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Über die Autorin

Regina Jennings hat Englisch und Geschichte studiert. Sie hat in ihrem Leben schon vieles ausprobiert: für eine Zeitung gearbeitet und in einer Kirchengemeinde – aber auch auf diversen Viehauktionen. Sie lebt mit ihrem Ehemann und den vier gemeinsamen Kindern in der Nähe von Oklahoma City. Bisher auf Deutsch von ihr erschienen: „Der vertauschte Bräutigam“.
Mehr über die Autorin: www.reginajennings.com

Für Bob und Glenda Jennings.
Ihr habt tolle Arbeit geleistet.

Kapitel 1

Oktober 1885

Pine Gap, Missouri

Nur ein überschaubares Fleckchen dieser Erde war Teil von Texas. Nicht dass er den Rest der Welt verachtete, aber es gab da eben einen gewissen Unterschied.

Deputy Joel Puckett stellte seine Satteltaschen auf dem Bahnsteig ab und ließ seinen Blick über die Berge gleiten, die das Tal wie eine Mauer umgaben. Natürlich war er weit davon entfernt, ganz Texas zu kennen. Es würde länger als die vierundzwanzig Jahre dauern, die er schon auf dieser Erde lebte, um jede Stadt in diesem Bundesstaat zu besuchen – vom Ödland von El Paso bis zu den Sümpfen von Beaumont. Aber erst jetzt erkannte er, dass ein gebürtiger Texaner es schmerzlich spürte, wenn er von seiner Heimat getrennt war.

Die Lok hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, und ihr Stampfen wurde von den Bergen zurückgeworfen, aber noch immer war niemand aus dem Depot getreten, um ihn zu begrüßen. Ein Windstoß vom Berg trieb die trockenen Herbstblätter über die mit Steinen übersäte Fläche vor dem Bahnhof. Die ersten Sterne waren über dem Berg zu sehen und es wurde merklich kühler. Joel nahm seinen Stetson ab und strich sich durch die Haare. Gouverneur Marmaduke hatte ihm erklärt, die Stadtbewohner würden verzweifelt auf Hilfe warten, ja, sie bettelten förmlich um Schutz vor den Banditen, die ihre Farmen überfielen. Aber wenn sie seine Ankunft so dringend erwarteten, wo steckten sie dann?

Seine Schritte hallten in der Stille wider, als er den Bahnsteig überquerte, zum Depot ging und an der Eingangstür rüttelte. Verschlossen. Seine Hutkrempe stieß gegen die Scheibe, als er durch das einzige Fenster spähte. Aber es war niemand zu sehen. Hier war keine Hilfe zu erwarten.

Joel blickte suchend zum dunklen Wald, konnte aber in der Dämmerung nichts erkennen. Er holte seine Satteltaschen und sah die Straße hinab, die an den Schienen entlangführte. Als er beschlossen hatte, den Zug zu nehmen, hatte er nicht bedacht, dass er bei seiner Ankunft kein Fortbewegungsmittel hätte. Er hätte darauf bestehen sollen, sein Pferd mitzunehmen. Wer wusste schon, was für ein Tier man ihm zur Verfügung stellen würde? Jetzt musste er eben zu Fuß gehen. Sollte er bergauf oder bergab marschieren? Welcher Weg führte ihn am schnellsten in die Zivilisation?

Die abend­lichen Geräusche veränderten sich. Wie erstarrt blieb Joel stehen, als Lärm an seine Ohren drang. Jahre auf der Jagd nach Verbrechern hatten seine Sinne geschärft, sodass er auf jede Veränderung sehr wachsam reagierte. Ein Reitertrupp kam auf ihn zu, und zwar mit hoher Geschwindigkeit.

Hufe donnerten über die Steine. Viele Hufe. Laute Stimmen, die miteinander redeten, nicht wütend, sondern ausgelassen und übermütig. Sie kamen über die Bergkuppe. Die meisten Männer hätten sich in den Schutz der Dunkelheit zurückgezogen, bis sie wussten, was sie erwartete, doch ein solcher Gedanke wäre Joel nie gekommen. Seine Hand lag an seinem Revolvergürtel, und er brauchte gar nicht zu überprüfen, ob sein sechsschüssiger Revolver da war, wo er hingehörte. Breitbeinig stand er da, in einer klassischen Schießposition. Was wäre, wenn sie ihn einfach über den Haufen ritten? Hatte er vielleicht einen Fehler gemacht? Die Pferde brachen aus dem Schutz der Bäume hervor, und jetzt war es zu spät, seine Entscheidung zu hinterfragen.

Beim Anblick des ersten Reiters stockte ihm der Atem. Die Gestalt schien direkt aus der Hölle zu kommen. Sie hielt eine Fackel in der Hand und hatte ein entstelltes, geschwärztes Gesicht und Hörner. Während mehr Gestalten aus dem Wald drängten, erkannte Joel, dass sie Masken aus Jutesäcke trugen. Um etwas sehen zu können, hatten die Männer Löcher in den Stoff geschnitten und diese mit weißer Farbe umrahmt, was ausgesprochen Furcht einflößend wirkte. An den Seiten war etwas befestigt worden, das an Hörner erinnerte, und Quasten flatterten an ihren spitzen Enden.

Johlend und schreiend galoppierten die Reiter auf die Lichtung und damit geradewegs auf ihn zu. Wer waren sie? Wenn sie Böses im Sinn hatten, war er ihnen hoffnungslos unterlegen. Die Männer trugen ihre Mäntel auf links gedreht und hatten Socken über ihre Stiefel gezogen. Man könnte sie höchstens an ihren Pferden erkennen, doch selbst die waren mit Asche eingerieben worden. Dutzende von diesen Reitern drängten herbei, einige schwenkten statt der Fackeln Reisigbündel. Sie galoppierten am Depot vorbei, schenkten ihm aber keinerlei Beachtung, als wäre er genauso unbedeutend wie die Eichhörnchen, die am Fuße der Bäume herumwuselten und Eicheln suchten.

Joel war darüber jedoch nicht etwa erleichtert, sondern äußerst aufgebracht. Er war es nicht gewöhnt, ignoriert zu werden. Während die Männer wieder zwischen den Bäumen verschwanden und ihrer gespenstigen Mission folgten, legte er die Hände an den Mund und schrie ihnen hinterher.

„Hey! Habt ihr mich nicht gesehen, oder habt ihr Angst, Halt zu machen?“

Wenn er ehrlich war, war er auch zutiefst beleidigt darüber, dass keiner von diesen Männern Anstalten machte innezuhalten.

Außer einem.

Kurz bevor das Pferd aus seinem Blickfeld entschwand, zog ein Mann die Zügel hart nach links. Steine spritzten auf, als das Tier seinem Befehl gehorchte und zurück zur Lichtung galoppierte. Der Mann war sehr groß und der lose über seinem Kopf hängende Sack konnte sein massiges Gesicht nicht verbergen. Eines der Hörner hatte sich gelöst und deutete nach unten wie das Horn eines zornigen Bullen. Sein Pferd senkte den Kopf; es wollte zu den anderen zurück, doch der maskierte Mann lenkte es mit unnachgiebiger Hand geradewegs auf Joel zu.

