Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Cuxhaven, Bremerhaven und im Umland. 









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ISBN E-Book: 978-3-95475-157-0
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Der Autor

Wolf S. Dietrich studierte Germanistik und Theologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Dann war er Lehrer und Didaktischer Leiter einer Gesamtschule. Er lebt und arbeitet heute als freier Autor in Göttingen und Cappel-Neufeld bei Cuxhaven. Kühle Brise ist sein siebzehnter Krimi im Prolibris Verlag und der sechste, der im Cuxland spielt. Der Autor ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.

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1
2017
Wortlos betrat der alte Mann den Verkaufsraum der kleinen Bäckerei, drängte sich an der Kundin vorbei, die gerade bedient wurde, und steuerte auf einen der Sessel zu, die zu dem Ensemble aus drei Tischen, einem Ecksofa und vier Stühlen gehörten. Am frühen Vormittag ließen sich hier selten Kunden nieder, um Kaffee zu trinken oder ein belegtes Brötchen zu verzehren. Und sollte sich doch einmal jemand an den Stammplatz des alten Övenhorsts setzen, musste Annika ihn an einen anderen Tisch bitten. Ohne hinschauen zu müssen, wusste sie, dass sich der Hauseigentümer in den Sessel fallen lassen, nach der bereitliegenden Zeitung greifen und sie geräuschvoll aufblättern würde. Sie reichte die Tüte mit den Brötchen über die Theke, nannte den Preis und nahm das Geld entgegen. »Auf Wiedersehen, Frau Icken, einen schönen Tag noch!«
Als die Kundin den Laden verlassen hatte, begann Annika, das Frühstück für den Gast vorzubereiten. Kaffee, Milch und Zucker, ein Croissant, ein Brötchen mit gekochtem Schinken, frisch belegt. Sie seufzte unhörbar. Gerhard Övenhorst nahm jeden Tag das Gleiche, schüttelte den Kopf über das, was er in der Zeitung las, die hier auslag, und verließ die Bäckerei, nachdem er alles verzehrt hatte, ohne ein Dankeswort und ohne zu bezahlen. Später, wusste Annika, würde er einige Zeit in der Spielothek bei René Müller verbringen und gegen Mittag die benachbarte Kneipe aufsuchen, um sich das Tagesgericht und ein Bier servieren zu lassen, wofür er ebenfalls nicht zahlen würde.
Maksym Melnik, der Pächter, stammte aus der Ukraine und hatte denselben Fehler begangen wie René und auch Timo, Annikas Mann. Sie waren auf das scheinbar großzügige Angebot von Öve, wie er im Viertel genannt wurde, eingegangen, hatten Pachtverträge unterschrieben, die mit einem Kredit verbunden waren. Für die ersten Monate waren weder Rückzahlung noch Zinsen fällig, und die monatliche Belastung war vergleichsweise niedrig. Danach aber stiegen Zins und Pacht in die Höhe. Inzwischen waren Timo und Annika so hoch bei Öve verschuldet, dass nach Abzug ihrer Verpflichtungen ihm gegenüber kaum genug zum Leben blieb. Obwohl sich die Kundschaft zufrieden zeigte und der Umsatz stieg, gelang es ihnen nicht, die Schuldenfalle zu verlassen.
Einige Zeit hatten sie sich der Illusion hingegeben, das Problem könnte auf natürliche Weise aus der Welt verschwinden. Övenhorst war gestürzt und wegen eines gebrochenen Oberschenkelhalsknochens ins Krankenhaus gekommen, wo er sich eine Infektion zugezogen hatte, die wiederum Herzprobleme zur Folge hatte. Eines Tages war eine Dame in der Bäckerei erschienen und hatte sich als seine Tochter vorgestellt. »Es sieht nicht gut aus«, hatte sie gesagt, aber nicht den Eindruck erweckt, als sei sie deswegen sonderlich besorgt. »Wir müssen mit allem rechnen.« Annika und Timo hatten ihre Anteilnahme ausgedrückt, der Frau Genesungswünsche für ihren Vater mitgegeben und sich, nachdem sie gegangen war, hoffnungsvoll angesehen. »Wenn die Tochter das Haus übernimmt, wird bestimmt alles besser«, hatte Annika gemurmelt. Timo war skeptisch geblieben. »Abwarten.«
Er hatte Recht behalten. Nach fast einem Jahr war Övenhorst mit einem Herzschrittmacher aus dem Krankenhaus zurückgekehrt und hatte seine morgendlichen Besuche in der Bäckerei wieder aufgenommen. Seine Bewegungen waren etwas schwerfälliger geworden, außerdem benutzte er eine Gehhilfe, die er demonstrativ an den Tisch lehnte, wenn er sich auf seinem Stammplatz niederließ.
Annika hatte das Brötchen wie gewohnt üppig belegt, ein Croissant daneben platziert, frischen Kaffee abgefüllt und alles auf einem Tablett arrangiert. Mit angehaltenem Atem trug sie es zu ihm hinüber, murmelte »bitte sehr« und kehrte rasch hinter den Tresen zurück. Der Gast verströmte einen unangenehmen Geruch, der sie an faulende Kartoffeln in einem muffigen Keller erinnerte.
Övenhorst musste im Geld schwimmen, schließlich hatte er nicht nur die Geschäftsräume im Erdgeschoss, sondern auch ein Dutzend Wohnungen in den oberen Etagen vermietet. Er selbst bewohnte die kleinste von allen. Sie befand sich auf der Rückseite des Hauses, neben der Spielothek, die ebenfalls zu seinem Imperium gehörte. Außerdem besaß er ein weiteres Geschäftshaus in der Fußgängerzone und eine Barkasse im Hafen, mit der Touristen zu den Seehundsbänken geschippert wurden. Trotz der Einnahmen daraus sowie aus Vermietung und Verpachtung, die Annika auf mindestens zwanzigtausend Euro monatlich schätzte, kam der Hausbesitzer wochenlang in derselben abgewetzten Hose und im selben verwaschenen Hemd in die Bäckerei. Seine Schuhe waren ausgetreten, und die graubraune Jacke, die er zu jeder Jahreszeit trug, hatte auch schon bessere Tage gesehen. All das hätte sie nicht gestört, wäre da nicht dieser Geruch gewesen. »Alte ungewaschene Männer riechen so«, hatte Timo ihr erklärt und mit den Schultern gezuckt, als sie sich bei ihm beklagt hatte. »Kenne ich von meinem Opa.«
Die Ladentür wurde geöffnet, eine ältere Dame aus der Nachbarschaft und ein junger Mann betraten den Verkaufsraum und unterbrachen Annikas Gedankenfluss. Weitere Kunden erschienen, Annika musste sich auf deren Wünsche konzentrieren und verschwendete keinen Gedanken mehr an Öve. Am Rande bemerkte sie, dass er sein Frühstück beendet hatte und den Laden, wiederum grußlos, verließ.

