Cover.jpg

Bildnachweis

Siehe Angaben neben dem Foto.

In allen anderen Fällen: © TNBR unstoppable GmbH Archiv

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: © Christian Anderl

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7844-8217-0

Inhalt

Ein Brief an Conchita von Jean Paul Gaultier

PROLOG

Die Grüne Höhle

Paradies mit Rissen

Mit Nadel und Faden

Outing

Der Gang nach Canossa

Starmania

Auf die Bühne!

¡Guapa, Conchita, guapa!

Der Brief

The world is your oyster

Im Land der Himba

Tour de Force

Die Nummer 11

Rise Like a Phoenix

Die Tage danach

Paris, o la la

Auf nach Cannes

KL & CR

Mein Leben als Nomade

Jean Paul und Sisi

Mehr »wir« als »ich«

Machen macht den Unterschied

Girls just want to have fun – and boys as well

Nach Hause

Kinder? Kinder!

Pierre und Gilles

Crazy Horse

Heroes

Kanzler, Präsidenten, Generalsekretäre

Conchita goes banking

Das eine tun, das andere nicht lassen

EPILOG

Bildteil

Ein Brief an Conchita von Jean Paul Gaultier

Paris, December 12th 2014

Dear Conchita,

The first time I saw you was on the internet when you were in the selection to be the Austrian representative for the Eurovision Song Contest. It was like a jolt, like a shock to me and also a revelation. The look, the voice … I was seduced and wanted to get to know you immediately. I invited you to come to Paris to see my show and when I met you and talked to you I became your unconditional fan. It was a coup de foudre. And I also discovered that your name has a double, even triple meaning.

Two years later you sang for Austria and the rest is history. I voted for you 73 times! Your victory was not only a victory for a song, a singer, an incredible voice and a fantastic interpretation, but also a victory for the values in which I believe in and for which I fought throughout my career: tolerance and humanity. This was a victory for all those who are different and who feel different, as well a message of encouragement to them to express their difference, to manifest it and to live it. You are a unique human being, positive and generous, smart and straightforward.

Like Madonna who is a real macho in a woman’s body, you are a Wonder Woman in a man’s body. You erase boundaries between masculine and feminine like no one did before. You succeeded, coming from the avant-garde and the underground, to become a popular icon, and a fashion icon forever. I look up to you for how you break the fashion codes like I did throughout my career: the male and female duality, male object and strong woman.

Conchita, you are a true inspiration and I am proud to know you and to be your friend.

Jean Paul Gaultier

Paris, 12. Dezember 2014

Liebe Conchita,

zum ersten Mal sah ich dich im Internet, da warst du in der Vorauswahl, um Österreich beim Eurovision Song Contest zu vertreten. Es traf mich wie ein Schlag, ein Schock, gleichzeitig war es eine Offenbarung. Dein Aussehen, deine Stimme … ich war bezaubert und wollte dich auf der Stelle kennenlernen. Also lud ich dich nach Paris zu meiner Show ein, und als ich dich endlich traf und wir miteinander sprachen – von diesem Moment an hattest du in mir einen bedingungslosen Fan. Es war Liebe auf den ersten Blick. Und ich entdeckte, dass dein Name eine doppelte, ja sogar eine dreifache Bedeutung hat.

Zwei Jahre später hast du für Österreich gesungen, der Rest ist Geschichte. Ich habe 73 Mal für dich abgestimmt! Dein Sieg war nicht nur ein Sieg für ein Lied, eine Sängerin, eine unglaubliche Stimme und eine großartige Darbietung. Es war ein Sieg für die Werte, an die ich glaube und für die ich meine ganze Karriere hindurch gekämpft habe: Toleranz und Menschlichkeit. Es war ein Sieg für alle die, die anders sind und anders fühlen, und es war eine Botschaft, dieses Anderssein in die Welt hinauszutragen, es zu leben, es zu sein. Du bist ein einzigartiger Mensch, positiv und großzügig, intelligent und geradlinig.

Madonna hat den Körper einer Frau und den Geist eines Machos, du hast den Körper eines Mannes und den Geist von Wonder Woman. Du löst die Grenzen auf zwischen männlich und weiblich wie niemand zuvor. Das Erbe der Avantgarde und der Subkultur in dir tragend, ist es dir gelungen, eine Ikone für viele zu werden – und dazu eine Mode-Ikone für die Ewigkeit. Ich bewundere dich dafür, wie du die Regeln der Mode brichst, so wie ich es in meinem Beruf immer getan habe: du zeigst uns die männlich-weibliche Dualität, den Mann als Objekt und die Stärke der Frau.