Aufgrund der Verkleidung war von dem Mann nicht viel zu erkennen, abgesehen von seiner Größe und Haltung. Ein Anführer – kein Zweifel. Furchtlos und arrogant. Jemand, mit dem er früher oder später aneinandergeraten würde.

Vermutlich eher früher als später.

Joel trat an den Rand des Bahnsteigs und blickte auf den Reiter herab. Jeder Nerv war angespannt. Alle seine Sinne geschärft.

Der Reiter beugte sich nach vorn, und noch bevor Joel einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er selbst schon den kalten Griff seines Revolvers in der Hand. Der Mann hatte jedoch nicht nach seiner Waffe gegriffen. Vielmehr warf er Joel ein Reisigbündel vor die Füße.

Nachdem ihm ein flüchtiger Blick verraten hatte, dass keine Gefahr davon ausging, richtete Joel seine Augen wieder auf den Reiter.

Das Pferd des Mannes begann unruhig zu tänzeln, als der Hufschlag der anderen Reiter im Wald verklang.

„Ein Reisigbündel?“, fragte Joel. „Was hat das zu be­­deuten? Wer sind Sie?“

Der weiße Kreis um den Mund des Maskierten verzog sich. „Ich bin hier das Gesetz.“

Mit diesen Worten wendete er sein Pferd, und schon schossen Reiter und Tier davon, ihren Gefährten hinterher. Sie galoppierten über die Lichtung und verschwanden an der Stelle, an der die Straße in den Wald führte, aus Joels Blickfeld.

Joel atmete tief durch und steckte seinen Revolver wieder in sein Holster, und erst jetzt gestattete er sich den Gedanken, was alles hätte passieren können. Man hatte ihn gewarnt, dass die Berge gefährlich waren. Doch er war lieber dieses Risiko eingegangen, als sich dem Schicksal zu fügen, das ihn zu Hause erwartete. Jetzt war er sich allerdings nicht mehr so sicher, ob seine Entscheidung klug gewesen war. Was immer er hier erwartet hatte, vermummte Reiter hatte er ganz bestimmt nicht auf der Rechnung gehabt.

Nein. Er war definitiv nicht länger in Texas.

Kapitel 2

Auch wenn wir der Meinung sind, dass Ihre schriftstellerischen Bemühungen durchaus vielversprechend sind, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass unsere Leser kein Interesse an Berichten über einen Gesetzeshüter aus dem Hinterland haben, der vergeblich versucht, kriminelle ­Elemente zur Strecke zu bringen. Sollten Sie jedoch einmal über ein Thema schreiben, das von größerem Interesse für unsere Leser ist, können Sie sich gern wieder an uns ­wenden …

Betsy Huckabee faltete den Brief wieder zusammen. Nun hatte sie es schwarz auf weiß: Sie konnte zwar eine Geschichte erzählen, aber in Pine Gap gab es nach Ansicht der Zeitungsleute aus Kansas City nichts, dass es wert war, erzählt zu werden. Aber wieso interessierten denn die Zusammenstöße zwischen der Bürgerwehr und den Banditen die Leser in Kansas City nicht? Die Redakteure behaupteten, ihre Leser hätten keinen Bezug zu den Zwischenfällen. Obwohl sie im selben Staat lebten, waren die Bergbewohner für die Stadtbevölkerung nur von nachgeordnetem Interesse. Wenn sie eine erfolgreiche Reporterin werden wollte, musste sie also einen anderen Aufhänger finden.

Nachdem sie den Brief zum hundertsten Mal in ihrer Rocktasche verstaut hatte, nahm Betsy den Holzlöffel zur Hand, rührte in ihrem Topf und löste, was sich in der Zwischenzeit auf dem Boden festgesetzt hatte. Im Topf schmorten mehr Zwiebeln als Eichhörnchenfleisch. Auch wenn die Zwiebeln die Hütte mit einem angenehmen Duft erfüllten, würden sie sie nicht wirklich satt machen, und ihr Magen würde die ganze Nacht knurren. In der Räucherkammer hingen zwar die Schinken sowie die Schulter- und Mittelstücke des kürzlich geschlachteten Schweins, aber die mussten die Familie über den ganzen Frühling bringen, und offensichtlich machte sich Sissy bereits Sorgen, dass es nicht reichen könnte. Betsy nahm ein Holzscheit, warf es in den Ofen und rührte weiter.

Wie wäre es, wenn sie eine sentimentale Geschichte für die Damenseite schreiben würde – eine fiktive Geschichte, die ihren Namen in die Zeitung und etwas Geld in ihre Börse bringen würde? Vielleicht sollte sie es einmal damit probieren. Sie musste sich etwas einfallen lassen, denn sie wollte endlich auf eigenen Beinen stehen. Die gegenwärtige Situation war ihrem Wohlbefinden nicht gerade dienlich.

Draußen ertönte ein schriller Pfiff. War das der Zug? Betsy blickte auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Es war acht. Erneut ertönte ein Pfiff. Vermutlich wollte der Lokführer der Stadt verkünden, dass eine arme Seele verlassen am Bahnhof stand. Entschlossen stellte sie den Topf auf den Tisch und trocknete ihre Hände an dem karierten Geschirrtuch ab. Natürlich hatte sie Hunger, aber wie konnte sie in dem Eintopf rühren, wenn da draußen ein Geheimnis darauf wartete, ergründet zu werden?

„Onkel Fred? Hast du den Zug gehört?“ Als sie die Tür zum Zeitungsbüro aufstieß, stand er über die Druckerpresse gebeugt und machte sich am Setzkasten zu schaffen.

Er strich sich über die Stirn. Sein verschmutzter Ärmelschützer hinterließ einen Streifen Druckerschwärze auf seinem Gesicht. „Der Zug? Er hat Verspätung, so viel ist sicher.“

Die Außentür flog auf und Betsys fünfzehnjähriger Vetter Scott platzte herein. „Das war der Zug, Pa.“ Er eilte auf Onkel Fred zu und hätte dabei beinahe den Setzkasten auf den Boden geworfen. „Ob der neue Deputy wohl im Zug war?“

Seinem Vater gelang es gerade noch, den Setzkasten festzuhalten. „Geh zu Sissy und sag ihr, dass wir jetzt zum Abendessen rüberkommen. Du wirst nicht rüberlaufen und nachschauen, ob jemand im Zug war.“

Betsy wartete, bis ihr Vetter mit schmollend vorgeschobener Lippe in die Hütte getrottet war. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wandte sie sich zu ihrem Onkel um. „Und was ist mit mir? Kann ich nachsehen, ob ein Fremder am Bahnhof steht?“

Onkel Fred legte den Befestigungsstein in die Rille, um den Text zu sichern, bevor er einen Schritt zurücktrat. „Ich bin schrecklich neugierig auf diesen neuen Deputy aus Texas.“ Er strahlte sie an und deutete dann mit seiner mit Druckerschwärze übersäten Hand zur Küche.

