Die Klinik am See – 2 – Die Tochter des Chefarztes

Die Klinik am See
– 2–

Die Tochter des Chefarztes

Aus bitterer Enttäuschung fasste sie einen Entschluss

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-864-4

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Unbeweglich stand der Chefarzt der Klinik am See, Dr. Hendrik Lin­dau, an einem der beiden hohen Fenster seines Büros. Sinnend blickte er über den bis zum See hinreichenden Park in die Ferne. Die Nachmittagssonne zauberte glitzernde und funkelnde Reflexe auf das spiegelglatte Wasser. Nur im Unterbewußtsein registrierte Dr. Lindau dieses Bild. Auch einige Patientinnen seiner Klinik, die nicht bettlägerig waren und den lauen Spätnachmittag zu einem kleinen Spaziergang im Schloßpark oder Klinikpark, wie er ja jetzt hieß, nutzten, sah er nur aus den Augenwinkeln heraus. Seine Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt. Weit weg waren sie – in Indien, irgendwo in der Gegend von Kalkutta, bei seiner Tochter. Fast drei Monate war Astrid nun schon dort, zusammen mit ihrem Freund Peter.

»Du fehlst mir, Astrid«, kam es kaum hörbar über die Lippen des Leiters und Chefarztes der Frauenklinik am See, wie das frühere Schloß derer von Angern nun hieß.

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.

Dr. Lindau riß sich aus seinen Gedanken und drehte sich um. »Ja, bitte…«, rief er.

Marga Stäuber, seine bewährte Sekretärin, erschien im Türrahmen. »Es wird langsam Zeit, Herr Chefarzt«, sagte sie.

Dr. Lindau trat vom Fenster weg. Um seine Mundwinkel huschte ein kurzes Lächeln. »Frau Stäuber, wie oft habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß sie den Chefarzt beiseite lassen sollen und…«

»Aber Sie sind es doch nun einmal«, fiel die Sekretärin ihrem Chef ins Wort.

»Ja, natürlich«, gab Dr. Lindau zurück. »Wir beide aber kennen uns doch schon aus der Zeit, als ich noch unten im Ort als Landarzt meine Sprechstunden abhielt. Also bleiben wir beide doch weiterhin…« Er unterbrach sich und winkte lässig ab. »Na, Sie verstehen schon, was ich meine«, fügte er hinzu.

In den Augen von Marga Stäuber leuchtete es auf. Ihre ohnehin nicht gerade als klein zu bezeichnende Brust schien plötzlich vor Stolz noch um einiges anzuschwellen. »Wenn Sie meinen, Herr… Herr Doktor…«, stieß sie erfreut hervor.

»Ja, das meine ich«, bestätigte Dr. Lindau lächelnd. »Aber was wollten Sie mir eigentlich sagen?« fragte er, das Thema wechselnd.

»Nun, es wird Zeit, daß Sie ins Ärztezimmer gehen«, erinnerte Marga Stäuber ihren Chef.

Der stutzte kurz, war dann aber sofort im Bilde. »Richtig«, murmelte er, »ich habe die Kollegen ja zu einem kleinen Umtrunk nach Dienstschluß eingeladen.«

»Eben«, bestätigte die Sekretärin, »und ich glaube, daß alle schon auf Sie warten.«

»Alle?« fragte Dr. Lindau.

»Nun ja«, erwiderte Marga Stäuber und setzte hinzu: »Bis auf die diensthabenden Assistenzärzte. Die anderen habe ich alle verständigt – Frau Dr. Westphal, Dr. Reichel, Dr. Bernau, Dr. Hoff und Frau Sieber.«

»Fein haben Sie das gemacht.« Dr. Lindau knöpfte seinen weißen Mantel zu. »Der Sekt…«

»Steht schon bereit«, fiel Marga Stäuber dem Chefarzt lächelnd ins Wort. »Wir können also gehen.«

»Tja, dann wollen wir die Herrschaften nicht länger warten lassen«, meinte Dr. Lindau und setzte sich in Bewegung.

Marga Stäuber folgte der vorangehenden hohen Gestalt ihres Chefs. Wenig später betraten sie das große Ärztezimmer, in dem die von Marga Stäuber genannten ärztlichen Mitarbeiter der Klinik am See tatsächlich schon alle versammelt waren.

