Die Autorin

ANNA REITNER ist das Pseudonym einer Autorin, die im Süden Deutschlands lebt und arbeitet. Durch viele Wanderurlaube in Berchtesgaden mit seiner wunderschönen Landschaft und seinen besonderen Menschen entstand die Idee zu diesem Roman.


Von Anna Reitner ist in unserem Haus erschienen: 
Die Roseninsel 

Anna Reitner

Lillis Liebe – Ein Sommer in Enzianblau

Roman

Ullstein

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www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © Joanna Czogala / Arcangel (Personen auf der Wiese); www.buerosued.de (Landschaft und Hintergrund)
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ISBN 978-3-8437-2691-7

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Widmung

Für Kathi

Prolog


Lilli strich mit ihrer Hand sanft über das Papier. Sie hatte sich lange Gedanken darüber gemacht, welches wohl das richtige war. An Weihnachten und zu Geburtstagen liebte sie es, Geschenke zu verpacken – in hübsches Papier mit goldenen Streifen oder Punkten, oder mit bunten Luftballons für Kinder. Sie freute sich immer, wenn sie dabei zusah, wie ihre Enkel gespannt die Päckchen öffneten. Und dann die Freude, wenn sie den Inhalt sahen! Ja, sie war gut im Schenken. Sie suchte Geschenke sorgfältig und passend aus und traf mit einem fast unheimlichen Gespür, für das sie in der Familie berühmt war, den Geschmack und die heimlichen Wünsche der anderen.

Bei dem Gegenstand, den sie heute einpackte, war es anders. Sie würde nicht sehen, wie der Empfänger es auspackte, wie sich seine Miene dabei verändern würde. Und sie war sich nicht sicher, ob das ein Vor- oder ein Nachteil war.

Nach langem Überlegen hatte sie sich bei diesem besonderen Paket für ein einfaches Papier entschieden. So lag jetzt ein schlichtes sandfarbenes Paket vor ihr auf dem Tisch.

Sie griff nach dem Stift, den sie schon bereitgelegt hatte, und senkte die Spitze des Füllers auf das braune Packpapier, genau an die Stelle, an die eine Adresse bei einem Paket gehörte. Nur kurz zögerte sie, dann schrieb sie den Namen flüssig in ihrer geübten schwungvollen Handschrift. Der Name war in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Ob das noch lange so bleiben würde? In den letzten Wochen und Monaten waren ihr immer häufiger Gedanken und Erinnerungen wie in Watte gehüllt erschienen, an einem Platz verstaut, den sie kaum noch erreichen konnte.

Nachdem sie das Paket adressiert hatte, steckte sie mit einem sanften Klicken die Kappe des Stifts wieder auf. Das Geräusch wirkte laut in der Stille, die zu dieser Nachmittagszeit in der Seniorenresidenz herrschte. Alle machten ihren Mittagsschlaf, nur sie war wach. Sie hatte ihr ganzes Leben lang tagsüber nicht geschlafen und sah nicht ein, warum sie jetzt damit anfangen sollte. Stattdessen saß sie vor ihrem Geschenk und dachte, dass noch etwas fehlte.

Nach einer Weile stand sie auf, ging zur Kommode hinüber und zog die oberste schmale Schublade auf. Ihr quollen Bänder um Bänder entgegen, dicke und dünne, solche mit Goldrand und solche, die sich kringelten. Sie entschied sich für ein breites weißes Stoffband, ging damit zurück zum Tisch und band es um das Paket. Früher hatte sie sich mit so etwas leichter getan, jetzt zitterten ihre Hände oft, und ihre Finger waren steif geworden. Sie brauchte einige Versuche, bis die Schleife perfekt saß. Aber dann war sie zufrieden.

Draußen vor ihrem Fenster schien die Sonne und vergoldete die alten Bäume im Park. Es war August, in ein paar Wochen würde die große Eiche gegenüber ihrem Fenster anfangen, sich bunt zu verfärben. Altweibersommer, dachte sie mit einem feinen Lächeln. Vor ihrem Fenster flatterte ein Grünfink. Ihre Enkelin hatte den Einfall gehabt, ein kleines Vogelhäuschen aufzuhängen. Lilli schaute gerne Vögeln zu. So hielt sie in dem Häuschen immer etwas Futter bereit, und die gefiederten Besucher im Park dankten es ihr und besuchten sie oft. Der Grünfink pickte ein paar Körner auf, dann legte er für einen Moment den Kopf schief, und ihr schien es, als würde er sie mit seinen runden Knopfaugen direkt ansehen.

»Bald wird es Herbst«, flüsterte sie dem Vogel durch die Scheibe zu. Sie freute sich darauf. Den Herbst hatte sie schon als Kind geliebt. Sie war gerne durch raschelndes Laub im Stadtpark gelaufen und hatte glänzende Kastanien gesammelt. Der Grünfink pickte noch ein Körnchen auf, dann spannte er seine grün-grauen Flügel aus und flatterte davon. Lilli drehte sich wieder zum Tisch, auf dem das Paket lag. Sie wusste, es war richtig. Es wurde Zeit.



1

Ricarda sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr durch eine Landschaft, die ihr fremd war. Als sie vor Stunden ihre Reise begonnen hatte, hatte sie aus dem Zugfenster die dicht aneinandergereihten Hochhäuser Kölns gesehen. Sie waren zuerst durch weite Ackerlandschaften und Weinberge ersetzt worden, und schließlich, hinter München, war die Umgebung alpenländisch geworden. Jetzt zogen vor dem Fenster dicht bewaldete Berge mit felsigen Gipfeln, schmalen Tälern und Flüssen vorbei, die sich tief in den Stein eingegraben hatten. Ab und zu tauchte ein kleines Dorf auf, aber die meiste Zeit schien die Natur hier noch vollkommen unberührt. Ricarda, die ihr Leben bisher in großen Städten verbracht hatte, hatte das Gefühl, in die Wildnis zu fahren. Hinter die sieben Berge, dachte sie und sah hinauf zu den Gipfeln, die hoch über der Zugstrecke thronten. Wolken zogen über den Himmel, die Lampen an der Abteildecke flammten automatisch auf.

Ricarda hatte das Zugabteil beinahe für sich allein. Nur eine ältere Frau saß in der Sitzreihe ihr gegenüber und las. Vor ihren Füßen stand ein kleines Transportkörbchen, in dem eine weiße flauschige Katze lag und Ricarda mit bernsteinfarbenen Augen unverwandt ansah.