Die Familie saß bereits am Tisch. Sissy – oder Tante Sissy, wie sie jetzt genannt werden wollte – hatte Baby Eloise gefüttert und teilte gerade den Zwiebeleintopf mit Eichhörnchenfleisch aus. Scott hielt seine zweite Halbschwester Amelia auf den Knien und spielte mit ihr „Hoppe, hoppe, Reiter“, was ihr Freudenjauchzer entlockte. Nachdem er nun fast erwachsen war und seine Stiefmutter sich um ihn kümmerte, brauchte Scott seine ältere Base Betsy nicht mehr. Obwohl sie sich im Zeitungsbüro nützlich machte, war ihre Anwesenheit mittlerweile eine Belastung für die stetig wachsende Familie – obwohl niemand dies jemals sagen würde.

Betsy nahm Sissy einen Teller ab und begann zu essen.

„Setz dich doch an den Tisch und iss wenigstens ein Mal mit uns, Betsy.“ Sissy war nicht viel älter als Betsy, aber sie versuchte, durch Strenge älter zu wirken, als sie war. „Du bist den ganzen Tag auf den Beinen gewesen.“

Betsy ignorierte die Aufforderung, sich zu setzen, und schaufelte sich noch einige Bissen in den Mund. Mittlerweile war es dunkel geworden, und das war die Zeit, zu der es in den Bergen interessant wurde. Hier am Tisch mit Onkel Fred und Tante Sissy gab es nichts Aufregendes zu erleben. Sie war zu Größerem bestimmt.

In aller Eile stellte Betsy ihren Teller ins Spülbecken und drückte im Vorbeigehen Amelia einen Kuss auf die Wange. Sie verstand nicht genau, was Sissy ihr nachrief, aber sie winkte ab, bevor sie das Büro betrat, und erwiderte: „Ja, ich werde vorsichtig sein!“

Beim Hinausgehen schnappte sie sich den Mantel ihrer Base vom Haken und streifte ihn über ihr Baumwollkleid. Der Himmel war an diesem Abend wolkenlos; auch ohne Laterne würde sie sich recht gut orientieren können. Ihr Schreibtisch wackelte, als sie die Schublade aufzog. Vorsichtig nahm sie den Brief aus ihrer Tasche, legte ihn zu den anderen Absagen, die sie mittlerweile bekommen hatte, und schob die Schublade wieder zu. Dann löschte sie die Lampe und borgte sich noch einen Hut ihres Onkels aus, bevor sie ins Freie trat.

Als sie vor dem Haus stehen blieb, vernahm sie Sissys Worte durch das geöffnete Fenster. „Ich weiß ja, dass sie immer ohne Begleitung unterwegs ist, aber es schickt sich nicht. Sie ist schließlich eine junge Dame –“

Betsy schnaubte. Das stimmte nicht. Eine junge Dame war sie sicher nicht mehr. Sie hatte mittlerweile die schwierige Zeit erfolgreich hinter sich gebracht, in der jeder – von der Frau des Postmeisters bis hin zum Auktionator – versucht hatte, sie zu verkuppeln. Irgendwann hatten sie schließlich aufgegeben, und jetzt durfte Betsy das Leben führen, das sie wollte. Frei von jedem Zwang, ihre Entscheidungen vor jedem Hinz und Kunz rechtfertigen zu müssen, der meinte, etwas zu diesem Thema zu sagen zu haben. Sie hatte jeden Mann zurückgewiesen, der Interesse an ihr gezeigt hatte, und da es hier sonst keinen geeigneten Kandidaten mehr gab, konnte sie ganz beruhigt ihr Leben leben.

Als sie donnernden Hufschlag vernahm, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie ritten an diesem Abend. Wo sie wohl hinwollten? Hatten sie Miles Bullard gefunden? Wie sehr wünschte sie, sie könnte sich ihnen anschließen und alles aus erster Hand miterleben.

Betsy rannte zum Marktplatz, wo der Trupp vorbeireiten würde. In Gedanken zählte sie die Männer auf, von denen sie bereits wusste, dass sie zur Gruppe gehörten, und die, von denen sie es nur vermutete. Postmeister Finley klappte gerade die Fensterläden seiner Wohnung zu, die über dem Postamt lag. Sie hatte auch nicht erwartet, dass dieser zwielichtige Mensch dazugehörte, zumal einige seiner Angehörigen oft auf der falschen Seite des Gesetzes standen. Und Doc Hopkins? Er war eben in der Stadt gewesen. Hätte er Zeit gehabt, seine Verkleidung anzulegen?

Da kamen sie schon angaloppiert, johlend und grölend, und einige schwenkten ihre Reisigbündel über den Köpfen. Sie sahen wirklich furchterregend aus, aber Betsy hatte keine Angst vor ihnen. Es waren Männer aus dem Ort, die meisten von ihnen ziemlich anständige Mitmenschen, und sie hatten das Gesetz befolgt, bis das Gesetz sie im Stich gelassen hatte. Auch wenn sie Sheriff Taney mochte, er hatte sie enttäuscht. Wenn er die Situation nicht in den Griff bekam, dann konnten die Leute doch froh sein, dass jemand bereit war, ihm beizuspringen.

Betsy beobachtete, wie die Reiter vorbeigaloppierten, und versuchte, sich die verschiedenen Masken und Verkleidungen einzuprägen. Clive Fowler war unschwer zu erkennen. Ein Jutesack konnte seine Körperfülle nicht verbergen. Aber wer sich hinter den übrigen Gestalten verbarg, konnte sie nicht mit Sicherheit ausmachen. Johlend galoppierten die Männer durch die Stadt, und obwohl alle Verkleidungen trugen, wirkte einer von ihnen weniger fröhlich. Er saß auf einem prächtigen Pferd, das ganz augenscheinlich aus der Calhoun-Zucht stammte. Aber es war nicht Jeremiah …

„Hallo, Mr Pritchard“, rief sie.

Es war ein Schuss ins Blaue, aber er traf sein Ziel. Der Maskierte wandte sich um. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie natürlich nicht erkennen, aber die langen Haare, die unter seiner Kapuze hervorlugten, erkannte sie sofort. Ja, und damit hatte sie einen weiteren „Bald Knobber“ identifiziert.

Er hob seine Reisigzweige und schwenkte sie in ihre Richtung. Es war eine Warnung, aber Betsy lächelte nur. Sie wollte ihm nicht schaden, das wusste Pritchard. Einem Geheimnis konnte sie aber nun mal nicht widerstehen. Sie musste es unter allen Umständen lösen.

Blätter wirbelten auf, als die Reiter den Platz überquerten und in Richtung Fluss ritten.

