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© 2017 Jasmin Thoma

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN
Paperback: 978-3-7439-2812-1
Hardcover: 978-3-7439-2813-8
e-Book: 978-3-7439-2814-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Jasmin Thoma

Ohne Identität

nach einer wahren Begebenheit

Für all die Menschen, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben, vor allem den Schriftsteller Thomas Sailer, der mir von der Idee bis zur Veröffentlichung immer mit Ratschlägen zur Seite gestanden ist.

Vorwort

Das ist eine wahre Geschichte. Sie basiert auf Ereignissen, die mir vor knapp einem Jahr selbst passiert sind.

Natürlich musste ich zu Gunsten der Spannung und der Nachvollziehbarkeit einige Details ändern, oder manche Stellen kürzen. Das hier ist kein exaktes Abbild des Geschehenen. Ich wollte meine Erfahrungen aus der Sicht einer fiktiven Person wiedergeben.

Dennoch ist alles, was in diesem Buch thematisiert wird, real. Es geht um Ehrlichkeit und Vertrauen, um Hoffnung, um Furcht, um Scham, um Hass, um Würde und nicht zuletzt um Träume. Es geht darum, selbst über sein Leben zu bestimmen und einmal hingefallen wieder aufzustehen.

Ihr werdet in dieser wahren Geschichte sehr unterschiedliche Personen kennen lernen. Sie alle sind nicht zufällig entstanden. Sowohl „Maria“, die meistens nur als „die Frau“ bezeichnet wird, als auch den Augustinverkäufer am Hauptbahnhof wollte ich exakt der Realität entsprechend darstellen. Nebenpersonen sind teils frei erfunden, auch wenn es für die meisten reale Vorbilder gibt.

Zwischen parkenden Autos

Die Füllfeder flitzte über das Papier, als Alina die Worte des Vortragenden niederschrieb. Ihre Finger schmerzten, nachdem sie über eine Stunde lang geschrieben hatte. Sie hielt alles fest, was der Professor über die verschiedenen Religionsgemeinschaften im Nahen Osten erzählte; die Prüfung in drei Wochen stets präsent in ihrem Kopf.

Der Vortragende beendete die Einheit. Alina packte ihre Sachen zusammen und stand auf.

Als sie den Hörsaal verlassen wollte, hielt sie jemand auf. „Hallo“, sagte ihr Kollege, Michael.

„Oh… Hallo“, erwiderte sie.

„Ich hab` lange nicht mit dir geredet. Ich seh` dich immer nur in den Vorlesungen“, meinte er.

„Ja, ich bin manchmal etwas im Stress. Außerdem wohn` ich nicht in Wien. Deswegen geh` ich eher selten zu den Studentenpartys.“

„Du machst sehr viele Prüfungen, oder?“, wollte er wissen.

„Also, ich mach` jetzt in drei Wochen die Ethnologie des Nahen Ostens, die Formen sozialer Organisation, Kolonialismus und Gender. Im Herbst mach` ich dann die Wissenschaftsgeschichte, Ethnohistorie und die Ethnologie Mesoamerikas.“

„Wow, wenn du so weitermachst, schaffst du dein Studium noch in Mindestzeit.“

„Ja, ich versuche es“, meinte Alina.

„Aber du gehst auch in jede Vorlesung, kommt mir vor.“

„Ja, wenn ich die Vorlesungen immer besuche, muss ich am Ende weniger lernen“.

„Du bist sehr zielstrebig. Ich hab` dich vor einiger Zeit hier gesehen. Dir ist es offensichtlich schlecht gegangen und du warst trotzdem in der Vorlesung.“

Alina erinnerte sich an diesen Tag, als die Vergangenheit sie nicht in Ruhe gelassen, sie der Welt nicht länger standgehalten hatte. Wie Michael sie sah, überraschte sie. Denn sie selbst hatte oft das Gefühl zu zerbrechen.

„Ja, mir ist während der Vorlesung schlecht geworden“, behauptete sie.

„Es ist natürlich das Beste, immer da zu sein“, meinte er.