Ricarda warf einen Blick auf ihre Reisetasche im Gepäcknetz, die wie immer viel zu prall gepackt war. Seit sie denken konnte, packte sie viel zu chaotisch und unentschieden. Auch dieses Mal tummelte sich in der Reisetasche ein buntes Sammelsurium aus Turnschuhen und Badeschlappen, Pullovern und Sommerkleidern, dazu eine Fleecejacke, Shorts und Wollsocken. »Es heißt doch immer, dass sich das Wetter in den Bergen schnell ändert«, hatte Ricarda entschuldigend zu ihrer besten Freundin Mareike gesagt, die kopfschüttelnd und lachend dabei geholfen hatte, die schwere Tasche zum Zug zu bringen.

Außerdem war Ricarda zu einem Abenteuer unterwegs, sie hatte einen geheimnisvollen Auftrag zu erfüllen. Der Grund dafür lag vor ihr auf dem kleinen Zugtischchen: ein Paket, säuberlich verpackt in hübsches Papier und mit einer cremefarbenen Seidenschleife darum. Ricarda streckte die Hand aus und strich über das seidige Band, das sich kühl unter ihren Fingerspitzen anfühlte. Sie nahm das Paket zum wiederholten Male in die Hand und wog es. Es war rechteckig, mittelgroß, mittelschwer. Alles konnte darin sein.

»Oma macht es wirklich spannend«, murmelte sie gedankenverloren.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte die Frau und nahm kurz ihre Nase aus dem Buch.

»Oh, nichts«, beeilte sich Ricarda zu sagen. Sie legte das Paket wieder zurück auf den Tisch und sah aus dem Fenster. Die Berge, so hatte sie den Eindruck, waren inzwischen noch höher geworden.


Am Tag zuvor hätte sich Ricarda noch nicht träumen lassen, vierundzwanzig Stunden später mit dem Zug durch die Bayerischen Alpen zu fahren.

Am Morgen, eigentlich am späten Vormittag, hatte das Telefon geklingelt und Ricarda, die nach einem langen und weinreichen Abend mit ihrer besten Freundin nur ausschlafen wollte, aus ihren Träumen gerissen. Versuch es halt später noch mal, dachte sie und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Aber das Handy wollte einfach nicht aufhören zu klingeln. Schließlich stand sie doch grummelnd auf und suchte nach ihrem Telefon, das sie schließlich unter achtlos über den Stuhl geworfenen Jeans fand.

»Hallo«, krächzte sie mit rauer Morgenstimme in den Hörer und räusperte sich dann schnell.

»Guten Morgen, Ricarda, hier ist Lilli«, antwortete eine sanfte Stimme am anderen Ende der Leitung. Nie hätte sich ihre Großmutter selbst freiwillig »Oma« oder »Omi« genannt.

»Oh, hallo!« Ricarda tappte einige Schritte hinüber in das Wohnzimmer ihrer hübschen, aber sehr kleinen und zugigen Altbauwohnung im Belgischen Viertel, die sie seit einem halben Jahr bewohnte. Sie zog die Jalousien vor den Fenstern nach oben und ließ sich dann in ihrem verwaschenen Schlafshirt mit Daisy-Duck-Aufdruck auf ihren Lieblingssessel fallen. Draußen schien die Sonne schon hell vom Himmel, und von der Straße dröhnte verärgertes Hupen zu ihr hinauf. »Alles in Ordnung, Oma?«, fragte sie besorgt. Eigentlich rief Lilli sie nie an, es musste also wirklich einen besonderen Anlass geben.

Tatsächlich klang Lilli etwas angespannt. »Kannst du heute zu mir kommen?«, fragte sie. »Es ist wichtig.« Ricarda stutzte. Ihre Großmutter wohnte in einem schicken Seniorenheim mit Ganztagsbetreuung, seit vor einigen Monaten eine rasch fortschreitende Alzheimererkrankung bei ihr diagnostiziert worden war. Ricarda konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was in dem gemütlichen Heim Dringendes vorgefallen sein sollte. Sie wurde unruhig.

»Ja, natürlich kann ich kommen.«

»Gut. Dann heute Nachmittag um drei.« Es klickte in der Leitung.

Ricarda sah verblüfft ihr Handy an. Lilli hatte einfach aufgelegt.

Draußen hupte immer noch jemand; ein Auto, das wegen eines geparkten Umzugswagens nicht durchkam; das Geräusch dröhnte in Ricardas Kopf. Sie sah vom Fenster aus zu, wie unten ein paar Jungs Teppiche und Topfpflanzen ausluden; schließlich raffte sie sich auf und ging in die Küche. Dort trank sie ihre erste Tasse Kaffee im Stehen.

Langsam wurde sie wacher. Sie sammelte das benutzte Geschirr des letzten Abends ein und wusch es ab. Anschließend ging sie ins Badezimmer. Ihr Spiegelbild schien sie mit einem ernsten Blick zu mustern. Sie zog das Haargummi aus dem unordentlichen Dutt, mit dem sie geschlafen hatte, und schüttelte ihre schulterlangen hellbraunen Haare aus. Dank der Sonnenbräune, die sie in den letzten Wochen mit Mareike im Volksgarten gesammelt hatte, sah sie frischer aus, als sie sich fühlte.

Ricarda frottierte gerade ihre Haare, als es klingelte. Vor der Wohnungstür stand einer der Jungs, die sie beim Möbelausladen beobachtet hatte.

»Hallo!« Er musterte sie grinsend. Ricarda trug ihren geliebten rosa Bademantel, auf dem seit einem Missgeschick metallicblaue Nagellackflecken leuchteten. »Meine Kumpel und ich ziehen gerade hier ein, und einer von uns hat sich ein bisschen verletzt. Hast du vielleicht ein Pflaster?«

»Klar«, Ricarda ging ins Badezimmer und kramte eine Packung hervor. Die Pflaster waren mit bunten Regenbögen bedruckt.

»Ähm, super, danke.« Der Junge starrte zuerst auf die bunte Packung, dann lächelte er sie an.

»Bitte. Viel Erfolg noch beim Umzug.«

»Zu unserer WG-Einweihungsparty kommst du bestimmt, oder? Nur ein Stockwerk unter dir.« Er zwinkerte.

»Mal sehen«, antwortete sie vage und schloss die Tür. Grinsend hörte sie noch, wie er seinen Freunden stolz erzählte, er habe die Nachbarin von oben eingeladen.

Nachdem sie sich die Haare geföhnt und sich angezogen hatte, füllte sie ihre kleine Gießkanne mit Wasser und begann, die drei Kakteen zu gießen, die auf der Fensterbank im Wohnzimmer standen. Es waren die einzigen Pflanzen, die bei ihr überlebten. Anschließend rief sie in der Zeitungsredaktion an, für die sie als freie Fotografin arbeitete.

