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„Hier, ungefähr hier. In dieser Reihe. Ja, genau hier müssen sie gesessen haben.“
„How do you know?“
„Mein Großvater hat es mir mal gezeigt. Er nahm mich ab und zu mit hierher ins Olympiastadion. Zu Hertha BSC. Fußball. Soccer, you know? Habt ihr doch in Amerika endlich auch.“
Er wies mit dem Zeigefinger auf die gegenüberliegenden Ränge: „Und dort drüben hat der Führer gesessen.“
„Who?“
„Hitler. Adolf. Verstehen Sie? In Deutschland sagte man damals allgemein: der Führer. Manche sagen es heute noch.“
„Oh, yes, the Fuhrer.“
„Führer“, verbesserte er. „Nicht mit ‚u‘, sondern mit ‚ü‘: Führer.“
„Yes, I know“, nickte sie, „der Kampf um das deutsche ‚ü‘, das hat mir Grandma Rosie immer eingetrichtert. Aber das ist auch verflixt schwierig. I mean, for an American. Weißt du, was das schwierigste deutsche Wort für uns ist?“
„Nein, aber Sie werden es mir sagen.“
„Of course. Es ist das Wort ‚Hühnchen‘. You know: little chicken. A normal American kann das auf Deutsch nicht aussprechen. Er sagt ‚Huuntschen‘. Verstehst du? ‚Huuntschen‘. By God, es ist aber auch saumäßig schwer!“
Woher kannte sie, als Amerikanerin, das Wort saumäßig? Und solche familiäre Ausdrücke wie eingetrichtert und verflixt? Bestimmt von ihrer Grandma Rosie. Natürlich, Lisa hatte ihr ziemlich fließendes Deutsch bei ihrer Grandma Rosie aufgeschnappt und erst in zweiter Linie auf dem College gelernt.
Lisa wollte auf die andere Seite des leeren Stadions, dorthin, wo damals the Fuhrer gesessen hatte. „Geschichte schnuppern“, sagte sie. Tim erklärte auf dem Weg halb um das Oval des Olympiastadions, wie die Nazis damals aus diesen sechsunddreißiger Spielen eine gigantische Propagandaschau gemacht hatten. Tatsächlich habe die halbe Welt sich überrascht die Augen gerieben: Diese Deutschen mussten ja nette Burschen sein. Und friedlich obendrein. Manche ausländische Mannschaft sei bei der Eröffnungsfeier, dort unten auf der roten Aschenbahn, mit dem Hitlergruß vorbeimarschiert, den rechten Arm gen Himmel gereckt. Noch heute sei es vielen wahnsinnig peinlich, die alten Filmausschnitte vorgeführt zu bekommen.
„Hier ungefähr“, sagte Tim und hielt an. „Früher war hier noch so eine kleine Steinplatte für den Führer. Ja, eine Plattform, kann man sagen. Oder ein Podest noch besser. Auch nach Fünfundvierzig haben manche sich hingestellt und heimlich schnell den Hitlergruß probiert. Und Mama hat’s geknipst. Ich meine fotografiert.“
Lisa holte aus ihrer Umhängetasche einen kleinen Fotoapparat hervor. Sie drückte ihn Tim in die Hand und zeigte ihm den Knopf zum Auslösen. Er wusste das natürlich, schon als Sportreporter, aber diese Amis trauten anderen Menschen ja buchstäblich nichts zu.
Er nahm sie ins Visier.
Lisa hob den rechten Arm zum Hitlergruß.
„Bist du meschugge?“, rief Tim.
Er riss ihr den Arm herunter.
„Ouch!“, rief sie. Oder auf Deutsch: Autsch!
„Du bringst dich in Teufels Küche!“, zischte er und schaute sich vorsichtig um. Aber es war niemand weit und breit, der den Heil Hitler hätte gesehen haben können.
„What means Teufels Küche?“, fragte sie, den Vorfall übergehend.
„Schwierigkeiten“, erklärte er. „Ärger. Zoff. Bambule. Aber das ist ja nicht das Thema. Du kapierst das nicht.“
„But it was a joke!“, rief sie.