Gerhard Övenhorst humpelte durch die Fußgängerzone. Sein Ziel war ein Wohn- und Geschäftshaus an der Nordersteinstraße. Er hatte es vor Jahren günstig erworben. Nach dem Abriss des Karstadt-Kaufhauses war auf dem Weg zum Kaemmererplatz eine hässliche Brachfläche entstanden, die den Eindruck vermittelt hatte, die Geschäftszeile sei hier zu Ende. In der Folge waren einige Betriebe aus der Nachbarschaft in die Insolvenz und die Immobilienpreise in den Keller gegangen. Eins der leer stehenden Gebäude hatte er gekauft, die Geschäftsräume ungenutzt gelassen und die übrigen Räume hauptsächlich an osteuropäische Arbeiter vermietet. Innerhalb von drei Jahren waren die Ausgaben für den Kauf wieder hereingekommen.
Unter den Bewohnern hatte er ein Brüderpaar gefunden, das bereit war, gegen ein entsprechendes Entgelt zahlungsunwillige Mieter zur Räson zu bringen oder hinauszuwerfen. Außerdem halfen sie bei Bedarf auf der Kühlen Brise aus, der Ausflugs-Barkasse, mit der er an Touristen verdiente.Die beiden ehemaligen Hafenarbeiter hatten wegen gemeinsamer Eigentumsdelikte eingesessen und waren auf Bewährung. Ihre Freiheit hing davon ab, dass er ihnen einen festen Wohnsitz und ein Arbeitsverhältnis bescheinigte. Sie hatten die Bewohner, die ohnehin keinen Mietvertrag besaßen, an die Luft gesetzt. Nachdem das Haus vollständig entmietet war, hatte er es saniert und modernisiert.
Inzwischen war die Baulücke an der Nordersteinstraße durch eine moderne Geschäftszeile geschlossen worden und Övenhorst hatte begonnen, Läden und Wohnungen seines Gebäudes zu vermieten. Mit ordentlichen Verträgen, aber zum höchstmöglichen Mietzins. Und mit bewährter Steigerungsklausel. Niemand war gezwungen, das zu akzeptieren, doch er hatte immer Menschen gefunden, die dazu bereit waren. Das würde auch für dieses Haus gelten. Noch standen die Räume leer, aber für die Geschäftsräume im Erdgeschoss hatte er bereits einen Vertragspartner, und es gab Interessenten für die freien Wohnungen, bevor er sie überhaupt inserieren konnte.
Heute würde er das erste Apartment im Dachgeschoss übergeben, obwohl in den Läden die Handwerkerarbeiten nicht abgeschlossen waren. An eine offensichtlich gut situierte alleinstehende Dame. Sie dürfte keine Probleme mit der steigenden Miete haben. Eine Stunde vor dem verabredeten Termin für die Aushändigung der Schlüssel stieg er die Treppe aus hellgrauem Naturstein zu den Wohnungen hinauf.
Unterhalb der Dachgeschosswohnungen begegnete ihm eine junge Frau, die höflich grüßte und an ihm vorbei die Treppe hinabeilte. Er hatte sie noch nie gesehen.
»Wer sind Sie?«, rief er ihr nach. »Was machen Sie hier? Wie sind Sie hier reingekommen?«
Sie blieb stehen, wandte sich um, stieg einige Stufen wieder hinauf und musterte ihn kritisch. »Wer will das wissen?«
»Ich bin der Eigentümer«, knurrte Övenhorst. »Und mich interessiert, wer in meinem Haus herumläuft.«
Ihre Miene entspannte sich. »Dann sind Sie der Vermieter von Frau Doktor Anderson! Ich werde bei ihr zur Untermiete wohnen. Ein Handwerker, ich glaube ein Maler, hat mich reingelassen, als er ging.« Sie nahm eine weitere Stufe und streckte die Hand aus. »Mein Name ist Solveig Vollmer. Ich wollte nur mal sehen, wo genau die Wohnung liegt.«
Övenhorst achtete nicht darauf. Er schüttelte den Kopf. »Untermiete ist nicht erlaubt. Suchen Sie sich etwas anderes!«
»Frau Anderson bittet selbstverständlich um Ihre Zustimmung und hat eine entsprechende Erklärung vorbereitet. Sie brauchen nur zu unterschreiben.«
»Das wäre ja noch schöner!« Övenhorst hob die Stimme. »Ich unterschreibe nichts, was nicht von mir oder meinem Anwalt stammt. Untervermietung kommt nicht infrage. Basta!« Er wandte sich zum Gehen. »Und Sie verschwinden jetzt«, rief er über die Schulter.
»Sie können die Erlaubnis zur Untervermietung nur verweigern«, widersprach die Frau, »wenn die Wohnung dadurch überbelegt wird oder besondere Gründe gegen meine Person sprechen.«
Övenhorst fuhr herum und hob seine Gehhilfe. »Was ich kann und was ich nicht kann, entscheide ich, und sonst niemand. Merken Sie sich das!«
»Nach Paragraf fünfhundertvierzig BGB …«
»Kommen Sie mir nicht mit Paragrafen!«, schrie Övenhorst wütend und stieß mit seiner Krücke nach der Frau. Er traf sie am Brustbein. Sie geriet aus dem Gleichgewicht, ruderte mit den Armen, verfehlte das Geländer, stürzte mit einem Aufschrei rückwärts die Treppe hinab, rollte und rutschte über die Stufen bis zur nächsten Etage, wo sie regungslos liegen blieb. Nur Unterschenkel und Schuhe waren zu sehen.
Unschlüssig starrte er auf die Beine der Frau, wartete darauf, dass sie sich bewegten und aus seinem Blickfeld verschwanden. Doch die Füße rührten sich nicht. Mit einem ärgerlichen Schnaufen nahm er eine Stufe abwärts, verharrte, stieg weiter die Treppe hinab. Schließlich stand er vor dem Körper der unbekannten Frau, die sich nicht rührte. Mit der Gehhilfe stupste er gegen eine ihrer Schultern. Der Kopf fiel zur Seite und gab den Blick frei auf eine Blutlache, die sich langsam auf dem Steinfußboden ausbreitete. Övenhorst entfuhr ein halblauter Fluch. Die Schweinerei würde sich nur schwer beseitigen lassen.
Noch einmal stieß er den Körper mit der Krücke an. Ein kaum wahrnehmbares Atemgeräusch entwich dem offenen Mund. Argwöhnisch beugte er sich über die Frau. Lebte sie noch? Ratlos betrachtete er das Gesicht. Plötzlich flatterten die Augenlider, öffneten sich.