Alina zuckte mit den Achseln: „Ja, es ist für mich zumindest das Einfachste. Naja, ich muss dann jedenfalls los. Ich hab heute noch Gesangsunterricht.“

„Ach so, na dann. Man sieht sich.“

„OK, dann bis zum nächsten Mal.“

Alina verließ das Gebäude. Eine warme Brise blies ihr entgegen. Sie beeilte sich, um die Straße noch zu überqueren, bevor die Ampel rot würde, denn sie wollte keine Zeit verlieren.

Nachdem sie unlängst erfahren hatte, dass sie bis zu den Prüfungen noch eine Woche länger Zeit hatte als angenommen, war die Anspannung, die sie seit langem geplagt hatte, ein wenig von ihr abgefallen. Dennoch hatte sie das Gefühl, ständig unter Stress zu stehen, war gezwungen, alles in Hast zu tun.

Doch nach Jahren des Kämpfens sah sie ihrer Zukunft zum ersten Mal mit Hoffnung entgegen.

Die U-Bahnstation kam in Sicht. Alina wollte auf sie zusteuern, als sie jemand ansprach: „Entschuldigung, hast du kurz Zeit? Ich habe ein Problem, und weiß nicht, mit wem ich darüber reden soll.“ Die Stimme klang verzweifelt.

Vor ihr stand eine kleine Frau mit rundem Gesicht. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Alles, von ihrem plumpen Körper bis hin zu dem unsagbar freundlichen Ausdruck in ihren Augen, schien eine Hilflosigkeit auszustrahlen.

„Ja“, sagte Alina. Ein ungutes Gefühl überkam sie. Die Frau würde am Ende gewiss entweder Geld wollen, oder etwas, das Alina nicht machen konnte. Das Geld, das Alina bei sich hatte, brauchte sie heute noch, doch sie konnte die Frau nicht einfach kalt abblitzen lassen.

„Können wir uns wo hinsetzen?“, bat die Frau. Sie führte Alina wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war. Automatisch folgte ihr Alina. „Ist hier irgendwo eine Bank?“, fragte die Frau, während sie sich in der Umgebung umsah. „Gehen wir wohin, wo uns niemand hört“, bat sie.

Die Frau sprach mit einem starken Akzent, doch leicht verständlich.

„Studierst du hier?“, wollte sie wissen.

„Ja“, antwortete Alina.

„Was studierst du?“

„Kultur- und Sozialanthropologie.“ Wahrscheinlich hatte die Frau ohnehin keine Ahnung davon, denn die meisten Menschen konnte sich nichts darunter vorstellen.

„Gut“, sagte die Frau.

Alina fragte sich, ob sie ihre Worte überhaupt gehört hatte.

Die Frau führte sie auf die andere Straßenseite. „Können wir uns hier hinsetzen?“ Sie deutete auf den Randstein zwischen parkenden Autos. Ansonsten waren hier nur Büsche. Alina blickte sich um. Die Passanten waren alle auf der anderen Straßenseite, oder in weiter Ferne. Hier würde sie wirklich niemand hören.

„Wie heißt du?“, fragte die Frau.

„Alina“, antwortete sie.

„Hallo, ich bin die Maria.“ Die Frau gab ihr ihre breite, kleine Hand. Alina nahm sie.

„Ich habe ein Problem und ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll“, begann sie. „Ich komme aus dem Kosovo. Ich habe dort mit meiner Mutter in einem Haus gelebt, bis sie gestorben ist. Mein Cousin hier hatte Depressionen, deswegen musste ich schnell hierher.“

Alina sah zu Boden. Sie selbst war über ein Jahr wegen Depressionen in Behandlung gewesen. Auch jetzt noch fühlte sich ihre Welt oft so leer an, als wäre da nichts, das sie hielt.

„Ich lebe mit meinen drei Kindern in einer Wohnung und ich kann die Miete nicht bezahlen. Die Vermieterin hat gesagt, wenn ich in einer Woche nicht die Miete bezahlt habe, haut sie mich mit meinen drei Kindern raus“, redete die Frau weiter.

