image
image

Martin Zinggl
Lesereise Lissabon

Für Mama, den Leitstern meiner Abenteuer. Danke für deinen Mut und all die Entbehrungen, die du auf dich genommen hast!

Copyright © 2017 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Martin Zinggl

ISBN 978-3-7117-1076-5

eISBN 978-3-7117-5349-6

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Martin Zinggl, geboren 1983 in Wien, ist überall und nirgendwo zu Hause. Als freiberuflicher Reporter, Filmemacher und Ethnologe schreibt und fotografiert er seit 2007 für österreichische und internationale Medien. 2016 erschien im Picus Verlag seine Lesereise Nepal.

Martin Zinggl

Lesereise Lissabon

In der Wehmut liegt die Kraft

Picus Verlag Wien

Inhalt

»Fang immer mit dem Dessert an!«

Seelenverwandt

Das ewige Duell

Baixa Pombalina

Alles ist »fado«

Made in China

Rollerderby

Kunst kennt kein Alter

»Bacalhau« ist nicht gleich »bacalhau«

Das schwarze Schaf

Obrigado

»Fang immer mit dem Dessert an!«

Punkt neun Uhr Früh erscheint João Garcia vor mir, bewaffnet mit einem pechschwarzen Regenschirm, der ihn vor dem Nieselregen schützt. João, ein schlaksiger Mann, ist groß gewachsen für einen Portugiesen und vor allem ungewöhnlich pünktlich. Außerdem duftet er nach Rasierwasser, trägt eine orangefarbene Windjacke und Wanderschuhe, die ebenso wasserfest wie federleicht aussehen. Zur Begrüßung hebt er den Schirm wie Mary Poppins und reicht mir seine rechte Hand, an der sich anstelle von Fingern fünf Stummel zeigen. »Laut Wetterbericht hört es in einer Stunde auf zu regnen«, murmle ich. Voller Sorge und Zweifel blickt João empor zur Statue des Marquis von Pombal, bevor ihm ein herzhaftes Schmunzeln entkommt. »Glaub nie dem Wetterbericht in Lissabon«, sagt er. »Das ist wie in den Bergen: Immer verschiedene Quellen heranziehen. Komm, lass uns gehen.« Und dann marschieren wir los, vom Fuße des Denkmals in Richtung grüner Lunge Lissabons und einziger nennenswerten Anhöhe der Küstenstadt: dem Parque Florestal de Monsanto, ein bewaldeter Park, rund zweihundert Meter über dem Meeresspiegel.

João José Silva Abranches Garcia, wie der Mann mit dem Schirm in voller Länge heißt, kennt außerhalb der portugiesischen Landesgrenze kaum jemand, sofern man nicht in irgendeiner Art bergaffin ist oder einem bei Begriffen wie Kangchendzönga, Cho Oyu oder Gasherbrum ein Licht angeht. Aber auch innerhalb Portugals fragen die Leute sicherheitshalber nach, wer João sei. Sehen sie dann ein Bild von ihm, wissen die Portugiesen in der Regel aber sofort Bescheid. Der limitierte Bekanntheits-grad hat nicht nur Nachteile: João kann sich in seiner Heimatstadt Lissabon problemlos und stressfrei bewegen, ohne dass ihn die Medien zerfleischen, wenn er sich einen menschlichen Fehler erlaubt, und auch ohne dass Scharen von Fans ihn befallen, um Selfies und Autogramme bitten und betteln – im Gegensatz zu seinem Landsmann Cristiano Ronaldo. Kommt Portugals bekanntestes Aushängeschild dann und wann sein Hotel »Pestana CR7« in der Lissabonner Unterstadt besuchen, wird die halbe Stadt für den Fußballer abgeriegelt. Damit macht sich Ronaldo nicht nur Freunde.