»Hallo?«, rief er. Keine Reaktion. Unschlüssig verharrte er in gebeugter Haltung, starrte in die aufgerissenen Augen. Sie schienen ihn anzusehen. Sekunden später verloren sie ihren Glanz und erstarrten zu blickloser Entrücktheit.
Övenhorst richtete sich auf und umrundete vorsichtig das Hindernis, nahm die letzte Treppe zum Erdgeschoss und verließ das Gebäude über den Hinterhof. So rasch seine schmerzende Hüfte es erlaubte, eilte er zum anderen Haus zurück, ging jedoch nicht in seine Wohnung, sondern betrat nach einem kurzen Blick auf die Uhr die Spielothek.
René Möller war in Cuxhaven geboren und aufgewachsen, hatte etwa ein Drittel seines achtundvierzig Jahre währenden Lebens im Knast verbracht und erst als Pächter von Övenhorsts Spielsalon zu einem regelmäßigen und dauerhaften Auskommen gefunden. Zwar kassierte der Verpächter den größten Teil seiner Einnahmen, aber René war genügsam, und durch gelegentliche zusätzliche Jobs im Auftrag seines Chefs ließ sich sein Einkommen so weit verbessern, dass er sein anspruchsloses Leben finanzieren konnte.
Als Övenhorst eintrat, sah er ihn überrascht an. »Moin, Chef. Ungewöhnliche Zeit, Chef.«
Sein Verpächter winkte wortlos ab und deutete zum Telefon. René nahm den Apparat aus der Halterung. Der Alte lehnte seine Krücke gegen die Theke, kramte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche und schob es René hin. Ein Name und eine Telefonnummer. »Soll ich wählen?«
Övenhorst nickte, René drückte auf die Tasten und reichte ihm das Telefon.
»Die Übergabe des Schlüssels muss verschoben werden«, sagte er ohne Begrüßung, als sich jemand meldete. »Auf morgen. Oder Sie holen ihn bei mir ab. Wiederhören.« Dann wählte er eine Mobilfunknummer, die er im Kopf hatte. »Schnapp dir deinen Bruder und den Bulli! Fahrt zum Haus! Nein, zum neuen. Einen Schlüssel für den Hintereingang findet ihr im Wagen. Im Treppenhaus, im ersten Stock, liegt etwas, das verschwinden muss. Und dann reinigt ihr die Stelle. Aber gründlich. Anschließend ruft ihr mich unter dieser Nummer an. Ich will wissen, ob alles erledigt ist.«
Er gab René das Telefon zurück, packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. »Ich bin seit einer Stunde hier. Merk dir das! Kann sein, dass man dich danach fragt. Vielleicht musst du’s auch beschwören. Hast du mich verstanden?«
René nickte. »In Ordnung, Chef.«
Der Alte ließ ihn los. »Schreib dir Tag und Uhrzeit hinter die Ohren!«
»Mach ich, Chef. Sie können sich auf mich verlassen.« Er grinste, warf einen Blick auf den Kalender an der Wand, dann auf seine Armbanduhr. »Siebter August, neun Uhr. Sieben acht, neun. Kann man sich gut merken. Möchten Sie was trinken, Chef?«
»Ein Bier«, antwortete Övenhorst und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem Automaten, der etwas abseits an der Wand hing. »Und schmeiß da was rein!«
René öffnete eine Flasche Flensburger, schob sie über den Tresen, verließ seinen Platz, zog eine Münze aus der Hosentasche und steckte sie in den Einwurfschlitz des Merkur-Disc-Super. Das Gerät ließ eine Tonfolge hören, seine bunten Scheiben setzten sich in Bewegung. Övenhorst griff nach seiner Krücke und stellte sich davor, eine Hand an der Stopptaste.
Den alten Spielautomaten mit elektromechanischer Technik, der 2001 noch von D-Mark auf Euro umgerüstet worden war, hätte er längst an einen Sammler verkauft, wenn Övenhorst nicht darauf bestanden hätte, daran täglich sein Spielchen zu machen. Die modernen Geräte mit ihren LED-Anzeigen und gewaltigen Klangkulissen verachtete er. Eigentlich war der Alte kein Spieler, sondern ein knallhart kalkulierender Geschäftsmann. Dabei war er so geizig, dass er sich weder einen eigenen Telefonanschluss noch ein Handy leistete, zum Telefonieren kam er zu ihm in die Spielothek oder ging in die benachbarte Kneipe. Dennoch gönnte er sich das Spiel am Automaten. Wahrscheinlich hatte er sich das als junger Mann nicht leisten können oder die Ausgabe gescheut.
Nachdem René an seinen Platz zurückgekehrt war, beobachtete er den Alten, der mit erstaunlichem Geschick die rotierenden Scheiben so oft an der richtigen Stelle zum Stillstand brachte, dass immer wieder Münzen laut klappernd in der Geldausgabe landeten. Bei jedem Gewinn stieß er ein zufriedenes Grunzen aus. Doch am Ende würde er die Spielothek mit leeren Händen verlassen, da der Apparat nicht mehr Geld ausspucken konnte, als man hineinsteckte. Den einen Euro, den René bei den Besuchen seines Verpächters in den Automaten werfen musste, erstattete ihm der Geizhals nicht. Für René war das kein Problem, denn der er besaß den Schlüssel und holte sich die Münzen in unregelmäßigen Abständen zurück.
Heute war Övenhorst früher gekommen als sonst, und René fragte sich, ob die Anweisung, sich an Datum und Uhrzeit zu erinnern, und die beiden Telefonate damit zusammenhingen. Anscheinend brauchte der Alte ein Alibi. So was kam vor, er kannte das. Aber der zweite Anruf, mit dem er Mike und Marco diesen geheimnisvollen Befehl erteilt hatte, gab ihm Rätsel auf. Offenbar musste im neuen Haus etwas weggeräumt und eine Verunreinigung beseitigt werden. Auch das war an sich nichts Ungewöhnliches. Doch in Verbindung mit der Alibi-Sache kam ihm der Auftrag seltsam vor. Es schien fast, als wäre eine Leiche wegzuschaffen. René musterte den Mann vor dem Geldspielautomaten. Övenhorst war kräftig, aber der schmale graue Haarkranz an seinem kantigen Schädel, die fleckige Kopfhaut und die langsamen und offensichtlich anstrengenden Bewegungsabläufe beim Gehen ließen sein Alter erkennen. Der Mann war über achtzig und wohl kaum in der Lage, jemanden umzubringen.

