Book cover

Raketenbedrohung 2.0

Technische und politische Grundlagen

Robert H. Schmucker
Markus Schiller

E. S. Mittler & Sohn

Hamburg · Bonn

Bildnachweis Titel: Photo by Vahdati, picture alliance / abaca

Bilder und Grafiken siehe Bildnachweis S. 397

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8132-0956-3

eISBN 978-3-8132-1028-6

E.S. Mittler & Sohn, Hamburg, Bonn

© 2015 Maximilian Verlag, Hamburg

Ein Unternehmen der Tamm Media

Alle Rechte vorbehalten

Layout und Produktion: Nicole Laka, Sabine Nasko

Inhalt

Wie dieses Buch entstand

Danksagungen

Einleitung

1.Die Situation in den Ländern der Krisenregionen

1.1Länder im Brennpunkt

1.2Bisheriger Einsatz ballistischer Raketenwaffen größerer Leistung

1.3Von Raketenbedrohung 1.0 zu Raketenbedrohung 2.0

1.4Notwendigkeit einer Bedrohungsbewertung

1.5Aufgabenstellung für die Bedrohungsanalyse

2.Waffen als technische Mittel für politische Zwecke

2.1Die Bedeutung von Waffen für Sicherheit und Frieden

2.2Bedrohung durch Raketenwaffen

2.2.1Menschliche Verhaltensmuster

2.2.2Zusammenspiel von Waffe und Transportmittel

2.2.3Bedrohungs- und Risikobewertung

2.3Fernwaffenbewertung aus Sicht der Krisenregionsländer

2.3.1Bedeutung von Fernraketen und Massenvernichtungswaffen

2.3.2Aufgabe und Verfügbarkeit von Flugkörpern

2.3.3Blickwinkel der Krisenregionsländer

2.3.4Kosten-Nutzen-Bewertung der Krisenregionsländer

2.3.5Kriterien erfolgversprechender Offensivfähigkeit

2.4Proliferation von Fernwaffen und deren Eindämmung

2.4.1Eindämmungsmaßnahmen

2.4.2Dual-Use-Problematik

2.4.3Bisherige Erfolge und Aussichten der Proliferationseindämmung

2.5Konsequenzen und Aufgabenstellung der Bedrohungsanalyse

3.Aufgabe, Alternativen und Dimensionierung des Transportsystems

3.1Transportaufgabe

3.1.1Aufgabenstellung

3.1.2Vorgehensweise

3.2Alternativen für Waffentransport

3.3Waffensystem

3.3.1Abschusseinrichtungen

3.3.2Unterstützungs- und Hilfseinrichtungen

3.3.3Personal

3.4Flugkörper

3.4.1Aufbau eines Flugkörpers

3.4.2Gefechtskopf

3.4.3Struktur

3.4.4Lenk- und Steuersystem

3.4.5Antrieb

3.4.6Stufung

3.4.7Folgerungen für Proliferation und deren Verhinderung

3.5Leistungsermittlung, Auslegung und Rekonstruktion

3.5.1Raketentechnische Grundlagen

3.5.2Gesamtleistung

3.6Genauigkeit

3.7Zuverlässigkeit

4.Gefechtskopf und Waffenladung

4.1Zielkategorisierung

4.1.1Punkt- oder Einzelziel

4.1.2Flächenziel

4.2Waffenladung

4.2.1Kategorisierung

4.2.2Konventionelle Explosivstoff-Ladung

4.2.3Thermobarische Waffen

4.2.4Kernwaffen oder nukleare Sprengladung

4.2.5Kontaminationswaffen – chemische, biologische und radiologische Ladungen

4.2.6Eignung der Waffenladungen für einen Raketeneinsatz

4.3Konzeption, Auslegung und Gestaltung des Gefechtskopfs

4.3.1Kategorisierung der Gefechtskopftypen

4.3.2Konstruktive Gestaltung des Gefechtskopfes

4.3.3Waffenauslösung