Wer versteckt sich also hinter diesem João Garcia? Der Neunundvierzigjährige ist Portugals Antwort auf Reinhold Messner – und wer Letzteren auch nicht kennt, soll mal über stark behaarte Fabelwesen im Himalaya nachlesen. João ist einer jener wenigen Menschen, die dem Drang folgten, ihren inneren Dämon auf extremen Höhen loszuwerden. In anderen Worten: João hat als erster und einziger Portugiese alle Achttausender auf unserem Planeten bestiegen. Zudem gelang es ihm als erst zehntem Mensch überhaupt, diese vierzehn Berge ohne zusätzlichen Sauerstoff und ohne die Hilfe von gepäcktragenden Sherpas hochzuklettern. Sechzehn-einhalb Jahre brauchte er dafür. Mehr Menschen sind zum Mond geflogen, als diese Heldentat aus eigener Kraft zu vollbringen. Losgeworden ist er seinen Dämon trotzdem nicht, also kletterte er auf die höchsten Berge jedes Kontinents. Half auch nichts. Seit über drei Jahrzehnten ist João dazu verdammt, Übermenschliches zu leisten, und er bleibt wohl verhext – zumindest sieht er das mittlerweile auch selbst ein. Neuerdings erkundet João Alternativrouten im Himalaya, um den »ausgetretenen Pfaden« auszuweichen. Solche Sorgen muss ein Mensch haben! Zudem motiviert er in Seminaren dazu, Ziele und Balance im Leben zu finden, und führt portugiesische Reisegruppen in den Himalaya und nach Südamerika, um dort mit dem Meister höchstpersönlich Berge zu erklimmen. Heute aber erteilt der Extrembergsteiger mir die Ehre und führt mich durch seine Stadt der sieben Hügel. Zwar erwarte ich mir eine Wanderung ohne Extreme, poche aber insgeheim darauf, eine Seite Lissabons abseits der ausgelatschten Touristenwege kennenzulernen. Da wir uns vorab auf keine Route einigen konnten, lasse ich mich von João überraschen.

Wie aber kommt ein waschechter lisboeta, geboren und aufgewachsen in einer Stadt auf Meeresniveau, dazu, auf die Dächer der Welt zu klettern? Ohne einen richtigen Berg im Umkreis von Hunderten Kilometern lernte João bald, das wertzuschätzen, wozu er keinen Zugang hatte und fand Gefallen daran, zu entdecken, was er nicht kannte: Berge! Also radelte er bereits als Jugendlicher zur Serra da Estrela, rund dreihundert Kilometer nördlich von Lissabon, um mit den älteren Burschen zu klettern. Die viertägige Fahrt mit dem Rad dorthin war ihm die Mühe wert. »So begann meine Leidenschaft für Höhen«, sagt João heute stolz. In der Serra da Estrela traf er auf eine Gruppe Erwachsener, die für die Besteigung des Mont Blanc trainierten. João hält einen Moment inne und erinnert sich zurück: »›Mont was?‹, fragte ich damals. ›Der weiße Berg, wo ist das?‹ Sie zeigten mir Fotos und ich war sofort hin und weg.« Zurück daheim recherchierte er in Lissabons Bibliotheken über den Mont Blanc, lernte über Alpinismus, Sir Edmund Hillary und den Everest. Eine neue Welt eröffnete sich ihm. »Der Traum war geboren und ich plante bereits für das darauffolgende Jahr, den Mont Blanc zu erklimmen, was ich dann auch tat.« Und so kletterte ein sechzehnjähriger Sturkopf aus Portugal auf den höchsten Berg der Alpen und ebnete damit den Weg für noch höhere Erkundungen.

