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Übersetzung aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Bloomsbury erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2016

ISBN 9783827078711

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Ogni giorno come fossi bambina bei Garzanti

Für die deutsche Ausgabe © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Tilli.tif

Aus dem Italienischen von
Verena von Koskull

Bloomsbury Berlin

Doch dann erwachte meine Seele:
Von Neuem tratst du auf mich zu,
Erscheinung im Vorüberschweben,
Der reinen Schönheit Genius.

Erregung, Herzschläge erklingen,
Neu aus der Asche schwingt sich auf
Die Gottheit, und die Musen singen,
Und Leben, Tränen, Liebe auch.

Puschkin, An***

PROLOG

Ich heiße Arianna und manchmal verliere ich den Faden meiner Gedanken und meines Lebens. Aber dann finde ich ihn wieder.

Das hat Argentina immer gesagt und gelacht. Wenn sie ihr Gebiss nicht trug, und das tat sie fast nie, hielt sie sich die Hand vor den Mund und lachte mit ihren immer noch wunderschönen, strahlend grauen Augen. Wie Brillanten blitzten sie hinter der knochigen Hand hervor und ließen erahnen, wie hübsch sie einmal gewesen sein musste.

»Du bist eine gute Geschichtenerzählerin«, sagte sie, »du drehst Schleifen, hierhin und dorthin«, und mit ihren krummen Händen voller brauner Flecken malte sie meine Schleifen nach. »Du drehst Schleifen, aber am Ende kehrst du immer heim.« Sie mochte dieses Bild der Heimkehr. Als bedeutete es: den Sinn der Dinge erfassen, den Kreis schließen, die Wahrheit berühren. »Erzähl mir noch eine, bitte.«

»Nein, jetzt bist du dran«, erwiderte ich und stützte das Kinn in die Hand.

Ich wollte noch einmal von der Musikkapelle aus Grassano hören, die in die Schlucht gestürzt war, von den Kobolden und den Hexen mit ihren Zaubertränken, aber vor allem wollte ich, dass sie von Rocco erzählte, dem Mann mit den schönen Augen, in den sie sich hoffnungslos verliebt hatte. Argentina schien, zart, wie sie war, ihren Sessel kaum zu berühren; sie seufzte mürrisch, seufzte noch einmal und wurde langsam weich. Dann blinzelte sie verschmitzt und fing an zu erzählen.

Mit dem Leben und seinen Geschichten verhält es sich merkwürdig, mal laufen sie sich nach, als könnten sie nicht ohneeinander, dann wieder scheinen sie sich gegenseitig völlig auszuschließen. Manchmal beginnt eine Geschichte dort, wo das Leben endet, doch wenn ich eines von Argentina gelernt habe, dann, dass das Leben mit Geschichten immer wieder neu entsteht; es findet seinen Weg, vorausgesetzt, jemand hört zu. »Genau dort«, sagte Argentina, »zwischen den Augen und dem, was sie sehen, zwischen den Ohren und dem, was sie hören, zwischen den Händen und dem, was sie berühren, nistet sich die Schönheit ein.«

Jetzt ist es so weit. Vor zwei Tagen habe ich den gefürchteten Anruf bekommen. Ich war in Rom. Seit gut einem Jahr teile ich mir mit drei Freundinnen eine kleine Wohnung und habe einen Job in einer Pizzeria gefunden, vier Abende die Woche. Es ist nichts Besonderes, aber immerhin kann ich die Miete zahlen und habe viel Zeit zum Lesen und Schreiben. Mein Leben hat sich komplett geändert, und ich habe ganz schön abgenommen. Argentina wäre stolz auf mich, vor allem, weil ich mich nicht auf die Waage stelle und mir mein Gewicht total egal ist. Meine Eltern hingegen wissen nicht, was sie davon halten sollen, und bei meinen seltenen Besuchen in Mailand machen sie sorgenvolle Gesichter. Es will ihnen nicht in den Kopf, wieso ich nach Rom gehen musste, um dort zu kellnern. Ich sage ihnen nicht, dass ich vielleicht einfach wegwollte, das würde allen bloß weh tun und wäre sowieso nur die halbe Wahrheit. Eigentlich fehlen sie mir, und erst jetzt, aus der Ferne, werden mir viele Dinge klar. Aber ich schweife mal wieder ab.

Als vor zwei Tagen das Telefon klingelte, habe ich gerade das Geschirr abgewaschen; wie so oft am Montag haben Roberta und ich zusammen mittaggegessen. Roberta ist zwanzig – ein Jahr älter als ich –, studiert Jura und kommt aus Recanati. Im vergangenen Jahr hat sie mit ein paar Kommilitonen zusammengewohnt, aber sie haben sich verkracht und sie ist bei uns eingezogen. Sie ist als Letzte dazugekommen. Wir haben uns sofort gut verstanden, vielleicht, weil unsere Mitbewohnerinnen Francesca und Loredana älter sind als wir und in einem großen Architekturbüro arbeiten.

Roberta ist ans Telefon gegangen.

»Ist für dich«, rief sie und hielt mir den Hörer hin.

Ich schaute sie fragend an, die gummibehandschuhten Hände im Spülwasser.

»Es ist dein Freund aus Grassano«, sagte sie.

»Was?«, fragte ich ungläubig.

Sie kennt ihn nicht, aber ich habe ihr viel von ihm erzählt. Seit zwei Jahren schreiben wir uns, meistens E-Mails, ab und zu Postkarten. Postkarten schreibt vor allem er. Ich schreibe nicht gern mit der Hand, das ist so mühsam, und bei meiner großen, knubbeligen Kinderschrift ist gleich die ganze Karte voll. Postkarten erinnern mich an Ferien am Meer mit meinen Eltern, daran, dass meine Mutter abends in der alten Pension, in der wir jedes Jahr wohnten, das weiße Tütchen vom Tabakhändler aus ihrer Handtasche zog und meinen Bruder und mich mit einer Miene, als käme jetzt etwas ganz Spannendes, dazu verdonnerte, der Verwandtschaft zu schreiben, mit ganz vielen Grüßen und Küssen. Wir telefonieren nie: Für diese Pseudo-Nähe, für das peinliche Schweigen, bei dem man nicht einmal gemeinsam in die Ferne starren oder einen Blick wechseln kann, haben wir beide nichts übrig. Als Roberta mir sagte, Rocco sei dran, wusste ich sofort, dass etwas passiert war.