4.3.4Vernier- und Post-Boost-Einrichtungen

4.3.5Gefechtskopfmasse

4.4Folgerungen für die Länder der Krisenregionen

5.Entwicklung der Fernraketen

5.1Vorarbeiten zu Raketen für Waffen größerer Leistung

5.1.1Rakete als Gefechtsfeldwaffe

5.1.2Entdeckung der Rakete für die Raumfahrt

5.2Vorarbeiten zur Lenkung

5.3Arbeiten bis Ende des Zweiten Weltkriegs

5.3.1A-Serie in Deutschland

5.3.2Wasserfall

5.3.3Zusätzliche deutsche Raketenaktivitäten

5.3.4Leistungsvergleich der in Deutschland bearbeiteten Raketenprojekte

5.3.5Feststoffraketen

5.3.6Status der Raketenprogramme bei Kriegsende

5.4Weiterführung der Flüssigkeitsrakete nach dem Zweiten Weltkrieg

5.4.1Weiterführende A4- und Wasserfall-Linie

5.4.2Sowjetunion

5.4.3USA

5.4.4Frankreich

5.4.5VR China

5.5Aktivitäten für Feststoffraketen nach dem Zweiten Weltkrieg

5.5.1USA

5.5.2Sowjetunion

5.5.3Frankreich

5.5.4VR China

5.6Zusammenfassende Übersicht der Weiterführung

5.6.1Wichtige technische Neuerungen

5.6.2Verbreitungslinien und Proliferation

5.7Konsequenzen und Bedeutung für Krisenregionsländer

6.Analyse und Bewertung

6.1Aufgabenstellung

6.2Vorgehensweise – “Waffe, Programm, Land”

6.3Informationsbeschaffung

6.3.1Informationslage

6.3.2Methoden der Informationsbeschaffung

6.3.3Desinformation

6.4Technische Analyse und Rekonstruktion – “Waffe”

6.4.1Untersuchung des Raketenkonzeptes

6.4.2Ermittlung technischer Daten

6.4.3Bewertung technischer Merkmale

6.5Sichtbare Aktivitäten – “Programm”

6.5.1Programmmeilensteine und -dauer bei Entwicklungsaktivitäten

6.5.2Vorprogramme

6.5.3Erprobungen

6.5.4Anwendung für Aktivitäts- und Waffenbewertung

6.5.5Übersicht zu Erprobungszahlen der Krisenregionsländer

6.6Begrenzende Faktoren – “Land”

6.6.1Ziel der Aktivitäten

6.6.2Personelle Seite

6.6.3Industriell-technische Seite

6.6.4Finanzielle Ressourcen

6.6.5Bewertung der Fähigkeiten

6.7Realisierungsmethoden

6.7.1Wichtige Vorbemerkungen

6.7.2Kauf (Proliferation)

6.7.3Veränderungen an gekauften Systemen

6.7.4Nachbau

6.7.5Neuentwicklung

6.7.6Zusammenfassung der Realisierungsaspekte

6.8Verwendung von U-Boot-Waffen als landmobile Raketen

6.9Verwendung von Raumfahrtträgern als Raketenwaffen

6.9.1Technische Gesichtspunkte

6.9.2Operationelle Gesichtspunkte

6.9.3Bewertung von Satellitenträgeraktivitäten

6.10Gesamtbewertung

6.10.1Situationseinschätzung

6.10.2Langfristige Ausrichtung der Arbeiten

6.10.3Bewertung des potentiellen Offensivcharakters

6.11Folgerungen für die Krisenregionsländer

7.Raketen der Krisenregionsländer

7.1Erfolglose Aktivitäten für leistungsstärkere Systeme

7.1.1Ägyptischer “Satellitenträger”

7.1.2OTRAG in Libyen

7.1.3Condor-Programm

7.1.4Gründe für den Misserfolg

7.2Flüssigkeitsraketen

7.2.1Scud-Raketenfamilie

7.2.2Raketen mit 1 m Durchmesser

7.2.3Raketen mit 1,25 m Durchmesser

7.2.4Raketen mit 1,5 m Durchmesser (Basis R-27)