„Joke, joke, joke! Das ist bei uns kein Thema für einen Joke“, erklärte Tim, sich langsam beruhigend. „Sie müssen das verstehen: In Amerika hatten Sie Richard Nixon, das war ein kleiner Gauner. Aber Adolf Hitler! Er war der größte Massenmörder der Weltgeschichte. That makes a difference.“
Lisa nickte, fast ein wenig schuldbewusst: „So gibt es hier auch keine – wie sagt man – a plaque?“
„Eine Tafel? Eine Gedenktafel? Wo denken Sie hin?“
Mein Gott!, dachte Tim. Sie studierte zu Hause in den USA, wie sie ihm auf der Fahrt erklärt hatte, Neuere Geschichte und hätte sich demnach ein bisschen auskennen sollen. Aber sie bestätigte bis jetzt alle Vorurteile, die er gegen Amerikaner gehört und gelesen hatte.
Sie marschierten weiter im Uhrzeigersinn um die Stadionschüssel, die vor einigen Jahren für viele Millionen Euro modernisiert und überdacht worden war. Sie langten an ihrem Platz von vorhin an und setzten sich noch einmal.
Tim hatte Lisa auf der Fahrt vom Flughafen vorgeschlagen, als Erstes das Stadion aufzusuchen, den quasi historischen Ort, an dem die Geschichte ihrer Grandma Rosie und seines Opas Robert begonnen hatte. Lisa hatte das als eine witzige Idee akzeptiert.
„Wir müssen mal was klären“, sagte Tim. „Sie sagen du zu mir und ich sage Sie zu dir.“
„Oh, you know, we Americans … Also sagen wir du, okay?“
„Aber ich werde Lisa zu dir sagen, deutsch ausgesprochen, nicht Laisa. Also, ich erzähle dir die Geschichte. Soll ich vorher noch was zu trinken besorgen? Nein? Also, du weißt: Olympische Spiele sechsunddreißig. Sie saßen hier, ziemlich genau hier: mein Opa Robert, damals zwölf, beinahe schon dreizehn, und seine Eltern. Der Vater hatte drei Dauerkarten für die Leichtathletik erstanden. Ich weiß nicht, wie, aber er hatte ja ein paar Beziehungen durch seine Arztpraxis. So haben sie alles miterlebt. Vor allem Jesse Owens, den wirst du kennen. – Nein? Den musst du aber kennen!“
„Müssen muss ich gar nichts“, widersprach Lisa.
Was kennen diese Amis eigentlich?, dachte er. Nicht mal ihre eigenen Heroen.
„Das war doch euer Superstar“, erläuterte er, „der Schwarze mit viermal Gold in Berlin. Das hat die deutschen Rassisten furchtbar gefuchst.“
„Ge-was?“, fragte sie.
„Gefuchst. Fuchsteufelswild gemacht. Verstehst du?“
Sie nickte zweifelnd.
„Und dann natürlich die deutschen Volksgenossen, die plötzlich über sich hinauswuchsen und Medaillen wie am Fließband gewannen. Alle sagten: ‚Das verdanken wir dem Führer. Heil dem Führer!‘„
„Okay! Und was war mit Grandma Rosie?“, fragte sie ungeduldig.
„Ja, da komme ich schon drauf zu sprechen“, erwiderte er leicht ungehalten. „Ich brauche immer einen kleinen Anlauf. Sie müssen wissen, ich meine, du musst wissen: Robert war ja selbst Leichtathlet. Hochspringer. Aber nicht besonders hoch, das hat er später eingestanden. Der Übungsleiter, so hieß damals der Trainer, foppte ihn manchmal – also, er neckte ihn – und sagte, er solle auf Hürdenlauf umsatteln, hurdling, you know, da sei die Latte nicht so hoch wie beim Hochsprung. Aber vielleicht wäre er dafür zu langsam. Verstehst du nicht? Macht nichts.“
„And what about …?“
„Ja. Kommt ja schon! Warum müsst ihr Amis immer so dynamisch sein? Es kam der Tag mit dem Endlauf über viermal hundert Meter der Frauen. Staffellauf, verstehst du? Ich erzähle es besser anders herum. Ungefähr zehn Meter von hier, wo wir jetzt sitzen – da drüben, eine Reihe tiefer –, da saß eine Familie, ein Ehepaar mit einem Mädchen. Das war so alt wie mein Opa damals. Ungefähr zwölf.“
„Grandma Rosie?“
„Geraten! Endlich! Sie hatte strohblondes Haar und strahlend blaue Augen über einer Stupsnase. You understand Stupsnase?“
Er machte es vor, indem er mit dem Mittelfinger von unten gegen seine Nase stupste.