Blitzschnell riss ich die Gummihandschuhe von meinen Händen und schnappte mir den Hörer. Er musste nicht viel sagen.

»Ich mache mich sofort auf den Weg«, sagte ich und hielt die Tränen zurück, bis wir aufgelegt hatten.

Dann habe ich losgeheult, ich konnte nicht anders, und Roberta starrte mich entgeistert an.

»Argentina ist tot. Die Beerdigung ist übermorgen«, erklärte ich ihr schniefend.

Sie nahm mich in die Arme.

»Kannst du mir für zwei oder drei Tage dein Auto leihen?«

»Klar. Willst du morgen früh schon los?«

»Jetzt.«

»Bist du dir sicher? Allein, mit dem Auto? Du scheinst gerade ein bisschen neben der Spur zu sein.«

»Ich muss los, ich will so schnell wie möglich hin. Wir müssen da was machen, und das geht nur mit meiner Hilfe, wir haben es ihr versprochen.«

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein, danke. Ist schon okay.«

In Windeseile machte ich zwei Anrufe und stopfte ein paar Klamotten in eine Tasche.

Ich fahre gern, im Auto fühle ich mich wie abgekapselt, das gefällt mir. Ich war ein bisschen nervös und fuhr langsam, bis ich den Stadtverkehr hinter mir hatte. Ab da lief es besser, und als ich ein paar Stunden später an Salerno vorbei war, fiel die Anspannung von mir ab. Während ich mich Potenza näherte und in Argentinas Heimat eintauchte, sah ich mir alles ganz genau an. Ich musste an ihre Geschichten und an ihr Gesicht denken bei unserer ersten gemeinsamen Fahrt hierher.

»Es ist, als wäre man auf dem Mond«, hatte sie gerührt gesagt und aus dem Auto, das uns von Potenza nach Grassano brachte, in das Tal hinuntergesehen.

Hinter Potenza habe ich zwei- oder dreimal angehalten. Ich bin einfach rechts rangefahren, ganz ohne Grund. Auf dem Grat war kein anderes Auto zu sehen, hoch oben in der Ferne schwebten wie Teile eines Schiffswracks ein paar versprengte Dörfer. Es wurde rasch dunkel. Seit meinem letzten Besuch habe ich mich ziemlich verändert, und ich weiß nicht, was mich erwartet.

Während einer Rast habe ich meine Mutter angerufen. Beim Reden musste ich die Tränen runterschlucken. Sie hatte bereits von Argentinas Tod gehört.

»Du fährst zur Beerdigung?«, fragte sie verblüfft.

»Ja.«

»Aber die ist erst in zwei Tagen.«

»Ich weiß.«

Es folgte ein langes Schweigen, eines von denen, die mich die Distanz spüren lassen, die sich zwischen uns entwickelt hat und die immer schwieriger zu überbrücken ist. Ich habe lange geglaubt, es läge an ihr, an ihrer Unfähigkeit, mich zu verstehen, doch jetzt wird mir klar, dass ich mit ihr über vieles hätte reden können, ich hatte bloß keinen Grund dazu. Es ist, als würde ich Argentinas Stimme hören, die mir sagt: Du bist gut, du drehst Schleifen und kommst vom Hundertsten ins Tausendste, aber am Ende kehrst du immer heim.

Ich betrachte diese Mondlandschaft und weiß nicht, ob es Traurigkeit ist, die mich überkommt; ich habe das Gefühl, dieser Augenblick ist der Anfang von etwas Neuem. Von einer neuen Geschichte, die erzählt werden will.

ERSTER TEIL Die Briefe

1

Tief eingesunken in den alten Sessel, der allerdings längst nicht so alt war wie sie, beobachtete Argentina die Frau, die in ihrem Wohnzimmer mit schwarzen Stilettos nervös auf und ab stöckelte, klackerdiklack. Ab und zu blieb sie stehen und schaute auf das kleine Ding in ihrer Hand, ein Telefon, das wie eine Fernbedienung aussah und ihrem begierigen, sorgenvollen Blick nach zu urteilen die Lösung all ihrer Probleme parat hatte. Doch offenbar weigerte es sich, sie preiszugeben, und die Frau schüttelte unwillig den Kopf, ließ ihre gelben, zu einem gepressten Heuballen frisierten Haare hin und her wackeln und setzte sich wieder in Bewegung. Klackerdiklack, auf und ab, klackerdiklack.

Das ist meine Tochter, dachte Argentina verblüfft.