In nordwestlicher Richtung spazieren wir den Parque Eduardo VII bergauf, bis wir den miradouro, die Aussichtsterrasse, erreichen. Von hier aus sieht man – an klaren Tagen – über den Kopf vom Marquis hinweg das glitzernde Wasser des Tejo und darüber hinaus. Heute verdeckt der morgendliche Tiefnebel Lissabons Panorama. Auch Jesus, der schützend seine Arme über die Stadt ausbreitet, liegt noch in den Wolken. Trotz der Ferne hören wir die Schiffshupen vom Fluss herauf tuten. Im Austausch bahnt sich in sturzflutartigen Bächen das Regenwasser seinen Weg hinab und färbt den Tejo mit Lissabons Straßendreck lehmbraun. Wir passieren ein Gefängnis, den Gerichtshof und das »Eleven«, das erste mit einem Stern ausgezeichnete Restaurant der Stadt. »Da war ich noch nie essen«, sagt João, »aber es soll richtig gut und richtig teuer sein.« Dann hält er und zeigt auf ein bombastisches Gebäude im Viertel, verziert mit dem Logo der spanischen Supermarktkette »El Corte Inglés«. »Vor zwanzig Jahren haben die Leute immer gestaunt, wenn hier jemand mit einer Corte-Inglés-Einkaufstasche herumgelaufen ist und gesagt: ›Schau mal, die waren shoppen in Madrid!‹ Jetzt haben wir auch einen. Pois é. Was soll’s?« An der Universität Nova halten wir erneut und João erklärt, dass er hier gerne sein Fahrrad parkt, da es innerhalb des Campus sicherer ist als auf offener Straße.

Je näher wir dem bewaldeten Eingang von Monsanto kommen, als umso langweiliger entpuppt sich Joãos Stadtrundgang und umso heftiger regnet es auf uns herab. »Was habe ich mir da nur angetan?«, denke ich. Die nächsten Stunden bin ich in dieser unspektakulären Tour gefangen. Aber zum Glück kann ein bisschen Wasser einen Menschen nicht erschüttern, der Sturm und Schnee, Eis und Kälte gewohnt ist wie die tägliche Tasse schwarzen Tee und ein paar Scheiben getoasteter torradas zum Frühstück. Die Rede ist von João, nicht von mir. Unser Spaziergang verspricht erst wieder unterhaltsam zu werden, als uns beinahe ein Taxi überrollt. War João bisher ein geduldiger und ruhiger Zeitgenosse, tobt er plötzlich. »Siehst du, das ist Lissabonner Mentalität«, schimpft er und hebt seinen Arm gegen das Taxi, das eigentlich vor dem Zebrastreifen halten sollte. »Unsere taxistas sind die Allerschlimmsten. Das sollten professionelle Fahrer sein, aber die benehmen sich wie egoistische Rennfahrer. Darum nennen wir sie auch fogareiros, die Heizer. Haben sie Kunden, rasen sie, und wenn sie alleine sind, bringen sie den gesamten Verkehr zum Halt, da sie so dahinschleichen, immer auf der Suche nach Fahrgästen.« Es mag keine Entschuldigung sein, aber vielleicht eine Erklärung: Seitdem rund fünfhundert elektrische Tuktuks die Stadt erobern, führen die fogareiros kein einfaches Dasein, kämpfen um jeden Mitfahrer und reduzieren sogar ihre Preise. »Und die Tuktuks«, setzt João fort, der sich keinen Deut beruhigt, »sind auch irgendwie ein Witz! Die gehören nach Nepal und Indien, aber nicht nach Lissabon, auch wenn sie umweltfreundlicher sind als die Taxis und weniger Platz verbrauchen. Aber dass wir alles kopieren und importieren müssen?!« Gutes Stichwort: Import. Joãos Rage nimmt kein Ende.

»Wir lisboetas leben nach dem Minderwertigkeitskomplex, dass alles, was aus dem Ausland kommt, besser ist. Was für ein Unsinn! Zudem sind wir auch keine Sportskanonen, sondern Couch-Potatoes. Daher besitzt auch beinahe jeder zumindest ein Auto, manche Familien sogar zwei oder drei. Wir fahren Distanzen von wenigen Hundert Metern, winden uns die kopfsteingepflasterten Gässchen empor, nur um mit unseren Audis, BMWs und Land Rovers anzugeben. Und die Konsequenz dieser unnötigen Millimeterarbeit? Schmutz, Staus und Lärm. Vierzig Minuten zur Arbeit mit dem Wagen, dreißig mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und dreißig zu Fuß. Der Straßenverkehr in Lissabon ist eine Katastrophe! Und Fahrradfahren auf Lissabons Straßen ist weitaus gefährlicher, als den Everest zu besteigen, da lisboetas glauben, dass ein Auto mehr Rechte auf der Straße hat als Fußgeher oder Fahrradfahrer.« Wahrscheinlich bekomme ich deshalb und aufgrund der vielen Kopfsteinpflaster nur alle heiligen Zeiten einmal einen Radfahrer im Verkehr zu sehen.