„Oh, a snub nose! Yes! She had a real snub nose.“
„Ja, das hat mir mein Opa immer wieder erzählt: die Stupsnase. Sie muss ihn mehr beeindruckt haben als die Leichtathleten. Und immer wenn ein Deutscher besonders schnell rannte oder besonders weit sprang oder warf, dann hüpfte das Mädchen wie ein Gummiball und klatschte in die Hände und schrie aus voller Kehle.“
„Und das war Grandma Rosie.“
„Ja, es war deine spätere Grandma. Aber so schnell schießen die Preußen nicht. Robert war fasziniert von diesem Mädchen. Sie hingegen war fasziniert von den Leichtathleten und beachtete ihn natürlich nicht.“
„Grandma Rosie war immer von allem sehr begeistert“, bestätigte Lisa. „Wenn sie mir als Kind Manhattan zeigte oder den Atlantik bei Cape Cod …“
„Aber wir waren ja damals in Berlin“, rügte Tim. „Und da kam der Endlauf der Frauen über viermal hundert Meter. Die deutschen Läuferinnen zählten zu den Favoritinnen. Sie lagen auch in Führung. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen auf und schrien. Aber Robert hatte nur Augen für das blonde stupsnasige Mädchen. Das schrie mit. Aber plötzlich … Plötzlich ein gellender Schrei aus hunderttausend Kehlen. Robert wusste nicht, was los war. ‚Hast du das gesehen?‘, rief seine Mutter erregt. ‚Hast du das gesehen?‘ Er hatte es nicht gesehen. Die Mutter erklärte es ihm hastig. Die deutschen Frauen, in Führung, hatten beim Wechsel den Staffelstab fallen lassen. Verstehst du das?“
„Ja, das ist eine Katastrophe.“
„Und das Mädchen schrie entsetzt mit allen. Nur Robert hatte es nicht gesehen. Wahrscheinlich als einziger. Später, später wurde die Szene im Kino gezeigt, in der Wochenschau. Bis heute sieht man es immer wieder mal im Fernsehen.“
„Das war bestimmt sehr beschissen“, sagte Lisa.
„Woher hast du dieses Wort?“, fragte Tim.
„Im Zweifel von Grandma. Ist es ein beschissenes Wort?“
Tim fuhr fort: „Auch den Führer kann man noch im Film sehen, wie er ärgerlich mit dem Fuß aufstampft. Ungefähr so …“. Tim versuchte es vorzumachen: Er stampfte mit einem Fuß auf, wobei er sich etwas um seine Achse drehte, und hieb mit der Faust ein Loch in die Luft.
„Man darf hier aber nicht den Führer nachmachen.“
„Und dann“, sagte Tim, „begann die Geschichte von Robert und Rosie.“
„Die musst du mir morgen weiter erzählen“, sagte Lisa und gähnte beinahe demonstrativ. „Ich bin jetzt todmüde vom Flug und habe einen Jetlag. Ich muss ins Hotel und in mein Bett.“
Das mochte Tim leiden: Wenn er eine große Geschichte zum Besten gab und gleich am ersten entscheidenden Punkt anlangte und man ihn mit Banalitäten unterbrach: Muss ins Bett!
„Wenn man über den großen Teich geflogen ist“, erklärte er ungehalten, „muss man sich der neuen Uhrzeit anpassen. Dem Rhythmus. Du hättest um vierundzwanzig Uhr ins Bett gehen sollen. Berliner Zeit.“
„Ich weiß“, antwortete sie und erhob sich.