Wenn die Welt sie noch zu überraschen vermochte, dann gewiss nicht mit den Neuigkeiten, die sie bereithielt. Was wohl ein Zeichen dafür war, dass sie alles vergaß und sich allmählich vom Leben verabschiedete. Es passierte immer häufiger, dass banale Kleinigkeiten sie stutzen ließen, als käme sie aus einem fernen Land oder wäre gerade aus einem langen Schlaf erwacht und bräuchte noch eine Weile, um sich wieder zu ordnen, die Welt zu erfassen, die Dinge und ihre Namen in Beziehung zueinander zu setzen. Doch ihre unschätzbar kostbare Zeit war knapp und die Vorstellung, dass sie einst Unmengen davon besessen hatte, bestürzte sie. Sie schritt sämtliche vertrauten Pfade ab, die ihr die Falten auf den geliebten Gesichtern, die fernen Stimmen zeigten; sie wollte jeden Augenblick erfassen, den ihr Leben anstelle der zahllosen verlorengegangenen Augenblicke noch hergab. In Gedanken durchstreifte sie das Labyrinth der Erinnerungen, die urvertrauten Orte, die mit ihr verwachsen waren, ihre Kindheit, die von Aromen, Gerüchen – die Süße der Weinlese, die Bitterkeit der Oliven – und von Stimmen durchdrungen war, etwa wenn ihre rabenschwarze Großmutter Maria ihr mit dreckigen Fingern unters Kinn griff und ausrief: »Schöne Jugend, hässliches Alter!«

Während ihre Tochter auf und ab stöckelt, weiß Argentina nicht mehr, wo sie ist oder wie alt sie ist. Der Gedanke an Nonna Maria verwirrt sie, Nonna Maria ist schon immer alt gewesen und Argentina kann sich noch erinnern, wie ratlos sie als Kind war, als sie herausfand, dass die andere Großmutter, dieses dunkle Häuflein, das in der Küche neben dem Ofen hockte und von allen Cetta genannt wurde, Marias Mutter war, ihre Urgroßmutter. Sie erinnert sich an die Beerdigung, an den leeren Korbstuhl neben dem Herd, an die lange Prozession von der Kirche zum Friedhof, an die Frauen, die sich klagend die Haare rauften, aber vielleicht irrt sie sich auch und es war eine andere Beerdigung, eine der vielen, die sie miterlebt hat, ehe sie das Dorf verließ.

Hier in der großen Stadt Mailand ist alles anders: Beerdigungen haben gar nichts von Beerdigungen, es sind gewöhnliche Messen, Argentina geht schon seit Jahren nicht mehr hin, selbst dann nicht, wenn Nachbarn oder Bekannte gestorben sind, und in ihrem Alter sind das bereits einige. Sie ist es leid, Mitleid zu empfinden, sie ist es leid, darüber nachzudenken, sie ist wütend auf die, die sterben und es sie unbedingt wissen lassen müssen, sei es durch die trauernde Verwandtschaft oder die plakatierten Todesanzeigen mit dem fettgedruckten Alter. Häufig ist es so absurd viel niedriger als ihres, als ginge sie allein das schon etwas an, dabei ist der Weg zurück nach Hause noch so lang. Es kommt ihr seltsam vor, so viele Erinnerungen zu haben, so alt zu sein, denn manchmal fühlt sie sich wie das kleine Mädchen von damals, das die Dinge in ihrer Unveränderlichkeit sieht, so, wie sie immer waren.

Ein Geräusch holte sie aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart, die Berührung einer Hand auf ihrer Schulter, ein stechender Schmerz in den Knochen, und nach einem kurzen Moment der Verwirrung wurde ihr Blick wieder klar. Argentina erinnerte sich an alles, abgesehen von ein paar Lücken. Doch wie anstrengend war das jedes Mal, und wie beängstigend der Gedanke, dass sie nicht immer klar im Kopf bleiben würde; der gegenwärtige Moment war das letzte Geschenk, eine Art flüchtige Gnadenfrist. Früher oder später würde sie aus ihren Erinnerungen auftauchen und nicht begreifen, was um sie herum geschah, und alle würden sie für verrückt halten. Für ihre Tochter war sie das bestimmt schon. Eines schönen Tages würden Vergangenheit und Gegenwart sich für immer trennen, ihre Bedeutung verlieren, und sie wäre aus beiden Welten ausgeschlossen, unfähig, sie zusammenzuhalten. Selbst die geliebten Briefe aus dem Dorf, auf die sie mit dem Herzklopfen eines Backfisches antwortete, würden ihren Sinn verlieren. Sie würden in andere Hände geraten und ihr Geheimnis in dem Moment preisgeben, in dem es für immer verloren war.

Roccos Briefe!

Bei diesem Gedanken wurde Argentina ganz aufgeregt.

»Und was sollen wir jetzt machen? Kannst du mir mal sagen, was wir jetzt machen sollen?«

Argentina bewegte die Finger und berührte die Armlehne des Sessels: Sie war zu Hause, im Wohnzimmer. Das war die Stimme ihrer Tochter, sie konnte wieder das Geräusch der Absätze auf dem Marmorboden hören.

Jetzt zählte Monica die Scherereien auf, die Argentinas Streit mit Irina, der ukrainischen Pflegerin, angeblich verursacht hatte.

Dabei hatten sie gar nicht richtig gestritten. Es war ein Missverständnis gewesen, das x-te Missverständnis, und genau das war das Problem mit Irina: Sie verstanden einander nicht, und zwar nicht nur wegen der Sprache. Sie lebten in derart verschiedenen Welten, dass selbst die kleinste Nuance zur unüberwindlichen Hürde wurde. »Scheiße« zum Beispiel. Das Wort »Scheiße« hatte Irina in die Luft gehen lassen, weiß der Himmel, warum. Argentina war es einfach so herausgerutscht, eine Feststellung, ohne böse Absicht. Ein Jammer. Es tat ihr leid, dass Irina gegangen war. Sie war zwar nicht sonderlich sympathisch, aber wenigstens diskret, und sie hatte sie nicht wie eine Behinderte behandelt. Im Grunde schaffte sie noch alles allein, sie fiel niemandem zur Last, im Gegensatz zu manch anderen Alten aus ihrem Bekanntenkreis. Sie brauchte tagsüber lediglich ein bisschen Gesellschaft und jemanden, der ihr die schweren Sachen trug oder ihr beim Kochen half. Eigentlich hatte sie den Eindruck gehabt, sie hätten sich mit der Zeit aneinander gewöhnt. Aber dann hatte sich plötzlich herausgestellt, dass Irina es kaum mit ihr ertrug, und die Sache mit der Scheiße hatte ausgereicht, dass sie sich Türen knallend aus dem Staub machte.