Betsy vergrub die Hände in den Taschen und marschierte den Berg hinauf zum Bahnhof. Selbst sie war nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr gern außerhalb der Stadt unterwegs, zumindest nicht auf der offiziellen Straße. Es bestand immer die Gefahr, dass man Zeuge einer Auseinandersetzung wurde, wenn man in einem ungünstigen Augenblick um die Ecke kam. Oder man begegnete jemandem, der nach einer durchzechten Nacht volltrunken nach Hause torkelte. Aber schlimmer noch, man traf vielleicht auf einen Menschen, der Böses im Sinn hatte. Obwohl Betsy selbst keine Feinde hatte, boten die dicht bewaldeten Berge Verbrechern hervorragende Verstecke, sowohl für sich selbst als auch für ihre Beute. Und es gab hier auch ausreichend Nahrung … oder sie lebten von dem, was sie den Stadtbewohnern stahlen. Solchen Gestalten ging man besser aus dem Weg. Selbst der Sheriff fand es sicherer, die Nacht im Gefängnis oder in seiner Hütte zu verbringen.

Betsy jedoch nicht. Sobald sie die Stadt, die ihr einen gewissen Schutz bot, verlassen hatte, würde sie sich ins Dickicht schlagen. Außerdem waren die „Bald Knobbers“ in dieser Nacht unterwegs. Sie hatten schon viel getan, um die kriminellen Machenschaften in der Gegend einzudämmen. Auch wenn ihre Methoden fragwürdig waren, hatten sich die Zustände in Pine Gap doch sehr verbessert.

Betsy hatte die Kreuzung am Bergkamm erreicht. Wenn sie geradeaus weiterging, käme sie zum Depot. Links führte die Straße zum Auktionshaus. Doch sie verwarf beide Möglichkeiten, verließ die Straße und folgte einem kleinen Pfad. Tante Sissy hielt es für gefährlich, doch sobald Betsy im Dickicht verschwunden war, wäre sie sicher.

Aber sie hatte das Dickicht noch nicht erreicht, als ein Fremder auf sie zukam.

Der Mann trug einen zerknitterten Anzug, billige Schuhe, die nicht für einen Fußmarsch geeignet waren, und einen Hut, der so groß war, dass man ein Schwein darin baden konnte. Seine Nase stach aus seinem Gesicht hervor, doch sein Kinn war sehr schmal. Ungelenk kam er den Berg herunter, als würden ihm seine Knie bei jedem Schritt den Dienst versagen.

Beim Näherkommen musterte er sie abschätzend. Betsy wartete ruhig. Falls dies der neue Deputy aus Texas war, wollte sie ihren Mitbürgern keine Schande machen, indem sie ihn unhöflich anstarrte.

Zurückhaltend, wie sie es von ihrer Freundin Abigail Calhoun gelernt hatte, schob sie ihr Kinn vor und bemühte sich darum, gelassen zu wirken. „Guten Abend, Sir.“

Er gönnte ihr keinen zweiten Blick. „Ich hoffe doch, dass das der richtige Weg zu Mrs Sanders’ Haus ist.“

So ein unhöf­licher Zeitgenosse! Allerdings war er vermutlich der neue Deputy. Wenn sie sich seine Sympathie sichern könnte, würde das ihrer Karriere bestimmt nicht schaden.

„Die Witwe Sanders wohnt gleich dort hinten an der Ecke. Werden Sie dort wohnen?“

Der Mann ignorierte sie und setzte seinen Weg fort zu der kleinen Hütte, auf die sie gedeutet hatte. Kein Garten in der Stadt war so schön wie der der Witwe Sanders. Es gab keinen Winkel, in dem nicht die unterschiedlichsten Blumen gediehen. Aber der Deputy durchpflügte ihn, als ginge er durch ein Nesselfeld.

Betsy zögerte. Die Witwe Sanders wusste doch bestimmt, dass er kam. Sie bot Pensionsgästen oft eine Unterkunft. Betsy nahm also an, dass sie auf sein Kommen vorbereitet war. Und doch erschien es ihr nicht angemessen, dass eine Frau allein einem Fremden gegenübertrat. Betsy musste sich eine Ausrede einfallen lassen, um an dem Gespräch teilzunehmen.

Der Deputy hatte die vordere Veranda erreicht, doch er klopfte nicht an die Haustür, wie es sich gehörte, sondern trat sofort ein. Betsy schnappte empört nach Luft. Was dachte er sich nur dabei? Es war schon später Abend und er betrat ohne anzuklopfen das Haus einer unverheirateten Frau? War dies in Texas so üblich? Sie wich ein paar Schritte zurück und verbarg sich hinter einer Zeder. Vielleicht sollte sie einfach eine Weile hier sitzen bleiben und warten. Wenn alles in Ordnung war, konnte sie immer noch –

In diesem Augenblick drang ein markerschütternder Schrei aus dem Haus. Betsy erstarrte. Sie musste Hilfe holen. Sie musste –

Betsy rannte los, doch bevor sie das Grundstück der Witwe erreicht hatte, prallte sie gegen einen anderen Mann. Sie verlor das Gleichgewicht, doch er hielt sie am Arm fest, bevor sie der Länge nach hinschlug.

„Was ist das nur für ein Ort, wo Männer ihre Kleidung links herum tragen und Frauen aus den Bäumen fallen“, sagte er.

Das Erste, was ihr auffiel, war seine etwas schleppende Sprechweise. Das Zweite, wie spitz seine Stiefel waren. War er etwa ein Cowboy?

Bevor sie sich eine Meinung bilden konnte, zog er sie auf die Beine und nahm ihr den Hut ab. „Zumindest denke ich, dass Sie eine Frau sind. Sie könnten natürlich auch einer von diesen verkleideten Aufwieglern sein.“

Endlich konnte sie einen Blick auf sein Gesicht erhaschen und zum ersten Mal in ihrem Leben verschlug es Betsy die Sprache. Er sah unglaublich gut aus. Nicht süß, nicht anbetungswürdig, sondern unglaublich attraktiv, und in seinem Blick lag so viel Kraft, dass ein ihr unbekanntes Kribbeln über ihren Rücken lief.

Er sagte etwas. Deutete auf das Haus der Witwe Sanders. Sie beobachtete, wie seine Lippen sich bewegten. Ein ordentlich getrimmter Bart bedeckte seine Wangen und sein Kinn, und diese Augen – welche Farbe hatten sie?

Er rüttelte sie sanft. „Bei allen –“ Er ließ ihren Arm los, drückte ihr den Hut wieder auf den Kopf und rannte zum Haus.

Jetzt konnte sie auch den Rest seines Körpers begutachten. Er war um einiges größer als sie und gut gebaut, trug Reisekleidung, ein rotes Kavalleriehemd unter seiner Lederweste und seiner Jacke. Wo war er hergekommen? Dass er mitten aus dem Nichts einfach so hier auftauchte –

Erneut ertönte ein Schrei. Betsy blinzelte. Wie gut, dass dieser Fremde die Witwe Sanders nicht vergessen hatte, denn in Betsys Kopf hatte sich eine große Leere ausgebreitet. Schnell riss sie sich zusammen und folgte ihm.

