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Platon

Timaios

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0896-8

Sokrates · Timaios · Kritias · Hermokrates

Sokrates: Eins, zwei, drei – wo aber bleibt uns denn der Vierte, mein lieber Timaios, von denen, welche gestern bewirtet wurden, jetzt aber selber bewirten sollen?

Timaios: Es hat ihn gewiß irgend eine Unpäßlichkeit befallen, lieber Sokrates, denn aus freien Stücken würde er wohl nicht aus dieser Gesellschaft wegbleiben.

Sokrates: Demnach dürfte es denn deine Aufgabe und die der Übrigen sein, hier auch die Stelle des Abwesenden auszufüllen?

Timaios: Gewiß, und wir werden es in nichts daran fehlen lassen, soweit es in unseren Kräften steht. Denn nachdem wir gestern von dir mit allem, was sich geziemt, gastfreundlich bewirtet worden sind, wäre es nicht recht, wenn wir anderen dich nicht bereitwillig wiederbewirten wollten.

Sokrates: Nun denn, erinnert ihr euch noch, wieviel und worüber ich euch zu sprechen aufgab?

Timaios: Zum Teil erinnern wir uns dessen noch; was uns aber entfallen ist, an das uns wieder zu erinnern bist du ja da. Oder lieber, wenn es dir nicht lästig ist, wiederhole es uns von Anfang an in der Kürze noch einmal, damit es sich besser in uns befestige!

Sokrates: Das soll geschehen. Der Hauptinhalt meiner gestrigen Erörterungen über den Staat war ungefähr dieser, wie und aus was für Männern er sich nach meiner Meinung am besten gestalten würde.

Timaios: Ja, und zwar ganz nach unser aller Sinne stelltest du ihn dar.

Sokrates: Schieden wir nun nicht zuerst in ihm den Beruf der Landbauer und alle andern Gewerbe von der Klasse derer, denen die Kriegführung für alle obliegen sollte?

Timaios: Ja.

Sokrates: Und indem wir je nach seiner Naturbeschaffenheit einem jeden nur die eine, ihm allein angemessene Beschäftigung [und einem jeden nach seiner Art sein Gewerbe] zuerteilten, erklärten wir, daß diejenigen, welche für alle in den Krieg ziehen sollten, auch nichts weiter als Wächter des Staates sein dürften, wenn etwa einer von außen her oder auch einer von den Einwohnenden käme, um ihm zu schaden, und zwar so, daß sie dabei die von ihnen Beherrschten als ihre natürlichen Freunde milde richten, denen aber, welche ihnen in den Schlachten als Feinde begegneten, hart zusetzen sollten.

Timaios: Allerdings.

Sokrates: Denn die Seelen der Wächter müßten – so, denke ich, sagten wir – eine gewisse zugleich willenskräftige, zugleich aber auch ganz vorzüglich zur richtigen Erkenntnis hinstrebende Natur besitzen, damit sie gegen jeden von beiden Teilen mild oder hart zu sein vermöchten.

Timaios: Jawohl.

Sokrates: Und dann, was ihre Erziehung anlangte, sagten wir da nicht, daß sie im Turnen und in der Tonkunst und in allen für sie erforderlichen Zweigen des Wissens gebildet werden müßten?

Timaios: Freilich.

Sokrates: Und wenn sie dann so gebildet wären – so etwa fuhren wir fort –, sollten sie weder Gold noch Silber noch überhaupt irgend etwas anderes jemals als ihr ausschließliches Eigentum ansehen dürfen, sondern als Beschützer von ihren Schützlingen für deren Bewachung einen Sold von der Größe empfangen, wie sie zu einem mäßigen Leben hinreicht, und sollten diesen dann gemeinsam mit einander verzehren und zusammenspeisend mit einander leben und ihr Streben durchaus allein auf die Tugend richten, von allen andern Geschäften aber befreit sein.

Timaios: Auch das ward so festgesetzt.

Sokrates: Und was dann ferner ihre Frauen anbetrifft, so gedachten wir doch auch dessen, daß man nur solche von ähnlicher Beschaffenheit ihnen zugesellen dürfe, und daß man ihnen in bezug auf den Krieg sowie auf die übrige Lebensweise allen ganz die nämlichen Beschäftigungen zuerteilen müßte.