7.2.5Raketen auf Basis des sowjetischen Volga-Triebwerks

7.2.6Raketen größeren Durchmessers

7.2.7Mehrstufige Flüssigkeitsraketen

7.2.8Bewertung der Fernwaffen auf Flüssigkeitsraketenbasis

7.3Feststoffraketen

7.3.1Ausgangslage und vorbereitende Aktivitäten

7.3.2Raketen kurzer Reichweite

7.3.3Flugkörper der Sub-MTCR-Klasse

7.3.4Flugkörper der R-17- bis Scud D-Klasse

7.3.5Flugkörper größerer Leistung

7.3.6Bewertung

7.4Status und Aussicht

8.Abwehr von Flugkörpern

8.1Hintergrund

8.1.1Geschichte

8.1.2Grundgedanken

8.1.3Alternativen der Abwehr

8.2Abstimmung der Abwehr auf den Angriff

8.2.1Ablauf eines Angriffs

8.2.2Bekämpfungsablauf

8.3Gegenmaßnahmen

8.3.1Alternativen

8.3.2Realisierungsmöglichkeit der Krisenregionsländer

8.4Status und Bewertung der Flugkörperabwehr

9.Aussichten einer Bedrohungsreduktion

10.Glossar

Begriffserklärung

Bezeichnungen

Indizes

Abkürzungen

11.Index der Raketen

12.Bildnachweis

Wie dieses Buch entstand

(Vorwort von Robert Schmucker)

Raketen und Raumfahrt haben seit sechs Jahrzehnten mein Leben entscheidend geprägt und ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Vergangenheit. Dabei stand die technische Realisierung von Raketen im Vordergrund. Wenn auch die Theorie in diesen Gebieten einen großen Stellenwert hat, so ist es doch erst die Umsetzung in die Praxis, die über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Somit bedarf es beider Seiten, der akademisch-theoretischen und der industriellpraktischen.

In den 50er Jahren – noch vor den ersten Erdsatelliten – interessierte ich mich für die großartigen Projektvorschläge bemannter Mond- und Marsflüge. Mit meinem Studium und der Gründung einer Studentengruppe für Raketentechnik und Raumfahrt, der sich daran anschließenden Tätigkeit an der Universität, in der Forschung und später der Industrie kamen Themen mit militärischem Inhalt dazu. Aber erst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, Ende der 70er Jahre, begann ich mich intensiv mit leistungsstarken Raketenwaffen zu beschäftigen. Die Hysterie in Öffentlichkeit, Politik und Medien zeigte, dass es notwendig war, einen kühlen Kopf zu bewahren, denn nur eine emotionslose Behandlung konnte die reale Situation klar zum Vorschein bringen. Raketentechnik ist schließlich eine nüchterne Ingenieurdisziplin bei der es, anders als viele vermuten, keine Wunder gibt: Bereits wenige Informationen über eine Rakete genügen für ein umfassendes aussagekräftiges Bild!

Meine Untersuchungen der sowjetischen SS-20-Rakete, die ich neben meinen Industrie- und Universitätstätigkeiten durchführte, brachten mich in Kontakt mit staatli-chen Institutionen, die meine Analysen genauer beobachteten, die Ergebnisse bestätigten und durch den einen oder anderen Hinweis unterstützten. Mit der Zeit erweiterte sich mein Spektrum auf Raketenwaffen, die auf einem möglichen europäischen Kriegsschauplatz von Bedeutung gewesen wären. Wenn sich auch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die weltweite Raketenbedrohung verringerte, so zeigte der Irak-Iran-Krieg, dass Raketen mittlerer Reichweite in Konflikten tatsächlich eingesetzt werden. Also arbeitete ich auf diesem Feld weiter, um auch Raketen dieser Kategorie verstehen zu können.

Durch all diese Untersuchungen hatte ich verschiedene Personen kennengelernt, und eines Tages lud mich Herr Dr. Norbert Reinecke – damals von deutscher Seite bei der UNO in New York – zu einer UNSCOM-Mission (United Nations Special Commission) im Irak ein, die das Ziel hatte, die irakischen Raketenaktivitäten zu un-tersuchen und zu bewerten. Dieses Angebot war viel zu verlockend, als dass ich es hätte ausschlagen können, und so nahm ich an einer ganzen Reihe solcher Missionen teil. Bei diesen Missionen waren auch die Anregungen und Gespräche mit den amerikanischen, russischen und französischen Kollegen von großem Wert, von denen insbesondere M. Fouad El Khatib zu nennen ist. Dank dieser Tätigkeit konnte ich aus erster Hand vor Ort Erkenntnisse hinsichtlich Vorgehensweise und Erfolgsaussichten von Raketenprogrammen in Schwellen- und Entwicklungsländern gewinnen. Denn genauso wie in der industrialisierten Welt ist auch dort die Realisierung von Raketen mit erheblichem Aufwand verbunden und treten auch dort all die Probleme auf, mit denen man bei Entwicklung und Fertigung konfrontiert ist. Diese Schwierigkeiten sind aber nicht theoretischer Natur, sondern sie sind rein durch die praktische Umsetzung bedingt, denn sie erfordert massive Anstrengungen, ausreichende Ressourcen und hohen Zeitaufwand, um erfolgreich zu sein.