Auf der Fahrt fragte sie nicht mehr nach Grandma und ihrer Geschichte, auch nicht nach anderem. Sie umkurvten den Theodor-Heuss-Platz, und Lisa zuckte zusammen, als sie von einem wilden BMW-Fahrer geschnitten wurden und gleich danach von einem Mercedes.
„Good god!“, rief sie. „All of them Michael Schumachers!“
„Ja, so fahren wir Deutschen“, entgegnete Tim nicht ohne Stolz.
Die vielspurige Bismarckstraße hinab bis zum Ernst-Reuter-Platz. Lisa kannte Ernst Reuter nicht. Schaut auf diese Stadt! Nie gehört. Amerikanerin eben. Das Charlottenburger Tor, die Straße des 17. Juni. Nein, das war nicht die Revolution von 1989, sondern der Aufstand von 1953. Neuere Geschichte! Die Siegessäule gefiel ihr, sie habe etwas von Walt Disney World. Dann vor ihnen das Brandenburger Tor. Endlich ein von tausend Fotos vertrauter Anblick! „Ich dachte, es wäre größer“, sagte sie.
Tim zeigte ihr gleich daneben am Pariser Platz die amerikanische Botschaft, die sie erstaunlicherweise wunderschön fand.
Er setzte sie am Westin Grand Hotel ab, Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße. Nobel!, dachte er. Warum nicht gleich ins Adlon? Er fragte sich, woher Lisa das Geld hatte. Das musste er noch herausbekommen. Nur so, aus Neugier. Er kannte sie ja erst seit wenigen Stunden.
2
Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Westin Grand Hotel war Tim viel zu früh, was er sich schwer erklären konnte, da er sonst immer und überall auf den letzten Drücker kam. Er beschloss einen kurzen Abstecher in seine Redaktion. Er nahm sich fest vor, nur kurz nach seiner Post und flüchtig über die E-Mails zu schauen und gleich wieder zu verschwinden.
Ältere Kollegen hatten ihm stets eingebläut, es komme überhaupt nicht darauf an, ständig Nase zu zeigen und Bereitschaft zu demonstrieren; stattdessen müsse man den Riecher dafür entwickeln, wann man unabkömmlich sei oder in eine Bresche springen könne. Aber Tim war noch nicht so weit.
„Hallo, Tim“, rief Wuttke, sein Redaktionsleiter, mit zwei Telefonen Hektik demonstrierend wie in einer Karikatur. „Gut, dass du da bist.“
Patsch!, dachte Tim, jetzt haben sie mich erwischt.
„Du hast doch einen Draht zu Hertha BSC", sprudelte Wuttke. „Da soll mal wieder die Kacke am Dampfen sein. Na ja, der Tabellenplatz nach den teuren Einkäufen … Kannst du dich gleich mal drum kümmern?“
„Hat das ein bisschen Zeit?“, fragte Tim mit schlechtem Gewissen. „Ich habe Besuch aus den USA. Außerdem dampft es bei Hertha immer.“
„Du musst es ja wissen“, antwortete Wuttke leicht pikiert.
„Außerdem haben wir eine Beerdigung“, log Tim.
„Beerdigung, Beerdigung!“, äffte der Sportchef. „Das ist der Schnee von gestern. Tot ist tot, aber news is news.“
„Aber …“, setzte Tim an und verwünschte seinen blinden Eifer.
„Wer hat denn den Löffel weggelegt?“, fragte Wuttke.
„Das ist schwer zu erklären. Eine alte Freundin meines Opas.“
„Also, das kannst du mir nun wirklich nicht erzählen!“
„Doch. Ich hatte extra frei genommen. Ihre Enkelin aus Amerika ist gekommen, um die muss ich mich kümmern.“
„Wie alt?“
„Die Enkelin? So alt wie ich.“
„Na dann.“ Wuttke klopfte ihm mäßig verständnisvoll auf die Schulter. „Aber merk dir für alle Zukunft: Lass dich nie in der Redaktion blicken, wenn du was Wichtiges vorhast.“
Tim bedankte sich für den kollegialen Rat und hatte das Gefühl, dass der heutige Tag seiner Karriere nicht übermäßig förderlich sei. Andererseits wollte er ohnehin raus aus der Sportredaktion und hinein in die Politik.