„Witwe Sanders!“, rief Betsy durch die offene Tür. „Witwe Sanders!“

Der Cowboy blieb an der Tür stehen und drehte sich zu ihr um. „Kennen Sie den Mann, der gerade hier hineingegangen ist?“

„Das ist der neue Deputy“, erwiderte Betsy.

Er runzelte die Stirn, was sein gutes Aussehen noch hervorhob. „Hier stimmt doch irgendetwas nicht.“

„Betsy? Bist du das?“ Die Witwe Sanders erschien in der Tür. In der zitternden Hand hielt sie eine Kerze. Sie war leichenblass. Der Deputy trat hinter sie. Er hatte Betsy zuvor ignoriert, doch jetzt grinste er, als wäre sie seine beste Freundin.

„Betsy? Doch nicht etwa Betsy Huckabee, oder? Du warst noch ein Baby, als ich weggegangen bin.“

„Wer sind Sie?!“, fragte sie.

„Ich bin Mr Sanders und endlich wieder zu Hause.“

Betsys Blick wanderte zur Witwe Sanders, die normalerweise ein Fels in der Brandung war. Doch an diesem Abend stand sie in sich zusammengesunken an der Tür. „Mr Sanders? Ich dachte, Sie wären tot.“

Die Augen der Witwe Sanders weiteten sich. „Das habe ich nie behauptet. Ich habe nie gesagt, er sei gestorben. Er war nur einfach fort … für sehr lange Zeit.“

Betsy hätte gern nachgehakt, doch die Furcht in den Augen der Frau ließ sie innehalten.

„Sie waren aber nicht im Zug“, merkte der Cowboy an. „Wie sind Sie hierhergekommen?“

Immer noch verwirrt von der Erkenntnis, dass Sanders gar nicht tot und jetzt zurückgekommen war, stellte sich Betsy die Frage, wer dann wohl dieser gut aussehende Mann war. Wo kam er her?

„Ich bin aus dem Indianer-Territorium hergelaufen“, erwiderte Sanders. „Aber wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden, es ist schon spät, und meine Frau und ich haben uns viel zu erzählen.“ Er trat vor und zwang sie dadurch, einen Schritt zurückzuweichen.

Die Kiefermuskeln des Cowboys spannten sich. Sein Blick suchte den der Witwe Sanders. Betsy erschauderte angesichts dieser geballten Kraft. „Nur wenn es Ihnen gut geht, Mrs Sanders. Ich kann auch bleiben, wenn Ihnen das lieber ist.“

Betsy starrte ihn verblüfft an. Dieser Mann war gerade erst aus den Sträuchern getreten und tat so, als sei es seine Aufgabe, die Witwe oder vielmehr Mrs Sanders zu beschützen. Er hatte wirklich Nerven.

Die ehemalige Witwe Mrs Sanders musterte ihren Mann mit wachsamem Blick und nickte schließlich. „Ich komme schon klar.“

Die Worte waren kaum über ihre Lippen, als die Tür auch schon ins Schloss fiel und Betsy und der Fremde im Dunkeln zurückblieben.

Die beiden starrten die geschlossene Tür an. Betsy überlegte, was sie Onkel Fred erzählen würde. Stell dir vor, die Witwe Sanders hat doch einen Ehemann! Aber vielleicht wusste Onkel Fred das bereits. Gehörte dies zu den Dingen, über die Erwachsene nicht vor Kindern sprachen und die sie dann vergaßen, ihnen zu erzählen, sobald sie erwachsen waren?

„Wie sind Sie denn auf den Gedanken gekommen, dass er der Deputy ist?“, erkundigte sich der Cowboy, der sich von den äußerst wichtigen Gedankengängen in Betsys Kopf offenbar nicht beeindrucken ließ.

Sie musterte ihn erneut. Erst jetzt bemerkte sie die Revolver an seinem Waffengürtel. Ein Blick auf seinen Cowboyhut und seine hochwertigen Stiefel, und eine Idee schlüpfte aus ihrem Unterbewusstsein nach oben … ein Deputy aus Texas. Ein gut aussehender junger Deputy aus Texas.

Da war sie, die Inspiration für ihre Geschichte.

Kapitel 3

Wenn der Zug pünktlich gewesen wäre, hätte Joel bereits ein Treffen mit den Stadtvätern gehabt und sich in sein Zimmer zurückgezogen. Dann könnte er jetzt schon schlafen. Stattdessen war er in ein Labyrinth aus schmalen Pfaden und dichten Wäldern geraten, in denen sich marodierende Gestalten herumtrieben. Man hatte ihm erzählt, ein anderer Deputy sei bereits eingetroffen, und dann hatte er diesen Mann dabei erwischt, wie er eine Witwe zu Tode erschreckte. Und zu allem Unglück war nur dieses blauäugige Wesen zur Stelle, um ihm den Weg in die Stadt zu weisen, und dabei hatte Joel blauäugigen Fräuleins für immer abgeschworen.

Sie warf ihm einen Seitenblick zu und beobachtete ihn durch eine Strähne ihrer blonden Haare, die im Wind tanzten. Ein schüchternes Lächeln umspielte ihre Lippen. Oh-oh. Sie kokettierte mit ihm.

„Ich habe ihn für den Deputy gehalten, weil er leicht übergewichtig war und so aussah, als sei er etwas schwer von Begriff. Und außerdem roch er, als hätte er in einem Gurkenfass geschlafen.“

Joel war müde, es war spät, und er hatte wirklich keine Zeit für so etwas. „Sie scheinen eine sehr aufmerksame Beobachterin zu sein“, sagte er. „Dann hoffe ich doch, dass Sie mir den Weg zur nächsten Pension zeigen können?“

„Ohne dass wir einander vorgestellt wurden? Ich weiß zwar nicht, wie das in Texas ist –“

„Wer hat etwas von Texas gesagt?“

Er hatte sie erwischt. Sie wedelte mit der Hand herum. „Hab ich wirklich ,Texas‘ gesagt? Ich meinte –“

„Und wenn Sie wissen, dass ich aus Texas komme, dann haben Sie daraus vermutlich auch schon geschlossen, dass ich der neue Deputy bin. Sie können mich Deputy Puckett nennen. Und Sie sind?“

Sie zögerte ihre Antwort ein wenig hinaus, um ihren Worten Gewicht zu verleihen. „Ich gehe jetzt nach Hause.“ Sie warf ihm ein vernichtendes Lächeln zu und drehte auf dem Absatz um. „Gute Nacht“, rief sie über die Schulter zurück, „und viel Glück.“

Damit hatte er nicht gerechnet. Aber sie stapfte tatsächlich davon, den Berg hinunter, mit festen Schritten auf dem unebenen Terrain. Wenn er an diesem Abend wirklich noch ein warmes Bett finden wollte, durfte er sie nicht gehen lassen.

