn?«

Ich fand es merkwürdig, aber es störte mich anfangs nicht. Erst mit elf Jahren, als es cooler wurde, mit Freunden durch die Stadt zu ziehen als Geige zu üben, wurde die Beziehung meiner Mutter für mich zum Problem. Auch wenn ich Peter gerne hatte, war er für mich in erster Linie ein Lehrer mit sehr hohen Erwartungen an mein Geigenspiel und mit wenig Sinn für meine pubertären Freizeitinteressen. Als er die Vaterrolle übernahm, verwischte für mich die Grenze zwischen Unterricht und Freizeit. Außerdem spürten meine feinen Antennen sofort, wenn sich seine Enttäuschung über meine schlechten Leistungen auf meine Mutter übertrug. Dass Peter nicht mit mir zufrieden war, konnte ich ganz gut aushalten. Dass Mutti nicht mit mir zufrieden war, ertrug ich überhaupt nicht. Brachte sie mich abends schweigend ins Bett oder war noch stiller als sonst, vermutete ich sofort, dass Peter sich über mich beschwert hatte. Von meiner Leistung im Geigenunterricht hing ab, so empfand ich es, ob wir es als Familie schön miteinander hatten oder uns beim Abendessen stumm und vorwurfsvoll anstarrten. Das Gefühl, nicht gut und richtig zu sein, drückte mir immer öfter die Luft ab.

Was mir zu Hause fehlte, versuchte ich von meinen Schulfreunden zu bekommen. Ich kasperte mich durch den Unterricht, reizte die Lehrer zur Freude meiner Mitschüler bis aufs Blut und so hagelte es Beschwerde-Anrufe bei meiner Mutter. Für jemanden, dem es zutiefst unangenehm ist, in irgendeiner Art aufzufallen, sind Anrufe von Lehrern ein echter Schlag ins Gesicht. Meine Mutter litt. Einmal sagte sie: »Ich gehe schon Umwege, damit ich niemanden aus deiner Schule treffe. Es wäre mir peinlich, wenn jemand denkt: Das ist doch die Mutter von Suleika.« Ich war so erschrocken und verletzt, stand auf, ging wortlos in mein Zimmer und knallte die Tür.

Manchmal versteckte ich mich abends hinter der Küchentür und belauschte meine Mutter, wenn sie mit Peter über mich sprach. Ich hörte sie sagen, dass es schade sei, wie faul ich geworden war, und was sie bloß falsch gemacht habe. Mit einem Kloß im Hals schlich ich zurück in mein Bett. Manchmal sprach sie auch über meinen Vater, von dem sie sich getrennt hatte, als ich ein Baby war. Meinen Vater liebe und verehre ich bis heute sehr, damals war er mein Held, im Wesen ganz ähnlich wie ich: ein Lebenskünstler, temperamentvoll, unkonventionell, gegen den Strom. Als sie ihm einmal berichtete, dass ich beim Klauen von Süßigkeiten erwischt worden war, lachte er und sagte: »Mensch, das war ja ärgerlich, dass sie auf frischer Tat ertappt wurde.« Er fand mich nicht niederträchtig, ich war trotzdem seine Tochter. Das beruhigte mich unendlich. Vor Peter kritisierte meine Mutter, dass sich mein Vater nicht gerade vorbildlich um mich kümmerte. Sofort schoss ich aus meinem Versteck und schrie: »Wehe, ihr fordert von ihm, dass er sich öfter meldet, er muss niemals irgendetwas tun! Wenn ihr das fordert, bin ich hier weg!« Ich hatte solche Angst, dass mein Vater enttäuscht von mir sein würde und komplett aus meinem Leben verschwinden könnte. Das durfte auf keinen Fall passieren. Je verlorener ich mich zu Hause fühlte, desto heldenhafter wurde mein abwesender Vater in meiner Phantasie.

Meine Mutter hatte meinen Vater, einen begabten Geiger, im Orchester kennengelernt. Er war vierzehn Jahre älter als sie, sehr charismatisch und verheiratet. Sie nahm Geigenunterricht bei ihm, er verließ Frau und Kind für sie. Sie wurde ziemlich schnell schwanger, mit achtzehn, sie wünschte sich ein Baby. Aber sie hatte keine realistische Vorstellung vom Muttersein. Drei Jahre zuvor hatte sie noch mit Puppen gespielt, und nun dachte sie: Wenn ich ein Kind habe, traue ich mich auch mal alleine nach draußen und kann stundenlang mit dem Kinderwagen spazieren gehen.