Timaios: In dieser Weise ward auch dieses ausgemacht.

Sokrates: Was stellten wir denn ferner hinsichtlich der Kinderzeugung fest? Doch das ist wohl schon wegen der Ungewöhnlichkeit dessen, was darüber angeordnet ward, leicht zu behalten, daß wir nämlich alles, was Ehen und Kinder anlangt, allen insgesamt gemeinschaftlich machten, indem wir Anstalten dafür treffen ließen, daß keiner jemals seine Abkömmlinge vor denen der andern heraus erkennen könnte, sondern alle sie insgesamt als von gleicher Abkunft betrachten würden, nämlich als Schwestern und Brüder, soweit sie innerhalb des passenden Alters geboren wären, die aber ein Menschenalter vorher und noch weiter zurück Geborenen als Eltern und Großeltern, und die in absteigender Linie Geborenen als Kinder und Kindeskinder.

Timaios: Ja, und es ist dies, wie du sagst, leicht zu behalten.

Sokrates: Damit sie nun aber gleich mit so vortrefflicher Naturanlage als möglich geboren würden, – erinnern wir uns nicht, daß wir zu diesem Zwecke festsetzten, es müßten die Vorsteher und Vorsteherinnen des Staates für die Schließung der Ehen vermittelst gewisser Lose die Einrichtung treffen, daß die Guten und die Schlechten gesondert von einander beide mit Frauen von gleicher Beschaffenheit zusammenkämen und daß so deswegen keine Feindschaft unter ihnen entstände, indem sie vielmehr den Zufall als die Ursache der jedesmaligen Verbindung ansähen?

Timaios: Wir erinnern uns dessen.

Sokrates: Und doch wohl auch dessen, daß wir feststellten, daß die Kinder der Guten aufgezogen, die der Schlechten aber heimlich unter die übrigen Angehörigen des Staates verteilt werden müßten, und wie die Staatsvorsteher dann die Heranwachsenden zu beobachten und die Würdigen von ihnen wieder in ihren Geburtsstand zurückzuversetzen, die Unwürdigen innerhalb dieses letzteren selbst aber in den Platz dieser Wiederhinaufgerückten einzustellen hätten?

Timaios: Freilich.

Sokrates: Nun hätten wir denn wohl alles ebenso wie gestern bereits wieder durchgegangen, soweit dies für eine Wiederholung in den Hauptzügen erforderlich, oder vermissen wir, mein lieber Timaios, noch irgend etwas von dem Gesagten, was wir etwa übergangen hätten?

Timaios: Nein, sondern gerade dies war sein Inhalt.