„Warten Sie!“ Er rannte ihr nach. Ihr Schritt war leichtfüßig wie der eines Kindes, aber ihr Verhalten kratzbürstig wie das der Tochter eines Eisenbahnbarons. „Die Pension, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Da sind wir gerade gewesen. Nur die Witwe Sanders nimmt hier in der Stadt Übernachtungsgäste auf, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie heute Abend einen Gast beherbergen wird.“

Sie hatten den kleinen Ort erreicht. Nur wenige Häuser standen an der Straße, doch zwischen den Bäumen schimmerten Lichter hindurch, was darauf schließen ließ, dass hier noch mehr Häuser zu finden waren. Die junge Frau hatte ihre Schritte verlangsamt und schien auf etwas zu lauschen und dann hörte er es ebenfalls. Ein Echo, ein Schrei – bestimmt diese Grobiane, denen er bereits am Bahnhof begegnet war. Warum nur hatte er sein Pferd in Texas zurückgelassen?

Die junge Frau hielt ihren Hut fest und legte den Kopf in den Nacken. Das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Wache Augen und ein verschmitztes Lächeln. Sie schien einem Schabernack nicht abgeneigt zu sein. Ob sie die Bande wohl kannte? Vielleicht war sie geschickt worden, um ihn im Auge zu behalten, während sie ihren Schurkenstreich verübten.

„Wo finde ich Sheriff Taney? Er wird mir sicher weiterhelfen“, sagte er.

„Sheriff Taney wohnt auf der anderen Seite des Berges. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie heute Abend noch dorthin laufen wollen.“

„Warum nicht?“

„Weil die Bande dort hinwill.“

„Zum Sheriff? Dann braucht er sicher meine Hilfe.“

„Wozu?“, fragte sie. „Er sitzt doch eh nur am Feuer und ignoriert sie. Ich würde sagen, er kommt sehr gut ohne Hilfe klar.“

„Dann gehe ich eben allein.“

„Das ist zu gefährlich.“

„Sagt die Frau, die nach Einbruch der Dunkelheit allein durch die Gegend läuft.“

Wortlos rümpfte sie die Nase.

Dunkle Hütten säumten die Straße, und vor ihnen lag eine Grünfläche – der Marktplatz, wie es schien. Er hob den Kopf und ließ seinen Blick über die Silhouette der vor ihm aufragenden Berge wandern. Leises Gejohle erklang in der Ferne. Ein Hund bellte, und als Gewehrschüsse an ihre Ohren drangen, knirschte er mit den Zähnen.

Sie seufzte. „Das hört sich so an, als sei der Spaß vorbei, und ich habe es wieder verpasst.“ Die junge Frau hob die Hand und deutete in eine Richtung. „Die Gefängnishütte befindet sich dort drüben. Vermutlich ist sie abgeschlossen, aber Sie können ja unter der Eiche schlafen, falls die Waschbären Sie in Ruhe lassen. Aber halten Sie sich von der Straße fern. Man sieht es hier nicht so gern, wenn jemand nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs ist.“ Sie erschauderte, steckte ihre Hände in die Taschen, drehte sich um und marschierte davon. „Schlafen Sie gut, und willkommen in Pine Gap.“

Betsy schloss die Tür und zog ihren Mantel aus. Die Hitze, die der Ofen abstrahlte, ließ ihre Haut kribbeln. Sissy sang einem der Babys ein Schlaflied vor. Vermutlich saß sie oben in ihrem Zimmer im Schaukelstuhl und stillte Eloise. Leise schlich sich Betsy ins Büro und warf den Hut auf ihre Pritsche.

Bis Onkel Fred Sissy geheiratet hatte, war Betsy die Frau im Haus gewesen. Vor vierzehn Jahren war ihre Tante gestorben. Betsy hatte die Farm ihrer Eltern verlassen und war in die Stadt gekommen, um sich um ihre jüngeren Vetter zu kümmern – kochen und saubermachen, wie Mama es ihr beigebracht hatte. Natürlich hatte sie trotzdem viel Zeit gehabt, durch die Stadt zu streifen, während die Kinder in der Schule waren, und sie hatte sich gewissermaßen weitergebildet, indem sie viele Fragen gestellt und die Leute bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten beobachtet hatte. Onkel Fred sagte, sie besäße das Herz einer Reporterin. Sie hatte einen Riecher für Storys und gab keine Ruhe, bis sie alles in Erfahrung gebracht hatte. Dadurch, dass sie ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen, hatte sie mehr praktische Kenntnisse erworben als die meisten Menschen, die doppelt so alt waren wie sie. Und was das Bücherwissen anging, nun, sie las alles, was sie in die Finger bekam, auch die Schulbücher ihrer Vetter und Zeitungen aus dem ganzen Land, und so gehörte sie zu den am besten informierten Menschen in der Stadt.

Betsy war klug, aber jetzt hatte Sissy das Sagen in der Hütte. Nachdem Sissy und Onkel Fred angefangen hatten, ihre Familie zu vergrößern, war Betsys Pritsche ins Büro gestellt worden, und egal, wie sehr sie auch versuchten, dafür zu sorgen, dass sie sich wie zu Hause fühlte, ständig quälte sie das Gefühl, im Weg zu sein.

Betsy setzte sich an den Schreibtisch und nahm Stift und Block zur Hand. Fast alle Kinder hatten eine alleinstehende Tante, die sich um sie kümmerte, wenn die Mutter einmal keine Zeit für sie hatte, aber dass sie diese Position noch ausfüllen würde, nachdem ihre kleinen Vetter erwachsen geworden waren, damit hatte sie nicht gerechnet. Nacheinander verließen die Jungen ihr Elternhaus, um zu heiraten und auf ihren eigenen Farmen zu leben. Nur Scott und Betsy waren noch da.

Was wollte sie? Sie wollte Onkel Fred und Sissy nicht länger im Weg sein, aber sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Gott hatte sie in eine Gemeinschaft von guten Freunden und ihrer Familie gestellt, aber sie hatte ihren Platz noch nicht gefunden. Wenn sie in die Küche platzte, die früher ihr Herrschaftsgebiet gewesen war, und Sissy am Herd stehen sah, kam sie sich vor wie in einem neuen Paar Winterstiefel, die zu eng waren und in denen die Zehen noch keinen Platz hatten. Aber nachdem sie so viele Jahre in der Stadt gelebt hatte, kam ihr die Rückkehr auf die Farm ihrer Eltern wie Verbannung vor.

Onkel Fred verdiente mit seiner kleinen Zeitung nicht so viel, dass er ihr ein Gehalt zahlen konnte. Auf jeden Fall reichte es nicht für ein eigenes kleines Häuschen. Sie müsste für eine größere Zeitung schreiben, wenn sie auf eigenen Beinen stehen wollte, und genau das war ihr Ziel.