Sandra meldete sich, Ricardas Lieblingsredakteurin. Sie trafen sich ab und zu auch außerhalb der Arbeit auf einen Kaffee, und Sandra versorgte Ricarda nur zu gerne mit Neuigkeiten aus den Zeitungsbüros.

»Hallo, Sandra, na, wie geht’s?«

»Ach, na ja, wenig zu tun – Sommerloch eben. So wie jedes Jahr.« Ricarda konnte hören, wie Sandra herzhaft in einen Apfel biss. »Übrigens, hast du schon das von Tobias vom Sportteil und Franka vom Newsdesk gehört? Angeblich läuft da jetzt wirklich was.«

»War doch klar«, Ricarda klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, während sie begann, Wasser in ihre Kaffeetasse laufen zu lassen. »Sag mal, Sandra – heißt Sommerloch auch, dass es keine Fotoaufträge für mich gibt?«

»Leider«, Sandra klang zerknirscht. »Ich kann nichts für dich tun, Ricarda. Wir langweilen uns hier in der Redaktion auch alle. Fotos brauchen wir davon nicht.«

»Schade.« Ricarda dachte an die Miete, die sie in ein paar Tagen überweisen musste. Sie brauchte noch ein paar Aufträge in diesem Monat, sonst würde sie ihre Eltern anpumpen müssen, was sie vermeiden wollte. Seit beinahe zwei Jahren schlug sie sich nun schon als freie Fotografin durch. Es war immer ihr Traum gewesen, sie liebte das Fotografieren, das Einfangen besonderer Momente mit der Kamera – und das Sich-treiben-Lassen. Heute hier, morgen da; als Fotografin war sie unabhängig. Der Nachteil war allerdings, dass keine Aufträge auch kein Geld bedeuteten.

»Übrigens …«, Sandra legte eine gedehnte Pause ein. »Ich weiß nicht, ob ich es dir überhaupt sagen soll und ob du es wissen willst, aber: Jimmy ist wieder in der Stadt.«

Ricarda spürte einen Stich, ihr Herz wurde schwer. Sie bemühte sich, ihre Stimme normal klingen zu lassen.

»Seit wann denn?«

»Erst seit ein paar Tagen. Gestern ist er hier in der Redaktion aufgetaucht. Anscheinend lief es in Berlin nicht mehr so gut für ihn.«

Nach dem Gespräch stand Ricarda für einen Moment einfach nur da. Jimmy war wieder in Köln; ihr Ex-Freund. Sie hätte nicht gedacht, dass er zurückkommen würde. Schon deswegen war sie nach ihrer Trennung wieder nach Köln gezogen. Hier, hatte sie gedacht, würden sie sich sicher nicht mehr über den Weg laufen. Jimmy wollte in die Redaktionen nach London oder New York; Berlin war für ihn nur ein lästiger Zwischenschritt gewesen. Und sie war damals mit ihm in die Hauptstadt gezogen. Natürlich – sie war ja auch völlig verrückt nach ihm gewesen; vom ersten Moment an, als sie ihn auf einer Medienparty in Ehrenfeld kennengelernt hatte. Er war charmant, sehr gut aussehend und sehr umschwärmt gewesen, mit genau der Art von überbordendem Selbstbewusstsein, das Männer wie ihn unwiderstehlich machte. Er hatte sie angesprochen, und sie hatte sofort das Gefühl gehabt, dass sie zusammenpassten – beide abenteuerlustig, beide rastlos, beide völlig frei. Sie waren tatsächlich ein Paar geworden, ein Journalist und eine Fotografin, das war perfekt. Sie konnten überall arbeiten, bald darauf waren sie nach Berlin gegangen. Ricarda war glücklich gewesen. Ich war so blind damals, dachte sie nun. Ich habe einfach die Warnzeichen nicht gesehen. Er hatte ihr ständig etwas versprochen, aber nichts davon gehalten. Sogar die Weltreise mit einem alten VW-Bus, die sie unbedingt hatte machen wollen, hatte er nur immer weiter hinausgezögert, sie vertröstet. Und dann kam der Abend, an dem Ricarda früher als gedacht von einem Fototermin nach Hause gekommen war. Es hatte in Strömen geregnet, die geplanten Aufnahmen in Grunewald waren ins Wasser gefallen. Schon als sie die Wohnungstür aufschloss, hatte sie ein eigenartiges Gefühl beschlichen. Im Flur standen Frauenschuhe, die nicht ihr gehörten – teure Schuhe mit hohem Absatz, die ihr bekannt vorkamen. Dazu die Geräusche – ein leises Lachen, Flüstern. Sie hatte es gewusst, bevor sie sie sah. Im Wohnzimmer erwischte sie die beiden, Jimmy und seine Assistentin. Auf ihren überraschten Gesichtern war nicht besonders viel Reue zu entdecken. Ricarda hatte noch am selben Abend ihre Sachen gepackt und war nach Köln gefahren, wo sie sich tagelang auf Mareikes Sofa verkrochen hatte. Ihr Liebeskummer war schrecklich gewesen, aber noch schrecklicher war, dass Jimmy sich kein einziges Mal meldete. Kein »Tut mir leid«, kein »Lass uns reden«. Er nahm ihre Trennung einfach hin. »Weil er ein Mistkerl ist«, sagte Mareike.

Und jetzt war er wieder in Köln. Sie wollte ihm auf keinen Fall begegnen – oder doch? So vieles war unausgesprochen zwischen ihnen. Vielleicht konnte sie sich auch deswegen auf niemand Neues einlassen. Bei jedem Mann, den sie kennenlernte, nagte der Zweifel an ihr, ob er ihr nicht das Gleiche antun würde. Sie wollte auf keinen Fall noch einmal so verletzt werden.

Ricarda schüttelte sich, um die Erinnerungen und Gefühle zu vertreiben, die in ihr aufstiegen. Die nächsten Stunden lenkte sie sich damit ab, ihre Fotos der letzten Wochen zu sortieren.

Um kurz vor drei Uhr nachmittags stieg Ricarda in Marienburg aus dem Bus. Von der Haltestelle zu der Seniorenresidenz, in der Lilli wohnte, waren es nur ein paar Meter. Es war nicht irgendein Altersheim – die Fassade des alten Gebäudes hätte jedem Schloss alle Ehre gemacht. Dahinter dehnte sich ein schöner Park mit großen alten Bäumen aus. »Lilli wohnt im ›Ritz‹ unter den Seniorenheimen«, witzelte Ricardas Mutter Hannah manchmal.