Sokrates: Hört nun ferner, wie es mir in bezug auf diesen Staat, wie wir ihn entwickelt haben, geht: Ich habe nämlich ungefähr dieselbe Empfindung dabei, wie wenn einer schöne Tiere sieht, sei es bloß gemalte, sei es auch wirklich lebende, die sich aber in Ruhe verhalten, und ihn dann das Verlangen ankommt, sie auch in Bewegung zu erblicken und etwas von den Eigenschaften, welche belebten Körpern zukommen, im Kampfe erproben zu sehen. Ebenso also geht es mir mit dem von uns entwickelten Staate. Denn gerne möchte ich jemanden darstellen hören, wie er diejenigen Kämpfe, welche einem Staate zukommen, gegen andere Staaten bestehen würde, indem er auf eine würdige Weise zum Kriege geschritten wäre und nunmehr während desselben das der in ihm herrschenden Erziehung und Bildung Entsprechende sowohl in der Ausführung durch Taten als in der Verhandlung in Worten dem jedesmaligen anderen Staate gegenüber leisten würde. Hierin nun, mein Kritias und Hermokrates, bin ich mir selber bewußt, daß ich niemals imstande sein werde, den Staat und die Männer gebührend zu verherrlichen. Und was mich betrifft, so ist das kein Wunder; aber ich habe dieselbe Meinung auch von den vormaligen sowie von den jetzt lebenden Dichtern gewonnen: nicht als ob ich damit das Geschlecht der Dichter herabsetzen wollte; vielmehr ist es jedem klar, daß alles, was zu der Klasse der nachahmenden Künstler gehört, dasjenige am leichtesten und besten nachahmen wird, worin ein jeder auferzogen ward, und daß es dagegen für einen jeden schwer ist, dasjenige, was außerhalb seines Bildungskreises liegt, in den Taten, noch schwerer aber, es in den Worten gut nachzuahmen. Das Geschlecht der Sophisten aber wiederum halte ich zwar für sehr erfahren in Reden und vielen anderen schönen Dingen, fürchte aber, weil es in den Staaten umherzieht und nirgends eigene Wohnsitze hat, daß es unfähig sei, das Richtige zu treffen, wenn es sich darum handelt, wieviel und welcherlei wissenschaftliche und zugleich staatskluge Männer in Kampf und Schlachten, sowie in der jedesmaligen Unterhandlung, in Tat und Wort zur Ausführung bringen dürften. So bleiben denn nur noch die Leute eures Schlages übrig, welche beides zugleich, und zwar durch Anlage und durch Bildung, sind. Denn Timaios hier ist aus dem italischen Lokris gebürtig, welches sich der vortrefflichsten Verfassung erfreut, steht keinem von seinen Landsleuten an Vermögen und Herkunft nach und hat dabei einerseits die höchsten Ämter und Ehrenstellen im Staate bekleidet, andererseits in allem, was nur wissenschaftliches Streben heißt, nach meinem Dafürhalten das Höchste erreicht. Von dem Kritias aber wissen wir Athener es ja alle, daß ihm nichts von den Dingen, um welche es hier sich handelt, fremd ist, und ebenso darf man es von der Naturanlage wie der Bildung des Hermokrates glauben, daß sie ihnen allen gewachsen sei, da dies von so vielen Seiten bezeugt wird. Dies erwog ich auch schon gestern, und als ihr mich daher batet, das Wesen des Staates zu erörtern, so ging ich gerne darauf ein, weil ich wußte, daß niemand geschickter als ihr, wenn ihr wolltet, dazu sein würde, die Fortsetzung hierzu zu liefern; denn darzustellen, wie der Staat zu einem seiner würdigen Kriege schreiten und sodann in allem auf die ihm zukommende Weise handeln würde, dürftet ihr allein von allen, die jetzt leben, geeignet sein. Nachdem ich mich daher dessen entledigt, was ihr mir aufgetragen, trug ich euch denn hinwiederum das eben Erwähnte auf. Ihr nun setztet nach gemeinschaftlicher Beratung auf heute meine Gegenbewirtung durch Reden fest, und da bin ich denn nun, gerüstet und ganz gewärtig, sie zu empfangen.

Hermokrates: Und wir unsererseits, lieber Sokrates, wie es schon unser Timaios hier sagte, werden es gewiß an gutem Willen nicht fehlen lassen; auch haben wir so wenig einen Vorwand, uns dem zu entziehen, daß wir schon gestern, gleich als wir von hier in das Gastzimmer beim Kritias, wo wir wohnen, eingetreten waren, und noch vorher auf dem Wege dahin, eben den betreffenden Gegenstand mit einander betrachtet haben. Da trug uns denn nun unser Wirt eine Geschichte aus alter Überlieferung vor, und – dieselbe, lieber Kritias, könntest du nun auch dem Sokrates mitteilen, auf daß auch er mit uns prüfe, ob sie zur Erfüllung des uns Aufgetragenen etwas Geeignetes enthält oder nicht.

Kritias: Das mag geschehen, wenn es auch den Timaios, als unsern dritten Gesprächsgenossen, also gut dünkt.

Timaios: Ich bin damit einverstanden.

Kritias: So höre denn, Sokrates, eine gar seltsame, aber durchaus wahre Geschichte, wie sie einst Solon, der Weiseste unter den Sieben, erzählt hat. Er war nämlich, wie bekannt, ein Verwandter und vertrauter Freund meines Urgroßvaters Dropides, wie er auch selber wiederholt in seinen Gedichten sagt; meinem Großvater Kritias aber erzählte er bei irgend einer Gelegenheit, wie es dieser als Greis wiederum mir mitteilte, daß es viele vor Alters von unserem Staat vollbrachte bewunderungswürdige Taten gäbe, welche durch die Länge der Zeit und den Untergang der Menschen in Vergessenheit geraten wären; von allen aber sei eine die größte; und diese ist es, deren Andenken mir jetzt zu erneuern geziemt, um sowohl dir meinen Dank abzutragen, als auch zugleich die Göttin an ihrem gegenwärtigen Feste auf eine echte und gebührende Weise wie durch einen Lobgesang zu verherrlichen.