Während dieser Missionen regte Mr. Tim McCarthy vom Monterey Institute in Kalifor-nien an, das Potential von Fernwaffen zu untersuchen, die auf verfügbaren Raketenkomponenten basieren. Die Fragestellung lautete: Können sich Länder mit geringem industriellen Potential auf diese Weise Fernraketen beachtlicher Leistung beschaffen – „Poor Man’s ICBM“ – und was wären daraus für Konsequenzen zu ziehen? Im Zuge der Beschäftigung mit dieser Thematik hatte ich Kontakt mit den Herren Oberst a.D. Dipl.-Ing. Christian Hoherz und Oberstleutnant a.D. Dipl.-Ing. Michael Boschert, die mir Gelegenheit zur Diskussion meiner Ergebnisse und der Fortführung meiner Arbeiten gaben.

Vor diesem Hintergrund und unerwarteten Raketentests in Pakistan, Iran und Nord-korea wurde 1998 die Idee der Vorlesung „Fernwaffen in Entwicklungsländern“ geboren und umgesetzt. Sie behandelt neben der Technik die dazu unerlässlichen politischen Themen. Die Vorlesung stieß an der Technischen Universität München und später auch an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg bei München auf reges studentisches Interesse, das bis heute stetig angewachsen ist, ließ aber anfangs an manchen Stellen der Universität wegen des Wortes „Waffen“ ein unbegründetes Unbehagen aufkommen.

Das vorliegende Buch ist die Textfassung dieser Vorlesung, die im Laufe der Jahre einige notwendige Ergänzungen erfuhr. Der Titel wurde in „Raketenbedrohung 2.0“ geändert, da es sich zum einen nicht um eine Anleitung zum Waffenbau sondern eine Bedrohungsanalyse handelt, und zum anderen die Ziffer für die raketentechnische Situation jenseits der raketengestützten Nuklearwaffen der Großmächte steht. Daran haben meine Mitarbeiter einen nicht zu vernachlässigenden Anteil: In den Anfangsjahren war es Herr Dr. Gerd Hofschuster und später, bis zum druckfertigen Manuskript, Herr Dr. Markus Schiller, der maßgeblich an der Endfassung als Koautor mitwirkte. Die fortlaufenden Arbeiten der Länder in Krisenregionen waren ebenso zu berücksichtigen wie neue Erkenntnisse, die sich Großteils durch neue Informationen und Funde bestätigten. Natürlich sind weiße Flecken geblieben, aber das im Laufe der Jahre gewonnene Bild ist widerspruchsfrei. Da ein Ende der Aktivitäten dieser Länder nicht abzusehen ist muss man immer mit Überraschungen rechnen, aber eines ist sicher: Wunder können ausgeschlossen werden.

Die Veröffentlichung der Vorlesung in Buchform gestaltete sich deutlich schwieriger als zunächst erwartet. Nach einer Vielzahl von Kontakten zu unterschiedlichen Verlagen und Jahren vergeblichen Bemühens war es wiederum Dr. Reinecke, der mit seinem früheren Kollegen und Freund Oberst a.D. Hans Joachim Wagner die Weichen für einen erfolgreichen Abschluss stellte: Der Mittler-Verlag zeigte sich bereit, dieses Thema in sein Sortiment aufzunehmen und so konnten schließlich diese Gedanken zur Raketenbedrohung – frei nach Golo Mann – im Druck erlöst werden.

Danksagungen

Bei der Entstehung dieses Buches haben wir vielerlei Unterstützung erhalten, für die wir uns bedanken.