*

Wenn einer der Kowalski-Brüder vom Anblick der toten Frau überrascht war, so verbarg er es vor dem anderen. Sie beugten sich über sie, sahen sich an und zuckten mit den Schultern. »Wir brauchen eine Decke oder so«, stellte Mike fest. Marco verließ wortlos das Treppenhaus, ging zum Wagen und kehrte mit einer großen schwarzen Plastikfolie zurück.
Sie wickelten die Leiche in die Plane und trugen sie ohne nennenswerte Anstrengung die Treppe hinunter zum Hinterausgang. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass auf dem Hof kein Mensch zu sehen war und von den Fenstern und Balkonen der Nachbarhäuser niemand herüberschaute, verfrachteten sie das Paket in den Lieferwagen. Marco nahm Eimer, Schrubber und Feudel heraus und sah seinen Bruder fragend an. »Erst putzen?« Mike nickte, schloss den Wagen ab und ging voran.
Eine knappe Stunde später waren alle Spuren vom Ort des Unfalls beseitigt. Zufrieden betrachteten die Männer ihr Werk. Nahm man einen bestimmten Winkel ein und sah genau hin, blieb ein leichter Schatten erkennbar. »Das sieht man nur«, sagte Marco, »wenn man weiß, wo der Fleck war.« Sein Bruder nickte und gab mit einer Kopfbewegung das Zeichen zum Gehen.
Wenig später rollte der VW Bulli vom Hinterhof des Hauses. »Wohin?«, fragte Mike, als sein Bruder in die Holstenstraße einbog.
»Hafen. Aber nicht jetzt. Erst zu Öve.«

*

Als Mike und Marco die Spielothek betraten, hatte Övenhorst gerade die letzte Münze verspielt. Inzwischen waren etliche Besucher an den Automaten beschäftigt. Eine Kakofonie unterschiedlichster elektronisch erzeugter Töne erfüllte den Raum. Der Alte nahm seine Krücke und hinkte auf die Brüder zu. »Hier ist es zu laut. Wir gehen nach draußen.«
Die Fußgängerzone hatte sich gefüllt. Durch den Strom aus schlendernden Touristen, einkaufenden Einheimischen und hastenden Berufstätigen dirigierte er seine Männer zum Eiscafé an der Ecke zur Segelckestraße. Das Da Dalto war wie immer gut besucht. Övenhorst hielt es für eine Goldgrube. Es hatte nur den Nachteil, dass es nicht ihm gehörte. In den neunzehnhundertsiebziger Jahren hatte er versucht, mit Saverio Da Dalto ins Geschäft zu kommen, doch der Mann aus Venetien hatte eine Beteiligung abgelehnt.
Im gläsernen Raucherbereich gab es freie Tische. Abseits der übrigen Gäste ließen sie sich nieder.
Für Mike und Marco bestellte Övenhorst Espresso, für sich ein Glas Wasser. Nachdem sich die Bedienung zurückgezogen hatte, griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog eine abgegriffene Brieftasche hervor. Er nahm zwei Hunderter heraus und schob sie über den Tisch. Rasch und wortlos ließen die Brüder die Scheine verschwinden. »Der Flur ist sauber«, berichtete Mike. »Die … das … Paket schaffen wir heute Nacht fort.«
Övenhorst kniff die Augenlider zusammen. »Aber so, dass es nicht wieder auftaucht. Ist das klar?«
»Selbstverständlich«, bestätigte Marco. »Wir bringen sie … es …«
»Das will ich gar nicht wissen«, unterbrach ihn der Alte. »Ich verlasse mich auf euch. Denkt daran, den Wagen hinterher gründlich zu reinigen!«
Die Brüder nickten. »Klar, Chef«, antworteten sie wie aus einem Mund.
»Dann ist ja alles gut.«
Nachdem die Bedienung Espresso und Wasser serviert hatte, leerte Övenhorst sein Glas. »Ein bisschen Kleingeld werdet ihr in der Tasche haben«, sagte er, nahm seine Krücke und stand auf. »Morgen meldet ihr Vollzug!« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Eiscafé.
Die Blicke seiner Helfer folgten ihm, bis er in den Fleckenpüsterweg einbog und aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Mike schob die Espressotasse von sich und winkte der Bedienung. »Zwei Grappa!«

*

Der blaue VW Transporter T3 aus den neunzehnhundertachtziger Jahren war genau das Fahrzeug, nach dem er gesucht hatte. Stumpfer Lack, rostige Stoßstangen und etliche Beulen störten ihn nicht. Viel wichtiger als solche Äußerlichkeiten waren eine gültige TÜV-Plakette und brauchbare Reifen. Was den Wagen vor allem auszeichnete, war das Fehlen einer Wegfahrsperre. Und er war günstig abgestellt. Der Parkplatz vor dem Bahnhof stand voller Fahrzeuge. Deren Besitzer waren mit dem Zug unterwegs oder im gegenüberliegenden Supermarkt, auf dem Wege dorthin oder kamen bepackt heraus und hatten nichts anderes im Sinn, als ihre Einkäufe zu verstauen. Niemand achtete auf seinen Nebenmann. Sascha würde nicht auf den Schutz der Dunkelheit warten müssen.
Er trug einen grauen Overall, in dem man ihn, würde er überhaupt wahrgenommen, für einen Handwerker hielte. Um die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen, die Kabel für Zündung und Anlasser zu überbrücken und den Motor zu starten, benötigte er weniger als eine Minute. Niemand stellte sich ihm in den Weg, kaum jemand beachtete den T3, als er vom Parkplatz rollte. An der Ampel zur Einmündung auf die Konrad-Adenauer-Allee bog er links ab und folgte der B 73 stadtauswärts. Er durchfuhr den Kreisel, an dem die A 27 begann, und verließ ihn in Richtung Hamburg, passierte Altenbruch und erreichte schließlich Otterndorf. Hier bog er in eine schmale Seitenstraße ein, an deren Ende er sein Ziel fand. Eine leere Scheune. Er stieg aus, öffnete das Tor und sah sich um. Niemand war in der Nähe. Sascha fuhr den Transporter hinein, stellte den Motor aus und schob die Tür wieder zu. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte.
»Bin da«, sagte er, als sich sein Gesprächspartner meldete. »In eurer Scheune. Habe einen T3 gefunden.«