In dem Moment erinnerte sich Alina an etwas. Sie hatte eine ähnliche Geschichte zu Beginn ihres Studiums schon gehört. „Falls Sie einen Job suchen, vor der Hauptuni stehen öfters Menschen, die einen fragen, ob man Arbeit sucht. Mich hat nämlich früher schon einmal eine Frau mit einem ähnlichen Problem angesprochen...“

Ihr Gegenüber schien die Bemerkung kaum zu hören. „Ich habe alle Leute um Hilfe gefragt, aber keiner wollte mir helfen! Als ich ein paar Männer gefragt habe, wollten sie, dass ich meinen Körper und meine Seele verkaufe, um an das Geld zu kommen. Ich will aber nicht meinen Körper und meine Seele verkaufen und jetzt frage ich dich: Kannst du mir helfen?“

„Wie?“, fragte Alina automatisch, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

„Ich brauche 390 Euro bis in einer Woche.“

„Ich habe nicht so viel mit“, sagte sie, teils beschämt, dass sie nicht helfen konnte, teils in Abwehrhaltung. Die Situation war ihr unangenehm und ihr Herz begann zu rasen. Ein beklemmendes Gefühl ergriff Besitz von ihr. Während ein Teil von ihr der Frau sofort helfen wollte, wollte ein anderer einfach nur weg.

„Aber du kannst doch sicher schnell zu einer Bank gehen und das Geld holen“, sagte die Frau. Sie sah sie eindringlich an.

„Nein, ich habe kein eigenes Konto“, entgegnete Alina. Außerdem wusste sie sowieso nicht, wo hier die nächste Bank war.

„Warum?“, hinterfragte die Frau.

„Ich wohne noch bei meinen Eltern und habe kein eigenes Einkommen.“

„Aber kannst du nicht das Geld von zu Hause holen?“, hakte die Frau nach. „Ich meine du kannst dir doch eh sicher immer von deinen Eltern Geld nehmen.“ Ihre Augen schienen noch tiefer in Alina zu bohren. Alina fühlte sich wehrlos unter ihrem Blick. Vielleicht war es die Hilflosigkeit dieser plumpen Gestalt, oder der freundliche Ausdruck in ihren Augen, der sie in die Enge trieb, oder bloß die Schmach, die sie empfand. Sie konnte der Frau weder helfen, noch konnte sie sie einfach zurückstoßen.

„Nein, weil ich nicht in Wien wohne“, antwortete sie in dem Versuch, bestimmt zu klingen, doch es gelang ihr nicht.

„Wo wohnst du denn?“, fragte die Frau weiter.

„In Müllendorf... also im Burgenland. Ich fahre jeden Tag mit dem Zug“, erklärte sie.

„Wie viel hast du denn mit?“, wollte die Frau wissen.

„Nur 30 Euro.“ Alina wollte ihr erklären, dass sie das Geld selber brauchte, um ihre Gesangsstunde zu bezahlen. Doch sie konnte es einfach nicht. Ihre eigenen Probleme kamen ihr auf einmal so klein, ihre Pläne und Träume so unwichtig vor. So gab sie ihr die 30 Euro und das wenige Kleingeld, das sie dabei hatte.

„Aber kommst du denn jetzt nach Hause?“, wollte die Frau besorgt wissen.

„Ja, ich habe eine Monatskarte“, erklärte Alina.

Die Frau schien verwirrt. „Was hast du?“, fragte sie, als hätte sie sie nicht verstanden.

Alina holte ihre Monatskarte aus ihrem Federpennal hervor und zeigte sie der Frau.

„Aha.“ Sie schien zu verstehen.

So packte Alina ihre Monatskarte wieder ein.

„Kannst du mir noch das restliche Geld bringen? Weil ich weiß nicht, was ich noch machen soll! Ich habe wirklich alles versucht und ich habe Angst.“

Alina zögerte. Sie hatte nicht vergessen, wozu sie ihr Geld bald brauchen würde. Doch wie konnte sie die Frau jetzt im Stich lassen? Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.

„Können wir uns dann morgen wieder treffen?“, fragte die Frau weiter.

„Ich bin morgen nicht in Wien“, sagte Alina knapp. Sie wollte die Frau abwimmeln, doch zu harten Tönen war sie nicht im Stande.

„Wo bist du denn morgen?“, bohrte die Frau weiter.

„Bei meiner Oma“, antwortete Alina. Sie war nicht bereit, auch noch den Gesangsunterricht mit ihrer Oma zu verpassen, nachdem sie schon diese Stunde absagen musste. Und ihr fehlte einfach die Zeit, extra nach Wien zu fahren. So verdrängte sie ihr schlechtes Gewissen.