»Du bist launischer als ein Kind«, sagte Monica.

Sie brauchte Irina, das wurde Argentina jetzt klar, und sie hätte Monica das auch gesagt, wenn sie ihr nur die Gelegenheit dazu gegeben hätte. Wer würde nun bei ihr sein, wenn die Gegenwart ins Wanken geriet? Und die Briefe! Was würde aus ihnen?

Die Briefe entpuppten sich als ein echtes Problem. Argentina wollte nicht, dass Monica ihre Nase in ihre Angelegenheiten steckte. Was gäbe das für einen Skandal! Manchmal war sie selbst ganz erstaunt darüber, was sie so schrieb, vielleicht hob sie deswegen ihre ins Unreine gekritzelten Briefvorlagen auf, vielleicht wollte sie sich selbst daran erinnern, dass alles wahr war und in diesem verdorrten Körper noch dasselbe Herz schlug wie einst. Monica würde es fertigbringen, einen an sie adressierten Umschlag ungefragt zu öffnen, schließlich redete sie auch in ihrer Gegenwart über sie, als wäre sie gar nicht da, oder sie platzte einfach, ohne zu klingeln oder anzuklopfen, in ihre Wohnung und stand plötzlich wie aus heiterem Himmel vor ihr. Argentina überkam dann manchmal eine unaussprechliche Wut, eine Wut, die zu groß war, um sich aus ihrem für heftige Gefühle empfindlich gewordenen Magen herauszuwinden oder sie aus der trockenen Haut fahren zu lassen. Sie errötete nicht einmal mehr, selbst wenn ihr Gesicht brannte, und alles, was sie tun konnte, war, zu husten, bis ihr schlecht wurde.

»Und wo, bitte, willst du eine andere finden, die dich erträgt? Was machst du mir bloß für Sachen, Mamilein«, sagte Monica noch einmal, ehe sie wieder anfing, auf und ab zu stöckeln: klackerdiklack, klackerdiklack.

Argentina antwortete nicht, schließlich war es keine echte Frage. Sie wandte ihren Blick von der knochigen Hand ab, die von einem Netz blauer Adern zusammengehalten wurde: Sie war dermaßen verkrümmt, dass sie die Armlehne nur an zwei Punkten berührte. Argentina hatte Mühe, sie als ihre eigene Hand wahrzunehmen. Überrascht stellte sie fest, dass sie unter den Fingerkuppen nichts spürte.

Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als der Sessel, auf dem sie federleicht zu schweben schien, als würde sie die Kuhle, die ihr seliger Mann darin hinterlassen hatte, kaum berühren, ins Haus gebracht worden war. Sie hatten gestritten, weil sie ihn hässlich fand und er ihrer Ansicht nach nicht zu der übrigen Einrichtung passte, doch Antonio hatte sich durchgesetzt. Argentina hatte wutschnaubend vom Treppenabsatz aus zugesehen, wie er und sein Bruder Ezio ihn nach oben schleppten.

Ganz still hatte sie dagestanden und sich über dieses hässliche Monstrum geärgert. Da waren sie noch jung gewesen. Was wohl aus Ezio geworden war, ob er noch lebte oder schon gestorben war wie Antonio? Auch zu ihm hatte ihr starrköpfiger Ehemann jeglichen Kontakt abgebrochen. Argentina hatte damals verstohlen zu den beiden Gestalten hinuntergespäht, als täte sie etwas Verbotenes; gleichzeitig dachte sie an Rocco, an den Körper, den sie nie berührt, an die Liebe, auf die sie mit ihrer Heirat verzichtet hatte.

»Du bist für den Schlamassel verantwortlich und ich will eine Antwort von dir. Was sollen wir jetzt machen? Ich leite eine Firma mit dreißig Angestellten und keiner, wirklich keiner von denen macht mir so viel Ärger wie du!«

Argentina schreckte aus ihren Gedanken und musste mehrmals die Augen zusammenkneifen, um das Zimmer wieder klar zu sehen. Sie versuchte, sich nach der schrillen Stimme umzudrehen, doch ein Stich im Rücken ließ sie innehalten. Das Klappern der Absätze traf sie wie eine Gewehrsalve. Ach ja, es war Monica, ihre Tochter, sie hatte geredet und nun lief sie wieder auf und ab. Sie war einmal ein kleines Mädchen gewesen, still und freundlich. Doch das musste in einem anderen Leben gewesen sein, in einem der vielen, die sich jetzt Gehör verschafften, die sich überlagerten und ihr aufs Neue Gesellschaft leisteten. Klackerdiklack, klackerdiklack. Klackerdiklack, klackerdiklack.

Sobald Monica weg wäre, würde Signora Borgonovo vor der Tür stehen und sich über das Klackern der Absätze beschweren. Vorher würde sie sich nicht trauen herunterzukommen; seit sie sich mit Monica über den Müll gestritten hatte, mied sie sie wie die Pest. Damals hatte Argentina sogar für ihre Nachbarin Partei ergriffen, weil Monica sie mit Beleidigungen überschüttet hatte, ohne sich darum zu scheren, dass Streitigkeiten in diesem Haus seit fünfzig Jahren Argentinas Angelegenheit waren. Sie konnte förmlich vor sich sehen, wie die Borgonovo gerade aus dem Fenster hing und auf den Bürgersteig hinunterspähte, wo Monica wie immer ihr großes weißes Auto geparkt hatte. Im richtigen Moment würde sie Türen knallend nach oben stürmen.