*

Die Kowalski-Brüder warteten schon in der Spielothek, als Gerhard Övenhorst am nächsten Morgen dort eintraf. Demnach hatten sie ihren Job bereits erledigt. Zufrieden nickte er ihnen zu und rief eine Bestellung in Renés Richtung. »Mach mal drei Biere auf! Für meine Freunde und für mich.«
René bejahte stumm, und Övenhorst humpelte heran, lehnte seine Gehhilfe gegen den Tresen. Er ergriff eine der Flaschen, die René auf die Theke gestellt und geöffnet hatte, und hielt sie hoch. »Zum Wohl! Auf die erfolgreiche Aktion!«
Zögernd tasteten Mike und Marco nach den Getränken, machten aber keine Anstalten, mit ihrem Chef anzustoßen.
Mit einer ruckartigen Bewegung ließ Övenhorst seine Flasche auf die Theke knallen, sodass das Bier aus dem Flaschenhals schäumte. »Was ist passiert?«, fragte er mit schneidender Stimme.
Mike breitete hilflos die Arme aus. »Der Transporter ist weg.«
»Wie weg?«, schnappte der Alte.
»Ganz weg«, ergänzte Marco. »Verschwunden. Geklaut. Mit Ladung.«
Övenhorst lief rot an und streckte die Hand aus. »Ich will die Hunnis zurück.«
10
2017
Der Jäger wischte sich den Mund ab und leerte ein Fläschchen Jägermeister, um den schlechten Geschmack loszuwerden. Dann wandte er sich zum Gehen. Als er über die Lichtung stapfte, um zu seinem Wagen zurückzukehren, fragte er sich, was er unternehmen sollte. Gern hätte er jetzt ein Mobiltelefon gehabt. Aber er hatte es stets abgelehnt, sich auf ständige Erreichbarkeit und Telefongespräche während der Jagd einzulassen. Mit einem Handy hätte er seinen Freund und Anwalt anrufen können. Der würde wissen, was zu tun war. Wahrscheinlich würde er ihm raten, den Fund der Polizei zu melden. Aber war er dazu verpflichtet? Was konnte ihm passieren, wenn er es nicht tat? Schließlich hatte der Wolf ihn auf die Tote aufmerksam gemacht. Wäre das Wildtier nicht gewesen, hätte er sie nicht bemerkt. Sollte er den Kreisjägermeister um Rat fragen? Der wäre sicher für die Information über den Wolf dankbar.
Die Landesjägerschaft beteiligte sich am Wolfsmonitoring des niedersächsischen Umweltministeriums. Offiziell unterstützte sie den Schutz der Wölfe. Allerdings waren einige Jäger der Ansicht, dass man sie bejagen sollte. Besonders die Landwirte unter ihnen traten energisch für einen Abschuss ein. Diese Kollegen würden es ihm verübeln, wenn er die Polizei informierte und seine Begegnung mit dem Wolf dadurch bekannt würde. Vielleicht war es besser, erst einmal gründlich nachzudenken, bevor er zum Telefon griff. Er ahnte, dass es, egal wie er sich entschied, Schwierigkeiten geben würde. Die Erkenntnis ließ ihn innehalten und im Rucksack nach einer weiteren Miniflasche Jägermeister tasten.
Wegen der Schnäpse, die ihn erwärmt und beruhigt, aber auch ein wenig benebelt hatten, fuhr Dieter Köncke auf dem Rückweg besonders vorsichtig und benutzte Schleichwege, um Bundesstraße und Ortschaften zu meiden. Auf der B 73 gab es häufig schwere Unfälle, deshalb wurden dort zu nächtlicher Stunde gelegentlich Alkoholkontrollen durchgeführt. Nach dem abgebrochenen Ansitz erreichte er sein Haus trotz der Umwege früher als geplant. Dennoch war es zu spät, um noch jemanden anzurufen. Sollte er die Entscheidung besser auf den nächsten Morgen verschieben? Er vergewisserte sich, dass seine Frau schlief, ging in die Küche, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich am Tisch nieder. Es würde ihm helfen, das grässliche Bild aus seinem Kopf zu vertreiben. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Nach einer weiteren Flasche kam ihm endlich die Idee, wo und wie er die Information und damit die Last abladen konnte. Er ging in sein Arbeitszimmer, nahm ein Blatt Papier und begann zu schreiben.