»Darf ich einschenken, Herr Chefarzt?« fragte Bettina Sieber.

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Bettina«, gab Dr. Lindau seiner Sprechstunden-Assistentin lächelnd zu verstehen. Er wartete, bis Bettina die Gläser gefüllt und jedem einzeln überreicht hatte. Dann erst ergriff er das Wort.

»Meine Damen, meine Herren, ich habe nicht die Absicht, eine lange Rede zu halten«, sagte er. »Der Grund, weshalb ich Sie hergebeten habe… einige von Ihnen werden ihn wissen…« Er nickte Marga Stäuber und Bettina Sieber lächelnd zu und fuhr dann fort: »Also heute, auf den Tag genau vor zwei Jahren, habe ich diese Klinik in Betrieb genommen, die früher einmal ein Schloß gewesen ist. Das heißt – ein Schloß ist der Gesamtkomplex äußerlich ja immer noch. Es dient jetzt allerdings der Heilung kranker Frauen. Es ist mir gelungen, in diesen zwei Jahren diese Klinik als alleiniger Besitzer zu übernehmen und damit unabhängig von Ämtern und Behörden zu bleiben. Unsere Klinik hat inzwischen einen Ruf, der nicht nur in unserer nächsten Umgebung bekannt ist. Das beweisen nicht zuletzt die Belegzahlen, die sich natürlich…«, er lächelte, »… wiederum in klingender Münze widerspiegeln. Da? das aber alles so ist, habe ich selbstverständlich auch Ihnen, meine Damen und meine Herren, und Ihren Fähigkeiten und Ihrer Arbeit zu verdanken. Darauf möchte ich nun mit Ihnen allen anstoßen und Ihnen sagen, daß ich mich freue, Sie in meinem Team zu haben.«

Sieben Gläser klangen mit leisem Klirren aneinander und sechs Menschen versicherten dem Chefarzt, daß sie nur zu gern unter seiner Leitung ihren Dienst an den kranken Menschen in dieser Klinik versahen.

Es war selbstverständlich, daß man sich nicht sofort wieder trennte, sondern noch für ein Weilchen plaudernd zusammenblieb. Alle waren ja dienstfrei, und es war nicht zu erwarten, daß es zu dieser Stunde noch zu irgendwelchen ärztlichen Einsätzen kommen würde, denen die beiden diensthabenden Assistenzärzte nicht gewachsen gewesen wären.

Keiner von den anwesenden Ärzten, weiblichen wie männlichen einschließlich des Chefarztes, ahnte in diesen Minuten der leichten Plauderei, daß sich schon ein neuer Fall für die Mediziner anbahnte.

*

Der warme Nachmittag hatte nicht wenige Menschen aus den in der näheren und weiteren Umgebung von Auefelden liegenden Städten in die freie Natur hinausgelockt. Vor allem konnten die verschiedenen Ausfluglokale nicht über mangelnden Besuch klagen.

Die »Waldklause«, eine knappe halbe Stunde von Auefelden entfernt, war eines dieser Lokale. Gisela Hohmann und ihr Mann Thomas betrieben es schon seit zehn Jahren. Die gutbürgerliche Küche der »Waldklause« zog viele an. Besonders in den frühen Abendstunden war es oft schwer, in der »Waldklause« einen Platz zu finden.

So war es auch an diesem Tag. Die Wirtin hatte alle Hände voll zu tun – in der Küche ebenso wie beim Ausschank, weil ihr Mann es nicht allein schaffte. Es gab da zwar noch eine weibliche Bedienung, aber die hatte ihren freien Tag.

Gisela Hohmann biß die Zähne zusammen und versuchte, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Doch gerade das wollte ihr nur schwer gelingen. Nicht etwa wegen der vielen Arbeit, sondern wegen ihrer wiedergekehrten Unterleibschmerzen. Vor einer halben Stunde waren sie wieder aufgetreten. Von Minute zu Minute wurde Gisela Hohmann übler.