»Also, Mamilein, verrätst du mir, was wir jetzt machen sollen?«, fragte Monica noch einmal. »Fürs Erste könntest du dich vielleicht mit der Tochter meiner Mitarbeiterin Silvia arrangieren. Es wäre bestimmt keine Dauerlösung, sie scheint nicht sonderlich helle zu sein, hat sogar die Schule geschmissen. Wie soll sie da erst mit dir zurechtkommen, schrullig, wie du bist!« Nachdenklich blieb Monica am Fenster stehen und ließ ihren Daumen hastig über die Handytasten fliegen. »Wir haben gestern erst darüber geredet«, sagte sie abwesend. »Ich bin von ihr zwar nicht überzeugt, aber zur Not …« Sie schüttelte den Kopf. »Wir würden ihr damit sogar einen Gefallen tun. Stell dir vor, so ein junges Mädchen und schon so fett. Ihre Mutter ist völlig verzweifelt. Aber wen wundert’s: Setzen mit zwanzig Kinder in die Welt und fragen sich dann, warum aus denen nichts wird.« Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. »Hörst du mir überhaupt zu, du taube Nuss?«

Argentina blickte sie erstaunt an.

Na bitte, dachte sie, manchmal fällt die Lösung einfach vom Himmel. Jetzt wusste sie, was sie der Borgonovo sagen würde, wenn sie meckernd herunterkam. Sie würde sie ausreden lassen, dann die Tür ganz weit aufreißen, damit alle sie hörten, und ihr ins Gesicht brüllen: Wie können dir die klappernden Absätze denn auf die Nerven gehen, du taube Nuss!

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, fragte ihre Tochter tadelnd.

»Ich lache gar nicht. Mein Zahnfleisch tut weh«, entgegnete Argentina.

Monica kniff die Lider zusammen, ballte die Hand zur Faust und tippte sich damit gegen die Nasenspitze. »Übrigens«, sagte sie, ohne ihre Haltung zu ändern, »wo ist eigentlich dein Gebiss geblieben? Irina hat mir gesagt, sie musste dir die Suppe pürieren, weil du kein Gebiss mehr hast.«

»Ich habe eins, aber es stört mich.«

»Und wo ist es?«

»Wo ist es! Wo ist es!«

»Also?«

»Ich muss dir ja wohl nicht alles sagen.«

»Du hättest es Irina sagen können, sie hat mit Engelszungen auf dich eingeredet. Und trotzdem musste sie dir am Ende die Suppe pürieren!«

»Türkische Suppen esse ich nicht.«

»Sie ist keine Türkin, sondern Ukrainerin! Und es war ein typisches Gericht aus ihrer Heimat, das sie extra für dich gekocht hat. Es war ganz köstlich!«

Störrisch sah Argentina weg.

»Und dann sagst du ihr auch noch, dass es wie Scheiße aussieht. Wenigstens das hättest du dir verkneifen können!«, brach es aus Monica heraus.

Beim Gedanken daran musste Argentina abermals grinsen und hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr zahnloses Feixen zu verstecken.

»Aber genau so sah es aus«, erwiderte sie honigsüß.

2

Es würde schon reichen, sich nicht um fünf Uhr nachmittags im Schlafanzug erwischen zu lassen, oder zumindest nicht mit schuldbewusstem Gesicht vor der offenen Kühlschranktür, in der einen Hand ein Thunfischbrötchen, in der anderen die Ketchupflasche. Es würde schon reichen, nicht dick und tollpatschig zu sein, da war sich Arianna sicher in ihrem grauenhaft rosafarbenen, schlabbrigen Schlafanzug, der an den Schenkeln und überm Hintern spannte.

Denn genau das war der Punkt, nicht die miesen Zensuren in der Schule, die Verweise, die vorm Laptop verdaddelte Zeit, der Mangel an vorzeigbaren Freunden oder die Planlosigkeit, was ihre Zukunft betraf, sondern einzig und allein der Speck.

Ihre Mutter stand in der Tür, die Schlüssel noch in der Hand, die Einkaufstüten tropfnass vom Regen. Sie hatte ihren Mund halb vorwurfsvoll, halb indigniert verzogen. Arianna konnte nur daran denken, dass sie sich diesen Schlafanzug nicht selbst ausgesucht hatte, ihre Mutter hatte ihn gekauft, es war also nicht fair, dass sie jetzt so guckte.

»Wir müssen reden«, sagte Silvia, ehe sie die Tüten abstellte und energisch anfing, den Einkauf auszuräumen. Das Erste, was sie zu fassen bekam, waren zwei XL-Tüten Chips und eine Maxiflasche Coca-Cola, die sie so unwirsch aus der Tüte zerrte, als wären sie der Inbegriff allen Übels und nicht von ihr selbst vor wenigen Minuten gekauft worden.

Arianna machte ihr wortlos Platz und verschwand im Bad. Angewidert schrubbte sie sich Gesicht und Hände und vermied es dabei tunlichst, in den Spiegel zu sehen.

Als sie anschließend in ihr Zimmer schlich, fiel ihr auf, dass es in der Küche still geworden war. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie aufrecht und mit gefalteten Händen am Tisch saß. Ihr hübscher, schlanker Rücken zeichnete sich unter dem Pullover ab, das mädchenhaft lange kupferrote Haar umrahmte in lockeren Strähnen ihr Gesicht, und sie hielt die Augen geschlossen wie jedes Mal, ehe sie ihr eine Szene machte.

Angespannt lauschend blieb Arianna stehen und hoffte auf das Schlagen einer Schranktür, das Scharren von Stuhlbeinen, das Tropfen des Wasserhahns oder sonst irgendein Zeichen von Leben. Sie hasste diese Momente.

Viel lieber ließ sie sich von ihrem Vater herunterputzen, der zwar laut wurde, sie aber dennoch warm ansah, als wollte er ihr trotz seiner Wut zu verstehen geben, dass sie immer seine Tochter blieb. Wenn er sich ausgetobt hatte, konnte er wieder lächeln und alles war vergessen.