*

Maries Arbeitstag startete mit einem überraschenden Anruf von Felix. Sie hatte gerade ihren Roller vor der Dienststelle abgestellt und den Helm abgenommen, als ihr Smartphone klingelte und sein Bild auf dem Display erschien. »Ist was passiert?«, fragte sie beunruhigt.
»Keine Sorge, Schatz! Alles in Ordnung. Jedenfalls bei uns. Aber ich habe eine seltsame Nachricht bekommen. Angeblich hat in der Wingst ein Wolf ein Kind angefallen und getötet. Ich würde gern wissen, ob die Meldung stimmt. Habt ihr Informationen darüber?«
Marie dachte an Nele und an ihren Vater, den Wolfsschützer. Ihr Puls beschleunigte sich. »Das wäre ja entsetzlich. Ich bin noch nicht im Büro«, sagte sie. »In fünf Minuten rufe ich dich an.« Sie steckte das Mobiltelefon zurück, zog den Schlüssel ab, nahm ihre Handtasche aus dem Topcase und eilte zum Eingang. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Radfahrer wahr, der mit hoher Geschwindigkeit aus der Poststraße kam und unmittelbar neben ihr abbremste.
»Moin, Marie!«, rief Jan Feddersen mit dröhnender Bassstimme und stieg vom Rad. »Heute warst du schneller.«
Sie ging nicht darauf ein. »Ich gehe schon mal vor. Muss etwas überprüfen.«
Im Büro telefonierte sie zuerst mit Anne Lüken, dann mit der Einsatzzentrale und schließlich mit der Wache an der Werner-Kammann-Straße. Um ganz sicher zu gehen, noch mit dem Fachkommissariat sechs, das für Jugendsachen zuständig war. Doch nirgends gab es eine Information über ein verschwundenes, verletztes oder gar getötetes Kind. Auch nicht im Polizeikommissariat Hemmoor. Erleichtert legte sie den Hörer auf und nahm ihr Smartphone zur Hand, um Felix zurückzurufen.
»Bei uns liegt nichts vor«, sagte sie, als er sich meldete. »Hat dein Informant konkrete Angaben gemacht? Wer? Wann? Wo?«
»Ein Jäger will gestern Abend einen Wolf beobachtet haben, der ein Kind zerfleischt hat. Ein blondes Mädchen. Noch in der Nacht hat er seine Beobachtung aufgeschrieben und per Fax an uns weitergegeben. Einen Namen hat er nicht genannt, und das benutzte Faxgerät hat keine Kennung übermittelt. Der Schrift nach handelt es sich um einen älteren Herrn. Die Ortsangabe scheint relativ genau. Demnach befindet sich die Fundstelle am Waldrand in der Nähe des Steingrabs. Wo immer das sein mag. Ich kenne die Ecke nicht so gut.«
»Das kriegen wir raus«, sagte Marie. »Wir schicken jemanden hin. Danke für die Information, Felix. Ich melde mich, wenn die Kollegen etwas finden. Aber ihr schreibt bitte noch nichts darüber! Ich möchte erst wissen, was wirklich passiert ist.«
»Was kriegen wir raus?«, fragte Jan Feddersen, der in diesem Augenblick das Büro betrat.
Marie hob eine Hand, verabschiedete sich von Felix und wandte sich ihrem Kollegen zu. »Moin, Jan. Angeblich ist in der Wingst ein Wolf gesehen worden, der ein Kind … getötet hat. Solche Gruselgeschichten tauchen hin und wieder auf. Das kenne ich von meinem Vater.«
»Moin, Marie.« Jan zeigte eine skeptische Miene. »Dein Vater erzählt Gruselgeschichten?«
»Nein. Natürlich nicht. Er erzählt mir lediglich, dass Begegnungen mit Wölfen gelegentlich aufgebauscht werden. Manchmal wird wohl auch was dazu erfunden. Von Leuten, die diese Tiere bei uns nicht haben wollen. Sagt mein Vater. Er gehört zu den Naturschützern, die sich für den Wolf einsetzen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die illegal Jagd auf Wölfe machen. Hier in unserem Landkreis Cuxhaven wurde sogar schon mal eine Totschlagfalle gefunden, die mit Innereien präpariert war.«
Jan nickte nachdenklich. »Wenn tatsächlich ein Kind Opfer eines Wolfs würde, wäre das …«
»Eine Katastrophe«, ergänzte Marie. »Für das Kind, für seine Eltern, für alle Angehörigen, für das ganze Dorf oder die ganze Stadt.«
»Und für die Naturschützer. Ihre Gegner bekämen Auftrieb. Die Auseinandersetzung würde wahrscheinlich eskalieren.«
»Deshalb hoffe ich, dass es sich bei der Meldung tatsächlich um eine erfundene Gruselgeschichte handelt. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen und den angegebenen Bereich absuchen lassen.«
»Möglichst nicht mit einer Hundertschaft«, wandte Jan Feddersen ein. »Das gäbe einen gewaltigen Medienzirkus.«
»Auf gar keinen Fall.« Marie schüttelte den Kopf. »Wir schicken erst mal Kollegen hin, die das Gelände kennen und sich unauffällig umsehen können.« Sie deutete aufs Telefon. »Ich frage in der Dienststelle in Cadenberge an. Die sind dort am nächsten dran und müssten eigentlich auch wissen, welche älteren Herrn in der Gegend auf Jagd gehen.«
»Gute Idee«, bestätigte Jan. »In der Zwischenzeit kümmere ich mich weiter um den Fall Solveig Vollmer. Wer könnte das Foto digitalisieren, das die Kollegen gestern Abend aus der WG in Sahlenburg mitgebracht haben?«
»Am besten kann das …« Marie zögerte. Erik Damme in der KTU, hätte sie sagen wollen. Doch das Bild von Jan und Anne schob sich vor ihr inneres Auge. Konnte es falsch sein, Jan zu Annes Freund zu schicken?
»Vielleicht sollte ich es zu Anne Lüken bringen«, unterbrach Feddersen ihren Gedankenfluss. »Die kann das sicher selbst übernehmen.«
Keine gute Alternative, dachte Marie und beeilte sich, klarzustellen, dass der Kollege Erik Damme von der KTU das Foto von Solveig Vollmer rasch ins Computersystem der Inspektion einstellen würde, sodass alle Dienststellen darauf Zugriff hätten. »Auch Anne«, schloss sie.
Jan ließ sich nicht anmerken, ob ihm die Empfehlung missfiel. Er nickte nur und ging zur Tür. »Bis gleich!«
Nachdem er das Büro verlassen hatte, griff Marie zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Dienststelle in Cadenberge. Dort meldete sich ein Polizeioberkommissar Thorsten Meiners. Der Name kam ihr vage bekannt vor. Sie berichtete von dem Fax an die Cuxhavener Nachrichten und erläuterte die Problematik, die mit dem Stichwort »Wolf« verbunden war. Und war erleichtert und dankbar, als Meiners versicherte, dass er und sein Kollege den zuständigen Jagdpächter informieren und sich die Stelle ansehen würden. Er versprach, sie zurückzurufen.
Marie bedankte sich und legte auf. Sie starrte auf das Telefon und versuchte sich einzureden, dass nun alles Notwendige veranlasst war, sie ihrer Pflicht Genüge getan hatte und sich die grausige Geschichte in ein paar Stunden als widerwärtige Falschmeldung herausstellen würde. Doch an ihrem Innersten kratzte die Angst vor dem Gegenteil. Und die Angst um Nele. Bisher war das unbestimmte Gefühl einer wenig konkreten Bedrohung durch Wölfe, die im Landkreis Cuxhaven und anderswo gesichtet worden waren, Grundlage für die Diskussion mit ihrem Vater gewesen. Er hatte immer wieder betont, dass von den Tieren keine Gefahr ausginge. Es gäbe in ganz Deutschland keinen einzigen Fall, in dem ein Wolf einen Menschen angefallen hätte.
»Was du hast«, hatte er behauptet, »ist das Rotkäppchen-Syndrom. Eine tief sitzende, aber irrationale Furcht gegenüber einem unbekannten Tier, das fälschlicherweise als böse bezeichnet wird.«
Geduldig hatte er ihr die Geschichte der Wölfe in Europa dargestellt und zahlreiche Fakten aufgeführt, die sie nicht hatte widerlegen können. Trotzdem musste sie seit Felix’ Anruf immer wieder an Nele denken. In ihrer Vorstellung stand das kleine blonde Mädchen mit dem Schlafhasen unter dem Arm im Garten seiner Großeltern, und am Ufer der Medem schlich ein Wolf entlang, der seine gelben Augen begehrlich auf das Kind richtete.