Tim kam dann doch etwas zu spät ins Westin Grand. Er rief mit schlechtem Gewissen von der Rezeption aus an, aber er weckte Lisa aus tiefem Schlaf. Sie war etwas maulig, aber versprach sich zu beeilen. Was immer dieses Versprechen zu bedeuten hatte.
Tim setzte sich an die Bar und bestellte einen Orangensaft – er lebte nach dem Prinzip: vor achtzehn Uhr keinen Alkohol, nach achtzehn Uhr kein Wasser. Noch mal kam ihm die Frage, warum Lisa nicht, wie jeder vernünftige Mensch, um elf Uhr abends ins Bett gehen und um sieben Uhr morgens aufstehen konnte. Aber das würde er ihr in ihren paar Berliner Tagen nicht beibringen. Das war der Job ihres Freundes zu Hause in Amerika. Falls sie dort einen hatte.
Am frühen Vormittag spielte in der Lobby bereits ein Pianist am Blüthner-Flügel und intonierte gerade den Frank-Sinatra-Titel The Lady Is A Tramp. Irgendwie, dachte Tim, passte das ja zu Lisa. Er spendierte dem Pianisten einen Drink, ebenfalls alkoholfrei, und durfte sich einen Titel wünschen. Er wählte Über sieben Brücken musst du geh’n … Man war ja im Osten, auch wenn es die Trennung in Ost und West nicht mehr gab.
Tim ließ den Blick schweifen. Dieses damalige DDR-Devisenhotel hatte bei seiner Eröffnung das Flair des Vergangenen ausgestrahlt. Unwillkürlich stellte man sich bildlich vor, wie der betagte Honecker mit den Architekten über den Plänen brütete, hier noch einen Schnörkel, dort noch einen Staubfänger vorschlug. Aber das höchst luxuriöse Haus war bei seinen West-Gästen immer beliebt gewesen wegen Lage und Komfort. Ob man Lisa alle diese Geschichten erzählen musste? Sie studierte immerhin Neuere Geschichte, und in Berlin begegnete man dieser auf fast jedem Schritt und Tritt.
Eine knappe Stunde war vergangen, da kam Lisa die Treppe hinabgeschwebt. Sie trug ein geblümtes, weit schwingendes Sommerkleid und weiße Pumps. Ein wenig altmodisch. Sechzigerjahre. So hatte sich Tim eine junge Frau aus der Oberschicht einer amerikanischen Oststaaten-Kleinstadt immer vorgestellt.
„Sorry“, lächelte sie.
Tim versuchte zurückzulächeln: „Was wollen wir machen?“
„Oh, ich denke, du kennst dich aus in Berlin?“
Tim schlug vor, einen ersten Bummel durch Berlin-Mitte zu machen, das alte Herz der Hauptstadt, wie er etwas pathetisch formulierte. Später konnte man bei Borchardt essen: „Das ist ein hauptstädtisches In-Lokal, da kannst du, wenn du Glück hast, unsere Spitzenpolitiker sehen.“
„Und was ist“, fragte Lisa, „wenn ich die gar nicht kenne?“
„Dann erkläre ich sie dir.“
„Ich wollte beim Essen nie George Double-U sehen.“
Tim entschied, zuerst Richtung Brandenburger Tor zu gehen. Die geballte Ladung deutscher und europäischer, sogar weltgeschichtlicher Schauplätze auf ein paar Quadratmeilen. Wenn das eine historisch gebildete Ausländerin nicht beeindrucken würde!
„Wie findest du mein Kleid?“, fragte Lisa.
„Oh, dein Kleid“, erwiderte er überrascht. „Sehr schön. Sehr amerikanisch. Trägt man wohl drüben?“
„Also, es gefällt dir“, stellte sie erfreut fest. „Und wie ging es weiter?“
„Womit?“, fragte er verdutzt.