In einigen Geburtskliniken der ehemaligen DDR wurden die Babys ohne medizinischen Grund zwei, drei Wochen zu früh per Kaiserschnitt geholt. Immer an Donnerstagen, damit Krankenschwestern und Ärzte nicht am Wochenende arbeiten müssen. Ich wurde auch so ein Donnerstagskind. Meine Mutter freute sich, als der Arzt sagte, dass sie mich drei Wochen früher holen werden, damit sie nicht mehr so lange warten müsse. Kaum war ich auf der Welt, brachten sie mich, weil ich Gelbsucht hatte, in ein Kinderkrankenhaus in eine andere Stadt. Meine Mutter durfte einmal am Tag anrufen und fragen, wie es mir gehe. Statt an ihrer warmen Brust zu liegen, wurde ich mit einer Blaulichtlampe bestrahlt. Nach zwei Wochen durfte sie mich abholen. Die Stationsschwester legte ihr das Baby in den Arm, aber sie erkannte mich kaum noch. Ich hatte in der Zwischenzeit zugenommen und ein rosiges Gesicht gekriegt. Bis heute kommen ihr die Tränen, wenn sie über diesen Moment spricht oder wenn im Fernsehen eine Geburt gezeigt wird.

So beschaulich, wie sich meine Mutter das Familienleben vorgestellt hatte, wurde es nicht. Mein Vater brach mit den »Mecklenburger Zigeunermusikanten«, seiner volkstümlichen Band, schon kurz nach meiner Geburt zu einer ersten Konzerttour durch die DDR, Bulgarien und Tschechien auf. Meine Mutter wusste nie, wo er gerade war, ob er überhaupt noch lebte. Dieser Freigeist, ein so wilder, selbstbewusster Mann, der sie wochenlang alleine ließ, und meine ängstliche Mutter, das konnte nicht gutgehen.

Irgendwann bemühte sich ein anderer Mann um sie. Als mein Vater endlich wieder vor ihrer Tür stand mit einem Brautkleid im Koffer, gestand ihm meine Mutter, dass sie einen geordneten Alltag brauchte. Obwohl sie ihn liebte. So verschwand mein Vater aus meinem Leben und ich sah ihn während meiner gesamten Kindheit selten, viel zu selten. Er reiste häufig nach Indien, wo er in einem Aschram lebte und meditierte, und ließ sich später in Deutschland in einer selbstgebauten Waldhütte nieder. Für seinen Lebensunterhalt spielte er auf dem Mittelaltermarkt mit seiner Band. Einmal, als er Zeit hatte, durfte ich ein Wochenende lang bei ihm wohnen. Ein wunderschönes Abenteuer für mich.

Mit zwölf Jahren war meine Wut auf meine Mutter so groß, dass fast jedes Mittagessen, jedes Geigeüben, jede Hausaufgabenstunde eskalierte. Wir hatten kaum eine entspannte Minute miteinander. Sie kämpfte gegen meine Frechheiten, ich kämpfte um Zuwendung. Es verletzte mich, dass sie auf Peter hörte und nicht auf mich, dass immer zwei gegen mich standen und vor allem, dass sie mich nicht mehr verstand. Ich fühlte mich verlassen und schlief abends oft mit dem Gedanken ein, dass es besser für alle wäre, wenn es mich nicht gäbe.

Mit dreizehn war ich alt genug, um zum ersten Mal an einem Bundeswettbewerb von »Jugend musiziert« teilzunehmen. Wieder kam vor meinem Auftritt ein Journalist von der Tageszeitung. Ich wurde fotografiert und die gesamte Schule drückte mir die Daumen, es war alles wie immer. Nein, eine Sache war anders: Meine Unbeschwertheit war nicht mehr da. Stattdessen lastete ein unglaublicher Druck auf mir und große Angst zu versagen. Für die regionalen Wettbewerbe hatte ich mich nicht mal anstrengen müssen und trotzdem gewonnen. Der bundesweite Wettkampf war aber eine andere Nummer. Die Besten aus dem Land kamen zusammen.