An erster Stelle ist Herr Dr. Norbert Reinecke zu nennen, der gleichsam als Klammer dieses Buches gewirkt hat: Ihm ist zu verdanken, dass durch seine Initiative und der sich daraus ergebenden Beschäftigung mit dem Irak die Vorlesung „Fernwaffen in Entwicklungsländern“ entstand, die wiederum Grundlage dieses Buches ist; und schließlich war er es, der den Weg zur Veröffentlichung dieses Buches geebnet hat. In diesem Zusammenhang ist auch Herr Oberst a.D. Hans Joachim Wagner zu danken, einem Freund und Kollegen von Herrn Reinecke, der die Zusammenarbeit mit dem Mittler-Verlag einleitete. Ganz besonders sind wir den Herren Oberst a.D. Christian Hoherz und Oberstleutnant a.D. Michael Boschert zu Dank verpflichtet, die uns über viele Jahre die Gelegenheit zu Diskussionen gewährten. Dank gebührt auch Mr. Tim McCarthy, der als Mitarbeiter des MIIS bei einer Irak-Mission den Anstoß zu den Analysen zu „Poor Man’s ICBM“ gab und die Untersuchungen zur Waffennutzung von Raumfahrtträgern anregte. Nicht zuletzt danken wir in diesem Zusammenhang auch M. Fouad El Khatib.

Besonderen Dank drücken wir all jenen aus, die uns bei der fachlichen Korrektur mit wahrem Expertenwissen zur Seite standen oder uns mit ergänzendem Bildmaterial versorgen konnten, darunter Herrn Roland Woiciechowski und Herrn Dietmar Küpping stellvertretend für den Militärhistorischen Verein bzw. das Raketenmuseum Demen, Dr. Robert E. Kelley (SIPRI, vormals IAEA), Dr. Gerd Hofschuster (OHB), Dr. Andreas Stamminger (DLR), Herrn Dominique Grehl und der Zollfahndung, Herrn Christoph Gleich (OTRAG), Dr. Michael Elleman (IISS), Herrn Adolf Frank und Herrn Klaus Fehrer (vormals DLR), sowie Herrn Peter Schulz (peterhall.de).

Unser Dank gilt auch allen Fachleuten auf diesem Gebiet, mit denen wir in den letzten Jahren in Kontakt standen. Auch sie trugen mit den geführten Gesprächen und Diskussionen ihren Teil zu diesem Werk bei. Zu nennen sind hier unter anderem Prof. Theodore Postol (MIT, Stanford), Dr. David Wright (Union of Concerned Scientists), Uzi Rubin (Rubicon, vormals IAF), Dr. Jeffrey Lewis (MIIS), Dr. Olaf Przybilski (TU Dresden), Prof. Götz Neuneck (IFSH) und die Fachleute um die Arbeitsgruppe Physik und Abrüstung der DPG, zahlreiche ehemalige Kollegen bei RAND, Dr. Peter Sequard-Base (ARWT Wien), Herr Jeroen Akkermans und Herr Norbert Rascher (RTL4), diverse Experten der UNO, Dr. Mark Fitzpatrick (IISS), Herr Andreas Singer und viele weitere.

Natürlich danken wir auch all den Studenten der Technischen Universität München und der Universität der Bundeswehr München, die über all die Jahre unsere Vorlesungen besucht haben, und die durch ihre unermüdlichen Fragen, Anregungen, Kommentare, Kritiken und Diskussionen, aber auch durch ihre selbst erarbeiteten Beiträge im Rahmen von Studien- und Diplomarbeiten einen großen Anteil an der entstandenen Fassung dieses Buches haben. Letztendlich war die durchgängig positive Resonanz auf die Vorlesung ausschlaggebend dafür, dass es dieses Buch überhaupt gibt. Stellvertretend für alle Beitragenden sei hier die Gruppe um Gerhard Mesch und Michael Sams genannt, die mit ihrem frei zugänglichen Programm zur Bahnanalyse (RAT – Rocket Analysis Tool, https://code.google.com/p/rocketanalysistool/) einen wichtigen Beitrag zur Entzauberung der Thematik geleistet hat.

All das wäre nicht möglich gewesen ohne die Lehrstuhlinhaber für Raumfahrttechnik, Prof. Dr. Harry O. Ruppe und Prof. Dr. Ulrich Walter, die der Thematik gegenüber stets offen waren und diese an der Technischen Universität München immer gefördert haben, genauso wie Prof. Dr. Werner Staudacher und dann Prof. Dr. Christian Mundt an der Universität der Bundeswehr München.