„Na, mit Opa Robert und Grandma Rosie. Im Olympiastadion.“
„Oh, Gott! Du bist aber wirklich sehr anstrengend.“
Hier im Gewimmel Unter den Linden die Geschichte weitererzählen? Robert und Rosie, das war doch etwas Spannendes. Auch etwas Anrührendes. Eine Liebesromanze! Fast wie Romeo und Julia. Das konnte man nicht einfach abspulen, während man auf dem Boulevard den Touristenströmen auswich und achtgab, dass die Fußgängerampel grün zeigte. Tim schlug vor, irgendwo einzukehren. Dort drüben ins Café Einstein. Aber bitte drinnen. Obwohl es heute sommerlich samtweich war und durch die Abgase hindurch nach Blüten duftete. Er bestellte Cappuccino für sich und Orangensaft für Lisa.
„Also, wie gesagt“, fuhr er fort, als die Getränke gekommen waren, „die deutschen Frauen hatten ihr Staffelholz fallen lassen. Die Hunderttausend plus ein Führer waren konsterniert. Entsetzt. Das Blut stockte ihnen förmlich in den Adern. Und der kleine Robert, mein Opa, starrte auf die kleine Rosie, deine Grandma. Aber auch sie raufte sich verzweifelt die Haare und nahm natürlich keine Notiz von Robert.“
„Als ich zwölf war“, warf Lisa ein, „hätte ich das auch nicht bemerkt. Jungen glauben aus irgend einem Grund immer, sie seien für Mädchen interessant.“
„Jungen werden eines Tages Männer, und wenn ihr Frauen nicht irgendwann anfangt, euch für sie zu interessieren, stirbt die menschliche Rasse aus. Okay? Robert und seine Eltern waren jeden Tag im Olympiastadion. Obwohl sein Vater wenig und seine Mutter nichts übrig hatten für Sport. Sie gingen lieber ins Theater oder ins Konzert. Sogar ins Kabarett, solange es so was noch gab im Dritten Reich. Sie hatten auch nicht viel übrig für diesen ganzen Nationalsozialismus, der hier Triumphe feiern wollte.“
„Oh!“, rief Lisa, „das sagten hinterher alle.“
„Aber bei manchen stimmte es. Das ist ein Thema für sich. Und für einen langen Abend. Jedenfalls, dieser riesigen kollektiven Hysterie im Stadion und in der ganzen Stadt, im ganzen Reich sogar, konnten auch sie sich nicht ganz entziehen. Und wenn die Hakenkreuzfahne am Mast emporgezogen wurde und hunderttausend Kehlen Deutschland, Deutschland über alles schmetterten, dann bekamen sie feuchte Augen und sangen mit. Auch Robert.“
„Du musst mir versprechen, dass wir über dieses Thema ausführlich diskutieren. Es ist wichtig für meinen Kopf.“
Tim nickte und fuhr fort: „Die Wettkämpfe jenes besagten und für die Deutschen so unglücklichen Tages waren irgendwann zu Ende, und die Zuschauer brachen auf. Robert und seine Eltern wohnten nicht weit vom Olympiastadion. In Neu-Westend. Sie kamen zu Fuß zum Stadion. Robert wollte nicht mit nach Hause. ‚Ich will noch ein bisschen bummeln‘, sagte er, ‚noch ein bisschen die Begeisterung erleben in der Stadt.‘ Sein Vater war einverstanden. Nur zum Abendessen sollte Robert zu Hause sein. ‚Verlauf dich nicht!‘, rief ihm seine Mutter nach. Und: ‚Hast du Geld einstecken?‘ Aber das hörte er schon nicht mehr.“
„Sag mal“, fragte Lisa, „können wir nicht draußen in der Sonne sitzen?“
„Ich finde nicht“, gab Tim etwas schroff zurück.