Conchita, du bist eine wahre Inspiration, und ich bin stolz, dich zu kennen und dein Freund zu sein.

Jean Paul Gaultier

Prolog

In der Nacht vor dem Finale des Eurovision Song Contest stand ich vor dem Spiegel meines Hotelzimmers. Zum ersten Mal seit vielen Stunden war ich allein mit mir – und war es doch nicht. Halb abgeschminkt für eine kurze Nachtruhe sah ich dem Gestaltenwandler entgegen, der mir so vertraut ist. Ein Mensch, der bei vielen Freude am Leben, Toleranz und Liebe auslöst, bei anderen dagegen Hass, Zorn und die Angst vor der wichtigsten Frage überhaupt: Wer bin ich? In dieser Nacht stellte ich sie mir selbst: »Wer bin ich?«, wenn ich morgen auf die Bühne trete, sich die Augen der Welt auf mich richten, für die Dauer eines Liedes? Drei Minuten, die zur Ewigkeit werden können, falls eintritt, was keiner von uns erwartet und ich gewinne.

»Dann haben wir ein Problem, du und ich«, sagte ich zum Zwitterwesen im Spiegel. »Wenn das geschieht, müssen wir etwas Kluges sagen.«

Conchita lächelte mir entgegen. Oder war es Tom Neuwirth, der aus der tiefsten Provinz stammt, weit weg vom Rampenlicht? Aus einer Gegend, wohin Menschen in Urlaub fahren, weil dort die Welt, wie sie sagen, noch in Ordnung ist. Wenn das zutrifft, warum gab es dann Conchita?

Ich griff zu einem Wattebausch, um mich weiter abzuschminken. Mit jedem Strich wich Conchita zurück, um Platz zu machen für Tom. Das Lied, das ich morgen singen würde, war in meinem Kopf. Es erzählt vom einem Tausende Jahre alten Mythos, inspiriert vom sagenumwobenen Vogel Phönix, der am Ende seines Lebens verbrennt, um aus der eigenen Asche neu zu entstehen. Weil er ein Abbild des ewigen Lebens ist, nannten die Ägypter ihren göttlichen Vogel Benu, einen Vorläufer des Phönix, »wiedergeborener Sohn«. Den sehe ich im Spiegel, wenn mich Conchita beim Abschminken verlässt: die Wiedergeburt von Tom, dem Jungen aus der Provinz. Da ist die Perücke längst abgelegt, das Kleid hängt am Ständer, noch ein paar Striche mit dem Wattebausch, und Conchita wird verschwunden sein.

»Wir müssen etwas Kluges sagen«, wiederholte ich.

Vielleicht war mir Lidschatten ins Auge geraten oder etwas von der Wimperntusche, die Conchita so liebt, jedenfalls liefen mir Tränen herab, und in ihnen wurde Tom zum Jungen. In kurzen Hosen, heruntergerollten Strümpfen, mit einem T-Shirt am mageren Körper. Es roch nach würzigen Kiefern, nach dem Wasser eines schmalen Baches. Da sprang der kleine Tom darüber und rannte weiter, so schnell ihn seine Beine trugen, und mit ihm rannte das Glück, das nur kennt, wer einen dieser Sommer auf dem Land verbringen darf, der in der Vorstellung eines Jungen immer unendlich ist.

»Warum sich etwas ausdenken?«, hörte ich die Stimme von Conchita. »Erzähl den Leuten deine Geschichte. Es gibt nichts Kluges zu sagen, außer man erlebt es.«

Weil sie so oft recht hat, machte ich mir eine Notiz. Sollte ich gewinnen, würde ich meine Geschichte erzählen. Aber nur dann.