Ricarda meldete sich am Empfang an. »Frau Beekmann ist auf ihrem Zimmer«, sagte die Rezeptionistin freundlich. »Sie erwartet Sie schon.«

Ricarda machte sich auf den Weg durch die langen Korridore zum Zimmer ihrer Großmutter im zweiten Stock. Sie klopfte und trat ein.

Wie immer, wenn sie hier zu Besuch war, war sie von dem vornehmen Zimmer beeindruckt. Es war groß, mit hohen Decken und gebohnerten Holzdielen, zu denen die geschmackvollen alten Möbel, die Lilli mitgebracht hatte, sehr gut passten. Immer stand eine Vase mit frischen Blumen auf dem Tisch, und alles war tadellos aufgeräumt.

Ricardas Großmutter saß aufgerichtet in einem cremefarbenen Sessel und sah aus dem Fenster hinaus auf den Park.

Zum Sessel gehörte auch ein cremefarbenes Sofa, das Lilli allerdings nie benutzte. Ricarda hätte sich eine Lilli auf dem Sofa, eine Vorabendserie im Fernsehen schauend, wie das die meisten anderen Großeltern taten, auch gar nicht vorstellen können. Lilli tat eigentlich nichts von dem, was typische Großmütter taten. Sie kochte nicht, sie strickte nicht, und sie erzählte niemals von früher. Ricarda hatte sie als Kind oft angebettelt, ihr von ihrer Kindheit oder von der jungen Hannah zu erzählen, aber beides hatte Lilli immer abgewehrt. »Was sollen die alten Geschichten?«, sagte sie dann. »Es bringt doch nichts, alte Tage wieder aufzurühren. Wir leben heute.«

Lillis Frisur saß wie immer perfekt. Ihre Haare hatten im Alter ein kühles Weiß angenommen, das ihre stahlblauen Augen zur Geltung brachte. Heute trug sie eine weiße Bluse mit hohem Kragen und einen dunkelblauen Rock, dem man seine teure Marke ansah. Sie war immer noch schlank, und die Falten in ihrem Gesicht täuschten nicht darüber hinweg, dass Lilli einmal eine Schönheit gewesen war. An ihrem wachen Blick konnte Ricarda erkennen, dass ihre Großmutter einen guten Tag hatte, ohne Alzheimer und ohne Gedächtnislücken.

»Hallo, Oma – hier bin ich.«

Lilli wandte sich zu ihr um und lächelte ihr geheimnisvolles Lächeln. »Ricarda, schön, dass du kommen konntest. Die Schwester bringt uns gleich Kaffee.«

Lilli war immer eine sehr gute Gastgeberin gewesen, mit perfekt gedecktem Tisch und kleinen Törtchen, die sie aus ihrer Lieblingskonditorei liefern ließ und auf die Ricarda als Kind ganz wild gewesen war. Auch jetzt war der Tisch schön gedeckt. Ihre Großmutter überließ nichts dem Zufall. Ricarda hatte in ihrer Jugend unzählige hochgezogene Augenbrauen von ihrer Großmutter geerntet, wenn sie mit zerrissenen Latzhosen, T-Shirts mit witzigen Aufdrucken oder rosa gefärbten Haaren aufgetaucht war. Über die Jahre hatten sie sich stillschweigend geeinigt: Ricarda trug, was sie wollte, und Lilli ignorierte es.

Es klopfte, und eine zierliche blonde Frau in Schwesternkleidung balancierte ein Tablett mit Kaffeekanne, Tassen und Gebäckteller herein. »Schauen Sie, Frau Beekmann, ich habe hier sowohl Sahne als auch Milch – ich wusste nicht, was Ihre Enkelin lieber mag«, sagte die Schwester freundlich. »Oh, hat heute etwa jemand Geburtstag?«, unterbrach sie sich dann und deutete auf das hübsche Paket, das auf dem Tisch lag und das Ricarda selbst erst in diesem Moment wahrnahm. Die Schwester streckte Ricarda die Hand entgegen, um ihr zu gratulieren. Die schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe im Dezember Geburtstag. Oma, für wen ist denn das Paket?«

»Danke, Schwester Birgit«, sagte Lilli statt einer Antwort und nickte der Frau zu.

Als Birgit gegangen war, schenkte Ricarda Kaffee in die zwei hauchdünnen Porzellantässchen ein und gab in eine der Tassen Zucker und ein wenig Milch, bevor sie sie Lilli reichte. Sie selbst trank den Kaffee schwarz.

»Also, Oma, was ist so dringend? Mach es nicht so spannend«, platzte Ricarda heraus, nachdem sie beide einmal an ihrer Tasse genippt hatten.

Lilli sah Ricarda an und wirkte beinahe, als müsse sie sich überwinden zu sprechen.

»Nun, ich habe eine Bitte.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich möchte, dass du für mich nach Berchtesgaden fährst und dieses Paket hier abgibst.«

Ricarda starrte das Paket an, das mit der feierlichen Schleife in der Tat aussah wie ein Geburtstagsgeschenk.

»Wie bitte? Nach Berchtesgaden?«, fragte sie verwirrt. Ricarda war dort als Kind einmal einige Wochen lang mit Lilli im Urlaub gewesen, als ihre Eltern den Sommer über arbeiten mussten. Dunkel erinnerte sie sich an Berge, an einen kleinen See und an eine nette bayrische Pensionswirtin, die immer ein Bonbon für sie bereitgehalten hatte. Mehr verband sie nicht mit Berchtesgaden, aber sie war damals auch nicht älter als sechs gewesen.

Lilli beugte sich vor, nahm das Paket vorsichtig in beide Hände und reichte es Ricarda. »Bitte, es ist wichtig. Ich habe schon alles vorbereitet und bei Mitzi ein Zimmer für dich reserviert.« Richtig, Mitzi war der Name der Pensionswirtin gewesen – Ricarda fiel es in diesem Moment wieder ein.

»Und Schwester Birgit war so nett, dir Züge zu buchen. Es ist alles schon bezahlt, keine Sorge.« Sie griff nach ihrem Portemonnaie und nahm einige Geldscheine heraus. Es waren große Geldscheine, deutlich größere, als sie Ricarda momentan im Portemonnaie hatte. »Für deine sonstigen Ausgaben auf der Reise. Essen, Fahrkarten und so weiter. Vielleicht willst du dir ja auch ein Dirndl kaufen.«

Ricarda ging das alles zu schnell. »Moment – für wen ist das Paket denn überhaupt?«

Lillis Körper versteifte sich. »Die Adresse habe ich daraufgeschrieben. Gib es unbedingt persönlich ab.«

»Ähm, klar.« Ricarda schüttelte grinsend den Kopf. Sie fühlte sich plötzlich wie in einem James-Bond-Film. Scherzhaft beugte sie sich vor und raunte: »Oma … Ich schmuggle doch aber keine Drogen, oder?!«

Lilli verzog nicht einmal den Mund. »Sei nicht albern.«

Ricarda sah zwischen dem sorgsam verpackten Paket und Lillis undurchdringlicher Miene hin und her. Ein seltsamer Auftrag, aber sie wusste bereits, dass sie nicht Nein sagen würde. Es klang viel zu spannend, um ihn auszuschlagen. Außerdem war es verlockend, ein paar Tage aus Köln wegzukommen. Weg von Jimmy, weg von den Rechnungen und den fehlenden Fotoaufträgen.