„Why not?“
„Es ist eine wichtige Geschichte, die ich dir zu erzählen habe. Auch für dich.“
„Oh, dear!“, lachte sie. „Von einem unserer former Presidents, es war Mr. Ford, sagte man, er konnte nicht zwei Dinge gleichzeitig tun: Gehen und Kaugummi kauen. Ich kann vier Dinge zur gleichen Zeit: Fragen, Zuhören, Verstehen, Antworten. Und fünftens die Menschen auf eurem Kudamm beobachten.“
Aber sie beharrte nicht auf ihrem Wunsch, und Tim dachte, mit dieser Frau werde er noch manche Meinungsverschiedenheit austragen, solange sie in Berlin war.
„Also Robert. Er heftete sich an die Fersen der Familie mit dem Pony-Mädchen. Er hatte größte Mühe, sie im Gedränge der Aufbrechenden nicht aus den Augen zu verlieren. Er fürchtete, sie würden eine Kraftdroschke nehmen.“
„Eine was?“
„Ein Taxi. A cab. Oder gar ein eigenes Auto. Obwohl er dann anhand des Nummernschildes die Familie hätte ausfindig machen können. Aber sie liefen mit den Tausenden zum U-Bahnhof. Robert hätte jetzt eine Fahrkarte lösen müssen. Aber er stellte erschrocken fest, dass er kein Geld einstecken hatte. Außerdem hätte er, während er am Schalter wartete, sein Mädchen aus den Augen verloren. Er raffte seinen Mut zusammen und drängte sich hinter einem stämmigen Mann durch die Sperre. Der Mann am Schalter rief ihm etwas hinterher, aber Robert stürmte weiter und hatte nur im Sinn, die Fährte nicht zu verlieren. Mit knapper Not schlüpfte er im Gedränge in denselben Waggon wie die Familie. Uff!, dachte er, geschafft! Während der Fahrt versuchte er unablässig den Blick des Mädchens aufzufangen, und einmal hatte er das Gefühl, sie habe ihm zugelächelt. Ihm schoss das Blut in die Wangen und bis in die Spitzen der Ohren.“
Lisa lächelte: „Jungen sind überall auf der Welt gleich.“
„Ich weiß. Sonst wären die Mädchen völlig verwirrt. Robert kannte die Liebe ja noch nicht. Beziehungsweise nur aus jugendfreien UFA-Filmen. Wenn das Mädchen am Schluss in Großaufnahme mit feuchten Augen in die Kamera lächelte, dann war der Hase gelaufen.“
„Wer, bitte?“
„Der Blitz. Eingeschlagen. Darf ich weiter erzählen? Zum Glück für Robert mussten sie nicht umsteigen. Sie fuhren mit der U-Bahn-Linie Nummer zwei bis nach Pankow. Pankow! Den Namen hatte Robert schon mal gehört. Mehr nicht. Sein Vater hatte ihm versichert, Pankow sei keine Gegend, in der man schon mal gewesen sein musste. Robert hatte das nicht verstanden. Waren die Menschen nicht überall gleich? Und gleich wertvoll? Doch in Pankow gewesen war er sein Lebtag noch nicht. Groß-Berlin war wirklich ziemlich groß!“
„Warst du schon mal in New York?“, fragte Lisa.
„Nein. Mir geht es wie Udo Jürgens. Und jetzt sind wir erst mal in Pankow. Robert schlich hinter der Familie her, in gebührendem Abstand, um den Eltern nicht aufzufallen. Insgeheim wartete er darauf, dass das Mädchen mit dem Pony sich umdrehte und ihm ein Zeichen gab. Aber sie tat es nicht. Beziehungsweise tat sie es erst, als ihr Vater die Haustür aufschloss, hinter der die Familie verschwand. Da geschah das Wunder von Pankow: Das Mädchen kniff ein Auge zu und lächelte.“
„Und das“, platzte Lisa dazwischen, „ist für einen kleinen Jungen der untrügliche Beweis dafür, dass das Mädchen unsterblich in ihn verliebt ist und ihn bei nächster Gelegenheit heiraten will.“
Untrüglich, unsterblich – Lisa sprach wirklich ein gutes Deutsch. Wenn er sein Englisch damit verglich …
„Weißt du“, fragte Lisa, „was Grandma Rosie mir darüber erzählt hat? Sie hat gesagt: ‚Dieser dumme kleine Kerl schlich die ganze Zeit wie ein begießter Pudel …‘„
„Begossener.“
„Das ist doch schiskojenno! ‚Er schlich pudelmäßig hinter uns her und traute sich nicht. Typisch Junge. Er ging mir auf die Nerven! Nein, er tat mir leid. Ich habe ihm zugezwinkert, damit er nicht völlig verzweifelte.‘ Das hat Grandma mir erzählt.“
Hoppla!, dachte Tim. Diese Geschichte hatte ihm Opa Robert stets anders wiedergegeben. Das fremde Mädchen, dessen Namen er bislang nicht kannte, habe ihn ganz verliebt angeschaut und mit achselzuckender Gebärde auf ihre Eltern gewiesen. Und sie habe ihm ein Zeichen gegeben, vor dem Haus zu warten.