„Gut, aber wann können wir uns treffen?“, hakte die Frau nach.

„Am Montag“, war Alinas kurze Antwort.

„Ok, aber bitte mach mir keine falschen Hoffnungen. Weil ich sehe, du hast Angst, mir zu helfen. Wenn du mir nicht helfen willst, ist das okay, aber bitte sei ehrlich“, bat die Frau.

„Doch, ich will Ihnen helfen“, sagte Alina schnell.

„Verstehst du, wenn du mir sagst, dass du mir nicht hilfst, kann ich noch andere Menschen fragen, aber wenn du nicht ehrlich bist, ist es vielleicht schon zu spät und ich habe Angst“, sagte die Frau. Sie sprach sehr schnell. Die Verzweiflung in ihrer Stimme weckte in Alina den Drang zu helfen, den sie meistens in dem Wissen, dass sie selber nicht viel hatte, unterdrückte.

„Ok, können wir uns am Montag um zwei vor der Hauptuni treffen?“, fragte Alina und deutete auf das Gebäude gegenüber von ihnen.

„Kannst du mir deine Nummer geben?“, fragte die Frau.

„Ich gebe nicht vielen meine Nummer, kann ich Ihnen meine E-Mail-Adresse geben?“, schlug Alina vor, denn sie telefonierte nicht gerne und hatte ihr Handy meistens nicht bei sich.

„Ich habe keine E-Mail“, antwortete die Frau, „aber wieso kannst du mir nicht einfach deine Nummer geben?“

Alina seufzte und diktierte der Frau ihre Nummer.

„Wie, ich hab`s mir nicht gemerkt“, sagte die Frau.

Alina holte ihr Handy aus dem vorderen Fach ihres Rucksacks. Sie suchte eine Zeit lang herum. „Ja, Akku schwach, das interessiert mich nicht!“, murmelte sie. Schließlich fand sie „Eigene Nummer“. „Hier!“, sagte sie und gab der Frau ihr Handy.

„Haben Sie einen Zettel?“, fragte Alina dann noch.

Die Frau kramte eine Zeit lang in ihrer Tasche und holte ein kleines Stück Papier heraus. Dann gab sie ihr einen Kugelschreiber und begann ihr die Nummer zu diktieren.

„Moment, der schreibt nicht“, sagte Alina.

Die Frau holte einen anderen aus ihrer Tasche und gab ihn Alina. Dann diktierte sie ihr die Nummer nochmal. „Stimmt das jetzt?“, fragte sie.

Alina hatte kaum mitbekommen, was die Frau gesagt hatte. „Warte... ich glaube schon.“

„Schau noch mal“, forderte die Frau sie auf. Sie diktierte die Nummer nochmal.

„Ja, stimmt“, sagte Alina. Sie glaubte, dass sie das jetzt richtig notiert hatte.

„Was machst du heute noch?“, fragte die Frau.

„Ich fahre nach Hause, ich hätte noch Gesangsunterricht...“, begann Alina. Ein Teil von ihr hätte der Frau gerne gesagt, dass sie die 30 Euro eigentlich selber brauchte; sie würde ihr ja ohnehin am Montag die 390 bezahlen. Doch sie wollte die Frau nicht abschrecken, oder zurückstoßen.

„Gut, dann sehen wir uns am Montag und bitte komm wirklich, und falls du mir nicht helfen willst, dann sag es jetzt einfach.“

„Doch, ich will Ihnen helfen“, bekräftigte Alina schnell.

„Gut, ich glaube an Jesus und ich denke Jesus wollte, dass wir uns treffen“, sagte die Frau. „Glaubst du an Jesus?“

„Äh... ja“, log Alina spontan.

„Gut, dann bis Montag“, sagte die Frau und gab Alina wieder ihre Hand.

