Dr. Norden Bestseller – 227 – Als das Leid dich traf

Dr. Norden Bestseller
– 227–

Als das Leid dich traf

Wir haben beide Angst um unsere kleinen Kinder

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-923-8

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Dr. Norden war zu dem kleinen Thomas Westerlin gerufen worden, schon zum dritten Mal in diesem Monat.

Ein besonders hübsches Kind war der fünfjährige Junge, aber überaus zart. Doch Brenda Westerlin gefiel das. Dr. Norden hatte schon oft genug von ihr zu hören bekommen, dass sie dicke Kinder abscheulich fände.

Nun, er zog einen strengen Trennungsstrich zwischen gesund, kernig und übergewichtig, aber Thomas Westerlin hatte einiges Untergewicht, war blutarm und sehr anfällig. Aber wenn Dr. Norden das Brenda Westerlin sagte, glitzerten ihre Augen noch kälter.

Sie war eine sehr attraktive Frau, aber schön fand Dr. Norden sie nicht. Ihr fehlte die Wärme, die Ausstrahlung, die nach seinem Begriff Schönheit ausmachte. Sie war das, was er als ein Luxusweibchen bezeichnete, das seine Reize genau einzusetzen wusste. Sicher wäre Brenda Westerlin verbindlicher mit ihm umgesprungen, wenn er von diesen Reizen gebührend Kenntnis genommen hätte. Aber Dr. Daniel Norden war nun mal glücklich verheiratet mit einer ganz bezaubernden und besonders schönen Frau, der eine Brenda Westerlin bestimmt nicht das Wasser reichen konnte.

Brenda hätte auch einen anderen Arzt kommen lassen, aber ihr Mann, Jürgen, bestand darauf, dass Thommy von Dr. Norden behandelt wurde, und einen anderen Arzt hätte sein Sohn auch gar nicht an sich herangelassen.

Thommy war verwöhnt. Er setzte seinen Willen durch. Und wenn es gar nicht anders ging, wurde er eben wieder krank. Das hatte er schon heraus. Dr. Norden hatte es durchschaut, doch in diesem Fall behielt er es für sich, denn er wusste, was Thommy tatsächlich fehlte, nämlich eine Mutter, die ihrem Kind aufrichtige Liebe und Fürsorge entgegenbrachte und es nicht nur als besonders süßes Fotomodell vermarkten wollte, denn das tat Brenda.

Doch dafür gab es noch einen besonderen Grund, und der hieß André Schromm.

Daß sie Thommy immer wieder bewegen konnte, mit zu ihm ins Atelier zu fahren, lag daran, dass Thommy André ganz gern hatte. Er verstand es, mit dem Jungen umzugehen, obgleich er davon natürlich auch profitierte.

Doch an diesem Tag wollte Thommy lieber krank sein, weil seine Mama gerade mal wieder auf seinen heißgeliebten Papi geschimpft hatte.

Dr. Norden befand sich in einem großen Zwiespalt. Er wusste, dass Thommy eigentlich nur kräftiges Essen fehlte, und er hätte ihm gern auch jeden Tag Schnitzel gegönnt, die er jetzt verlangte, solange er Appetit darauf hatte, aber er wollte sich nicht mit Brenda Westerlin anlegen. Sie konnte eiskalt ihre Wünsche durchsetzen, und dass Dr. Norden durch kein noch so verführerisches Lächeln auf solche einging, wurde sie sofort aggressiv, wenn er ihr Verhaltensmaßregeln für Thommys Ernäh­rung erklärte.

Als Eltern von ganz besonders reizenden fünf Kindern hatten Daniel und Fee Norden André Schromm auch schon kennengelernt, aber bei ihnen war er auf Granit gestoßen, als er die Kinder fotografieren wollte. Für Brenda war André ein dufter Typ, nach dem sich alle Frauen umdrehten.

Er war kein Langweiler wie ihr Mann, den man nicht aus dem Hause locken konnte, wenn er des Tages Arbeit bewältigt hatte. Und dabei hatte Brenda doch gedacht, dass ein Chefredakteur beim Fernsehen auch ihr den Weg zu einer großen Karriere ebnen würde.