Für einen Augenblick möchte ich gerne die Augen schließen und abschalten, aber João redet unaufhaltsam weiter: »Aber noch furchtbarer sind die dummen Entscheidungen unserer Stadtregierung«, meint er. »Diese Egoisten vergessen, dass sie über einen Privatchauffeur, einen Dienstwagen und einen Privatparkplatz verfügen. Sie scheren sich nicht um andere Leute. Minister sollten Diener der Bewohner sein, aber unsere Politiker nutzen ihren Status nur zu ihren eigenen Gunsten.« Kann er ein Beispiel nennen? Und ob! »In Lissabon mangelt es an Parkplätzen, denn es herrscht beinahe überall Parkverbot, beziehungsweise sind zu viele Autos unterwegs. Das ist ein Teufelskreis, denn die Stadt ist verschmutzt von Abgasen. Die Alternative zum Wagen ist eine klapprige Straßenbahn, die einmal pro Stunde anrollt, vollgestopft mit Touristen, wie in einer Sardinenbüchse. Wie soll man sich dann in dieser Stadt fortbewegen? Gleichzeitig entscheidet irgendjemand in Brüssel, dass EU-weit mehr Grünflächen und Fahrradwege gebaut werden sollen, und in Lissabon verschmälern sie eine dreispurige Straße, die ohnehin zu eng ist für dieses ganze Verkehrschaos um ein Drittel, um einen Fahrradweg oder eine Baumallee zu bauen. Völliger Schwachsinn! Ich selbst bin leidenschaftlicher Fahrradfahrer und nichts ist mir wichtiger als die Natur, aber da muss man doch stadtarchitektonisch denken. Tut etwas gegen den Verkehr, aber fasst Monsanto nicht an, ihr Heuchler! Kümmert euch darum, dass die Häuserreihen nicht noch näher an den bewaldeten Park heranrücken und bewahrt das bisschen Grün, das wir in dieser Stadt haben mit all eurer Kraft. Grün hier wegnehmen, um Grün dort zu konstruieren. Was soll das? Diese Stadt ist überschattet von Korruption und Geschäftsleuten, die unter dem Deckmantel der Politik eine Dummheit nach der anderen entscheiden. Wie eine Mafia, die legal und gewählt ist. Seid pragmatischer und praktischer, aber tut nicht Dinge, die euren Konten helfen, die nur schön aussehen und dabei all das zerstören, was ohnehin gut ist. Die Berge haben mich gelehrt, ein pragmatisch denkender Mensch zu sein. Und das bin ich auch in Bezug auf meine Stadt. Ich will ein funktionierendes Lissabon, nicht nur ein Lissabon, das vordergründig schick aussieht.«

Durchatmen!

Bereits klatschnass, aber sonst heil erreichen wir den Monsanto-Wald. João strahlt wieder und hat sich beruhigt. Eifrige Jogger und Radfahrer trotzen dem Regen und ziehen unermüdlich ihre Runden im Park. Im Vorbeiziehen grüßen sie den Extrembergsteiger, halten den Daumen hoch oder nicken mit dem Kopf. Hier kennt man ihn gut, da auch João in Monsanto trainiert, dem einzigen Ort in Lissabon, an dem man wirklich Sport betreiben und sogar wandern kann. Was für ein Luxus, mitten in einer europäischen Hauptstadt. Unter unseren Füßen knirschen nasse Kieselsteine auf dem Pfad durch den Park. Würde nicht ab und zu aus der Ferne das dumpfe Gedröhne eines vorbeizischenden Autos hallen, könnte man meinen, auf einer Trek-kingroute zu wandern. Saftig grüne Hügel, eingehüllt von dicken Nebelschwaden, hinter denen die Gipfel nur vermutet werden können. Dazwischen Trampelpfade und Schotterwege, Obstbäume und plätschernde Bergbäche. Monsantos Innenleben ähnelt Nepals Himalaya-Region, und darum geht es in dem Gespräch mit João immer wieder, auch wenn wir eigentlich über Lissabon reden.