Sie überlegte, ob sie trotzdem versuchen sollte, mehr Informationen aus ihrer Großmutter herauszubekommen. Allerdings war die Mühe wahrscheinlich vergeblich. Lilli war der verschwiegenste Mensch, den sie kannte. Wenn sie sagte, sie würde keine weiteren Fragen beantworten, meinte sie es ernst.

Jetzt sah Lilli sie erwartungsvoll an. »Nun? Tust du das für mich?«

Ricarda gab sich dem Blick aus den klaren blauen Augen geschlagen. Sie grinste. »Okay, ich bin dabei. Wann soll es losgehen?«

»Morgen.«

»Oma!«, rief Ricarda. »Was hättest du denn gemacht, wenn ich morgen keine Zeit gehabt hätte?«

»Du bist doch freie Fotografin. Da hat man immer Zeit.«

Lilli lächelte. »Möchtest du ein Himbeertörtchen?«

Das war typisch für Lilli. Wenn sie ein Thema für beendet hielt, wechselte sie behände zu einem anderen. Lilli wartete Ricardas Antwort gar nicht ab, sondern legte mit einer kleinen Gebäckzange ein Törtchen und ein paar Schokoladenkekse auf einen Teller und reichte ihn Ricarda.

»Wann fährt denn mein Zug?«

»Mittags um zwölf. Ich weiß ja, dass du nicht gerade eine Frühaufsteherin bist.«

Ricarda biss in das Himbeertörtchen. Es schmeckte köstlich. Plötzlich hatte sie das angenehm prickelnde Gefühl, dass ein Abenteuer auf sie wartete.


Ein Schaffner betrat das Abteil. Sein Blick fiel auf die Katze, die hinter den Gittern ihres Körbchens saß und ihn musterte. »Oh, ein kleiner Passagier«, sagte er freundlich. »Wie heißt Ihre Katze denn?«

»Miss Flauschig«, antwortete die Frau und legte bedächtig ein Lesezeichen zwischen die Seiten, bevor sie das Buch zuklappte und nach ihrer Fahrkarte kramte.

Ricarda fing den Blick des Schaffners auf. Sie grinsten sich an. »Ähm, ein ausgefallener Name«, antwortete er und stempelte die Fahrkarte der Frau. Dann wandte er sich Ricarda zu.

»Wie lange fahren wir noch bis Berchtesgaden?«, fragte sie. Gemessen an der Alpenlandschaft, die vor dem Fenster vorbeiflog, konnte es nicht mehr lange dauern.

»Noch eine Viertelstunde.« Der Schaffner gab ihr die Fahrkarte zurück. Mit einem amüsierten Blick auf die Katze verließ er das Abteil.

Nachdem er gegangen war, kramte die Frau eine knisternde Tüte mit Katzenfutter hervor. »Darauf ist sie ganz wild«, sagte sie und hielt die Packung hoch. »Mit Geflügelgeschmack. Haben Sie auch eine Katze?«

Ricarda schüttelte den Kopf. Die Frau verlor dadurch offensichtlich das Interesse an einem Gespräch. Sie gab der Katze ein Leckerli und nahm dann wieder ihr Buch zur Hand.

Auch Ricarda wandte sich wieder dem Fenster zu. Die Berge wurden immer höher, die Tannen dichter. Das regelmäßige Rattern, das der Zug auf den Schienen verursachte, hatte etwas Einschläferndes. Wieder wanderte Ricardas Blick zu dem Paket vor ihr.

In Lillis schöner Handschrift stand der Adressat darauf: »Lois König« – und darunter: »Berchtesgaden«.

Lois, ein seltsamer Name, dachte Ricarda.

Lillis »L« war schwungvoll. Ricarda dachte beim Anblick ihrer Handschrift und des Pakets an die vielen Weihnachtsfeste, die sie gemeinsam in der alten Beekmann-Villa gefeiert hatten, die Lilli bis zu ihrem Umzug ins Seniorenheim bewohnt hatte. Immer waren Lillis Pakete die schönsten gewesen, mit hübschem Papier, großen Schleifen und selbst gemachten Anhängern, auf die in ihrer geschwungenen Handschrift »Frohe Weihnachten für Ricarda« stand. Wie würde es dieses Jahr werden, fragte sich Ricarda. Würden sie in Lillis Zimmer im Seniorenheim feiern? Und würde sie noch jeden erkennen, wissen, dass Weihnachten ist? Lillis Krankheit schritt sehr schnell voran, die Ärzte hatten ihnen keine Illusionen gemacht. Bald würden sich die schlechten Tage häufen, irgendwann würde sie Ricarda wahrscheinlich für eine Fremde halten.

Ricarda dachte an die Zeit, die sie als Kind mit ihrer Großmutter verbracht hatte. Ricardas Eltern waren Architekten, sie arbeiteten auf der ganzen Welt, bauten Wolkenkratzer in Tokio, ein Museum in New York oder ein ausgefallenes Wohnhaus in Madrid. Immer reisten sie den spannendsten Aufträgen hinterher, von einer Metropole zur anderen. Meist nahmen sie Ricarda mit, aber manchmal blieb sie auch für einige Wochen bei Lilli in Köln. Lilli war nie eine gemütliche Oma mit Katzen und Geranien gewesen, aber sie hatte Ausflüge mit Ricarda unternommen, war mit ihr zwischen den alten Platanen am Rhein entlangspaziert oder hatte mit ihr die Tiger im Zoo bestaunt. Als das Schokoladenmuseum im Rheinauhafen eröffnete und Ricarda unbedingt dort hinwollte, hatte Lilli es geschafft, eine Führung nur für sie beide zu organisieren, an deren Ende Ricarda so viel Schokolade essen durfte, wie sie wollte. Ricarda lächelte bei der Erinnerung – es war ein toller Tag gewesen.

»In wenigen Minuten erreichen wir Berchtesgaden«, dröhnte die Lautsprecherdurchsage durch den Zug. »Wir wünschen allen Fahrgästen, die dort aussteigen, einen schönen Aufenthalt und bedanken uns für Ihre Fahrt mit der Deutschen Bahn.«

Ricarda stand auf und sammelte ihre Sachen zusammen. Es kostete sie etwas Mühe, die Reisetasche aus dem Gepäcknetz zu hieven.