Ihrem Mann entging das natürlich nicht. »Was ist los, Gisela?« fragte er, als er wieder einmal in der Küche ein Essen bestellte. »Hast du Schmerzen? Fühlst du dich nicht wohl?«

»Sie sind wieder da«, flüsterte die gerade erst fünfunddreißig Jahre alt gewordene Wirtin. »Schli…, schlimmer… als früher…«

Thomas Hohmann winkte einer der drei Küchenhilfen. »Herta, geh’n Sie raus und bedienen Sie!« befahl er und wandte sich wieder seiner Frau zu. »Ist’s wieder da unten?« fragte er besorgt.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht nickte Gisela Hohmann. »Als ob in meinem Bauch etwas herumkullern würde«, stieß sie hervor.

»Da hast du es«, brummte ihr Mann unmutig. »Vor Monaten schon hat dir der Arzt zu einer Operation geraten. Mit einem… einem…«

»Myom…«, half Gisela ihrem Mann weiter, als der nicht auf die Krankheitsbezeichnung kam.

»Ist ja egal«, brummte Thomas Hohmann. »Jedenfalls hättest du auf den Arzt hören sollen.«

»Ich hab doch solche Angst vor einer Operation«, gab Gisela leise zurück. »Bitte schimpf nicht mit mir!« bat sie und wieder verzog sie das Gesicht und faßte mit beiden Händen an ihren Unterleib.

»Ich schimpfe nicht, mach mir nur Sorgen«, beruhigte Thomas Hohmann seine Frau. »Setz dich hin und ruh dich aus! Ich sehe mal hinaus in den Gastraum, komme aber gleich wieder.« Hastig verschwand er in die Gaststube.

Gisela Hohmann stöhnte leise. Kälteschauer begannen sie zu schütteln. Ihr Unterbauch fühlte sich so sonderbar hart an. Ihr Herz begann hektisch, dabei aber irgendwie kraftlos zu jagen. Eine unbestimmte Angst kam über die Frau. Sie wollte sich erheben, schaffte es auch. Zwei Schritte konnte sie noch machen und dann plötzlich – wie vom Blitz getroffen, sackte sie mit einem Wehlaut auf den Lippen in sich zusammen und blieb zusammengekrümmt auf dem Küchenboden liegen.

Gerade in diesem Augenblick kam Thomas Hohmann wieder in die Küche zurück. Als er seine Frau am Rande einer Bewußtlosigkeit am Boden liegen sah, erblaßte er. »Gisela, um Gottes willen…«

Seine Frau gab keinen Laut von sich. Da schaltete er sofort. »Kümmert euch um den Betrieb!« rief er den beiden Küchenfrauen zu. »Ich fahre meine Frau in die Klinik am See.« Ohne daß die im Gastraum sitzenden Gäste etwas davon mitbekamen, trug er seine Frau durch den Hinterausgang zu seinem Wagen hinaus. Vorsichtig bettete er sie, die nun vollkommen ohne Besinnung war, in den Fond, setzte sich hinter das Steuer und fuhr davon.

In einer Rekordzeit von knappen zwanzig Minuten und unter Mißachtung aller Verkehrsregeln erreichte er die Klinik am See. Mit anhaltendem durch Mark und Bein gehenden Hupen hielt er mit knirschendem Bremsgeräusch vor dem Eingang zur Notaufnahme der Klinik.

*

»Herrschaften…« Dr. Lindau hob sein Glas, »… letzten Schluck… zum Wohl.«

Alle taten ihm Bescheid und setzten die Gläser ab. Die beiden Flaschen Sekt waren leergetrunken.

»Hat er getan«, meinte Dr. Bernau und schnalzte mit der Zunge.

»Mehr gibt es nicht, Herr Doktor«, erklärte Marga Stäuber.

»Zwei Glas pro Kopf sind auch ausreichend«, wurde sie von Bettina Sieber unterstützt. »Außerdem ist schon lange Dienstschluß und eine halbe Stunde gemütliches Beisammensein…«

»Wie, waren wir tatsächlich schon eine halbe Stunde hier?« staunte Dr. Hoff, der Frauenarzt und Chirurg. »Mir kam es nicht so lange vor.« Lauschend hob er plötzlich den Kopf. »Was ist denn das für ein Verrückter?« stieß er fragend hervor.

Jetzt hörten auch die anderen den langanhaltenden Hupton vor der Klinik, der dann aber nach einigen Sekunden abrupt wieder abbrach.