Sokrates: Wohlgesprochen! Aber was für eine Tat ist denn das, die Kritias, obgleich sie der Überlieferung unbekannt ist, dir dennoch als eine in Wahrheit vor alters von dieser Stadt vollbrachte nach dem Berichte des Solon mitteilte?

Kritias: So will ich denn diese alte Geschichte erzählen, die ich von einem nicht mehr jungen Manne vernommen. Es war nämlich damals Kritias, wie er sagte, schon beinahe neunzig Jahre, ich aber so ungefähr zehn alt. Nun war gerade der Knabentag der Apaturien, und was sonst jedesmal an diesem Feste gebräuchlich ist, geschah auch diesmal mit den Kindern: Preise setzten uns nämlich die Väter für den besten Vortrag von Gedichten aus. So wurden denn viele Gedichte von vielen anderen Dichtern hergesagt; namentlich aber trugen viele von uns Kindern manche von denen des Solon vor, weil diese zu jener Zeit noch etwas Neues waren. Da äußerte nun einer von den Genossen unserer Phratrie, sei es, daß dies damals wirklich seine Ansicht war, sei es, um dem Kritias etwas Angenehmes zu sagen, es scheine ihm Solon sowohl in allen anderen Stücken der Weiseste als auch in bezug auf die Dichtkunst unter allen Dichtern der edelste zu sein. Der Greis nun – denn ich erinnere mich dessen noch sehr wohl – ward sehr erfreut und erwiderte lächelnd: »Wenigstens, Amynandros, wenn er die Dichtkunst nicht bloß als Nebensache betrieben, sondern, wie andere, seinen ganzen Fleiß auf sie verwandt und die Erzählung, welche er aus Ägypten mit hierher brachte, vollendet und nicht wegen der Unruhen und durch alle anderen Schäden, welche er hier bei seiner Rückkehr vorfand, sich gezwungen gesehen hätte, sie liegen zu lassen, dann wäre, wenigstens nach meinem Dafürhalten, weder Homeros noch Hesiodos noch irgend ein anderer Dichter je berühmter geworden als er.«

»Aber was für eine Geschichte war denn dies?« fragte jener.

»Traun von der größten und mit vollem Rechte ruhmwürdigsten Tat von allen, welche diese Stadt vollbracht, von welcher aber wegen der Länge der Zeit und des Unterganges derer, die sie vollbracht haben, die Überlieferung sich nicht bis auf uns erhalten hat.«

»So erzähle mir denn vom Anfange an«, versetzte der andere, »was und wie und von wem Solon hierüber Beglaubigtes gehört und es danach berichtet hat.«

»Es gibt in Ägypten«, versetzte Kritias, »in dem Delta, um dessen Spitze herum der Nilstrom sich spaltet, einen Gau, welcher der saïtische heißt, und die größte Stadt dieses Gaus ist Saïs, von wo ja auch der König Amasis gebürtig war. Die Einwohner nun halten für die Gründerin ihrer Stadt eine Gottheit, deren Name auf ägyptisch Neith, auf griechisch aber, wie sie angeben, Athene ist; sie behaupten daher, große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen stammverwandt zu sein. Als daher Solon dorthin kam, so wurde er, wie er erzählte, von ihnen mit Ehren überhäuft, und da er Erkundigungen über die Vorzeit bei denjenigen Priestern einzog, welche hierin vorzugsweise erfahren waren, so war er nahe daran zu finden, daß weder er selbst noch irgend ein anderer Grieche, fast möchte man sagen, auch nur irgend etwas von diesen Dingen wisse. Und einst habe er, um sie zu einer Mitteilung über die Urzeit zu veranlassen, begonnen, ihnen die ältesten Geschichten Griechenlands zu erzählen, ihnen vom Phoroneus, welcher für den ersten Menschen gilt, und von der Niobe, und wie nach der Flut Deukalion und Pyrrha übrigblieben, zu berichten und das Geschlechtsregister ihrer Abkömmlinge aufzuzählen, und habe versucht, mit Anführung der Jahre, welche auf jedes einzelne kamen, wovon er sprach, die Zeiten zu bestimmen. Da aber habe einer der Priester, ein sehr bejahrter Mann, ausgerufen: ›O Solon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen alten Hellenen gibt es nicht!‹