Die Grüne Höhle

I want to make magic, I want to electrify the place

Aus dem Musical »Fame«

Mein Leben ist ein Musical, sage ich oft. Nicht nur, weil es begann, wo Musicals gerne beginnen, nämlich in der Provinz. Es ist ein Musical, weil Musik und Gesang darin eine große Rolle spielen, weil Drama vorkommt und Komödie, weil ich das Varieté liebe und die Kostümierung und natürlich all die Geschichten, von denen ich nie genug bekommen kann. So gesehen, ist bereits eine meiner ersten Erinnerungen wie aus einem Musical entsprungen: Ich war vier Jahre alt, und wir lebten in Ebensee. Das ist ein romantisches Städtchen am Südufer des Traunsees, mitten im Salzkammergut. Schiffe fahren übers Wasser, eine Seilbahn führt hoch zum Feuerkogel, es gibt den Rindbach-Wasserfall, der im Frühling zum tosenden Schwall wird, und die Tropfsteinhöhle im Gassenkogel, deren Eingang tausend Meter überm See liegt. Und es gab eine zweite Höhle. Die befand sich in unserem Haus, einer verwunschenen Villa, groß wie ein Märchenschloss. In der wahren Welt war es eine Jugendherberge, von meinen Eltern geleitet, mit einem Aufenthaltsraum, der vom Boden bis zur Decke mit waldgrünem Plüsch tapeziert war. Das Ganze wirkte wie eine moosbewachsene Höhle, in der die Schülergruppen, die unser Haus bevölkerten, ihre Partys feierten. War niemand da, gehörte die Höhle mir. Dann war sie mir Spielzimmer und Traumplatz in einem; ein Ort, der von Riesen und Zwergen bevölkert wurde, von Feen und Elfen. Dort spürte ich, dass es ein Leben außerhalb dieser Realität gab, von der die Erwachsenen so gerne sprachen. Hier entstanden im Handumdrehen fantastische Welten, die nur durch die Augen eines Kindes zu sehen sind. Als ich Jahre später nach unserem Umzug auf einen Besuch zurückkehrte, war die Höhle verschwunden. Jemand hatte den Plüsch von den Wänden gerissen und sich mit Pinsel und Farbe ans Werk gemacht. Nun war ein Raum entstanden, an dem es für die meisten nichts auszusetzen gab, doch war alle Schöpferkraft weg und mit ihr die Möglichkeit, in andere Welten zu reisen. Das passiert uns oft: Wir sanieren etwas tot und wundern uns, warum die Ideen mit auf der Strecke bleiben. An denen hatte es mir in der Grünen Höhle nie gemangelt. Kein Wunder, war mir der Abschied schwergefallen. Doch mein Vater hatte sich mit einer Gaststätte selbstständig gemacht, daher hatten wir Ebensee verlassen. Damals konnte ich nicht ahnen, dass in meiner neuen Heimat eine weitere Fantasiehöhle auf mich warten würde, die ebenfalls in Grün erstrahlte, dieser Farbe der Hoffnung und der Unsterblichkeit. So etwas kommt normalerweise nur in Musicals vor – oder in meinem Leben.

Paradies mit Rissen

Hiding away, there’s a little bit of gypsy in me

Aus dem Musical »Anything Goes«

Wir zogen von einem Paradies ins andere: Bad Mitterndorf, unsere neue Heimat, liegt wie Ebensee mitten im Salzkammergut, umgeben von Bergen, Wiesen und Wäldern. Wieder war Wasser nicht fern, mit dem Salza-Stausee und den Heilbrunner Thermalquellen, in denen schon die Römer badeten. Im Winter kamen Gäste aus aller Welt zum Skifahren auf die Tauplitzalm, und waren ein paar Mutige unter ihnen, gingen sie hinüber auf den Kulm, zur größten Naturschanze der Welt, wo Sprungweiten über 200 Meter keine Seltenheit sind. Meine Kindheit verbrachte ich mit meinem eineinhalb Jahre älteren Bruder Andi und unseren Freunden draußen an der frischen Luft. Kamen wir außer Atem, hungrig und durstig nach Hause, durften wir uns eine Mahlzeit von der Speisekarte auswählen. Damals verstand ich nicht, weshalb die Spielkameraden neidisch schauten, denn für uns war das eine Selbstverständlichkeit. Denke ich an die Zeit zurück, kommt sie mir vor wie ein langer Kindertraum. Zwar meinte meine Mutter kürzlich, wie leid es ihr tue, dass sie und mein Vater so wenig Zeit für uns hatten. Sie waren dabei, das Gasthaus auf Vordermann zu bringen und ihr Geschäft aufzubauen. Doch konnte ich sie beruhigen, denn ich hatte das ganz anders empfunden: Wann immer wir unsere Eltern brauchten, waren sie für uns da. Das änderte sich auch nicht, als die Zeiten in Bad Mitterndorf für mich ungemütlicher wurden und das Paradies Risse bekam.