„Wie auch immer“, sagte Tim.
„Das ist so ein deutscher Satz, wenn man nicht weiter weiß. Wir sagen dann howsoever. Das ist genauso blöd.“
„Wie auch immer. Robert stand vor dem vierstöckigen schmucklosen Haus und dachte in immer kürzeren Abständen daran, dass er zu Hause zum Abendessen erwartet wurde. Er wollte sich schon abwenden und gehen, zwang sich aber noch mal zum Bleiben. Endlich öffnete sich oben im dritten Stock verstohlen ein Fenster, und ein Zettel schwebte herab und senkte sich Robert vor die Füße. Er entfaltete ihn hastig. ‚Morgen um zwei‘, stand darauf gekritzelt. Robert schoss wieder das Blut in die Ohren. Sein erstes Rendezvous. Aber wo? Wahrscheinlich hier. Etwas genauere Angaben hätte sie ja machen können.“
Lisa gluckste: „Typisch Weiber!“
„Robert hatte zwar Ferien, aber am nächsten Tag eine Verpflichtung. Er musste wieder mit seinen Eltern ins Olympiastadion. Wie sollte er ihnen beibringen, dass er etwas Wichtigeres zu tun hatte? Diese verflixten Mädchen! – Am U-Bahnhof verwickelte Robert den Mann am Schalter in eine Diskussion. Er habe seine Geldbörse verloren. Jawohl, bei der Herfahrt in der U-Bahn. Das müsse er melden, beschied ihn der Mann. Aber es seien doch Olympische Spiele. Ganz Deutschland, nein die ganze Welt, und überhaupt und so. Außerdem sei er schon viel zu spät und kriege zu Hause eine Abreibung. Von dem blonden Mädchen erzählte er nichts. Der Mann war ein Erwachsener und hätte kein Wort davon verstanden. Robert durfte durch die Sperre, aber nur, weil es so große Tage für das Deutsche Reich waren. In der U-Bahn hatte Robert das Gefühl, alle Fahrgäste schauten ihn anerkennend und aufmunternd an. Sein erstes Rendezvous! Er kam viel zu spät zum Abendbrot, aber das befürchtete Donnerwetter blieb aus. Seine Eltern diskutierten gerade darüber, ob die Erfolge der deutschen Athleten dem Führer zugute gehalten würden. Die Mutter befürchtete es, wohingegen der Vater der Ansicht war, die Deutschen könnten ja nicht alle blinden Glaubens sein. Robert hatte im Augenblick keine Meinung dazu und auch nicht zu anderen Fragen. Er strahlte. ‚Was ist mit dir?‘, fragte seine Mutter, ‚du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd.‘ – ‚Na ja, die ganzen Medaillen und so‘, antwortete Robert ernsthaft. Dann haute er beim Abendbrot tüchtig rein.“
„Was, bitte, ist ein Honigkuchenpferd?“, fragte Lisa.
„Das sagt man eben so.“
„Aber wenn man es so sagt, muss es doch auch etwas sein.“
„Ein besonders glücklicher Mensch.“
„Also kein Pferd.“
Tim stöhnte: „Das ist doch im Zusammenhang der Geschichte völlig gleichgültig.“
„Ich muss mein Deutsch vervollkommnen“, sagte sie.