*

»Wir machen einen kleinen Waldspaziergang.« Polizeioberkommissar Thorsten Meiners grinste, als er seinen Kollegen ansah. Zwanzig Jahre jünger war Niels Hinrichsen und ebenso viele Kilos schwerer. Nach Möglichkeit vermied er Bewegung an der frischen Luft. Dementsprechend blass und teigig wirkte das kindlich-runde Gesicht, aus dem ihm nun erschreckte Augen entgegenblickten. »Waldspaziergang?«, fragte er misstrauisch. Wohl weil er ahnte, dass sein Chef nicht wirklich an eine harmlose kleine Wanderung dachte.
»Die Kollegen von der Cuxhavener Kripo haben einen Tipp bekommen. Am Rande einer kleinen Lichtung in der Nähe vom Steingrab soll eine Kinderleiche liegen. Wir sollen uns in der Gegend unauffällig umschauen.«
»Kinderleiche?« Aus dem erschreckten Ausdruck wurde Entsetzen. »Wieso schicken die nicht ihre eigenen Leute? Falls es sich um ein Tötungsdelikt handelt …«
»Das wissen wir noch nicht«, unterbrach Meiners seinen Kollegen. »Nicht einmal, ob dort wirklich ein Opfer zu finden ist. Die wollen kein Aufsehen, weil angeblich ein Wolf im Spiel ist. Wenn das bekannt würde, wäre hier der Teufel los. Deshalb sind wir gefragt.« Er nahm den Schlüssel des Dienstwagens aus der Schublade und warf ihn Hinrichsen zu. »Du fährst.«
Wenig später stellten die Beamten ihren Dienstwagen am Waldrand ab und folgten zu Fuß einem schmalen Weg in Richtung Steingrab. Thorsten Meiners schritt zügig voran, sodass Hinrichsen schnell zu schnaufen begann. »Wenn wir das Gelände absuchen wollen«, keuchte er schließlich, »sind wir ja den ganzen Tag unterwegs.«
Sein Chef schüttelte den Kopf. »Höchstens einen halben. Wir halten nach einer Jagdkanzel Ausschau. Es gibt hier nur zwei Lichtungen mit Hochsitz.« Mit einer Bewegung der Arme deutete er imaginäre Grenzen an. »In diesem Bereich müssen wir suchen. Zur Mittagspause sind wir wieder in der Dienststelle.«
»Hauptsache du behältst Recht«, murmelte Hinrichsen. »Ich habe nichts zu essen und zu trinken dabei.« Er befühlte seine Taschen und zog einen Schokoriegel hervor. »Nur das.«
Meiners verkniff sich ein Grinsen. »Dann wollen wir mal hoffen, dass wir nichts finden. Denn sonst dürfte es so schnell keine Pause geben. Wir müssten vor Ort warten, bis die Kollegen von der Cuxhavener Kripo eintreffen.«
Hinrichsen betrachtete unschlüssig sein Snickers, steckte es zurück in die Tasche und versuchte, zu seinem Chef aufzuschließen, der den Weg verlassen hatte und nun einem kaum erkennbaren Trampelpfad folgte. »Woher haben die eigentlich den Tipp bekommen?«, fragte er atemlos. »Hier rennt doch freiwillig kein Mensch herum.«
»Von einem Jäger«, antwortete Meiners. »Allerdings anonym. Aber den finden wir. Wenn wir Glück haben, stimmen die Listen der Jagdpächter, und wir erreichen den Verantwortlichen.« Plötzlich blieb er stehen und deutete nach oben.
Fast wäre sein Kollege in ihn hineingerannt. »Ist da was?«, schnaufte er.
»Zwei Bussarde. Gerade sind sie noch gekreist. Nun stürzen sie herab.«
»Ja. Und? Machen wir jetzt Vogelkunde?«
»Raubvögel fressen Fleisch. Auch von Toten.«
Hinrichsen zuckte mit den Schultern. »Sollen sie doch. Hab mal gelernt, die sind so was wie eine Gesundheitspolizei in der Natur, weil sie krankes und verendetes Wild …« Er brach ab und verzog angeekelt das Gesicht. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Die Vögel unterscheiden nicht zwischen toten Tieren und …«
»Hör auf!« Hinrichsen hob abwehrend die Hände. »Das ist … wäre … ja grauenhaft.«
»Wir gehen dahin«, entschied Meiners, »und schauen nach.« Ohne auf die Einwände seines Kollegen einzugehen, marschierte der Oberkommissar in die Richtung, in der er die Raubvögel vermutete.
Gut zehn Minuten später erreichten sie eine Lichtung. An einer Seite entdeckten sie einen Hochsitz, auf der gegenüberliegenden flogen zwei Bussarde auf. Thorsten Meiners schritt zielstrebig auf die Stelle zu. Niels Hinrichsen folgte ihm zögernd und in einigem Abstand. Als sein Kollege stehen blieb, verharrte er ebenfalls.
Meiners sah sich um und winkte. »Wir haben die Stelle gefunden«, rief er. »Aber es ist kein Kind.«
Erleichtert setzte sich Hinrichsen in Bewegung und tastete nach seinem Snickers. Den Anblick einer von Raubvögeln angefressen Kinderleiche hätte er nicht ertragen. Die Überreste eines Hasen, eines Fuchses oder auch eines Rehs würden ihm den Appetit nicht verderben. Er pulte den Schokoriegel aus der Verpackung und biss hinein.
Erst im letzten Augenblick trat Thorsten Meiners zur Seite und gab den Blick auf das Opfer der Greifvögel frei. Kein Hase, kein Fuchs, kein Reh. »Eine Frau!«, stieß Hinrichsen undeutlich hervor und spuckte den Schokobissen aus. Dann knickten ihm die Beine weg.

*

»Wir brauchen das volle Programm«, sagte Marie zu Jan Feddersen, nachdem ihr Kollege aus Cadenberge seinen Bericht beendet hatte. »Tatortgruppe, Rechtsmedizin, einen Bestattungsunternehmer, der die Leiche zu Untersuchung transportiert. Es ist übrigens kein Kind, sondern eine junge Frau mit langen blonden Haaren. Ich fürchte fast, es könnte …«
»… Solveig Vollmer sein?« Feddersen zog die Stirn kraus. »Aber wie kommt die da in den Wald? Und was sollte das mit dem Wolf oder den Wölfen?«
»Die Leiche ist ziemlich übel zugerichtet, sagt der Kollege. Er weiß nicht, ob nur Raubvögel oder auch andere Tiere …« Marie schüttelte sich. »Das Gesicht ist nicht betroffen. Er schickt gleich ein Foto.«
In dem Augenblick meldete sich Maries Smartphone. »Da ist es schon.« Sie tippte ein paar Mal auf das Display, warf einen kurzen Blick auf das leicht verschwommene Bild und hielt es ihrem Kollegen hin.
Der nickte. »Das ist – war sie. Also machen wir uns auf den Weg?«
»Ich informiere den Lütten, damit er Krebsfänger anrufen kann. Kümmerst du dich um die Tatortgruppe?«
»Selbstverständlich. – Wer ist noch mal Krebsfänger?«
»Der Staatsanwalt. Er soll entscheiden, wohin die Leiche gebracht werden soll. Zuständig für Obduktionen ist die Rechtsmedizin in Hannover, durchgeführt werden die Untersuchungen meistens in der Außenstelle Oldenburg. Wenn der Transport der Leiche problematisch ist, kommen die Rechtsmediziner auch schon mal nach Cuxhaven und obduzieren in der Helios-Klinik, da gibt es einen Sektionssaal.« Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Kriminalrats. Gleichzeitig setzte sich ihr Kollege mit dem Erkennungsdienst in Verbindung.