Woche für Woche berichtete Betsy über die Bürgerwehr, die in den Bergen für Ordnung sorgte, aber ähn­liche Berichte kamen auch aus anderen Teilen von Missouri. Ob sie sich nun die „Bald Knobbers“, die „Antipferdediebstahlsvereinigung“, die „Regulatoren“ oder die „Liga der ehr­lichen Männer“ nannten: Alle taten das Gleiche und deshalb hatten die Zeitungen in Kansas City kein Interesse an Artikeln von einem Neuling wie ihr.

Nachdem nun der Gouverneur einen neuen Deputy geschickt hatte, der den Umtrieben der „Bald Knobbers“ ein Ende setzen sollte, würde es noch weniger Berichtenswertes geben.

Es sei denn …

Sie kaute auf ihrem Bleistift herum. In ihren bisherigen Artikeln hatte sie über Fakten berichtet. Sie hatte die verschiedenen Verbrechen beschrieben, die Ängste der Bürger geschildert und sich in allen Details über die Aktivitäten der Übeltäter ausgelassen, aber das waren alltäg­liche Geschichten gewesen. Sie musste einen neuen Ansatz finden. Anstatt nüchterne, unwiderlegbare Fakten zu schildern, würde Betsy eine Erzählung schreiben, so wie Dickens, allerdings mit weniger Worten. Sie würde Beiträge für den Damenteil der Zeitung verfassen und Charaktere erfinden, die die weib­lichen Leser faszinieren würden.

Und die Inspiration für ihren Helden war wie ein Geschenk des Himmels gerade in die Stadt gekommen.

Clive Fowler machte seine Sache als Anführer der „Bald Knobbers“ gut, aber er war keine Vorlage für einen Helden. Doch wenn sie den Damen einen Mann präsentierte, einen Gesetzeshüter aus Texas, der ein doppelreihiges Kavalleriehemd, Cowboystiefel und einen funkelnden Stern trug, dann würden sie ungeduldig auf die nächste Ausgabe der Zeitung warten. Natürlich musste sie sich gut überlegen, was sie über ihn schrieb, und selbstverständlich würde sie seinen Namen ändern. Falls ihre Geschichte jemals gedruckt werden würde, dann nur im fernen Kansas City. Niemand aus Pine Gap durfte davon erfahren.

Und schon gar nicht der Deputy selbst. Die Erinnerung an seinen strengen Blick löste Unbehagen in ihr aus. Es würde ihm sicher nicht gefallen, wenn sie sich so in sein Leben einmischte, aber er war schließlich nicht der Einzige, der seinen Job tun musste. Betsy lächelte in sich hinein. Wenn sie sein Äußeres beschrieb, bräuchte sie nicht einmal zu übertreiben, so viel stand fest. Hoffentlich war er auch kompetent und mutig, dann würde ihr der Stoff für ihre Artikel sicher nicht ausgehen. Er müsste gottesfürchtig sein, einen makellosen Charakter haben und gut mit Kindern umgehen können. Solche Dinge machten den Leserinnen ihren Helden sympathisch, und er müsste sich Damen gegenüber respektvoll, höflich und charmant verhalten. Und natürlich würde ein Lächeln von ihm die Frauenherzen dahinschmelzen lassen –

Knack! Betsys Bleistift brach in der Mitte durch. Sie hatte sich mitreißen lassen. Angewidert spuckte sie den oberen Teil des Stifts aus, pulte einen Holzsplitter aus ihren Zähnen und schnipste ihn stirnrunzelnd fort. Mit dem unteren Teil konnte sie noch schreiben.

Höchste Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Kapitel 4

Als die Dämmerung hereinbrach, suchte Betsy gerade im Zeitungsbüro nach einer freien Setzplatte. Nachdem sie die halbe Nacht gearbeitet hatte, war sie zu Bett gegangen und hatte über den Deputy nachgedacht – oder zumindest über ihre Idee, und jetzt konnte sie es kaum erwarten, die Ergebnisse ihrer nächt­lichen Überlegungen zu Papier zu bringen.

Dieser Mann, der alle Attribute der Männlichkeit in sich vereinte, ließ seinen Blick über das verschlafene Dorf im Tal schweifen. Dies war sein neues Territorium. Es würde unter seinem Schutz stehen. Er würde darüber wachen wie ein eifersüchtiger Liebhaber über die Dame seines Herzens, und wehe dem Mann, der es wagte, der Geliebten zu nahe zu ­treten. Aber obwohl er entschlossen war, die Fürsorge für die kleine Stadt zu seiner Lebensaufgabe zu machen, musste er erst noch das Herz ihrer Bewohner gewinnen. Er musste sie aus den Fängen des Bösen befreien und für sich einnehmen.

Auf dem Rücken seines schneeweißen Pferdes sitzend, vernahm er auf einmal unselige Heiterkeit, die von den ­Berghängen widerhallte. In seinen blauen Augen lagen die Geheimnisse des Präriehimmels, wechselhaft und gefährlich, die darauf warteten, gelüftet zu werden. Doch in der Brust selbst des verwegensten Banditen weckten sie nur eines: Furcht.

Waren seine Augen tatsächlich blau? Betsy wollte am ­Bleistiftende kauen, aber da fiel ihr ein, dass dieser ja am vergangenen Abend abgebrochen war. An seine Augenfarbe konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr ­erinnern. Aber mög­licherweise hatte sie sie im Dunkeln auch nur nicht richtig erkennen können. Nun, heute würde sie auf jeden Fall darauf achten. Sie hoffte nur, dass er mitspielte und eine Heldentat vollbrachte. Nachdem sie ­miterlebt hatte, wie er am Vorabend auf das Dilemma der Witwe Sanders reagiert hatte, vertraute sie darauf, dass er schwierigen Situationen nicht aus dem Weg ging. Aber selbst wenn es nicht so lief, wie erhofft, würde sie einfach die Fakten so ausschmücken, dass die Wünsche und Sehnsüchte der Leserinnen in Erfüllung gingen.

Sie musste sich unbedingt noch einen passenden Vornamen für ihn ausdenken. Tex? Ulysses? Vielleicht einen fremdländischen Namen, bei dem die Leserinnen gleich einen gut aussehenden, männ­lichen, spanischen Grundbesitzer vor ihrem inneren Auge sahen. Alejandro? Eduardo?

Durch die Tür hörte sie Sissy in der Küche hantieren. Betsy legte ihren Entwurf zur Seite, und nachdem sie zweimal überprüft hatte, dass die Vorhänge zugezogen waren, zog sie ihr Nachthemd aus und streifte ihre Bluse über. Im Büro war es kalt, aber es versprach, ein sonniger Tag zu werden. Das war gut, denn sie wusste ja nicht, wohin der Weg sie führen würde, wenn sie dem Deputy auf den Fersen bleiben wollte. Auf keinen Fall durfte sie seine erste Begegnung mit den Stadtbewohnern verpassen. Die Situation war konfliktträchtig, und sie hatte vor, vom ersten Augenblick an dabei zu sein.