Alles begann mit der Pubertät. Auf einmal trat eine Unsicherheit in mein Leben, die ich vorher nicht kannte. Ich vermag heute nicht mehr zu sagen, wer als Erster bemerkte, dass ich mich von meinen Mitschülern unterschied: ich selbst oder sie. Jugendliche besitzen einen siebten Sinn fürs »Anders sein«, und in einer Zeit, in der alle noch gleich sein wollen, ist das ein Schimpfwort. Von denen bekam ich immer mehr zu hören, denn irgendwann waren viele der Jungs zur Überzeugung gelangt, dass mit dem Tom etwas nicht stimmte. Was das war, blieb im Unklaren, trotzdem gab es ein Wort dafür: »schwul«. Dieses Wort fiel in allen denkbaren Variationen, wobei keiner der Schreihälse wusste, was es bedeutete. Das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich gibt es selbst heute nur Vermutungen darüber, wann und warum dieser Begriff mit homosexuell gleichgesetzt wurde. Ich habe mich der Sache mal angenommen: Vermutlich entstammt der Ausdruck dem Rotwelsch, einem ab dem Mittelalter verbreiteten Dialekt fahrender Händler, Handwerker auf der Walz, Kesselflicker und Krämer. Und homosexuell? Ein Wort, das der österreichisch-ungarische Schriftsteller Karl Maria Benkert schon 1869 geprägt hat, als er das griechische homós mit dem lateinischen sexus zusammenführte. Frei übersetzt bedeutet es gleichgeschlechtlich, was einiges erklärt und vieles nicht. Für die Jungs meiner Schule war das alles auch gar nicht wichtig: Es ging ihnen darum, mit dem Finger auf den Schwulen zu zeigen. Wie ich heute weiß, geschieht dies oft aus der großen Angst heraus, selbst einer zu sein.

Die Verwirrungen von uns Menschen entstehen durch Verbote, die wir nicht verstehen. Homosexualität war in unseren Kulturkreisen seit frühchristlichen Zeiten verboten. Was zu Verfolgungen und Hinrichtungen führte bis zum Wahnsinn der Nationalsozialisten, für die jeder Schwule ins KZ gehörte. Mehr als 120 Jahre lang bestimmte der Paragraf 175 ganz selbstverständlich die deutsche Rechtsprechung und bestrafte homosexuelle Handlungen unter Männern mit Gefängnis. Von diesen Dingen wusste ich damals nichts. Dafür fühlte ich tief in meinem Herzen, dass schwul sein weder schmutzig noch falsch sein konnte. Wenn ich heute für Toleranz und Liebe eintrete, sage ich kaum anderes, als ich damals schon empfand: Wir sind Menschen verschiedenster Nationen, Kulturen, Hautfarben und Ausprägungen – und wir sind immer richtig. Während meiner Schulzeit in Bad Mitterndorf lernte ich, was geschieht, wenn wir diese Toleranz aus dem Leben verbannen. Es waren oft die kleinen Gemeinheiten, das Tuscheln hinter dem Rücken, die Schimpfworte, die mir nachgerufen wurden. Diese Erlebnisse haben mich geprägt, aber nicht verbittert. Das kann auch anders ausgehen: Über Muhammad Ali, den vielleicht besten Schwergewichtsboxer aller Zeiten, »Sportler des Jahrhunderts«, Träger der Presidential Medal of Freedom und der Otto-Hahn-Friedensmedaille »für herausragende Verdienste um Frieden und Völkerverständigung«, erzählt man sich eine Geschichte, die mir immer wieder vor Augen führt, wozu einen Enttäuschungen bringen können. Als der 18-jährige Ali bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom die Goldmedaille gewann, kehrte er mit dem Gefühl, »das habe ich für mein Land getan«, in seine Heimatstadt Louisville zurück. Dort herrschte Diskriminierung und Rassentrennung, und als Ali eine Milchbar betrat, wurde er unter dem Beifall der Gäste rausgeschmissen. Danach war ihm klar, was seine Leistung in den Augen der Weißen wert war: nichts. Frustriert nahm er seine Goldmedaille, warf sie in den Ohio River und weigerte sich, für Amerika in Vietnam zu kämpfen. Jahrzehntelang wurde er dafür befeindet. Als mir 2014 die Ehrenbürgerschaft von Bad Mitterndorf angetragen wurde, konnte ich sie annehmen, weil ich nicht verbittert war. Ich spürte, dass in den Herzen derjenigen, die mit dem Finger auf mich gezeigt hatten, etwas erblüht war: die Einsicht, dass anders sein kein Makel ist.