„Okay, tschüss“, sagte Alina. Sie stand auf. Sobald sie auf der anderen Straßenseite war, rannte sie zur U-Bahnstation. Ihr Herz raste und sie zitterte. Das Gespräch mit der Frau hatte alles in ihrem Inneren durcheinandergeworfen. Alles, was sie machen hatte wollen, war es, zu ihrer Gesangsstunde zu gehen. Doch nun würde sie das nicht können. Wie sollte sie ihr Ziel denn je erreichen, wenn sie ihre Stunden verpasste! Sie musste ihre Technik noch perfektionieren. Und das Geld- die 390 Euro! Sie würde all ihr Erspartes noch selbst brauchen, um ihre Karriere als Sängerin zu starten! In ihrem Kopf drehte sich alles, als sie die Rolltreppe hinunterrannte.

Gerade, als sie unten war, kam die U-Bahn und Alina drängte sich hinein. Sie wartete, bis sie endlich losfuhr.

Alina versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie würde jetzt wenigstens früher nach Hause kommen und konnte vielleicht ein paar andere Sachen erledigen. Wenn sie statt nach Meidling zum Hauptbahnhof fuhr, wo ihr Zug losfuhr, würde sie vielleicht auch einen früheren erwischen. Außerdem wäre er noch nicht so voll!

So ging sie, als die U-Bahn beim Karlsplatz hielt, nicht wie sonst zur U4, sondern zur U1. Doch während sie die Treppe hinunterging, kehrte ihre Beklemmung zurück. Bei unerwarteten Konfrontationen mit anderen Menschen war ihr immer, als würde ihr Körper durch fremde Hand gesteuert. Wenn sie beim Bahnhof wäre, würde sie ihren Gesangslehrer anrufen müssen. Das Wissen, dass jede Stunde wichtig war verfolgte sie.

Unten angekommen, sah sie sich um. Zum Glück waren alle Ziele der U-Bahn angeschrieben. Alina sah auf die linke Seite. In Richtung Reumannplatz waren die nächsten Stationen Taubstummengasse und Wien Hauptbahnhof- Südtirolerplatz. Da musste sie hin! So ging Alina auf die linke Seite, um auf die U-Bahn zu warten. Neben ihr standen noch viele anderen Menschen. Als der Zug schließlich kam, stiegen Unmengen von Menschen aus. Alina drängte sich so schnell sie konnte hinein. Nach ihr stieg noch eine Schar von Leuten ein. Der Zug war voll. So voll, dass man kaum atmen konnte. Erneut musste Alina ihre Gedanken ordnen. In ihrem Kopf fühlte sich alles durcheinander an. Tränen wollten ihr kommen, doch sie drängte sie zurück. Sie wollte nicht vor all den Leuten zu weinen beginnen.

Endlich hielt der Zug bei der richtigen Station. Alina trat hinaus. Den anderen Menschen folgend ging sie eine Rolltreppe hinauf. Oben angekommen, fand sie sich in einem riesigen Gebäude wieder. Die Decke war unfassbar hoch und alles schien aus Metall zu sein. Seltsame Lampen hingen hinunter.

Alina sah sich um. Sie betrachtete die Symbole über ihr. Da war ein Zug abgebildet. Hier musste es zum Bahnhof gehen. Sie folgte den Symbolen eine weitere Rolltreppe hinauf. Bald sah sie die Beschilderung: Gleis 3 bis 12. Gut, erst galt es aber herauszufinden, zu welchem Gleis sie musste. Nach kurzem Suchen fand sie eine der blauen Tafeln, wo die Abfahrtzeiten angeschrieben waren. Eine Weile ließ sie den Blick über die Destinationen und Abfahrtzeiten schweifen, bis sie fand, was sie suchte: Deutschkreuz 14:19 Uhr, Bahnsteig 5. So sah sich Alina um und machte sich auf den Weg zum richtigen Bahnsteig. Die Bahnsteige waren hier, wie alles andere auch, viel größer als beim Bahnhof Meidling.

Alina setzte sich hin. Langsam beruhigte sie sich. Es war nicht wirklich schlimm, wenn sie eine Stunde verpasste. Sie würde ja schließlich morgen noch mit ihrer Oma üben. So wählte sie die Nummer ihres Lehrers. Alina wartete kurz, bis er abhob. „Hallo“, ertönte seine Stimme.

„Äh... Hallo, ich bin es, Alina. Ich wollte nur sagen, dass ich heute nicht kommen kann. Mir ist spontan etwas dazwischengekommen. Ich zahl natürlich nächstes Mal.“

„Ah. Ok, kein Problem“, sagte er „Es ist nur so eine Regel, wenn man zu kurzfristig absagt...“, fügte er entschuldigend hinzu.