Bei ihrer Mutter war das anders. Wenn sie mit Arianna schimpfte, drang ihr die Verachtung aus allen Poren. Egal, was der Auslöser für den Streit gewesen war, er verpuffte und alles konzentrierte sich auf diesen einen Punkt, auf dieses eine Problem, das niemand laut auszusprechen wagte – den Speck –, und Arianna blieb mit ihrer Schuld allein. Ihre Mutter nannte das Kind nie beim Namen. »Du hast keinen Biss«, keifte sie stattdessen. Und Arianna fragte sich erbittert, was dieser verdammte Biss denn bitteschön sein sollte und wo man ihn herkriegte und wieso er so furchtbar wichtig war, aber sie kam nie dahinter. Oft beklagte ihre Mutter sich, sie hätte zu früh geheiratet, weil sie ungewollt schwanger geworden sei. Korrekterweise hätte sie sich dann an ihrem Bruder Massimo abreagieren müssen, dachte Arianna, der war schließlich als Erster geboren worden und hatte sie um ihre Jugend gebracht. Soweit Arianna wusste, war sie ein langersehntes Wunschkind gewesen, das vier Jahre später zur Welt kam, ein kleines Mädchen, genau wie ihre Mutter es sich gewünscht hatte. Nun ja, vielleicht nicht ganz: ein bisschen pummeliger als die Prinzessin, von der sie geträumt und in die sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatte; ein dickes Mädchen, dem der nötige Biss fehlte, um es im Leben zu etwas zu bringen.

»Schau dir an, wie gut Massimo alles auf die Reihe kriegt! Schau dir an, wie toll Massimo in Form ist! Du bist ein Mädchen, du solltest genauso Wert darauf legen, aber nein …« Arianna fand nicht, dass Massimo ein Wunderknabe war. Klar, es lief ganz okay bei ihm. Aber ihr erschien es nicht sonderlich clever, Stunden im Fitnessstudio zu verbringen, nur um mit ein paar Muskeln angeben zu können. Vielleicht hatte ihre Mutter eine so schlechte Meinung von Männern, dass sie Massimo einfach für perfekt hielt. Wäre auch sie ein Junge, sähe vielleicht alles ganz anders aus …

Der stets angeschaltete Laptop gab ein akustisches Signal von sich. Eine Mail von Jewel, die ihr begeistert erzählte, sie hätte am Nachmittag im Filmclub einen Film gesehen; in Rom herrschte offenbar strahlender Sonnenschein, der Frühling hatte sich um zwei Monate im Kalender geirrt und sie platzte vor guter Laune. Arianna antwortete ihr postwendend, ihre Mutter habe ihr gerade gesagt, sie müssten reden – wir müssen re-den, schrieb sie, um den Ton rüberzubringen –, und von ihrem Fenster aus sehe sie die üblichen trostlosen, verregneten, diesigen Gärtchen. Im Januar war Mailand grässlich, im August sogar noch schlimmer. Sie unterschrieb mit ihrem Nickname AriaLove, unter dem ihre Freunde aus dem Netz sie kannten. Dann öffnete sie zwei neue Dokumente und machte sich ein paar Notizen für ihre nächsten Blogeinträge. Sie musste unbedingt einen Artikel über Ein Zuhause am Ende der Welt von Michael Cunningham schreiben – sie hatte das Buch gerade zu Ende gelesen – und etwas über ihren Gemütszustand.

Wenn Eltern reden müssen – Mailand ist ein Gefängnis, schrieb sie. Darüber hatte sie mit ihrer Freundin schon oft gesprochen. Jewel war einmal in Mailand gewesen und hatte es wunderschön gefunden. Allerdings hatte sie nur das Zentrum gesehen, und das zur Weihnachtszeit: die glitzernden Einkaufsstraßen, den Dom und das Schloss.

Hastig schälte Arianna sich aus dem Schlafanzug, stieg über den Kabelsalat und den Drucker und durchwühlte – auf einem Bein balancierend, damit sie den Bücherstapel, der im Regal keinen Platz mehr gefunden hatte, nicht umstieß – ihren Schrank nach einem Trainingsanzug.

Die Klamotten, in die sie noch reinpasste, ließen sich inzwischen an einer Hand abzählen. Entweder kaufte sie sich was Neues oder sie hörte auf, noch fetter zu werden. Sie wusste nicht, was einfacher war.

Der Laptop verkündete den Eingang einer neuen Nachricht. Noch in Unterhosen stürzte sie hin und lavierte sich dabei gekonnt durch ihre Unordnung. Es war wieder Jewel, ihre beste Freundin, obwohl sie sich noch nie gesehen hatten – oder gerade deswegen.

Ihre Eltern kapierten es einfach nicht, so jung sie auch sein mochten.

»Wir machen uns Sorgen um dich, verstehst du?«, sagten sie. »Du hockst immer hier drinnen, hast keine Freunde.«

»Aber ich habe Freunde.«

»Die zählen doch nicht.«

Doch sie zählten, und wie.

Arianna hätte ihnen so gern begreiflich gemacht, was es bedeutete, sich Nachrichten in Lichtgeschwindigkeit zu schicken und wie ein einziges, riesiges Superhirn zu funktionieren – sie, Jewel, Seba, Nick96 und die anderen –, was es hieß, unbesiegbar zu sein und aus Luft zu bestehen, in einem geschmeidigen Fluss zu treiben, sich leicht zu fühlen, Liebe in Reinform; doch Arianna war unfähig, diese Dinge in Worte zu fassen. Jedes Mal, wenn sie zur Rede gestellt wurde, zog sich ihre Kehle zusammen und sie bekam den Mund nicht auf. Er war zwar groß genug, um die widerlichsten Sachen hinunterzuwürgen, aber zu klein, um ein Wort herauszubringen.

Hätten ihre Eltern sie zu verstehen versucht, hätten sie sich dazu bequemt, ihre Texte zu lesen, sich in die Tiefen des Netzes zu begeben, ans andere Ende des Fadens, der sie mit der Welt verband, hätten sie endlich begriffen, wer sie war.