Daran hatte Jürgen Westerlin allerdings nie gedacht. Als Brenda immer wieder darauf anspielte, hatte er ihr knallhart gesagt, dass sie beim Film nur eine Pleite erleben würde, weil man da nicht nur mit den Wimpern zu klimpern brauche. Er konnte schon ziemlich drastisch sein, dieser Jürgen Westerlin, und er hatte auch bald die Erkenntnis gewonnen, dass Brenda sich etwas ganz anderes ausgerechnet hatte, als sie ihn mit ihren nicht bestreitbaren Vorzügen betörte, und trotzdem sehr gekonnt das liebenswerte, unschuldvolle Mädchen in den Vordergrund rückte.

Er sah dann so deutlich, dass er ihr in die Falle gegangen war und diese zuschnappte, und jetzt, nachdem er sechs Jahre dieser Ehe mehr oder weniger geduldig durchgestanden hatte, wusste er auch, dass Brenda ihn betrog, eben mit diesem André Schromm.

Das war ihm allerdings ziemlich gleichgültig geworden. Ihm ging es nur um Thommy. Und das wusste auch Dr. Norden.

Brenda hatte ihr Telefonat beendet und kam zurück. »Wird es lange dauern, bis er wieder okay ist?«, fragte sie gereizt.

»Ich habe für die nächste Woche einen Termin für einen Werbefilm.« Sie streichelte Thommys Wange. »Schau, Schätzchen, da können wir sogar an die Riviera fahren und als Belohnung bekommst du auch ein ganz tolles Fahrrad.«

»Aber nur, wenn Papi mitkommt und ich jeden Tag Schnitzel essen kann«, sagte Thommy, und Dr. Norden seufzte in sich hinein bei dem Gedanken, wie bestechlich Kinder waren, wenn sie von Anfang an begriffen, womit sie sich durchsetzen konnten. Im Grunde wusste Thommy ja nicht, worum es ging. Er mochte diesen André, und mit einem Fahrrad konnte man ihn schon nachgiebig stimmen.

Daß es an diesem Abend eine heftige Auseinandersetzung im Hause Westerlin gab, bekam Thommy nicht mit.

Er schlief, als seine Eltern im Wohnzimmer stritten.

»Du kannst machen, was du willst, Brenda«, sagte Jürgen Westerlin eisig. »Aber der Junge bleibt hier. Und wenn du mit diesem Schromm nicht Schluss machst, lasse ich mich scheiden.«

»Aber Thommy bekommst du nicht«, zischte sie.

»Das werden wir sehen. Ich sehe nicht mehr länger zu, wie du das Kind vermarktest. Und wer profitiert davon? Dieser windige Fotograf!«

»Bist du neidisch?«, fragte sie anzüglich. »Er ist eben creativ.«

»Er findet ja auch die richtigen Frauen, die er ausnutzen kann, aber ich habe es schon gesagt, was du machst, ist mir egal. Thommy bleibt aus dem Spiel. Es ist mein letztes Wort.«

»Du elender Spießer!«, fauchte Brenda. »Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt. Aber ich bin Thommys Mutter. Du bekommst ihn nicht.«

»Du brauchst ihn doch nur als Aushängeschild, als Reklamekind. Warum verkauft dein André dich nicht? Ich kann es dir sagen. Solche wie dich kriegt man zu Dutzenden billigst.«

In ihm hatte sich so viel aufgestaut, zuviel, und nun war ihm der Gaul durchgegangen. Ihr Gesicht verzerrte sich. Ihre Augen sprühten Hass. Ja, Hass! Ein beklemmendes Gefühl kroch durch Jürgens Körper, weil er an das Kind dachte, an seinen Sohn. Und wenn auch Brenda seine Mutter war, er liebte dieses Kind über alles.

*

André Schromm hatte für Brenda bei weitem nicht so viel Interesse wie für Thommy. Das Kind war unglaublich fotogen und verkaufte sich von selbst, ohne zu ahnen, was die Fotos und Filme schon wert waren. Das wusste allerdings auch Brenda nicht genau. Sie wäre auch wütend auf André geworden, wenn sie es erfahren hätte, denn Geld war Brenda noch wichtiger als ein Mann, wenngleich sie auf André auch nicht verzichten wollte. Er war so, wie sie sich einen Mann wünschte, ein Hansdampf, der genau wusste, wie man bekannt und erfolgreich wurde. Man musste ihm sogar zugestehen, dass er mit Thommy umzugehen wusste, denn Spaß machte es dem Jungen durchaus nicht, wenn geknipst wurde. Aber gerade das Mienenspiel, das er dann zeigte, kam an.