„Ja, ist schon ok. Mir ist bloß spontan etwas dazwischengekommen.“

„Ok, macht nichts. Schreibst du mir einfach wieder wegen nächster Woche.“

„Ja, ich werde wahrscheinlich eh so wie immer können“, sagte sie.

„Ok, dann bis nächste Woche“, sagte er.

„Ok, tschüss.“

Alina legte auf und schaute auf die Uhr. Sie hatte noch fast eine Viertelstunde, bis der Zug abfahren würde. Alina sah auf die Anzeigentafel. Da stand bereits „Deutschkreuz über Ebenfurth“. Das musste also der nächste Zug sein.

Sie versuchte noch zu lernen, schaffte es aber nicht, die nötige Konzentration aufzubringen. So legte sie den Text, den sie noch zu lesen hatte, weg und stand auf. Alina begann gedankenverloren am Bahnsteig hin und herzugehen. Immer wieder gingen Leute an ihr vorbei.

Da sah sie auf einmal ein ihr bekanntes Gesicht: Professor Schlosser, der alte Mathelehrer ihres Bruders. Er nickte ihr im Vorbeigehen zu. Dann, als er schon ein paar Schritte weiter war, ging er zu ihr.

„Ah, Hallo“, sagte er.

Alina erwiderte die Begrüßung.

„Und, wie geht’s?“, fragte er.

„Gut“, antwortete sie.

„Und wie geht es deinem Bruder? Arbeitet er?“

Alina hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, weil sie schon, als sie noch in die Schule gegangen war, ständig gekommen war. Sie beschloss, einen Teil der Wahrheit zu sagen.

„Er hat ein Praktikum gemacht“, sagte sie.

„Echt? Worin?“

„Also, so exakt weiß ich das nicht. Dass er programmiert wissen Sie?“

Schlosser schüttelte den Kopf. „Nein, weiß ich nicht. Nach der schriftlichen Reifeprüfung ist leider jeder Kontakt abgebrochen.“

Alina nickte. „Also mein Vater hat ihm in der siebten Klasse Programmieren beigebracht und jetzt sucht er etwas in dieser Richtung.“

„Und mit Matura ist`s nichts?“

Alina verzog den Mund. „Eher nicht“, sagte sie.

„Schade“, meinte Schlosser. „Dabei kann er alles. Ich weiß, dass das mit dem Reden schwer für ihn ist, aber er müsste sich nur dazu überwinden, dann könnte er alles machen. Vielleicht ermutigst du ihn nochmal dazu?“

Alina nickte mit einem erzwungenen Lächeln. Doch sie wusste, dass ihr Bruder die mündliche Matura nicht mehr machen würde.

„Und was machst du jetzt?“, wollte Schlosser wissen.

„Ich studier` Kultur- und Sozialanthropologie.“

„Bitte, was ist das?“

Alina lachte. „Es weiß nie jemand, was das ist. Also, sowas wie Ethnologie.“

„Aha“, sagte Schlosser. Dann sah er auf die Uhr. „Ich muss jetzt meinen Zug erwischen“, meinte er, „also dann, hat mich gefreut und grüß` deinen Bruder von mir.“

„Ja, mach` ich.“

„Ok, dann auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen“. Alina gab Schlosser die Hand.

Dann ging er davon und Alina sah erneut auf die Uhr. Ihr Zug musste in ein paar Minuten kommen.

Irgendwann stand auf der Anzeigetafel Deutschkreuz. Alina blickte auf die Uhr. In ein paar Minuten musste er kommen.

Schließlich tat er das auch. Alina eilte zur nächstbesten Tür und stieg in den Zug. Tatsächlich war er komplett leer. Nicht so wie in Meidling, wo immer schon fast alle Plätze besetzt waren. Sie setzte sich auf einen der ersten Plätze, zu dem sie kam. Kurz wartete sie, dann fuhr der Zug los und hielt wenig später in Meidling. Alina blickte auf die ihr vertrauten Gleise, ehe der Zug weiterfuhr.