Direkt vor mir spielte die spätere Gewinnerin. Ich verfolgte ihr Spiel über einen Bildschirm hinter der Bühne. Es war ein Schock. Noch nie hatte ich ein Kind in meiner Altersklasse gehört, das besser spielte als ich. Dieses Mädchen spielte viel besser. Ich wollte erst gar nicht mehr auftreten, ich wusste sofort, ich hatte keine Chance zu gewinnen. Auch wenn mir keine Fehler unterliefen, landete ich auf einem der letzten Plätze, und mein Selbstvertrauen bekam endgültig einen Knacks. Ich schämte mich so: vor den Kindern meiner Schule, den Nachbarn, meinen Freunden und vor allem vor meiner Mutter und mir selbst. Wozu überhaupt noch üben, wenn man sowieso nicht genügt? Meine Mutter und Peter versuchten mich aufzufangen und zu trösten. Sie lobten mich, erklärten mir, dass es schon eine Leistung sei, überhaupt in der Liga der Landesbesten mitzuspielen. Aber ihre lieb gemeinten Worte erreichten mich nicht. Mein Selbstwertgefühl hing seit Jahren an meinem Geigenspiel. Jetzt glänzte ich nicht mal mehr damit. Ich fühlte mich wertloser als je zuvor und ließ mir nun von Peter erst recht nichts mehr sagen.

»Das war zu hoch, Suleika!«

»Nein, das war genau richtig.«

Unsere Unterrichtsstunden wurden zur Qual. Nach dem Unterricht ging es genauso weiter. »Du bist nicht mein Vater, du hast mir gar nichts zu sagen!«, schrie ich. Und meine Mutter schrie: »Hör sofort auf, Suleika, wegen dir kriegt Peter noch einen Herzinfarkt!« Vielleicht hätten mir ein oder zwei Jahre Unterrichtspause oder zumindest ein anderer Lehrer gutgetan, aber meine Mutter hatte Angst, ihrer Verantwortung nicht gerecht zu werden, wenn sie zuließe, dass mein Talent verkümmerte. Schließlich verweigerte ich die Geige komplett, rührte sie wochenlang nicht an. »Gott hat jedem ein Talent gegeben. Es ist eine Schande, es zu verschleudern«, sagte Peter enttäuscht. Ich bekam Angst, weil ich nun auch noch Gott gegen mich aufgebracht hatte.

Mit dem Geigenstreik wollte ich herausfinden, ob meine Mutter mich auch ohne mein Geigenspiel liebt. Als sie schimpfte, weil ich nicht mehr übte, fühlte ich mich bestätigt: Es geht nicht um mich, es geht nur um meine Leistung. Abends in meinem Versteck hinter der Küchentür hörte ich Peter sagen: »Puh, wie sie heute wieder grimmig geguckt hat und nicht üben wollte.« Und meine Mutter: »Ja, und geschminkt hat sie sich auch wieder.«

Irgendwann kam Peter mit einem Professor aus Rostock um die Ecke, einem alten Freund, der mich statt seiner unterrichten sollte. Jedes zweite Wochenende fuhr ich nun mit dem Zug zwei Stunden nach Rostock zu diesem Professor, der überhaupt kein Verständnis für ein rebellisches Mädchen am Anfang der Pubertät hatte. Er übte die schwierigen Stellen nicht mit mir, wie ich es von Peter gewohnt war. Er sagte: »Melde dich halt wieder, wenn du genug geübt hast.« Damit kam ich auch nicht klar, und meine Mutter war enttäuscht, weil es trotz des neuen Lehrers nicht lief. »Sie ist so ein Talent und macht nichts daraus, das wird sie nicht mehr aufholen können«, sagte sie resigniert.

Und ich fing an, heimlich zu rauchen und die Schule zu schwänzen. Meine Mutter war nun so erschrocken und besorgt, dass sie sich Unterstützung vom Jugendamt holte. Ich hatte monatelang nicht mehr Geige geübt, die Stimmung zwischen Peter und mir war auf dem Tiefstand und meine Mutter wusste sich nicht mehr zu helfen. Als das auch nichts brachte, meldete sie mich in einem Internat für Sportler und Hochbegabte in Rostock an. Ich war ihr entglitten. Auch wenn ich mich anfangs sträubte, war das Internat ein Befreiungsschlag für uns alle. Mutti rief mich jeden Abend an, und ich fuhr jedes zweite Wochenende nach Hause. Peter störte nicht mehr zwischen uns, weil er nur noch mein Stiefvater und nicht mehr mein Lehrer war. Die Stimmung zu Hause wurde von Jahr zu Jahr friedlicher.