»Die kapieren viel mehr als ihr«, hatte sie einmal auf die üblichen Vorhaltungen ihrer Mutter hin herausgebracht. Ihre Eltern hatten sie mit offenem Mund angesehen, und einen Moment lang hatte sie geglaubt, sie hätte sie beeindruckt.

»Und das wirkliche Leben?«, hatte ihr Vater gefragt. »Was teilt ihr im wirklichen Leben?«

»Hä?«

»Das Leben! Da draußen!«, brüllte er und deutete mit fuchtelnden Armen auf die vier Wände ihres Zimmerchens, während ihre Mutter mit frisch frisierten Haaren, die sich an ihre Wangenknochen schmiegten, auf dem Bett saß und sie benommen anstarrte.

Dort draußen gab es nichts für sie. Dort war Asphalt, der im Sommer schmolz, kaputte Parkbänke, Mietshäuser, Autos, die bösen Blicke der Leute, die Friseure mit ihren stinkenden Festigern, das Kunstlicht der Shoppingcenter, das Vorwärtsdrängen der Rolltreppen, die McDonald’s mit ihrem tröstlichen Einheitsgeschmack, die wuselnden Schaben, der Drang, sich zu übergeben, und es nicht zu schaffen, niemals. Doch sie hatte nicht mehr geantwortet, denn das mangelnde Vorstellungsvermögen ihrer Eltern hatte die Grenzen der Wahrheit bereits festgelegt und alles ausgeklammert, was Arianna wichtig und wertvoll war.

Endlich war aus der Küche das Klappern von Töpfen und Tellern zu hören: Ihre Mutter hatte angefangen, die Spülmaschine auszuräumen. Dieses Mal würde sie sie vielleicht eine Weile in Ruhe lassen. Arianna warf sich aufs Bett und starrte an die Decke.

Ihre Mutter sollte ihr lieber klipp und klar sagen, was sie von ihrem Aussehen hielt, statt ständig auf ihrer Zukunftsplanung herumzureiten. Wie sollte die denn bitte aussehen: Sollte sie schlank und schön sein, Komplimente von Mamas Freundinnen bekommen, mit ihr zusammen shoppen gehen und für ihre Schwester gehalten werden, die Blicke der Männer auf sich ziehen? Wozu das alles? Sie wusste, was die anderen dachten, wenn sie sie ansahen. Aber dieses formlose Ding, dessen Bild hin und wieder in einem Spiegel oder Schaufenster aufblitzte, war nicht sie. Das Einzige, was sie wollte, war, dass jemand ihr in die Augen sah und sie erkannte.

3

Arianna lag auf dem Rücken, die Hände im Nacken verschränkt, als sich das defekte Türschloss klackend öffnete und sie die Hand ihrer Mutter auf der Klinke sah. Ihre ovalen Fingernägel waren in einem makellosen Perlmutt lackiert. Sie trat ins Zimmer, hob die Bettdecke vom Boden auf, wollte sie erst ans Fußende des Bettes legen, überlegte es sich dann aber anders und warf sie auf einen Stuhl. Sie ging zum Fenster und wandte Arianna ein paar Sekunden lang den Rücken zu, bevor sie sich sacht gegen die Wand lehnte. Sie wirkte ruhig.

»Du hast den ganzen Tag hier drinnen gehockt und dich erst jetzt angezogen«, stellte sie mit leiser, angespannter Stimme fest. »Wer weiß, wie lange du den Schlafanzug schon trägst. Du wäschst dich nicht, du gehst nicht vor die Tür, du siehst niemanden.«

Arianna starrte wieder an die Decke. Mit einer Hand strich sie sich übers Haar. Sie hatte es seit einer Woche nicht gewaschen, aber das schien keinen großen Unterschied zu machen, kümmerliche Grashalme, lasch und farblos, die sich nie in irgendeine Form bringen ließen und sofort wieder schlaff herabhingen, als schämten sie sich genauso sehr wie der ganze Rest an ihr.

Nach ihrem letzten Verweis hatte Arianna sich geweigert, wieder in die Schule zu gehen. Ihre Eltern hatten die Nachricht ihres x-ten Versagens resigniert aufgenommen. Sie hatten sie nur angesehen wie einen Alien, der versehentlich in ihrer Familie gelandet war, und beschlossen, dass jede weitere Reaktion reine Energieverschwendung war. Arianna, der schlecht geworden war bei dem Gedanken, zu Hause ihre Zensuren beichten zu müssen, hatte diese Gleichgültigkeit zugleich erleichtert und enttäuscht. Eisig hatten ihre Eltern ihr mitgeteilt, sie könne sich eine Auszeit nehmen. Um nachzudenken, hatten sie gesagt.

Der einzige Mensch, der wirklich sauer geworden war, war Signora Serra, ihre Italienischlehrerin. Sie hatte ihr eine glatte Eins gegeben, die unter den ganzen Vieren, einschließlich Sport, geradezu lächerlich gewirkt hatte. »Wie kann ein kluges Mädchen wie du einfach sang- und klanglos durchrasseln? Muss man dich erst foltern, damit du preisgibst, wie viel du im Kopf hast? Vielleicht nicht den geforderten Unterrichtsstoff, aber trotzdem …« Anfangs war sie auch mit Signora Serra nicht gut zurechtgekommen. Doch eines Tages erwischte sie Arianna während einer todlangweiligen Grammatikstunde dabei, wie sie in ihrer zu engen Bank ein Buch las. Zu Ariannas großer Bestürzung nahm sie es ihr weg, es war der dritte Band von Izzos Marseille-Trilogie und ihr fehlten nur noch zwanzig Seiten bis zum Ende. In der Pause suchte sie Signora Serra, um sie zu bitten, ihr das Buch zurückzugeben, und fand sie gebannt darin lesend im Lehrerzimmer vor. Signora Serra ließ sich nicht erweichen, doch am nächsten Tag gab sie ihr das Buch im Tausch gegen die beiden ersten Bände wieder. Seitdem liehen sie einander Bücher und diskutierten darüber. Ariannas mündliche Tests nahmen zur Verblüffung ihrer Mitschüler eine recht ungewöhnliche Wendung. Bei den anderen Lehrern war das nicht so. Arianna kam es fast so vor, als wäre ihnen ihre Gegenwart lästig, und für sie war es die reinste Hölle, unter dem Gekicher der anderen nach vorn zu gehen, um sich abfragen zu lassen. Da war es besser, an ihrem Platz zu bleiben und vor sich hin zu träumen, versunken in die Seiten eines der Bücher, die allzu schnell endeten, wie etwa Von Mäusen und Menschen, das während der Mathestunden große Gefühle in ihr geweckt hatte. Aus ihrer Klasse hatte ihr nur Marco, ein Loser wie sie, gesagt, dass es ihm leidtue. Aber selbst er hatte nicht verbergen können, wie stolz er über seine Versetzung war, und er hatte sich verlegen von ihr verabschiedet, als würden sich die Wege der zwei Klassenloser nun für immer trennen: er das Schlusslicht, sie die Sitzenbleiberin.