Als nun Solon dies vernommen, habe er gefragt: ›Wieso? Wie meinst du das?‹

›Ihr seid alle jung an Geiste‹, erwiderte der Priester, ›denn ihr tragt in ihm keine Anschauung, welche aus alter Überlieferung stammt, und keine mit der Zeit ergraute Kunde. Der Grund hiervon aber ist folgender: Es haben schon viele und vielerlei Vertilgungen der Menschen stattgefunden und werden auch fernerhin noch stattfinden, die umfänglichsten durch Feuer und Wasser, andere, geringere aber durch unzählige andere Ursachen. Denn was auch bei euch erzählt wird, daß einst Phaïton, der Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters bestieg und, weil er es nicht verstand, auf dem Wege seines Vaters zu fahren, alles auf der Erde verbrannte und selber vom Blitze erschlagen ward, das klingt zwar wie eine Fabel, doch ist das Wahre daran die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden Himmelskörper und die Vernichtung von allem, was auf der Erde befindlich ist, durch vieles Feuer, welche nach dem Verlauf gewisser großer Zeiträume eintritt. Von derselben werden dann die, welche auf Gebirgen und in hochgelegenen und wasserlosen Gegenden wohnen, stärker betroffen als die Anwohner der Flüsse und des Meeres, und so rettet auch uns der Nil, wie aus allen andern Nöten, so auch alsdann, indem er uns auch aus dieser befreit. Wenn aber wiederum die Götter die Erde, um sie zu reinigen, mit Wasser überschwemmen, dann bleiben die, so auf den Bergen wohnen, Rinder- und Schafhirten, erhalten; die aber, welche bei euch in den Städten leben, werden von den Flüssen ins Meer geschwemmt; dagegen in unserem Lande strömt weder dann noch sonst das Wasser vom Himmel herab auf die Fluren, sondern es ist so eingerichtet, daß alles von unten her über sie aufsteigt. Daher und aus diesen Gründen bleibt alles bei uns erhalten und gilt deshalb für das Alteste. In Wahrheit jedoch gibt es in allen Gegenden, wo nicht übermäßige Kälte oder Hitze es wehrt, stets ein bald mehr, bald minder zahlreiches Menschengeschlecht. Nur aber liegt bei uns alles, was bei euch oder in der Heimat oder in anderen Gegenden vorgeht, von denen wir durch Hörensagen wissen, sofern es irgendwie etwas Treffliches oder Großes ist oder irgend eine andere Bedeutsamkeit hat, insgesamt von alters her in den Tempeln aufgezeichnet und bleibt also erhalten. Ihrdagegen und die übrigen Staaten seid hinsichtlich der Schrift und alles anderen, was zum staatlichen Leben gehört, immer eben erst eingerichtet, wenn schon wiederum nach dem Ablauf der gewöhnlichen Frist wie eine Krankheit die Regenflut des Himmels über euch hereinbricht und nur die der Schrift Unkundigen und Ungebildeten bei euch übrigläßt, so daß ihr immer von neuem gleichsam wieder jung werdet und der Vorgänge bei uns und bei euch unkundig bleibt, so viel ihrer in alten Zeiten sich ereigneten. Wenigstens eure jetzigen Geschlechtsverzeichnisse, lieber Solon, wie du sie eben durchgingst, unterscheiden sich nur wenig von Kindermärchen. Denn erstens erinnert ihr euch nur einer Überschwemmung der Erde, während doch so viele schon vorhergegangen sind; sodann aber wißt ihr nicht, daß das trefflichste und edelste Geschlecht unter den Menschen in eurem Lande gelebt hat, von denen du und alle Bürger eures jetzigen Staates herstammen, indem einst ein geringer Stamm von ihnen übrigblieb; sondern alles dies blieb euch verborgen, weil die Übriggebliebenen viele Geschlechter hindurch ohne die Sprache der Schrift ihr ganzes Leben hinbrachten. Denn es war einst, mein Solon, vor der größten Zerstörung durch Wasser der Staat, welcher jetzt der athenische heißt, der beste im Kriege und mit der in allen Stücken ausgezeichnetsten Verfassung ausgerüstet, wie denn die herrlichsten Taten und öffentlichen Einrichtungen von allen unter der Sonne, deren Ruf wir vernommen haben, ihm zugeschrieben werden.‹

Als nun Solon dies hörte, da habe er, wie er erzählte, sein Erstaunen bezeigt und angelegentlichst die Priester gebeten, ihm die ganze Geschichte der alten Bürger seines Staates in genauer Reihenfolge wiederzugeben.