»Reisen Sie noch weit?«, erkundigte sie sich bei der Frau mit der Katze.

Die schüttelte den Kopf. »Nur noch bis Salzburg. Waren Sie schon einmal da?«

Ricarda schüttelte den Kopf.

»Eine wunderschöne Stadt. Sie sollten in Ihrem Urlaub auf jeden Fall einen Tag hinfahren.«

»Kommt darauf an, ob das hier überhaupt ein Urlaub wird …«, murmelte Ricarda. »Ich weiß ja noch gar nicht, was das hier alles soll.«

Die Frau sah sie verwundert an.

Ricarda verabschiedete sich, griff nach ihrem Ungetüm von Reisetasche, klemmte das Paket unter den Arm und ging den schmalen Gang des ruckelnden Zugs entlang zum Ausstieg.


Der Berchtesgadener Bahnsteig war beinahe leer. An einem stillgelegten Gleis saßen drei Jungen und ließen ihre Beine über dem Gleisbett baumeln, während sie einträchtig bunte Gummischlangen aßen. Eine Frau mit blondierten Haaren und Lodenjacke stieg zusammen mit Ricarda aus, eine Gruppe junger Wanderer sammelte sich vor einem Fahrplan.

Das Bahnhofsgebäude war ein lang gestreckter, etwas altmodischer Bau mit hellem Putz und vielen Fenstern. Ricarda zog ihre Reisetasche hinter sich her und drückte die schwere Tür zur Wartehalle auf. Nur ein paar Reisende verteilten sich auf den in Reih und Glied stehenden Sitzbänken, ein kleiner Zeitungsladen hatte geöffnet, ebenso wie ein Café. Der Kontrast zu dem riesigen geschäftigen und modernen Kölner Hauptbahnhof, an dem Ricarda am Morgen ihre Reise begonnen hatte, hätte kaum größer sein können. Staunend besah sich Ricarda die etwas altertümlichen Wandgemälde, die Jäger, Bauern, Frauen im Dirndl, Kühe und Berge zeigten. In einer Wolke erschien ein gemalter Heiliger über der großen Bahnhofsuhr.

Ricarda suchte den Ausgang zum Busbahnhof, der nicht schwer zu finden war. Allerdings fuhr der einzige Bus, den sie entdecken konnte, gerade ab. An seiner Flanke war eine Werbung für Enzianschnaps aufgeklebt: »Unser Enzian – unser Berchtesgaden« stand darauf, daneben eine blaue Enzianblüte und das Emblem einer Schnapsbrennerei.

Ricarda stellte Reisetasche und Paket ab und ging zu den Fahrplänen der Busse, um nach der Linie zu suchen, die sie zu ihrer Unterkunft am Bergsee bringen sollte. Lilli hatte ihr alles fein säuberlich aufgeschrieben, was sich jetzt als nützlich herausstellte, denn Ricardas Handy hatte hier in den Bergen nur einen schwachen Empfang.

Nach einigem Suchen entdeckte sie die richtige Linie, allerdings würde der nächste Bus in diese Richtung erst in einer halben Stunde abfahren. Sie hatte also noch viel Zeit. Ricarda setzte sich kurzerhand auf ihre Reisetasche und sah sich um. Direkt vor ihr stiegen schon die Wiesen zu steilen Hängen an, hinter denen sich die Bergriesen der Berchtesgadener Alpen erhoben. Die Häuser, die sich auf den Hängen verteilten, sahen genauso aus, wie sich Ricarda bayrische Häuser vorgestellt hatte. Mit ihren weiß gestrichenen Fassaden, den Holzgiebeln und langen Holzbalkonen, die von vielen Blumenkästen voller Geranien geschmückt wurden, wirkten sie wie aus dem Werbeprospekt. Direkt neben dem Bahnhof war ein modernes Kaufhaus für Wander- und Skibedarf.

Der Himmel, der in Köln noch klar und sonnig gewesen war, war hier grau. Dunkle Wolkenberge quollen über die Gipfel, und Ricarda hoffte inständig, dass es trocken bleiben würde, bis sie bei Mitzi angekommen war. Mitzi. Ricarda war gespannt, ob sie sich verändert hatte – immerhin war es gute zwanzig Jahre her, seit sie sie zuletzt gesehen hatte. Würde sie sich noch an Ricarda erinnern? Als sie damals mit Lilli den Sommer über bei Mitzi gewohnt hatte, war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, braun gebrannt, mit Zöpfen, Zahnlücken und blinkenden Turnschuhen, deretwegen sie ihren Eltern damals wochenlang in den Ohren gelegen hatte. Das war alles schon so lange her.

Ricarda zog ihr Handy aus der Jackentasche. Eine Nachricht von Mareike.

»Viel Spaß in den Bergen. Halte mich auf dem Laufenden, was deinen mysteriösen Paketdienst angeht! Lach dir einen netten Bergführer an – dann können wir nächsten Sommer eine Hüttentour machen. ;)«

Ricarda verdrehte die Augen, musste aber schmunzeln.

»Das mit dem Bergführer werden wir sehen, aber auf dem Laufenden halte ich dich natürlich«, tippte sie.

Nachdem sie die Nachricht verschickt hatte, schwebte ihr Daumen einen Moment lang unschlüssig über Jimmys Nummer. Sie hatte es nie über sich gebracht, sie zu löschen. Sollte sie es jetzt endlich tun? Oh Mann, Ricarda, vergiss ihn doch endlich, schimpfte sie mit sich selbst. Er hat es gar nicht verdient, dass du noch über ihn nachdenkst. Schließlich schloss sie die Liste ihrer Kontakte und steckte das Handy in ihre Jackentasche zurück.

Dann kam ihr Bus. Ricarda nahm ihr Gepäck und bugsierte es hinein. Der Busfahrer, ein dicker, gemütlicher Mann mit Bart, sah sie fragend an.

»In den Grünwinkel, bitte«.

»Sehr wohl, Fräulein.«

Ricarda grinste. Sie konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal »Fräulein« genannt worden zu sein. In diesem weichen Bayerisch klang das altmodische Wort allerdings ganz nett.

Der Bus war beinahe leer, abgesehen von zwei älteren Paaren in beigen Wanderhosen und grellbunten Softshelljacken. Ricarda suchte sich einen Fensterplatz in der Mitte. Der Bus fuhr wieder an und kurvte aus dem Bahnhof hinaus auf die Landstraße. Schnell ließen sie die Häuser des kleinen Städtchens hinter sich. Vor ihnen, so schien es Ricarda, lagen nur Wiesen und dichter Tannenwald. Plötzlich spürte sie, dass sie aufgeregt war. Dies hier war wohl die eigenartigste der vielen Reisen, die sie in ihrem bisherigen Leben unternommen hatte.