Während sie aus dem Fenster sah, kam ihr die Bettlerin wieder in den Sinn. Die Angst und Verzweiflung in ihrer Stimme ließen Alina nicht los. Doch Alina würde ihr helfen, die Miete für diesen Monat zu bezahlen. Sie würde diese Frau davor bewahren, ihren Körper zu verkaufen, um mit ihren Kindern in ihrer Wohnung bleiben zu können. Nun, da sich das Durcheinander in Alinas Kopf gelegt hatte, überkam sie ein ihr fremdes Hochgefühl. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, etwas wirklich Bedeutsames zu tun. In dem Moment schien es, als hätte sie die Erfüllung, die sie ihr Leben lang gesucht hatte, gefunden; nicht durch persönlichen Erfolg, sondern indem sie einen anderen Menschen vor für sie unvorstellbarem Grauen rettete. Ihr war klar, dass sie keine Ahnung hatte, wer diese Frau war; dass sie genauso gut lügen konnte. Doch war es immer noch besser, einen Betrüger zu unterstützen, als einen Menschen, der wirklich Hilfe brauchte, hängen zu lassen! Was waren schon 390 Euro gegen ein Leben in Sicherheit? Sie spürte keine Anspannung mehr. Zum ersten Mal seit langem war ihr Inneres völlig ruhig.

So nahm Alina den Pflichttext für die Vorlesung „Einführung in die Formen sozialer Organisation“ heraus und begann, ihn zu Ende zu lesen.

Als der Zug in Ebenfurth hielt, war sie fertig und schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile kannte sie die Landschaften hier sehr gut: sie fuhren durch Wiesen, Felder und kleine Waldstücke, gelegentlich an Flüssen vorbei.

Ihr Gespräch mit Professor Schlosser kam ihr wieder in den Sinn. Irgendwie war sie froh, dass er sich noch an ihren Bruder erinnerte. Doch eigentlich überraschte es sie nicht. Wahrscheinlich wusste so ziemlich jeder Lehrer an ihrer Schule noch, wer Gerhard war. Wer vergaß schon einen Schüler, der kaum jemals sprach, dafür bei allem, was mit logischem Denken zu tun hatte, allen anderen überlegen war?

Träume und Wirklichkeit

Der Zug hielt in Müllendorf und Alina stieg aus. Wenig später kam sie zu ihrem Haus. Als sie die Türe öffnete, kam ihr ihr Hund entgegengerannt. Laut kläffend und Schwanz wedelnd hüpfte er um sie herum.

„Hallo Hermes“, sagte sie und kraulte seinen Kopf, als er sich soweit beruhigt hatte, dass man ihn angreifen konnte. Dann stellte sie ihren Rucksack ab und ging in die Küche. Ihre Eltern hatten ihr gesagt, wenn sie nicht da seien, solle sie sich selber das Essen aufwärmen. So schaute sie in die Töpfe. Es gab Nudeln mit einer Soße. Alina drehte die Herdplatten auf und wartete, bis die Soße leicht zu köcheln begann.

Sie hatte beschlossen, niemandem von der Frau zu erzählen. Wozu auch? Es würde hier eh keiner verstehen! Alle würden ihr davon abraten, der Frau zu helfen, weil man Fremden nicht trauen konnte. Sie würden Alina als dumm und realitätsfremd abtun, weil sie auch nur daran dachte, ihr zu helfen. Niemand in diesem Haus würde sie je verstehen!

Doch vielleicht, wenn sie als Künstlerin Erfolg hätte, könnte sie sein, wer sie war, ohne sich vor dem Urteil anderer fürchten zu müssen.

Nachdem Alina fertig gegessen hatte, ging sie in ihr Zimmer und drehte den Computer auf. Sie wollte sehen, ob sie irgendwelche Nachrichten bekommen hatte. Seit längerem nervten sie auf Facebook einige Männer, die sich unbedingt mit ihr verabreden wollten. Die meisten davon waren recht harmlos, doch einige wurden manchmal aufdringlich. Alina hatte nichts dagegen, sich mit jemandem online zu unterhalten, oder dass ihr jemand Komplimente wegen ihrer Figur machte, doch Liebesgeständnisse und Sexanfragen von Wildfremden waren ihr dann doch unangenehm.