Der Priester aber habe erwidert: ›Ich will dir nichts vorenthalten, mein Solon, sondern dir alles mitteilen, sowohl dir als eurem Staate, vor allem aber der Göttin zu Liebe, welche euren sowie unseren Staat gleichmäßig zum Eigentume erhielt und beide erzog und bildete, und zwar den euren tausend Jahre früher aus dem Salden, den sie dazu von der Erdgöttin Ge und dem Hephaistos empfangen hatte, und später ebenso den unsrigen. Die Zahl der Jahre aber, seitdem die Einrichtung des letzteren besteht, ist in unseren heiligen Büchern auf achttausend angegeben. Von euren Mitbürgern, die vor neuntausend Jahren entstanden, will ich dir also jetzt in kurzem berichten, welches ihre Staatsverfassung und welches die herrlichste Tat war, die sie vollbrachten; das Genauere über dies alles aber wollen wir ein andermal mit Muße nach der Reihe durchgehen, indem wir die Bücher selber zur Hand nehmen. Von ihrer Verfassung nun mache dir eine Vorstellung nach der hiesigen: denn du wirst viele Proben von dem, was damals bei euch galt, in dem, was bei uns noch jetzt gilt, wiederfinden, zuerst eine Kaste der Priester, welche von allen andern gesondert ist, sodann die der Gewerbetreibenden, von denen wieder jede Klasse für sich arbeitet und nicht mit den anderen zusammen, samt den Hirten, Jägern und Ackerleuten; endlich wirst du auch wohl bemerkt haben, daß die Kriegerkaste hierzulande von allen anderen gesondert ist, und daß ihr nichts anderes, außer der Sorge für das Kriegswesen, vom Gesetze auferlegt ist. Ihre Bewaffnung ferner besteht aus Spieß und Schild, mit denen wir zuerst unter den Völkern Asiens uns ausrüsteten, indem die Göttin es uns, ebenso wie in euren Gegenden euch zuerst, gelehrt hatte. Was sodann die Geistesbildung anlangt, so siehst du wohl doch, eine wie große Sorge das Gesetz bei uns gleich in seinen Grundlagen auf sie verwandt hat, indem es aus allen auf die Naturordnung bezüglichen Wissenschaften bis zu der Wahrsagekunst und der Heilkunst zur Sicherung der Gesundheit hin, welche alle göttlicher Natur sind, dasjenige, was zum Gebrauche der Menschen sich eignet, heraussuchte und sich dergestalt alle diese Wissenschaften und alle andern, welche mit ihnen zusammenhängen, aneignete. Nach dieser ganzen Anordnung und Einrichtung gründete nun die Göttin zuerst euren Staat, indem sie den Ort eurer Geburt mit Rücksicht darauf erwählte, daß die dort herrschende glückliche Mischung der Jahreszeiten am besten dazu geeignet sei, verständige Männer zu erzeugen. Weil also die Göttin zugleich den Krieg und die Weisheit liebt, so wählte sie den Ort aus, welcher am meisten sich dazu eignete, Männer, wie sie ihr am ähnlichsten sind, hervorzubringen, und gab diesem zuerst seine Bewohner. So wohntet ihr denn also dort im Besitze einer solchen Verfassung und noch viel anderer trefflicher Einrichtungen und übertraft alle anderen Menschen in jeglicher Tugend und Tüchtigkeit, wie es auch von Sprößlingen und Zöglingen der Götter nicht anders zu erwarten stand. Viele andere große Taten eures Staates nun lesen wir in unseren Schriften mit Bewunderung; von allen jedoch ragt eine durch ihre Größe und Kühnheit hervor:

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