Nur mein Mathematik-Unverständnis, der Leistungsdruck und mein durchgeplanter Alltag aus Schule und drei bis fünf Stunden Geigeüben täglich stressten mich noch. Ich wusste, dass ich den Zahlenquatsch nach der Schule nie mehr brauchen würde, dass ich nur kostbare Zeit mit der täglichen Mathe-Nachhilfe vergeudete. Meine Mutter tröstete und ermutigte mich, sie hatte Verständnis für meinen Frust und meine miesen Noten.

Auf die Geige zu verzichten, um mehr Zeit für Mathe zu haben, kam für mich aber nicht infrage. Die Musik gab mir Ruhe und noch heute ist es so, dass meine kreisenden Gedanken aufhören und ich alles um mich herum vergesse, sobald ich spiele. In der Internatszeit stellte ich den Geigenkasten abends oft neben mein Bett, weil es mich beim Einschlafen beruhigte, die Geige dicht bei mir zu wissen. Je näher das Abitur rückte, desto schlimmer wurden meine Schulprobleme und meine Anspannung.

In der zwölften Klasse, ein Jahr vor den ersten Prüfungen, war kaum noch Lebensfreude und Leichtigkeit in mir. Oft schlief ich weinend ein, voller Angst vor dem neuen Tag. Eines Nachts betete ich verzweifelt zu Gott, er möge mir einen Weg aus meinem Alptraum weisen. Am folgenden Morgen wachte ich mit einem unglaublich erlösenden Gefühl in meinem Herzen auf. Ich wusste plötzlich, was zu tun war. Ich würde die Schule schmeißen und von nun an nur noch Geige spielen. Der Schulleiter war nicht mal überrascht, als ich ihm kurz darauf meine Entscheidung mitteilte. Er wollte nur wissen, ob ich ohne Abitur überhaupt Musik studieren könne. Ich wusste es selbst nicht, fand es aber am selben Tag heraus, und weil es möglich war, betrat ich nie wieder den Klassenraum. Abends rief ich meine Mutter an und erzählte ihr ruhig und bestimmt, was ich entschieden hatte. Sie muss gespürt haben, dass ich mir sehr sicher war. Sie hörte mir einfach zu und sagte dann: »Suleika, ich bin so froh, dass deine Stimme zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder fröhlich klingt, du wirst alles richtig entschieden haben!«

Ich blieb im Internat wohnen und bereitete mich auf die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vor. Da passierte etwas Wunderschönes. Ich verliebte mich in Torsten, den neuen Sozialpädagogen unseres Internats, der seinen Job anfing, als ich mich gerade von der Schule abgemeldet hatte. Er war zwölf Jahre älter als ich und wurde meine erste große Liebe. Jede seiner SMS schrieb ich in mein Tagebuch ab, nichts durfte verloren gehen. Ich hatte einen Freund, den ich über alles liebte, ich studierte Musik und meine Mutter war zufrieden mit mir und ich selbst war es auch. Ich war so glücklich. Bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag. Wir waren seit einem Jahr ein Paar. Ich hatte an diesem Tag wie sonst auch Orchesterprobe und konnte mich schlecht konzentrieren, weil ich mich wunderte, dass Torsten noch nicht angerufen und mir gratuliert hatte.

Nach der Probe klingelte mein Handy. Aber es war nicht Torsten. Es war mein ehemaliger Internatsleiter. Seine Stimme klang ernst. Er wollte mich treffen und mir etwas sagen. »Ist etwas mit Torsten?«, fragte ich in Panik und versuchte im Anschluss an unser kurzes Telefonat wieder und wieder meinen Freund zu erreichen. Sein Handy blieb ausgeschaltet. Dreißig Minuten später holte mich der Schulleiter ab und wir setzten uns auf die Wiese vor der Hochschule. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Torsten ist tot.« Gestorben in seinem geliebten VW