Dr. Lindau war schon an der Tür. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß etwas auf ihn zukäme, dem er nicht ausweichen konnte. Mit weit ausgreifenden Schritten strebte er der Aufnahme zu. Dr. Anja Westphal, ebenfalls Fachärztin für Frauenheilkunde und gleichzeitig rechte Hand des Chefarztes, folgte ihm. Sie hatte Mühe, Schritt mit ihm zu halten.

Die beiden kamen gerade in der Aufnahme an, als zwei Schwestern mit Hilfe des Pflegers Claus Hartung eine anscheinend bewußtlose junge Frau aus einem dunkelblauen Mercedes, der direkt vor dem Eingang zur Aufnahme stand, herausholten, auf die fahrbare Trage legten und mit ihr in die Aufnahme kamen.

»Meine Frau, helfen Sie bitte! Mit dem Unterleib hat sie es…, ein…, ein… Myom.«

Dr. Lindau gab dem Mann keine Antwort. Er kümmerte sich sofort um die Frau, die in diesem Augenblick teilweise aus ihrer Bewußtlosigkeit in die Gegenwart zurückfand und leise wimmert.

»O Gott, tut das weh…«

Dr. Lindau war durch das Wort Myom wie elektrisiert. Mit einem Blick erkannte er den bedrohlichen Zustand der Frau. Er prüfte den Puls und den Herzschlag, während die Ärztin gleichzeitig den Blutdruck und die Atmung der Patientin kontrollierte.

»Sofort eine Infusion anlegen!« befahl Dr. Lindau dem nun ebenfalls hinzugekommenen Dr. Hoff. »Ein Myomfall, der einen schweren Kreislaufschock im Gefolge hat. Wir müssen das in den Bauchvenen weggesackte Blut schleunigst auffüllen.«

»Verstanden«, murmelte Dr. Hoff. »Eine Volumen-Therapie also…« Er wandte sich an eine der beiden Schwestern und wies sie an, sofort alles für die Infusion vorzubereiten.

Dr. Lindau spritzte in aller Eile ein Herzstärkungsmittel. Der Kampf um das Leben der jungen Frau nahm seinen Anfang. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Ohne Überhastung und ohne Hektik geschah das alles.

Besorgt beobachtete Dr. Lindau die krampfartigen Zuckungen am Leib der Patientin. Anja Westphal fühlte die fieberheiße Haut der Kranken. »Akute Peritonitis«, stieß sie hervor.

Dr. Lindau nickte. Auch er war der Ansicht, daß es sich hier um eine akute Bauchfellentzündung handelte. Ihn irritierte nur ein wenig, daß vorhin etwas von einem Myom gesagt worden war. »Wer ist die Patientin?« fragte er die Aufnahmeschwester. »Wie heißt sie und wer hat sie hergebracht?«

»Gisela Hohmann ist ihr Name«, kam die Antwort. »Sie wurde von ihrem Mann hergebracht.«

»Wo ist er? Her mit ihm!« Dr. Lindau wußte, daß jede Minute zählte. Doch er benötigte noch einige Informationen, um eine präzise Diagnose stellen zu können.

Die Schwester rief den im Vorraum wie verrückt hin und her rennenden Thomas Hohmann in die Ambulanzstube.

Thomas Hohmann überfiel den Arzt und die Ärztin sofort mit einem Schwall ängstlicher Fragen, als er seine Frau auf der Trage liegen sah und den Infusionsapparat bemerkte.

»Augenblick, Herr Hohmann«, fiel Dr. Lindau dem aufgeregten Ehemann ins Wort. »Ich muß zuerst einiges wissen. Hat Ihre Frau diese Schmerzen und Anfälle öfter?«

»Eine ganze Zeit schon«, erwiderte Thomas Hohmann. »Seit Monaten quält sie sich schon mit so einer komischen Unterleibsgeschichte herum. Ein Myom hat sie oder wie das heißt. Dr. Bruckner, unser Hausarzt, hat ihr schon längst zu einer Operation geraten.«

»Haben Sie Adresse oder Telefonnummer dieses Arztes?« wollte Dr. Lindau wissen.

»Ja, Herr Doktor.« Thomas Hohmann nannte dem Chefarzt die Nummer.