RONALD M. HAHN

 

 

Henry jagt den Mondrubin

 

 

 

Ein komischer UFO-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

HENRY JAGT DEN MONDRUBIN 

1. Kapitel: Henry sendet S.O.S. 

2. Kapitel: Noch eine Botschaft 

3. Kapitel: Rätselhafte Andeutungen 

4. Kapitel: Kuriose Kontakte 

5. Kapitel: In letzter Sekunde 

6. Kapitel: Der Mondrubin 

7. Kapitel: Unliebsame Zwischenfälle 

8. Kapitel: Auf der Flucht 

9. Kapitel: Henry auf heißer Fährte 

10. Kapitel: Wichtige Ereignisse 

11. Kapitel: Der Partyschreck 

12. Kapitel: Eine böse Überraschung 

13. Kapitel: Jeder gegen jeden 

14. Kapitel: Knapp vorbei ist auch daneben 

 

Das Buch

 

Henry Kreuzer, ein juveniler, chronisch unterfinanzierter Privatdetektiv, und ein Auftrag, den er ablehnen kann (oder auch nicht); ein Club intriganter Ufologen – eine Verschwörung auf allerhöchste Ebene!; 100 D-Mark, die alles entscheiden (obwohl die wirklich wichtige Zahl 98 ist). Und: der geheimnisumwitterte verschwundene Mondrubin des Grafen Schönthann. Kuriose Kontakte! Jeder gegen jeden! Die Fäden laufen schließlich auf einem Ufologen-Kongress zusammen, der so manche überraschende Wendung für Henry bereithält...

 

HENRY JAGT DEN MONDRUBIN – ein komischer UFO-Jugendroman für Alt und Jung

Der Autor

 

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis - dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction - Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie - als Übersetzer - der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal. 

HENRY JAGT DEN MONDRUBIN

 

 

 

  1. Kapitel: Henry sendet S.O.S.

 

Da Tobias Kreuzer junior die ersten vierzehn Jahre seines Lebens mit der Welt in friedlicher Eintracht verbracht hatte, sah er keinen Grund, wieso sich daran etwas ändern sollte. Doch schon am ersten Sommerferientag seines fünfzehnten Lebensjahres, der als besonders regnerisch in die Geschichte einging, wurde ihm klar, dass es mit dem ruhigen Leben aus war.

Die Katastrophe fing damit an, dass ein hartnäckiger Störenfried an diesem Tag in aller Herrgottsfrühe an der Tür der Kreuzer'schen Wohnung Sturm schellte.

Tobias, noch halbwegs im Land der Träume, zuckte im Schlaf zusammen, fuhr hoch und schaute sich leicht belämmert um, wie es so seine Art war, wenn man ihn unerwartet aus den Federn riss. Über seinem Kopf bildete sich eine kleine Sprechblase, und in der stand ein ziemlich böses Wort, das Jungen seines Alters ziemlich oft aussprechen, wenn ihre Eltern gerade nicht in der Nähe sind.

Doch da der aufdringliche Störenfried nicht daran dachte, das Geklingel einzustellen, stellte Tobias sich eine Sekunde später die Frage, warum, um alles in der Welt, niemand an die Tür ging, um zu öffnen. Dann erst fiel ihm ein, dass er heute Morgen allein in der Wohnung war. Seine Eltern hatten Oma Lisbeth versprochen, am Wochenende das Unkraut zu jäten, das in ihrem Gärtchen wucherte. Vermutlich hatten sie das Haus beim ersten Hahnenschrei verlassen.

Tobias grunzte schlaftrunken. Dann fiel sein flinker Blick auf den Wecker, und ihm wurde mit Erschrecken klar, dass es schon neun war. Er sprang hastig aus dem Bett, warf sich den Bademantel um die Schultern und eilte barfuß und mit abstehendem Haar an die Tür.

»Herr Kreuzer?«, sagte jemand, der im Hausflur stand.

»Kreuzer junior...«, murmelte Tobias und rieb sich die Augen.

Vor ihm ragte ein schnaufender junger Mann in einer schwarzen Lederjacke auf, der gute Aussichten hatte, in den nächsten drei Jahren stolzer Besitzer eines Bierbauches zu werden. Ansonsten trug er Jeans, Turnschuhe und ein kariertes Hemd. Unter seiner linken Schulter klemmte ein Motorradsturzhelm mit einem Goofy-Aufkleber; in der rechten Hand hielt er ein graues Stück Papier, das er irgendwie ungeduldig vor Tobias' Nase hin- und her schwenkte.