*

Als Marie und Jan den Leichenfundort erreichten, hatten die örtlichen Kollegen den Bereich bereits abgesperrt. Die Frauen und Männer der Spurensicherung in ihren weißen Tyvek-Anzügen bewegten sich geräuschlos wie Geister im dunkelgrünen Gehölz.
Ein uniformierter Kollege trat auf sie zu und begrüßte sie. »Oberkommissar Meiners. Mein Kollege Niels Hinrichsen und ich haben … sie … gefunden. Als wir ankamen, waren gerade zwei Bussarde an der Leiche. Aber ob die so viel … anrichten konnten, weiß ich nicht. Das Opfer war ursprünglich in eine Folie gewickelt. Die ist ziemlich zerfetzt. Möglicherweise waren vorher … andere Tiere …«
»Danke, Herr Kollege!« Jan streckte die Hand aus. »Hauptkommissar Feddersen vom FK1. Das ist Oberkommissarin Janssen.«
Meiners nickte Marie zu. »Frau Janssen habe ich schon kennengelernt. Bei der Verabschiedung von Kriminaloberrat Christiansen.« Er ergriff die Hand des Kripokollegen und schüttelte sie. »Sie sind also der Nachfolger von Konrad Röverkamp.«
»So ist es.« Mit einem Kopfnicken deutete Jan zur Fundstelle. »Was ist das für eine Geschichte mit dem Kind und dem Wolf?«
»Diese Information kommt nicht von uns.« Meiners zuckte mit den Schultern. »Denkbar, dass derjenige, der die Leiche entdeckt hat, nicht mehr so genau hinsehen mochte. Die Frau ist sehr jung, höchstens Mitte zwanzig, man kann sie aber auch auf achtzehn oder sechzehn schätzen. Besonders ältere Menschen können sich dabei irren.«
»Wie kommen Sie auf ältere Menschen?«, fragte Marie.
»Die meisten Jäger, die hier aktiv sind, sind schon betagtere Semester. Und wenn ich mich nicht täusche, befinden wir uns im Revier von Dieter Köncke. Der dürfte eher achtzig als siebzig sein. Wahrscheinlich war er es, der die Leiche zuerst gesehen hat.«
»Wir brauchen die Adresse«, stellte Jan Feddersen fest und wandte sich an Marie. »Aber jetzt schauen wir uns erst einmal den Fundort an. Den Jäger können Almers und Frerksen übernehmen.«
Am rot-weißen Absperrband erwartete sie Erik Damme von der KTU. »Ich weiß nicht, ob ihr euch das zumuten solltet. Der Anblick ist schwer zu ertragen, und der Erkenntnisgewinn dürfte sich in Grenzen halten.«
»Das entscheiden wir schon ganz gern selbst«, antwortete Jan Feddersen. Marie zuckte zusammen und sah die beiden Männer an. Jans Tonfall war schärfer als nötig gewesen. Erik hatte es doch nur gut gemeint. Sie dachte an Anne. Hoffentlich gab es keine Komplikationen. Beziehungsstress war für die Arbeit nicht förderlich, schon gar nicht während der Ermittlungen in einem Mordfall. Zwar stand eigentlich noch nicht fest, dass sie es mit einem Tötungsdelikt zu tun hatten, aber Marie glaubte weder an einen tödlichen Angriff durch wilde Tiere noch an einen Unfall. Solveig Vollmer war sicher nicht freiwillig hergekommen.
»Haben wir es mit einem Tatort zu tun, oder ist das nur der Leichenfundort?«, fragte sie rasch, um vom möglichen Dissens ihrer Kollegen abzulenken.
»Wir stehen noch am Anfang«, antwortete Erik Damme. »Aber die Frage lässt sich schon beantworten. Als die Frau hier abgelegt wurde, war sie bereits tot. Bei den … Verletzungen handelt es sich um Wildfraß. Und wir haben Spuren unverdauter menschlicher Essensreste gefunden. Vielleicht führen die uns zum Täter.«
»Neben der Leiche hat einer gekotzt?«, fragte Jan Feddersen.
Damme nickte, sah ihn und Marie fragend an. »Wollt ihr sie … jetzt sehen?«

*

»Mehlwürmer? Kakerlaken?« Marco Kowalski verzog das Gesicht. »Woher sollen wir die …?«
Övenhorst war auf der Kühlen Brise erschienen und hatte sich mit den Kowalski-Brüdern im hintersten Winkel des Fahrgastraums niedergelassen. »Nicht ihr, sondern du«, knurrte der Alte und deutete mit ausgestrecktem Finger auf Marco. »Dein Bruder muss für ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden. Weiß nicht, warum die Bullen nach ihm gefragt haben. Aber sicher ist sicher. Das Zeug wirst du schon auftreiben. Ihr seid doch ständig mit diesen … Dingern am Rumdaddeln. Früher gab’s so was in der Zoohandlung. Als Tierfutter. Heute kriegt man alles im Internet. Oder?«
Marco zog sein Smartphone aus der Tasche und tippte ein paar Mal auf das Display. »Tatsächlich«, murmelte er. »Kann man bestellen. Bei Amazon. Scherzartikel.«
»Du sollst echte besorgen, du Schwachkopf, keine aus Plastik oder Gummi.«
Erneut tippte Kowalski auf dem Display herum. »Argentinische Waldschaben sind Leckerbissen für Geckos, Bartagamen und andere Insektenfresser«, las er halblaut vor und sah auf. »Soll’s so was sein? Gibt’s im Repti-Shop. Die haben auch lebende Mehlwürmer. Sofort lieferbar.«
»Bestellen!«, befahl Öve.
»Und wenn die da sind? Was soll ich …«
»Wie der Name schon sagt.« Övenhorst kicherte. »Mehlwürmer gehören ins Mehl. Die Schaben lässt du auf dem Boden laufen. Die wissen sicher, wo sie es schön haben.«
»Welches Mehl?« Marco zog ratlos die Stirn in Falten. »Welcher Boden?«
»Backstube.« Die Vorstellung schien Öve zu erheitern. Das Kichern wurde stärker, schüttelte schließlich den Oberkörper des alten Mannes und ging in einen Hustenanfall über. In seinen Augenwinkeln glitzerten Tränen.
»Wenn die Sachen da sind, kommst du zu mir«, bestimmte er, als er wieder Luft bekam. »Ich gebe dir einen Schlüssel. Dann verteilst du das Zeug. Aber lass dich nicht erwischen!«