Niemand von uns kann in die Zukunft schauen, und wahrscheinlich ist das gut so. Vielleicht würden wir aufgeben, könnten wir die Prüfungen sehen, die das Leben für uns bereithält. Jeden Morgen, wenn ich an die Schule dachte, wollte sich mir der Magen umdrehen. War ich im Klassenzimmer, konnte ich es kaum erwarten, bis der Gong ertönte. Ich war ständig unter Stress, fühlte mich spöttischen Blicken meiner Klassenkameraden ausgesetzt und ihren Schimpfkanonaden. Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen, denn die Kräfteverhältnisse standen klar zu ihren Gunsten. Sie waren viele, ich war allein. Was den realen Gegebenheiten nicht ganz entsprach, wie ich später feststellte: Da hatte ich genügend Geschichten um gestandene Väter gehört, die ihre Familie verließen, um endlich so zu leben, wie es ihrem Naturell entsprach. Damals in der Schulzeit schien es nur Spötter und Schwulenhasser zu geben. Trotzdem ging es mir im Vergleich mit anderen gut. Ich wurde nie verprügelt, was einem in der Jugendzeit auch aus anderen Gründen passieren kann. Florian, mein damals bester Freund, traf den Nagel auf den Kopf: »Man muss nicht schwul sein, um eine schwierige Schulzeit zu haben«, sagte er. »Eine Brille und eine Zahnspange können reichen.«

Trotzdem fühlte ich mich allein in den Pausen, wenn alle Jungs aufs Klo rannten, um mich dort abzupassen. Sieht er anders aus, der Schwule? Rücken wir ihm mal ein bisschen auf die Pelle! Am Ende ging ich nur noch während der Schulstunden zur Toilette, was mich bei Lehrern nicht unbedingt beliebt machte, die auch wenig dazu beitrugen, mich etwas aus der Schusslinie zu nehmen. Es gab immer eine Gelegenheit, mich anzustarren und nachzuäffen. Selbst die jährliche Feuerwehrübung konnte dazu dienen. Begann die Sirene auf dem Schuldach zu toben, mussten wir klassenweise das Gebäude verlassen, um uns draußen in Reih und Glied aufzustellen. Was gab es jedes Mal für ein Geschubse und Gedränge um mich, den Anderen, den Schwulen. Nach und nach schaffte ich mir geschützte Bereiche und baute einen Kordon um mich auf, bei dem mir die Mädchen halfen. Meine Beziehung zu ihnen lässt sich in einem simplen Satz festhalten: Ich liebte sie, sie liebten mich. Viele Jungs in der Schule beneideten mich darum, wie locker ich mit den Mädchen umgehen konnte. »Warum ausgerechnet der?«, fragten sie sich, dabei lag die Antwort auf der Hand: Ich nahm die Mädchen ernst und sie mich ebenfalls. Immer mehr zeichnete sich dabei eine tiefe Freundschaft mit Kristin ab, die bis heute anhält. Kristin und ich sangen zusammen, waren als Duo unschlagbar. Bei allen Arten von Schulfesten, Zeugnistagen und bunten Programmen traten wir auf. Da war ich ein gerne gesehener Organisator, Regisseur und Darsteller. Niemand musste mich zweimal bitten, eine Nummer aufzuführen oder ein Lied zu singen. Zumal ich eine Leidenschaft, die sich zu dieser Zeit bereits entwickelte, gut einsetzen konnte. Ich liebte Stoffe und Kleider, und ich zeigte Begabung, wenn es darum ging, mit Nadel und Faden Neues zu kreieren. War dann noch Kristin mit im Spiel, wurde die Veranstaltung schnell zum Erfolg. Meistens trugen wir dieselben Sachen und lachten uns ins Fäustchen, wenn jemand sagte: »Ihr seid doch Zwillinge, oder?«