»Ich hab' hier 'n Telegramm für Sie.«

»Danke.« Tobias nahm ihm den Umschlag ab und fragte sich insgeheim, ob er das Opfer eines Ulks geworden war. Menschen, die im Telefonzeitalter noch Telegramme verschickten, waren ihm nicht ganz geheuer.

»Sind Sie sicher«, sagte er zu dem jungen Mann mit dem Motorradhelm, »dass das Telegramm wirklich für uns ist?« Er musterte den Umschlag mit einem misstrauischen Blick.

»Heißt ihr nun Kreuzer oder nich'?« Der Telegrammbote warf einen argwöhnischen Blick auf das Namensschild unter der Klingel.

»Nun... äh... ja«, musste Tobias gestehen.

»Na, bitte.« Der Telegrammbote schwang sich auf das Treppengeländer und rutschte der Haustür entgegen.

Tobias zuckte die Achseln. Dann schloss die Tür, ging kopfschüttelnd in die Wohnung zurück und öffnete den Umschlag. Er war noch nicht ganz wach, als sein Blick über die Zeilen der Nachricht wanderte.

TOBY STOP BRAUCHE DRINGEND DEINE HILFE STOP MEINE ZUKUNFT STEHT AUF DEM SPIEL STOP VON DER ZUKUNFT DER MENSCHHEIT GANZ ZU SCHWEIGEN STOP KOMM SOFORT STOP WIEDERHOLE SOFORT STOP HER STOP UND BRING HUNDERT EIER MIT STOP HENRY.

»Oh, je...«, murmelte Tobias. Er wurde schlagartig munter.

Henry, der Telegrammabsender, war sein jugendlicher Onkel – der Bruder seines Vaters. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, das Schwarze Schaf der Familie, und lebte seit zwölf Monaten in einer kleinen Studentenbude am anderen Ende der Stadt. Henry war aufgrund seiner  – wie er es nannte  – »unspießigen« – Lebensweise vor vier Jahren von der Schule geflogen und verdiente seinen Lebensunterhalt seither als Privatdetektiv. Jedenfalls behauptete Henry dies, doch Tobias wurde den Verdacht nicht los, dass er hauptsächlich von Gelegenheitsjobs auf dem Großmarkt lebte, denn Detektiven in seinem Alter traute die Kundschaft nicht viel Erfahrung zu – weswegen die Stadtwerke Henry schon des Öfteren Strom, Gas und Wasser abgestellt hatten.

Auch als Schriftsteller hatte Henry sich versucht, auch wenn seine Werke, die er unter dem Künstlernamen Elisabeth von Stolzenfels an den Leser brachte, hauptsächlich von schönen Grafen und nicht weniger schönen adeligen Fräuleins handelten. Schon als Kind hatte er die Familie mit seiner blühenden Phantasie entzückt. Henry hatte schon immer, wenn die Schule drei Seiten Aufsatz verlangte, dreizehn Seiten abgeliefert. Doch da seine Fabulierkünste selbst Baron Münchhausen in den Schatten stellten, hatte sein Lehrer sie meist mit dem Satz »Thema verfehlt« versehen. Henrys sorglose Streiche als Gymnasiast hatten ihn beim Direktor so beliebt gemacht, dass dieser ihn zweimal gebeten hatte, die Klasse noch ein Jahr mit seiner Anwesenheit zu beehren. Unvergessen – zumindest bei den Schülern – war beispielsweise Henrys Ulk, sich nachts in die Schule einzuschleichen und das Lehrerzimmer mit Zehnzöllern zu vernageln.

Irgendwann hatte man Henry jedoch nahegelegt, die freie Wirtschaft mit seinen Talenten zu beglücken, und so hatte er als Verehrer des Schauspielers Humphrey Bogart beschlossen, fortan als Detektiv die Finsterlinge der Welt zu bekämpfen. In der zwölfmonatigen Phase, in der er vergebens darauf gewartet hatte, dass Klienten mit dicker Brieftasche sein Büro betraten, hatte ihn ein Heftchen mit dem Titel »Das falsche Spiel des schönen Grafen« auf die Idee gebracht, sich als Schreiber zu versuchen. Als 1-A-Absolvent eines Schreibmaschinenkurses hatte er nur eine Woche gebraucht, um in diesem Metier Karriere zu machen. Als gewitzter Unternehmer testete er den Geschmack seiner zukünftigen Leser, indem er sein neuestes Werk zuerst einer Gemüsefrau zu lesen gab. Ging es ihr ans Herz, war es genau richtig! Leider hatte ihm sein Verleger kürzlich Hausverbot erteilt, weil er es nicht lassen konnte, mit den Sekretärinnen zu schäkern.

