Eine heruntergekommene afrikanischen Großstadt – wer hierher kommt, hat ein Ziel: Geld zu machen, egal wie. Das Tram 83 ist der einzige Nachtclub der Stadt, sein pulsierendes Zentrum. Verlierer und Gewinner, Profiteure und Prostituierte, Ex-Kindersoldaten und Studenten, sie alle treffen in dieser Höhle aufeinander, um zu essen, zu tanzen, um sich zu betrinken und sich zu vergessen. Hier, an diesem von Kriegen und Korruption gezeichneten Ort, treffen sich auch zwei u gleiche Freunde wieder: Lucien, der Schriftsteller, findet auf der Flucht vor Erpressung und Zensur Schutz bei Requiem, der sich durch das Leben gaunert.

 

Zsolnay E-Book

 

Fiston Mwanza Mujila

 

TRAM 83

 

Roman

 

Aus dem

Französischen von

Katharina Meyer und

Lena Müller

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel Tram 83 bei Éditions Métaillié, Paris.

 

Die Übersetzerinnen danken dem Deutschen Übersetzerfonds (DÜF) und dem Europäischen Übersetzer-Kollegium (EÜK) Straelen für die Unterstützung.

 

 

www.centrenationaldulivre.fr

 

 

ISBN 978-3-552-05809-5

© by Fiston Mwanza Mujila, 2014

By Agreement with Pontas Literary & Film Agency

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Im Schweiße deiner

Titten sollst du essen

 

 

1.

 

Im Anfang war der Stein, und der Stein schuf den Besitz und der Besitz den Rausch, und im Rausch kamen Menschen jedweder Gestalt, die schlugen Bahntrassen in den Fels, fertigten ein Leben aus Palmwein und erdachten zwischen Markt und Minen ein System.

 

 

Nordbahnhof. Freitagabend, irgendwann zwischen sieben und neun.

»Geduld, mein Freund, du weißt doch, dass unsere Züge jegliches Zeitgefühl verloren haben.«

Der Nordbahnhof ließ die Sau raus. Er war im Grunde nichts als ein halbfertiges, von Granateneinschlägen zerschundenes Metallgerüst mit ein paar Gleisen und Lokomotiven, die noch an Stanleys Eisenbahntrasse erinnerten, Maniokfeldern, billigen Hotels, Spelunken, Bordellen, Erweckungskirchen, Bäckereien und dem Getöse von Menschen aller Generationen und Nationalitäten. Er war der einzige Ort auf dem Erdball, an dem man sich ganz ungeniert aufhängen, sich erleichtern, fluchen, klauen oder sein Herz verlieren konnte. Ein Hauch von Komplizenschaft lag ständig in der Luft. Ein Schakal frisst keinen Schakal. Er schnappt sich Truthähne und Rebhühner. Die Legende, die uns so oft in die Irre führt, behauptete steif und fest, alle Widerstandsbewegungen und Befreiungskriege wären hier im Bahnhof zwischen zwei Lokomotiven aufgekeimt. Und als wäre das nicht schon genug, gab dieselbe Legende vor, dass der Bau der Eisenbahn zahlreiche Menschenleben gefordert hätte, was Tropenkrankheiten, technischen Mängeln und den von der Kolonialverwaltung auferlegten schlechten Arbeitsbedingungen zugeschrieben wurde – das alte Lied.

»Nordbahnhof. Freitagabend, irgendwann zwischen sieben und neun.«

 

Schon seit fast drei Stunden wartete er im Gedränge der Passanten auf den Zug. Lucien hatte auf die Sache mit dem Zeitgefühl dieser Züge hingewiesen, die alle Rekorde brachen: Entgleisungen, Verspätungen, Überfüllung … Requiem hatte Wichtigeres zu tun, als auf diesen Typen zu warten, der ihm nach all den Jahren nichts mehr bedeutete. Seit er dem Marxismus den Rücken gekehrt hatte, beschimpfte Requiem alle, die ihn in seiner Denk- und Handlungsfreiheit einschränkten, als Gelegenheitskommunisten und Slumideologen. Er musste Ware ausliefern, davon hing sein Leben ab. Doch der Zug mit diesem verdammten Lucien ließ auf sich warten.

Nordbahnhof. Freitagabend. Irgendwann zwischen …

»Gesellschaft gefällig, mein Herr?«

Ein Mädchen blieb bei ihm stehen, das angezogen war, wie man sich eben anzieht an einem Freitagabend in einem Bahnhof, der ein halbfertiges Metallgerüst ist. Kurz die Ware taxieren, ein dumpfes Dröhnen, dann ein Höllenlärm, der das Eintreffen der Bestie ankündigte.

»Was sagt die Uhr, Bürger?«

Trotz des Dämmerlichts hatte er die Kleine ausreichend inspiziert und sie sich schon auf seiner Pritsche vorgestellt. Er zog sie an sich, fragte nach ihrem Namen, »nenn mich Requiem«, ließ die Hände über die Brüste des jungen Dings wandern, noch ein Spruch: »Du hast Schenkel wie zwei Wodkaflaschen …«, und dann nichts wie weg, hinein in die schmierige, zähe, zwielichtige, schaurige Masse …