Für den nächsten Tag waren wieder Termine vereinbart, aber diesmal schien Thommy tatsächlich zu kränkeln. Doch Brenda gab nicht nach. Sie wollte auch mit André ernsthaft über ihre Zukunft sprechen.

»Wir kaufen dir nachher gleich das Rad«, versprach Brenda, um Thommy freundlich zu stimmen, aber er schüttelte den Kopf.

»Ich hab’ Halsweh und bin müde«, murmelte er.

»Das hat dir dein Vater eingeredet«, sagte sie wütend, »aber ich kenne das schon. Du kommst mit, sonst lasse ich dich allein in dem Haus und sperre dich in den Keller.«

So hatte sie ihm schon oft gedroht und zweimal war es auch geschehen, aber dann hatte er geheult, und sie hatte ihn wieder herausgeholt.

Thommy war aber tatsächlich zu apathisch, um heftig zu widersprechen, und Brenda beachtete nicht, dass sein Gesichtchen heiß war.

Verbissen zog sie ihn an, schimpfte, wenn er gar nicht mithalf und redete immer wieder davon, dass sie bald wunderschöne Ferien machen wollten.

»Aber Papi kommt auch mit«, sagte Thommy trotzig.

»Ja, er kommt mit«, erklärte Brenda, um ihn zu beruhigen.

*

Zur gleichen Zeit traf eine Familie die Vorbereitungen zu einem Ausflug mit dem Fahrrad. Günther Thomas hatte Urlaub, aber eine Reise konnten sie sich nicht leisten, denn sie hatten noch schwer an ihrem Reihenhäuschen abzubezahlen.

Günther und Martina Thomas waren seit sieben Jahren glücklich verheiratet und hatten zwei Kinder. Die sechsjährige Stefanie und den kleinen Peter, der gerade zwei geworden war. Daß der Thomas, ihr Nachname, eine schicksalhafte Bedeutung an diesem Tage erlangen sollte, ahnten sie nicht. Sie freuten sich, dass schönes Wetter war.

Peterle wurde in den Kindersitz auf Papis Rad gesetzt und festgeschnallt. Stefanie konnte schon sehr gut Rad fahren, und sie hielten es so wie immer. Voran Günther mit dem Kleinen, dann Stefanie, und das Schlusslicht bildete Martina. Und vorsichtig waren sie sonst auch, denn sie benutzten nur Radfahrwege, bis sie dann aus dem Ort heraus waren und durch Wald und Wiesen radeln konnten. Sie waren fröhliche, zufriedene Menschen, glücklich, ein kleines Eigenheim zu haben und zwei gesunde Kinder.

Sie hatten sich für diesen Tag allerhand vorgenommen, und weil eben Urlaub war, sollte auch in einer Waldwirtschaft zünftig gegessen werden. Da hatte Martina nur eine Tasche mit Obst und Keksen mitnehmen müssen.

»Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus …«, sang Stefanie mit ihrem hellen, reinen Stimmchen, als sie losfuhren, und Martina stimmte ein, während Günther Thomas sich aufs Pfeifen beschränkte.

*

Als Brenda mit Thommy das Haus verlassen wollte, läutete das Telefon. Sie lief noch mal zurück. Es war André, wie sie vermutet hatte, aber was er sagte, paßte ihr nun ganz und gar nicht.

»Du brauchst noch nicht zu kommen. Ich muss Linda Breken vorziehen«, sagte er. »In zwei Stunden bin ich fertig.«

Brenda paßte das nicht, und sie war schon manchmal mißtrauisch geworden wegen Linda Breken.

»Das werden wir schon sehen«, sagte sie zu sich selbst.

»Was denn?«, fragte Thommy.

»Hock dich hin und sei ruhig«, herrschte sie ihn an und drängte ihn in den Wagen.