Henry war aufgrund seiner sonnigen Natur auch in allen Discos, Kneipen und Spielhöllen der Stadt beliebt. Seine Freizeit verbrachte er gern in Lokalen, die man – so Tobias' Vater – nur mit einem Stuhlbein in der Hand betreten konnte. Henry war auch jeder neuen Moderichtung aufgeschlossen. Während sein älterer Bruder sich in der Jugend damit begnügt hatte, sein Haar bis auf die Schultern wachsen zu lassen, hatte Henry alles mitgemacht: Er war als Irokese, Apache, Sioux und Marsmensch aufgetreten, hatte sich das Haar grün-rot gefärbt, an sonnigen Tagen die Schule geschwänzt, war mit Punks und Rockern herumgezogen und im örtlichen Tageblatt als Anführer einer Protestdemonstration gegen die Erhöhung der Zoo-Eintrittspreise bekannt geworden.

Kreuzer Senior lief regelmäßig blau an, wenn Henry bei ihm aufkreuzte, denn wenn er kam, steckte er meist in finanziellen Schwierigkeiten und wurde von Bäckern, Fleischern und Finanzbeamten verfolgt. Natürlich konnte er als Christenmensch seinen jüngeren Bruder nicht verleugnen, doch wenn Henry zu Besuch kam und gerade irgendwelche Geschäftsfreunde zu Gast waren, führte er die komplizierte Eiertänze auf, um zu verhindern, dass man ihn zu Gesicht bekam. Kreuzer Senior nannte Henry nur 'die Nervensäge'. Wenn er wieder fort war, schlug er regelmäßig drei Kreuze. dass sein Sohn Henry mochte, war ihm sehr verdächtig; er schien große Angst zu haben, Tobias könne eines Tages in seine Fußstapfen treten.

Und nun brauchte Henry also mal wieder mal Hilfe. Typisch! Ausgerechnet heute, wo Tobias mit seinem alten Freund Freddy zu einer Flohmarkt-Expedition verabredet war!

Während Tobias sich unter der Dusche erfrischte, seine Zähne schrubbte, in die Kleider schlüpfte und das Frühstück verzehrte, das seine Mutter in der Küche für ihn zubereitet hatte, fragte er sich, was wohl der eigenartige Satz zu bedeuten hatte, dass neben Henrys Zukunft auch die der Menschheit auf dem Spiel stand. War es mal wieder eine seiner typischen Übertreibungen? dass er nach hundert »Eiern« schrie, zeigte deutlich, dass ihm das Wasser bis zum Halse stand. Aber wieso sollten seine finanziellen Probleme Auswirkungen auf das Schicksal der Menschheit haben?

Als Tobias fertig war, schlich er zur Besteckschublade, zückte ein langes Messer und überfiel sein Sparschwein. Er raubte fünf fast neue Zwanziger, steckte sie zu seinem Taschengeld ins Portemonnaie und eilte aus dem Haus. Er hatte die Bushaltestelle kaum erreicht, als es auch schon los regnete.

»Wie das wieder regnet!«, brummte er missmutig vor sich hin. »Na, kein Wunder – bei diesem Wetter!« Auf der langen Fahrt durch die Stadt fragte er sich seufzend, ob er sein sauer Erspartes je wiedersehen würde. Henry war ein typischer Pechvogel. Selbst wenn er morgen etwas verdiente, war ihm zuzutrauen, dass er es übermorgen bei irgendeinem Kredithai abliefern musste.

Das Telegramm war eine typische Marotte von ihm, denn er liebte dramatische Auftritte über alles. Ein Anruf wäre viel zu popelig für ihn gewesen. Telegramme hingegen signalisierten Mord und Brand!