Der Bus tuckerte gemächlich über die Landstraße. Ricarda lehnte den Kopf ans Fenster und sah hinaus. Die Tannen standen dicht an dicht, und die Berge rechts und links fielen schroff ab. Ab und zu lichtete sich der Wald in grüne saftige Wiesen, auf denen Kühe weideten, und hier und da entdeckte sie einen einsamen Bauernhof. »Frische Milch« hatte jemand auf ein großes Holzschild am Straßenrand geschrieben, darunter waren eine gefleckte Kuh und eine Milchkanne gemalt.

Die Wanderer verließen den Bus an einer Haltestelle im Nirgendwo, dafür stieg kurz darauf ein junger Mann ein. Er sah genauso aus, wie Ricarda sich einen Holzfäller vorstellte: riesig, breitschultrig, unordentliche blonde Haare, dazu einen Vollbart. Er trug eine schlammfarbene Funktionshose, ein kariertes Flanellhemd und eine abgetragene Wachsjacke. Alles an ihm wirkte rustikal. Er schien den Busfahrer zu kennen, denn er blieb vorn neben dem Fahrersitz stehen, und die beiden unterhielten sich in polterndem Bayerisch.

Ricarda versuchte zu verstehen, worum es ging, aber sie konnte nicht einmal einzelne Sätze entschlüsseln. Es passte zu diesem Naturburschen, dass er auch noch einen unverständlichen Dialekt sprach.

Sie sah wieder aus dem Fenster. Der Bus fuhr weiter zwischen Kuhweiden entlang. Eine der Kühe hob den Kopf und sah Ricarda direkt an. Ihr Fell war zart hellbraun, und ihre großen dunklen Augen sahen aus, als trüge sie einen schwungvollen Lidstrich.

Schließlich hielt der Bus wieder. Die automatische Lautsprecheransage knarzte rauschend und unverständlich den Haltestellennamen. »Fräulein«, rief der Fahrer und unterbrach dafür kurz sein Gespräch mit dem Holzfäller. »Hier müssen Sie raus. Des hier is’ Grünwinkel.«

»Oh ja, danke.« Ricarda stand auf und versuchte, ihre Reisetasche vom Sitz zu ziehen. Allerdings schien sie sich irgendwo verhakt zu haben.

»Darf ich?« Der junge Mann mit der Wachsjacke machte zwei große Schritte und stand neben ihr. Er nahm Ricarda die Henkel der Reisetasche aus der Hand und hob sie hoch, als wäre sie federleicht. Er sprang aus dem Bus und stellte die Tasche auf der Sitzbank an der Haltestelle ab. Ricarda folgte ihm. Der Mann zeigte auf die Reisetasche, die so groß war, dass sie beinahe die ganze Bank einnahm. »Bleibst du für ein Jahr?«, fragte er grinsend.

»Nein, ich kann mich nur schlecht entscheiden.« Ricarda strich sich eine losgelöste Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr. »Danke für die Hilfe.«

»Gerne«.

Ricarda fielen seine warmen braunen Augen auf. Er nickte ihr zu, sprang zurück in den Bus, und die Türen schlossen sich zischend hinter ihm. Einen Augenblick später stand Ricarda allein an der Haltestelle.

Sie sah sich suchend um. Laut Lillis Reiseplan müsste Mitzis Pension ganz nah sein. Aber Ricarda sah nur Bäume und Berge um sich herum. Nicht einmal den kleinen Bergsee konnte sie entdecken, der in ihrer Erinnerung unterhalb der Pension lag.

»Das fängt ja gut an«, murmelte sie.

Nach kurzem Suchen entdeckte sie zu ihrer Erleichterung einen Wegweiser. Er war an den Stamm einer Tanne genagelt, ein hölzerner Pfeil, auf dem schlicht »Mitzi« stand. Er zeigte in Richtung eines schmalen Wirtschaftswegs, der zwischen Bäumen und Wiesen bergauf führte.

»Na, dann mal los!« Ricarda schulterte ihre Tasche, wobei die sich unbequem mit dem kleinen Rucksack in die Quere kam, in dem Ricarda Portemonnaie und Lillis Paket verstaut hatte. So bepackt, machte sie sich an den Aufstieg.

Auch wenn ihr schnell der Riemen der Tasche in die Schulter schnitt, genoss Ricarda den Weg. Bald breitete sich vor ihr das Ende des Tals aus, das ringsum von Bergen eingeschlossen war. Der See tauchte unter ihr auf, sein Wasser wirkte bei dem bewölkten Himmel tief dunkelgrün und geheimnisvoll.

Wie hingewürfelt verteilten sich über die Wiesen und Hügel am See ein paar wenige Häuser. Das Dorf im Tal war durch ein Waldstück vom See getrennt. Ricarda sah nur den weißen Kirchturm mit Zwiebelhaube hinter den Bäumen. Die dunklen Wolken, die über den Himmel jagten und beinahe an den Gipfeln der majestätischen Berge hängen zu bleiben schienen, die merkwürdige Geborgenheit, die dieses einsame Tal ausstrahlte … Ricarda konnte nicht anders – sie setzte ihre Reisetasche ab, zog den Reißverschluss auf und kramte ihre Kamera hervor. Sie hatte nur die wichtigsten Objektive mitgenommen und ihr kleines Reisestativ, das sie fürs Erste jedoch in der Tasche ließ. Für ein paar Schnappschüsse reichte es auch so.

Ricarda war so beschäftigt damit zu fotografieren, dass sie das leise Donnergrollen überhörte. Dann aber fielen plötzlich schwere Regentropfen. »Verdammt!«, schimpfte Ricarda und packte die Kamera schnell wasserdicht ein. Der Donner wurde lauter und klang, von den Bergwänden zurückgeworfen, bedrohlich. Ricardas Haare waren in Sekundenschnelle pitschnass, die durchnässte Jeans klebte unangenehm an den Oberschenkeln, während sie mit ihrem schweren Gepäck durch den Regen rannte. Gerade als der erste Blitz über dem Tal zuckte, tauchte vor ihr endlich Mitzis Haus auf. Ricarda seufzte erleichtert und setzte zu einem Endspurt an.

Ricarda kämpfte sich die letzten Meter durch den Regen. Plötzlich öffnete sich die Haustür, und eine kleine, mollige Frau erschien im Türrahmen. Sie trug ein einfaches Dirndl, die grauen Haare waren aufgesteckt, aber Ricarda erkannte sie sofort.