Hier war eine Ansage fällig. Ein Ort, wo sie in Ruhe plaudern konnten. Hartnäckiges Mädchen, er seufzte, biss sich auf die Lippen und nuschelte: »Treffpunkt Tram 83.« Was eigentlich auch nichts half, denn er würde diesen Lucien im Schlepptau haben. Bei dem Gedanken verzog er das Gesicht. Und dann noch die Ware für die frisch aus Osteuropa eingetroffenen Touristen. Inzwischen hatte sich der Lärm ins Unerträgliche gesteigert. Diese verdammten Züge transportierten des Nachts den ganzen Abschaum, der es anders nicht mehr nach Hause schaffte, also Studenten und Grubenarbeiter. Aus bislang unbekannten Gründen zerschnitt die Bahntrasse die einzige Universität der Gegend in zwei Teile. Nicht das Dröhnen der Loks störte die Nachmittagsvorlesungen, sondern die Studenten, die ihren Krempel zusammenpackten und loszogen, denn wer den Zug verpasst, pisst sich ans eigene Bein, lieber Akademiker. Die wenigen Professoren, die in den Vorstädten von Stadtland untergekommen waren, setzten die Segel zur gleichen Zeit wie ihre Schüler. Überlebensinstinkt kann man nicht lernen. Das kommt von innen. Andernfalls gäbe es längst Instinkt-Seminare an den Unis. Die Züge fuhren vorbei, ohne anzuhalten. Das nutzten die geschicktesten unter den Studenten und klammerten sich ans rostige Eisen, im Krieg sind alle Mittel recht. Die Launen der Studenten, die meinten, sie könnten sich alles erlauben, trafen auf das Animalische der Schürfer, die mit denselben Zügen fuhren. Erstere warfen Letzteren vor, ihre Würde an Minenbetreiber und Geschäftemacher verschiedenster Herkunft zu verscherbeln. Das war Letzteren egal, mit ihrem ewigen Pech und den von der Radioaktivität versteiften Körpern waren sie der lebende Beweis dafür, dass man nicht die Schulbank drücken muss, um zu vögeln und dann mit einem schönen kühlen Bier anzustoßen. Im Übrigen schürften einige Studenten selbst in den Minen, um ihre Schulden zu begleichen.

Requiem machte sich auf die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die Studenten, abgemagert, von den Ereignissen überrollt und wütend, schwenkten ihre Theorien wie Kriegsbeute. Die Schürfer-Grubenarbeiter oder die Grubenarbeiter-Schürfer, je nach Geschmack, schmetterten aus voller Kehle Flüche, die besser nicht wiederholt werden sollten. Jeden Abend dasselbe Theater. Sie musterten, beschimpften und verhöhnten sich gegenseitig und benutzten sogar die Fäuste. Eine Legende bezifferte die Toten der letzten Zusammenstöße auf eintausendsiebenhundert, Erstickte und andere Schwerverletzte nicht mitgezählt.

Erschöpft vom Lärm und vom Alkohol, von dem er reichlich getrunken hatte, lehnte sich Requiem gegen einen Pfeiler und wartete darauf, dass sie das Feld räumten. Bis spät in die Nacht trieben sie sich auf den Bahnsteigen herum, die Studenten mit ihrem Streik und die Grubenarbeiter, die nach der letzten Flasche aus dem Maul stanken.

»Ich bin eine unabhängige Frau, aber ich suche noch den Mann meines Lebens.«

In Gedanken war er schon bei den Silikontitten des Mädchens, das im Tram 83 auf ihn wartete. Wie sollte er Lucien gleich beim ersten Wiedersehen abschütteln und mit dem Schätzchen in den Untiefen der Nacht verschwinden? Die Grubenarbeiter und Studenten provozierten einander munter weiter. Sie alle waren unterwegs nach Nirgendwo, dem krönenden Abschluss ihrer Androhungen entgegen. Requiem spürte, dass da jemand war. Er runzelte die Stirn: Lucien, aus Haut und Knochen. Requiem ging auf ihn zu. Er sah, dass sein Freund stark abgemagert war. Dass eine Epoche zu Ende ging, eine Zivilisation mit den Füßen scharrte … Lucien trug Schwarz und passend dazu einen roten Schal und einen Stapel Papier unter jedem Arm. Eine abgewetzte Tasche aus Kunstleder über der Schulter. Die Haare zerzaust. Das Gesicht zerknittert. Der Schnurrbart intakt. Der Blick kalt. Die Stimme eingerostet. Sie umarmten sich ohne große Begeisterung.

»Die Dreckskerle, sag bloß, sie haben dir das Hirn torpediert …«

»Und bei dir, was gibt’s Neues?«

»Und Jacqueline?«

»Lange Geschichte.«

»Wie bist du da wieder rausgekommen?«

»Erklär ich dir später.«

»Die verdammten Dreckskerle, diese …«

»Wollen wir gehen?«

»Ja«, antwortete Requiem kühl, den wohl das Mädchen noch umtrieb, das angezogen war, wie man sich eben anzieht an einem Freitagabend an einem Bahnhof, der ein halbfertiges Metallgerüst ist, wo sexhungrige abtrünnige Rebellen, Studenten und Grubenarbeiter dasselbe Ziel haben.

»Ich bin ein sensibles Mädchen.«

Zwei dicke Tränen liefen über die Wangen des Mannes, der gerade aus dem Zug gestiegen war, in diesem Bahnhof, dessen halbfertiges Metallgerüst … Schweigend durchquerten sie die Halle und den Rest des Bahnhofs, wo es von Single-Mamis an der kurzen Leine wimmelte, von Professoren, die Abschlussnoten verscherbelten, Intellektuellen, die nach Fisch stanken, und kubanischen Musikern, die Salsa, Flamenco und Merengue zum Besten gaben, einfach so.