Das Viertel, in dem Henry seine Zelte aufgeschlagen hatte, war nicht gerade das feinste. Als Tobias aus dem Bus stieg, regnete es noch stärker. Er duckte sich unter die Markise eines Gemüsehändlers und schaute sich um. Auf dieser Straße reihten sich Kneipen und Spielhöllen aneinander. Leuchtreklamen, die am hellen Tag eher trist wirkten, versprachen tolle Unterhaltung. Tobias warf einen Blick auf das gegenüberliegende Eckhaus, in dem Henry wohnte.

Es war ein heruntergekommener Backsteinbau aus dem 19. Jahrhundert. Neben der hölzernen Eingangstür prangten mehrere Messingschilder, die verkündeten, dass das Gebäude kein gewöhnliches Mietshaus war: In ihm befanden sich die Büros eines Hypnotiseurs, einer Wahrsagerin, eines Wunderheilers, eines Rechtsanwalts und des 'Privatdetektivs' Henry Kreuzer. dass es unter diesem Dach auch einen Anwalt gab, fand Tobias sehr praktisch. Vielleicht konnte Henry seine Dienste irgendwann einmal brauchen.

Er überquerte eilends die Straße und betätigte die Klingel, doch niemand öffnete. Henry schien nicht zu Hause zu sein. So ein Mist! Was nun? Tobias wandte sich zähneknirschend von der Tür ab und hielt nach einem trockenen Plätzchen Ausschau, um das Ende des Unwetters und Henrys Rückkehr abzuwarten.

Doch auf einmal ging die Haustür von innen auf, und eine Frau mit Einkaufstasche kam heraus.

Jetzt! Tobias nutzte die Gelegenheit. Er hechtete an der Frau vorbei, erwischte die Tür, bevor sie ins Schloss fiel, und eilte in den ersten Stock hinauf. An der mit allerlei bunten Graffiti verschönerten Tür, hinter der sich Henrys Reich erstreckte, war mit einer Reißzwecke ein Zettel befestigt, auf dem stand: BIN BERUFLICH IN TADSCHIKISTAN. KOMME IN 18 MONATEN ZURÜCK.

»Was?!«, sagte Tobias vor sich hin. »In Tadschikistan?« Er wusste nicht mal genau, wo dieses Land lag. Woher hatte Henry das Geld, um ins finsterste Asien zu reisen, wo er ihn gerade erst um einen Hunderter angepumpt hatte? Da stimmte doch irgend etwas nicht! Der Zettel war bestimmt nur einer der kranken Scherze, für die er berüchtigt war.

Tobias riss ihn ab und sah sich die Rückseite an. Dort stand in mikroskopisch kleinen Krakelbuchstaben: TOBY, VERLASSE DAS HAUS. ICH BEHALTE DICH IM AUGE UND NEHME BEIZEITEN KONTAKT MIT DIR AUF.

Was hatte das nun wieder zu bedeuten?! Wollte Henry ihn auf den Arm nehmen?

Tobias spürte, wie der Rochus in ihm hochkochte. Da hatte er sich nun in aller Frühe aus dem Bett werfen und dazu bringen lassen, sein Sparschwein zu erleichtern – und nun spielte dieser Clown Schnitzeljagd mit ihm!

Er sollte das Haus verlassen und im Regen stehen? Bei so einem Wetter schickte man doch keinen Hund vor die Tür! Außerdem war er um 13.00 Uhr mit Freddy verabredet! Er hatte, weiß Gott, Besseres zu tun, als mit einem Chaoten Räuber und Gendarm zu spielen! Auch dann, wenn der Chaot sein Lieblingsonkel war!

Tobias war echt geladen, und so hob er den rechten Arm und donnerte an die Wohnungstür. Wumm! Wumm! Wumm!

»Mach auf, Henry!«, schrie er. »Ich bin's! Toby, dein Neffe! – He, Henry! Wo steckst du?«

Grabesstille. Im ganzen Haus. Niemand öffnete. Nirgendwo ein Laut. Das Haus schien unbewohnt zu sein; nicht einmal ein Nachbar tauchte auf, um sich über den Lärm zu beschweren. Die Atmosphäre in dem alten Gemäuer war geradezu gespenstisch.

Dann hörte Tobias ein leises Knarren. Er spitzte die Ohren, aber es waren nur die wurmstichigen Dielenbretter, die auf sein verlagertes Gewicht reagierten.