Dankbar streifte Ricarda ihre Schuhe im Hausflur ab und stieg mit ihrem Gepäck die alte Holztreppe nach oben, wo die Gästezimmer lagen. Zu ihrer eigenen Überraschung erinnerte sie sich sofort wieder an alles. Die Pension war klein, es gab nur drei Gästezimmer, und sie hatte mit Lilli damals in dem mittleren übernachtet, das mit dem hübschesten Balkon und der schönsten Aussicht.

Ricarda ließ Reisetasche und Rucksack fallen, wo sie stand, und schälte sich aus den klitschnassen Kleidern. In dem kleinen Badezimmer stellte sie sich unter die heiße Dusche, bis ihr wieder warm wurde. Dann wickelte sie sich eines von Mitzis flauschigen Handtüchern als Turban um die nassen Haare, angelte sich aus ihrer Tasche frische Unterwäsche, Jeans und einen leichten Pullover.


An der gegenüberliegenden Wand befanden sich ein alter großer Kachelofen und ein Herrgottswinkel, auf dem ein kleines Kruzifix und ein getrockneter Strauß aus Kräutern und Blumen standen. Es war eine richtig gemütliche Bauernstube.

Ricarda legte das Paket zum Trocknen auf den Kachelofen und genoss die angenehme Wärme, die er im Raum verbreitete. Dann setzte sie sich auf die Eckbank und sah aus dem Fenster. Draußen regnete es noch immer, die ganze Landschaft war eingehüllt in einen dichten Vorhang aus Tropfen, die über Tannen, See und Häuser fielen. Die Berge verschwanden fast vollständig in Regen und Nebel.

Ricarda lachte. »Stimmt. Ich habe mir beim Essen immer den Hals verrenkt, weil ich gleichzeitig schauen wollte, was draußen passiert.«

»Wahnsinn, das sieht großartig aus! Vielen Dank!«

Jetzt reichte sie Ricarda einen Teller mit einem gewaltigen Stück Strudel und einem genauso großzügigen Klecks Schlagsahne. »Willkommen zurück«, sagte sie und lächelte. »Ich habe mich sehr gefreut, als der Brief von deiner Großmutter kam.«
Ricarda, die gerade die Kuchengabel zur Hand genommen hatte, hielt überrascht inne. »Sie hat dir einen Brief geschrieben? Ich dachte, ihre Pflegerin hätte das Zimmer gebucht.«

Ricarda schüttelte den Kopf. »Die Ärzte haben vor ein paar Monaten Alzheimer diagnostiziert. Auch noch eine Form, die schnell voranschreitet.«

»Habt ihr denn immer Kontakt gehalten?«

Mitzi musterte Ricarda und lächelte. »Du bist genauso eine fesche junge Frau geworden, wie ich es von dem wilden Madl erwartet habe, das du früher warst.«

»Natürlich!« Mitzi legte ihr ungefragt noch ein Stück Apfelstrudel auf, kaum dass Ricarda den letzten Bissen des ersten verdrückt hatte. »Erzähl doch mal, wie geht es dir? Was ist aus dir geworden?«

»Bist du deshalb hier? Um Fotos zu machen?«

Mitzi schüttelte den Kopf.

Mitzi nickte. Ihre Miene war für Ricarda schwer zu deuten. »Ja, ich kenne ihn.«

»Ein Maler. Seine Bilder sind ziemlich bekannt, vielleicht hast du ja auch schon irgendwo eines von ihm gesehen.«

»Lois wohnt in den Bergen, auf einem alten Hof. Sehr abgelegen, du wirst einen weiten Weg haben, um das Paket abzugeben.« Mitzi rührte nachdenklich ihren Kaffee um. »Ich frage mich, woher deine Großmutter ihn kennt. Er ist ein Einsiedler, der mit kaum jemandem Kontakt hat, nicht einmal hier im Tal.«

Bald wandte sich das Gespräch anderen Dingen zu. Mitzi erzählte von den übrigen Gästen, die gerade in der Pension wohnten und die Ricarda sicher bald kennenlernen würde. »Im linken Zimmer wohnt ein Ehepaar aus Frankfurt, Sabine und Stefan. Sie sind hier zum Wanderurlaub. Im Zimmer rechts neben deinem wohnt ein alter Professor. Er wird dir bestimmt gefallen. Paul Grigol heißt er, ein etwas komischer Kauz, aber sehr nett. Der Oldtimer dort draußen vor dem Haus gehört ihm, und mit dem ist er meistens den ganzen Tag irgendwo unterwegs. Ich habe keine Ahnung, was er hier genau macht, aber er wohnt schon seit einigen Wochen bei mir. Zum Abendessen ist er aber immer pünktlich zurück.« Sie lachte.

»Das kann sein. Er ist Historiker und hat früher an verschiedenen Universitäten gearbeitet und Sachbücher geschrieben. Er hat mir einige davon geschenkt, aber ich glaube kaum, dass ich damit etwas anfangen kann. Historische Forschungen sind nichts, was ich bei einer gemütlichen Tasse Tee lesen will.« Mitzi trank den letzten Schluck Kaffee. »Er findet die Vergangenheit des Tals unglaublich spannend. Abends löchert er mich manchmal mit Fragen. ›Wildromantisch‹ nennt er die Berchtesgadener Geschichte immer.« Sie zwinkerte. »Nicht gerade ein Wort, das zu einem Geschichtsprofessor passt, oder?«
Mitzi machte eine Pause. »Apropos Romantik«, wechselte sie dann listig das Thema, »gibt es eigentlich jemand Besonderes in deinem Leben? Bisher hast du nur von deiner Arbeit erzählt.«

»Aber?«

Mitzi lächelte nachsichtig. »Ach, Kind, das klingt fast ein bisschen nach Verbitterung. Und für Verbitterung bist du wirklich zu jung.«

»Natürlich. Übrigens – das ist mein Stichwort. Wenn wir heute Abend etwas essen wollen, muss ich mich jetzt in die Küche stellen.« Mitzi stand auf und räumte die Teller zusammen.

»Untersteh dich. Du bist doch gerade erst angekommen«, sagte sie streng. »Ruh dich aus, und finde dich ein.«

Ricarda sah wieder aus dem Fenster. Der Regen hatte beinahe aufgehört, das Grau des Himmels war heller geworden. An manchen Stellen zeigten sich blaue Flecken. Ja wirklich, dachte sie, es ist schön, hier zu sein. Obwohl sie so lange nicht mehr in den Bergen gewesen war und kaum etwas mit Berchtesgaden verband, fühlte sie sich auf eine eigenartige Weise geborgen.