Dass wir nicht einmal Geschwister waren, zeigt ein älteres Bild von der Erstkommunion. Als wir vor unseren Familien und der Gemeinde die Heilige Kommunion empfingen, das Vermächtnis von Brot und Wein, die Leib und Blut Christi darstellen, und die in den Augen der Kinder, die wir damals waren, eines der Wunder ist, welches die Erwachsenen nicht erklären können, steckte man uns in diese Art Kleider, die schon immer an diesem Tag angesagt waren: die Jungs in Anzüge, die aus ihnen das Abbild kleiner Männer machen. Die Mädchen in Kleider, die ans Brautgewand erinnern. Meine linke Hand berührte das Kleid von Kristin, fast so, als prüfte ich den Stoff und befände ihn für gut. Halte ich heute dieses Foto in Händen, denke ich: Wahrscheinlich war ich neidisch. Wahrscheinlich dachte ich, eigentlich sollte ich so ein hübsches Kleid tragen. Stattdessen trug ich zu Hause das Brautkleid meiner Mutter und das meiner Oma, während ich das Kleid meiner Tante eines Tages zerteilte, um Schöneres daraus zu nähen. Heute kann ich nicht mehr sagen, wann ich begann, immer wieder in Frauenkleider zu schlüpfen. Es war nur möglich, weil meine Eltern das alles akzeptierten und diese bedingungslose Liebe an den Tag legten, die ich selbst in die Welt hinaustragen möchte.

Dazu half der Umstand, dass mir eine neue Fantasiewelt offenstand: Wieder gab es eine Höhle, wieder war sie in Grün gehalten, wieder stand sie mir als Spielraum meiner Schöpferkraft zur Verfügung. Sie befand sich auf dem Dachboden, den Andi und ich nach und nach in ein Kinderparadies verwandelten. Dabei inspirierten uns ausrangierte Matratzen, Teppiche, die keiner mehr brauchte, das eine oder andere Möbelstück sowie uralte Spiegel. Kamen unsere Cousinen zu Besuch, musste sich keiner der Erwachsenen darüber Gedanken machen, wo wir uns aufhielten. »Die Kinder sind oben«, wurde zum geflügelten Wort in unserem Haus. Dort oben glitten wir stundenlang von einem Fantasiespiel ins nächste. Als Andi später nach Bad Ischl ins Internat verschwand, erfuhr die Höhle eine Verwandlung. Nun wurde sie zu meinem Kreativatelier, in dem ich nach Herzenslust meiner Sangesleidenschaft frönen konnte, während ich Entwürfe märchenhafter Kleider anfertigte. Weil für mich schon damals die Praxis wichtiger war als die Theorie, begann ich, Entwürfe nachzuschneidern. Ich erinnere mich, wie Andi eines Tages mit der Nachricht nach Hause kam, dass in Bad Ischl einst der österreichische Kaiser Franz Joseph sich mit Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern, verlobt hatte, besser bekannt unter dem Namen Sisi. Flugs entwarf ich ein Kleid, das diesem Ereignis gerecht geworden wäre. Alles in allem verbrachte ich wundervolle Zeiten in der Höhle, gleichzeitig war mir klar, dass der Dachboden mein Versteck war. Ich versteckte mich vor den Augen von Bad Mitterndorf, und das tun zu müssen ist kein Leben. So kam es, dass ich im Alter von 14 Jahren nach meinem Schulabschluss den Entschluss fasste, zu gehen. Obwohl ich damals schon gerne sang, kam mir nicht in Sinn, in Wien oder anderswo ein Konservatorium oder eine Musikakademie zu besuchen. Heute gibt es ja regelrechte Checklisten für musikalisch begabte Kinder, um diesen den Weg an solche Häuser zu erleichtern. Da wird gefragt, ob das Kind ein starkes Bedürfnis nach Musik und Klängen empfindet, sich am liebsten musikalisch ausdrückt oder eine innere Motivation besitzt, sich mit Musik zu beschäftigen. Das alles traf auf mich zu, doch war die Welt der Musik damals noch zu weit von meiner eigenen entfernt. Mit der Mode war das etwas anderes: Schneiderei als solides Handwerk konnten sich meine Eltern und ich gut vorstellen. Im Gespräch war die Höhere Lehranstalt für Mode in Graz, die von sich selbst sagt, ihre Schüler zur »Ausübung eines Berufes in der Wirtschaft, insbesondere der Bekleidungswirtschaft« zu befähigen. Nach Bad Mitterndorf mit seinen 3000 Einwohnern würde sich Graz wie eine Weltmetropole ausnehmen: Landeshauptstadt der Steiermark, damals schon der am schnellsten wachsende Ballungsraum Österreichs. Fakten, die meine Eltern nochmals zögern ließen. Doch sie hatten ebenfalls in jungen Jahren auf eigenen Beinen stehen müssen und waren sich bewusst, dass man nicht jeden Beruf in der alten Heimat erlernen kann. Ich zolle meinen Eltern Respekt, dass sie mich unterstützten, als ich den Schritt in die Fremde wagte. Das konnten sie tun, nachdem sicher war, dass ich in vermeintlich guten Verhältnissen unterkommen würde.