Sie faltete ihr Nachthemd zusammen, stopfte es unter das Kopfkissen und machte ihr Bett. Die Tür quietschte, als sie das Büro verließ und in die Hütte hinüberging. Die Kinder schienen noch zu schlafen, denn Sissy legte den Finger an die Lippen, als Scott mit dem Feuerholz hereinkam.

Der Geruch von Onkel Freds Rasierseife wetteiferte mit dem Duft von Rühreiern mit Speck. Er hielt beim Rasieren inne und warf Betsy im Spiegel einen Blick zu. „Was hast du gestern Abend in Erfahrung gebracht?“

Sissy schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sie sollte zu Hause im Bett liegen und nicht durch die Gegend streifen.“

Betsy mopste sich ein Stück Speck aus der Pfanne und lehnte sich gegen den Tisch. „Die Sache mit dem Zug habe ich ganz vergessen. Ist das zu glauben? Es war so viel los.“

„Das ist unfair.“ Scott ließ das Feuerholz mit lautem Getöse in die Holzkiste fallen. Im Schlafzimmer regte sich eines der Kleinen.

Onkel Fred schüttelte den Kopf und wandte sich mit eingeseiftem Gesicht zu Betsy um. „Und?“

„Also, erst mal“, sagte Betsy, während sie am Speck knabberte, „waren die ,Bald Knobbers‘ wieder unterwegs. Ich habe gesehen, wie sie durch die Stadt geritten sind, und ich hatte den Eindruck, dass sie auf dem Weg zum Dewey Bald waren.“

„Denkst du, sie waren hinter Miles Bullard her?“, fragte Scott.

„Sie hatten Reisigbündel dabei – als Warnung. Bullard wird aber wegen Mordes gesucht, da reicht eine Warnung nicht aus. Trotzdem, wenn sie ihn finden –“

„Du hältst dich von ihnen fern!“, sagte Sissy. „Diese Männer sind gefährlich.“

„Pah!“ Betsy winkte ab. „Mir würden sie nichts tun. Ich habe übrigens noch einen von ihnen erkannt, Onkel Fred. Mr Pritchard –“

„Betsy!“ Sissy stampfte mit dem Fuß auf. „Du wirst in diesem Haus kein einziges Mitglied dieser Bande mit Namen nennen.“

„Können wir ins Büro gehen?“, fragte Betsy.

„Ich dachte mir schon, dass Pritchard dabei ist“, meinte Onkel Fred.

„Fred …“, warnte Sissy.

Onkel Fred verzog den Mund und Betsy lachte beinahe über sein Dilemma. Natürlich war es nicht richtig, sie zu ermutigen, den Männern hinterherzuspionieren, aber er war genauso neugierig wie sie. Und man wusste nie, wann aus einer solchen Information eine Geschichte wurde – obwohl eine solche Information natürlich nicht öffentlich gemacht werden konnte.

„Hör auf deine Tante“, sagte er. „Deine Eltern wären ebenfalls entsetzt, wenn ich zulassen würde, dass du Umgang mit ihnen hast.“

Betsy war bereits erwachsen, aber es hatte keinen Zweck, sich mit Sissy darüber streiten. Onkel Fred meinte es auf jeden Fall nicht so.

„Aber das war noch nicht alles. Wusstet ihr, dass die Witwe Sanders verheiratet war … oder vielmehr verheiratet ist? Natürlich muss man, wenn man Witwe ist, irgendwann mal einen Mann gehabt haben, aber der ist gestern Abend zurückgekommen und hat sie beinahe zu Tode erschreckt, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.“

„Mr Sanders lebt?“ Onkel Fred wechselte einen besorgten Blick mit Tante Sissy. „Wie hat sie reagiert?“

„Sie hat geschrien, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über ihr ausgeleert. Nach einer Weile hat sie sich dann beruhigt, aber sie wirkte trotzdem nicht allzu erfreut. Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache, Onkel Fred.“

Er drehte sich wieder zum Spiegel um und kratzte die rest­liche Rasierseife von seinem Gesicht. „Ich überlege gerade, was ich über ihn weiß, aber, um ehrlich zu sein, sind alle davon ausgegangen, dass er im Krieg gefallen ist. Doch wenn ich es recht bedenke, hat die Witwe Sanders nie Trauerkleidung getragen. Und sie wollte auch kein Mitgefühl. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich glaube, wir alle haben ihn einfach vergessen.“

„Er schien nicht der Typ Mann zu sein, der es hinnimmt, vergessen zu werden. Bevor wir irgendwelche Fragen stellen konnten, hat er uns die Tür vor der Nase zugeknallt.“

Wir?“ Onkel Fred trocknete sein Gesicht ab.

Betsy knabberte weiter an der Scheibe Speck. „Ja. Ich und der neue Deputy.“

„Ich wusste es!“ Scott sprang auf, doch Sissy bedeutete ihm, sich wieder hinzusetzen.

Onkel Fred strahlte sie an. „Da war gestern Abend aber wirklich viel los.“

„Mm-hmm. Er heißt Puckett und er kommt wirklich aus Texas – großer Hut, glänzende Revolver und Cowboystiefel.“

Sie behielt für sich, dass er unverschämt gut aussah, aber Sissy räusperte sich und zog eine Augenbraue in die Höhe. Betsy unterdrückte ein Lächeln. Offensichtlich ahnte ihre junge Tante bereits etwas. Betsy würde Mühe haben, die Leute davon zu überzeugen, dass sie ihn so gewöhnlich fand wie Roggenbrot. Wenn er wüsste, wie vorteilhaft sie ihn in einer Geschichte beschrieben hatte, würde er sich sicher über sie lustig machen.

Onkel Fred stieß Betsy an. Gehorsam setzte sie sich zusammen mit den anderen auf die Bank und senkte den Kopf. Während ihr Onkel für das Frühstück dankte, sprach Betsy ihr eigenes Gebet. Sie betete sie für Ma, Pa und ihre jüngeren Geschwister, für ihren Bruder Josiah, seine Frau Katie Ellen, ihre Kinder und das Baby, das bald auf die Welt kommen sollte, und dann bat sie Gott um seinen Segen für ihre neue Unternehmung und dankte ihm für das doppelte Geschenk, das er ihr in Gestalt des Deputys gemacht hatte, und für ihre Idee, ihn zum Helden ihrer Artikel zu machen. Sie wollte diese Inspiration gut nutzen und keinen einzigen Augenblick vergeuden.

Nach dem Amen rief die kleine Eloise aus ihrem Kinderbettchen nach ihrer Mama. Sissy erhob sich, um sie zu holen, und Onkel Fred blickte ihr nach. Sobald sie verschwunden war, beugte er sich vor. „Was ist der Deputy für ein Mensch? Denkst du, dass er hier etwas bewirken kann?“