Urplötzlich fegte ein kalter Luftzug durch den Flur, dann krachte die Haustür ins Schloss. Tobias fuhr aufatmend herum, um sich dem – wie er annahm – endlich auftauchenden Henry zuzuwenden.

Dann vernahm er ein lautes Schnaufen, und ein fettleibiger Mann in den Dreißigern eilte im Laufschritt die Treppe hinauf. Er hatte blondes Haar, lange Koteletten, durchdringend blaue Augen und war mit einen hellen, von Regentropfen da und dort verdunkelten Trenchcoat bekleidet. Seine Augen sprühten Blitze, so dass Tobias auf der Stelle erkannte, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war. Da die Hände des Unbekannten ihm so groß wie Schaufeln erschienen, leitete er unweigerlich den Rückzug zur gegenüberliegenden Wohnungstür ein.

Doch zu seiner Überraschung ignorierte ihn der Mann.

»Wo steckt der Lump?«, rief er erbost. Er huschte an Tobias vorbei und schlug ebenfalls mit den geballten Fäusten auf die unschuldige Tür ein, bis es im ganzen Treppenhaus widerhallte. »Wenn ich ihn erwische, drehe ihm den Hals um!« Er stampfte wie ein freches Kind mit dem Fuß auf. »Komm raus, du verräterischer Halunke! Ich weiß, dass du da bist!«

Er klang wirklich wütend! Schuldete Henry ihm etwa Geld? Hatte er den Hunderter deswegen mitbringen sollen? Vielleicht war es besser, nicht danach zu fragen.

Tobias machte sich dünn und pirschte heimlich zur Treppe, doch als er sich nach unten verdrücken wollte, fuhr der Mann herum und packte ihn am Kragen.

»Hiergeblieben!«, rief er. »Zuerst will ich wissen, wo der verflixte Schnüffler steckt!« Er sah dem vor Angst schlotternden Tobias in die Augen. »Sprich, Bube! Wo hat er sich versteckt? Du weißt doch, wo er ist!«

»Iiiich?«, rief Tobias empört und schüttelte heftig den Kopf. Er zappelte im Griff des Mannes, der ihn drei Zentimeter über dem Boden schweben ließ. »Ich kenne diesen Menschen doch gar nicht!«

»Ha!«, sagte der Fremde abfällig. »Erzähl mir doch nichts! Ich habe dich vor seiner Tür stehen sehen! Und außerdem...« Sein Blick heftete sich auf Tobias' Augen. »Außerdem bist du nicht zum Lügen geboren! Ich seh' dir an, dass du schwindelst! Also los, raus damit! Wo steckt dieser verflixte Kreuzer?«

Plötzlich fiel sein Blick auf die Notiz, die Tobias in der Hand hielt, und er sagte gefährlich leise: »Was hast du da in der Hand?«

»Iiiich?«, wiederholte Tobias so unschuldig und erstaunt wie möglich. Er musterte den Zettel mit einem angeekelten Blick, als sei er ein ihm zugelaufener Regenwurm. »Nichts.«

»Nichts?«, sagte der Mann ungläubig. »Glaubst du etwa, ich habe was an den Augen?«

»Ach, das...«, hauchte Tobias, bleich vor Angst. »Das ist doch nur 'n Zettel...«

»So, so!«, sagte der Mann. »Nur 'n Zettel!« Er riss ihm den Zettel aus der Hand. »Er hing an der Tür, was?« Er lachte irgendwie schadenfroh und las dann Henrys Nachricht. »Nach Tadschikistan ist er also gefahren? – Da lachen ja die Hühner!« Er schüttelte den Kopf. »Von so einer Null lasse ich mich doch nicht reinlegen!«

Der Griff um Tobias' Kragen löste sich, dann gab der Mann ihm den Zettel zurück – zum Glück, ohne die Rückseite zu lesen.

Tobias atmete erleichtert auf und ließ ihn heimlich in der Tasche verschwinden.

»Kann ich jetzt gehen?«

»Wenn du den Burschen wirklich nicht kennst«, sagte der Mann, »wieso hast du dann den Zettel abgemacht?«

»Na, aus Neugier«, schwindelte Tobias schlagfertig. »Ich wollte sehen, was draufsteht.«

»Na schön, hau ab«, sagte der unheimliche Mann und winkte ihn beiseite. Er wandte sich wieder der Tür zu, um sie erneut mit seinen riesigen Fäusten zu traktieren. »Kommen Sie raus, Sie Oberlump«, schrie er dabei, »oder ich vergesse mich!«

Tobias eilte wie ein Blitz durch das Treppenhaus und stürmte ins Freie. Als er im Regen stand, atmete er auf und schüttelte sich.