»Wenn ich in Lissabon bin«, sagt er, »träume ich von Nepal, bereite meine nächste Expedition vor und denke an nichts anderes. Sobald ich dann auf einem Berg im Himalaya bin, frage ich mich immer: ›Was zur Hölle hast du hier verloren?‹ Dann will ich wieder zurück nach Lissabon, zu meiner Familie, zu meinen Freunden. Ich will heim. ›Momente der Schwäche‹, nenne ich diese natürliche Balance, die es im Leben braucht. Hier ist mein Basislager, und nicht auf dem Everest oder auf dem Annapurna. Hier fühle ich mich gut, hier bereite ich mich auf meine Reisen vor, hier sind die Menschen, die ich liebe – und das sind nicht nur Familie und Freunde, sondern alle lisboetas, die mir das Gefühl geben, Teil ihrer Familie zu sein, da sie sich um mich sorgen. Wildfremde Menschen fragen mich auf der Straße: ›Hey, wo führt deine nächste Reise hin?‹ Oder alte Frauen jammern: ›Wann hörst du endlich auf mit dem Unsinn, mein Sohn?‹ Und das ist die Stärke Lissabons, die mich immer wieder zurückbringt. Hier sind die Menschen auch politisch korrekter als beispielweise in Nordportugal. Dort halten mich Bewohner auf und sagen: ›Mann, hast du dicke Eier, was du dich alles traust!‹ Dann erröte ich, lächle verlegen und weiß nicht, was ich antworten soll.«

Was fehlt dem Extrembergsteiger, wenn er bei Eiseskälte in einem Zelt im Himalaya hungert? »Sobald ich in den Bergen bin, vergesse ich alles um mich herum und mir geht nichts Wesentliches ab, aber natürlich sehne ich mich nach meiner Toilette, meinen vier Wänden, meiner Werkstatt, meinen Trainingsgeräten. Am allermeisten aber fehlt mir die portugiesische Küche«, schießt es aus João heraus. »Vor allem pastéis de nata aus Belém und bacalhau. Mit diesen Speisen verbinde ich Zuhause! Außerdem liebe ich es, den Pier am Tejo entlang-zuspazieren. Dort, wo die Brücke des 25. April über Alcântara führt, trinke ich gerne einen pingado, Kaffee mit einem Tropfen Milch, beobachte die vorbeiziehenden Frachter, Segel- und Kreuzfahrtschiffe. Vor allem an einem sonnigen Tag, und davon haben wir in Lissabon ja recht viele!« Rund zweihundertfünfzig regenfreie Tage pro Jahr sogar. Heute ist keiner davon. Dennoch schmeckt die Luft salzig vom Atlantik.

»Du bist wirklich zu beneiden«, sagt João. »In Wien hast du die Berge direkt vor deiner Haustür.« »Und du?«, entgegne ich. »Du hast die Strände von Caparica und Carcavelos vor deiner Haustür in Lissabon.« Dann lächelt João und stimmt den Refrain eines portugiesischen Klassikers von Musiker António Variações an: »Estou bem aonde eu não estou, porque eu só quero ir aonde eu não vou … Mir geht es gut, wo ich nicht bin, denn ich möchte nur dorthin, wo ich nicht hingehe.«

Mit jedem Höhenmeter verschlechtert sich das Wetter – und gleichzeitig entspannt sich João. Als ob die Luft zu dünn wäre, um sich hier oben aufzuregen. »Wir berühren fast die Wolken«, scherzt er, meint es aber doch ernst. »In Lissabon haben wir zwar keine Berge, dafür aber großartiges Wetter.« Dann bleibt er stehen und lacht herzhaft über seinen Sarkasmus, in Anbetracht der monsunähnlichen Schauer, die sich über uns ergießen. João täuscht sich nicht, der sonst so verlässlich falschliegende städtische Wetterbericht aber schon: Sonnenschein ist so weit entfernt von Lissabon wie Nepal. »Genug der Philosophie«, sagt er. »Wir brauchen dringend Unterschlupf. Sollen wir in ein Kaffeehaus gehen?«