»Findest du das fair?«, fragte Silvia unvermittelt und riss Arianna aus ihren Gedanken.

Ihre Mutter blickte sich ratlos um, es schien ihr unbegreiflich, dass ein normaler Mensch jeden Tag seines Lebens in dieser engen, vollgemüllten Bude verbringen wollte. Der Fußboden war mit Büchern, zusammengeknülltem Papier, einem Teller, einer Tasse mit kaltem Kaffee, einzelnen, benutzten Strümpfen, einem getragenen Sweatshirt und mit Bonbon- und Crackerpapierchen übersät. Auf dem Schreibtisch häufte sich noch mehr Papier, dazwischen lagen Bücher, der Laptop, der Drucker, Stifte, zwei Steine, Plastikfigürchen, Legoteile, eine Bonbonschachtel und gebrauchte Taschentücher. Arianna folgte dem Blick ihrer Mutter, malte sich deren Gedanken aus und spürte, wie fremd sie ihr war; für sie bedeutete diese Höhle Geborgenheit, Wärme, Erdung, Sinn. Jeder Gegenstand, auf den der missbilligende Blick ihrer Mutter fiel, war ein Baustein ihres Lebens, mochte er auch nutzlos und hässlich sein.

»Ich sollte das alles wegschmeißen«, sagte ihre Mutter wie zu sich selbst.

Dann hätte ich nichts mehr, dachte Arianna.

»Ein riesengroßes Lagerfeuer sollte ich daraus machen.«

Dann würde sie auch verbrennen.

»Vielleicht würdest du dir dann endlich mal einen Ruck geben.«

Vielleicht würde sie dann für immer verschwinden.

»Hast du mir nichts zu sagen?«

Lange saßen sie schweigend da. Der Bildschirm des Laptops wurde schwarz.

»Hast du eigentlich nie was zu sagen?«, brach es aus ihrer Mutter heraus. »Nun? Was sollen wir tun?«

Ihre Mutter schien jedoch ganz genau zu wissen, was sie tun sollte. Arianna hingegen hatte keinen Schimmer, sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, damit sie immer so weitermachen konnte, bis ihr der Saft ausging.

»Papa und ich haben einen Entschluss gefasst. Es war nicht einfach, glaub mir.«

Das hatte sie schon unzählige Male zu hören bekommen, immer wenn sie eine schlechte Note kassiert hatte, immer wenn sie durchgerasselt war, immer wenn ihre Eltern sie dabei ertappt hatten, wie sie sich den Bauch mit Eis und Chips vollschlug, immer wenn sie mitten in der Nacht beim Chatten erwischt worden oder wenn aufgeflogen war, dass sie das Geld für Klamotten und die U-Bahn-Monatskarte für etwas wirklich Wichtiges wie ein neues Modem ausgegeben hatte. Und immer wurden sie laut, immer behaupteten sie, ihre arg strapazierte Geduld sei nun am Ende, es müsse sich etwas ändern, doch dann passierte nie etwas.

»Vielleicht sollte ich auf Papa warten, ehe ich es dir sage, aber ich weiß nicht mehr, was ich mit dir machen soll. Du hast das Limit wirklich überschritten. Wir haben dir zahllose Chancen gegeben, aber jetzt reicht’s. Du hattest den ganzen Sommer und den ganzen Herbst über Zeit zum Nachdenken, mittlerweile haben wir Januar. Ständig hockst du hier drin. Du machst nichts, willst nichts … Ich kann es dir also ebenso gut sofort sagen, dann kannst du schon mal anfangen, darüber nachzudenken.«

Arianna horchte auf.

»Ich habe einen Job für dich gefunden.«

Das klang erst einmal nicht wirklich schlimm. Vielleicht ein bisschen sinnlos, aber nicht katastrophal.

Arianna hatte nichts gegen Arbeit, gegen Schule schon, aber nicht gegen Arbeit. Um ehrlich zu sein, hatte sie gar keine Meinung dazu. Sie wusste nur, dass es ein Glück war, dass ihre Eltern Arbeit hatten, die Eltern einiger Mitschüler hatten keine mehr und steckten in großen Schwierigkeiten. Und sie wusste auch, dass es für ihre Generation schlecht aussah, die jungen Leute bekamen schon jetzt keine Jobs mehr, und sie war noch weniger als jung, weniger als nichts. Das war, kurz gesagt, alles, was sie über Arbeit wusste. Und nun stellte sich plötzlich heraus, dass ihre Mutter nicht nur einen Job für sie gefunden hatte, sondern ihr den auch noch als Strafe verkaufte.

Arianna sagte nichts, fragte nicht, um welchen Job es sich handelte, rührte sich nicht. Sie wartete ab.