Wenn ihre Stimme so klang, war Thommy wirklich lieber ruhig. Er hatte schon seine Erfahrungen mit seiner leicht erregbaren Mutter gemacht. Und wenn sie so schnell losfuhr, war besondere Vorsicht geboten. Dennoch sagte Thommy schüchtern: »Papi sagt, du sollst nicht so schnell fahren!«

»Und ich sage, dass du endlich den Mund halten sollst!«, herrschte sie ihn an. Und nun hatte sie wieder dieses Stechen im Kopf, das ihr schon manches Mal Angst eingejagt hatte. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, und dann merkte sie plötzlich, dass auch Blut aus ihrer Nase lief, so plötzlich und heftig, dass sie völlig außer Fassung geriet und statt auf die Bremse zu treten, erwischte sie den Gashebel in ihrer Benommenheit, und der Wagen geriet ins Schleudern.

Brenda Westerlin sollte allerdings nie mehr erfahren, welch schreckliche Folgen dies für die Familie Thomas haben sollte, die auf der anderen Straßenseite nichtsahnend in ihr Unglück fuhren.

Ein Bild des Grauens bot sich den Augen der Ärzte, die an den Unglücksort gerufen wurden, und es war auch Dr. Daniel Norden dabei, der dann zu seinem Entsetzen feststellen musste, dass das schwerverletzte Kind, das er aus dem Wagen holte, Thomas Westerlin war. Von der jungen Familie Thomas wurden Martina und ihre Tochter Stefanie ebenfalls in die Behnisch-Klinik gebracht. Günther Westerlin und sein kleiner Sohn waren auf der Stelle tot gewesen.

Martina Thomas wusste das noch nicht. Sie war bewusstlos, aber die kleine Stefanie schrie nach ihren Eltern und phantasierte.

»Papi, paß auf!«, rief sie auch mehrmals, und dann stammelte sie: »Papi, Peterle, Mami.« Sie hatte keine lebensgefährlichen Verletzungen. Sie war zur Seite geschleudert worden, aber sie litt unter dem Schock.

Thommy konnte nichts sagen. Auch er hatte geschrien, als der Wagen ins Schleudern geriet. »Paß auf! Paß auf!« Aber Brenda Westerlin konnte nichts mehr sagen und kein irdischer Richter würde sie zur Rechenschaft ziehen können. Sie war tot, und es war wie ein Wunder, dass Thommy überlebt hatte.

Dr. Norden hatte wieder einmal eine traurige Pflicht zu erfüllen, aber er hatte diese freiwillig auf sich genommen, weil er Jürgen Westerlin kannte.

»Ich komme«, murmelte Jürgen tonlos, als er begriffen hatte, was Dr. Norden ihm da sagen musste.

*

André Schromm hatte noch keine Ahnung, was sich da zugetragen hatte. Er war mit Linda Breken beschäftigt, aber er wollte sie doch nicht mehr anwesend wissen in seinem Atelier, wenn Brenda mit dem Jungen kam.

Sie zeigte allerdings nicht die geringste Neigung, ihr nun schon recht intimes tête-à-tête abzubrechen.

»Ich habe in einer Viertelstunde einen Termin mit dem kleinen Westerlin«, sagte er nun drängend. »Versteh das bitte, Linda.«

»Warum? Was hast du an ihm nur so einen Narren gefressen?«

»Das Kind ist eine Goldgrube«, sagte er.

»Und seine Mutter will dich an den Angelhaken legen. Mir machst du doch nichts vor, ich kenne diese Sorte Frauen.«

Er hätte ihr noch sagen können, dass sie auch dazu gehörte, aber noch brachte sie ihm Geld, und diesbezüglich war André Schromm noch berechnender als Brenda. Doch nun musste man schon sagen, als Brenda es gewesen war, obgleich er das noch nicht wusste.

»Weißt du was, André, ich schaue mir den Kleinen mal an. Vielleicht kann ich mit ihm was gemeinsam machen. Brenda mit ihrer dummen Visage bringt doch nichts.«

Mit ihrem spitzen Fingernagel tippte sie ihm auf die Nase und kicherte. »Ich werde schon nicht preisgeben, dass wir auch ein süßes Geheimnis haben, Schätzchen. Ich bin ja nicht kleinlich. Ich kann mich ja auch selber verkaufen. Ich brauche dazu kein Kind.«