Brrr, das war knapp gewesen! Er fragte sich, wer dieser Grobian war. So, wie er sich aufführte, konnte es durchaus sein, dass Henry Grund hatte, sich vor ihm zu verbergen. Was hatte er bloß wieder angestellt? Und was sollte der Blödsinn mit der Reise nach Tadschikistan?

  2. Kapitel: Noch eine Botschaft

 

Nachdem Tobias sich sicherheitshalber in ein Café mit dem eigenartigen Namen 'Käffchen' zurückgezogen hatte und bei einem Espresso die gegenüberliegende Haustür beobachtete, fiel sein Blick auf einen schwarzen Volvo, der am Rinnstein stand. Hinter dem Steuer saß ein ganz in Schwarz gekleideter Mann und blätterte in einer Zeitschrift.

Der Mann war groß, knochig und hatte einen blassen Teint. Zahlreiche Blatternarben und ein viereckiges Kinn ließen ihn dem Schauspieler Eddie Constantine ähneln. Der Mann kaute auf einem Zahnstocher herum, sah hin und wieder auf seine Armbanduhr und erweckte den Anschein, auf jemanden zu warten. Je länger Tobias ihn beobachtete, desto unheimlicher wurde er ihm. Der Bursche sah wirklich wie ein Filmganove aus. Wartete er etwa auch auf Henry?

Trotz alledem: Die Zeit drängte. Es war halb elf. Der Minutenzeiger der Uhr im Café Käffchen schien zu rasen. Tobias beobachtete die Haustür und den Volvo mit einem Adlerblick, doch er wartete vergeblich darauf, dass der Grobian das Haus verließ oder Henry auftauchte. Und dabei hatte er ihm doch mitgeteilt, er wolle ihn im Auge behalten.

Wenn Henry ihn wirklich im Auge behielt, musste er irgendwo in der Nähe sein. Dann hatte er ihn auch das Café betreten sehen. Wenn er sich trotzdem nicht zeigte, konnte dies nur bedeuten, dass er sich entweder nicht traute oder mit der Andeutung, allgegenwärtig zu sein, nur aufgetragen hatte, um ihn bei der Stange zu halten. Da Tobias Henry sehr gut kannte, neigte er dazu, die letztere Annahme für die wahrscheinlichere zu halten.

Nachdem Tobias den zweiten Espresso hinuntergewürgt hatte, platzte ihm der Kragen. Er zahlte, ging auf die Straße hinaus und schaute sich nach einem Unterstand um, denn er hatte keine Lust, sich auch noch von herab rauschenden Bindfäden aufweichen zu lassen. Zwei Häuser weiter entdeckte er eine Markise, die zum Schaufenster einer Videothek gehörte.

Na, prima, dachte er und setzte sich in Bewegung. Er blieb vor dem mit Filmplakaten behängten Fenster stehen und ließ in Ermangelung anspruchsvollerer Unterhaltung den Blick über die Videokassetten wandern, die dort gestapelt waren.

Das, was seinen Blicken geboten wurde, glänzte nicht durch Originalität. Auf den meisten Hüllen schwangen muskelbepackte Kerle in löchrigen Unterhemden Schießeisen, die größer waren als sie selbst. Das waren Filme für Leute, die Probleme beim Verfolgen zusammenhängender Geschichten hatten. Etwas zu lachen gab es da schon eher auf den Hüllen der Horrorfilme – besonders dann, wenn man Spaß daran fand, sich an der Einfalt der Werbetexter zu ergötzen, die sich gegenseitig beim Erfinden besonders doofer Titel überboten. »Killer-Stinktiere vom Mars« und »Mein Opa ist ein Außerirdischer« waren zwei besonders tolle Beispiele ihrer Dichtkunst.

»He, du...«, sagte eine piepsige Stimme, als Tobias sich gerade fragte, um was es möglicherweise in dem Film mit dem mysteriösen Titel »Das Glück beim Händewaschen« ging. Er fuhr leicht erschreckt herum – wie immer, wenn man ihn bei einer hochgeistigen Tätigkeit unterbrach.