Für die dem Buch zugrundeliegenden Vorarbeiten danken wir Frau Helga Rieder und Herrn Frank Meißner. Herrn Bernd Rucker danken wir für inhaltliche Korrekturvorschläge. Dank auch an Frau Nicole Laka für den Entwurf des Layouts, sowie Frau Sabine Nasko, die dieses Layout mit viel Geduld zur Perfektion führte. Ganz besonderer Dank gilt Herrn Thomas Bantle und Herrn Stephan Alpen vom Mittler-Verlag.

Abschließend Dank auch an alle, die hier unabsichtlich unerwähnt bleiben und trotzdem – vielleicht sogar unbewusst – ihren Beitrag zu diesem Buch geleistet haben.

Robert Schmucker und Markus Schiller

Einleitung

Der öffentliche Diskurs über die Bedrohung durch Raketen aus Ländern der Krisenregionen wird überwiegend von politischen Überlegungen bestimmt. Dabei wird übersehen, dass sich Politik stets nur innerhalb der Möglichkeiten abspielen kann, die von der vorhandenen Technik zur Verfügung gestellt werden.

Technik ist die dimensionierende Größe, die den Handlungsrahmen für die Politik aufspannt, und letztendlich kann sich Politik nur innerhalb dieses Rahmens bewegen – nur vorhandene und funktionierende Raketen können eine Bedrohung darstellen. Dies gilt für Großmächte über Schwellen- und Entwicklungsländer bis hin zu terroristischen Gruppierungen. Daran ändern auch aggressive Rhetorik, politischer Wille oder die Befehle von Diktatoren nichts. Es ist so einfach: Wer nichts hat oder nichts kann, hat oder kann nichts! Auf der anderen Seite ermöglichen umfassende technische Fähigkeiten ein nahezu unbegrenztes politisches Feld, das aber nicht genutzt werden muss.

Ein Atomschlag beispielsweise ist nicht ohne zuverlässig funktionierende, mit Nuklearwaffen bestückte Raketen möglich. Ohne entsprechende waffentechnische Möglichkeiten sind politische Drohungen nur leere Einschüchterungsversuche, die nicht beachtet werden sollten. Auf der anderen Seite bedeuten umfassende Raketenarsenale aber nicht zwingend, dass ein Erstschlag bevorsteht.

Bei der Raketenbedrohung ist also die technische Fähigkeit der entscheidende Faktor. Daher liefert die Technik den entscheidenden Hinweis auf die mögliche Bedrohung, woraus sich dann auch die tatsächliche politische Ausrichtung erkennen lässt, und nicht umgekehrt. Im Gegensatz zur Rhetorik lügt oder blufft die Technik nicht, sie ist da – oder eben nicht. Man muss daher die Technik betrachten um zu klaren Erkenntnissen zu gelangen; die Rhetorik ist zweitrangig, obwohl sie im Zentrum des öffentlichen Interesses zu stehen scheint.

Interessanterweise lässt sich diese Verdrehung der Prioritäten bei der Beurteilung auch bei den Raketen selbst beobachten. Die Beherrschung der Theorie ist zwar selbstverständliche Voraussetzung bei der Entwicklung eines Raketensystems, entscheidend ist aber nur die praktische Umsetzung in die Realität, also die Konstruktion und Fertigung mit allen dazu notwendigen Schritten, so dass am Ende ein zuverlässig funktionierendes Gerät steht. Nicht die theoretische Seite – für den Laien häufig durch einen genialen Wissenschaftler oder geheime Baupläne repräsentiert – ist also für die Verfügbarkeit einer Raketenwaffe entscheidend, sondern einzig und allein die praktische Seite. Daher beobachtet man bei Ländern, die an Raketen interessiert sind, häufig ein Ausweichen auf den einfachsten Beschaffungsweg, nämlich den als Proliferation bezeichneten Einkauf existierender Waffensysteme.

Dieses vorherrschende grundlegende Missverständnis aufzuklären – dass Theorie oder Wunschvorstellung nicht gleich Praxis oder Realität sind – ist einer der wichtigsten Beweggründe, die zu diesem Buch geführt haben. Dass Raketen vor allem das Ergebnis von Ingenieurarbeiten sind zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Kapitel. Auf dem Raketensektor gibt es keine Wunder, und wenn man fragliche Entwicklungen genau beobachtet kann man schnell zu ernsthaften Ergebnissen kommen. Status und Ausrichtung eines Raketenprogrammes lassen sich nämlich überraschend einfach analysieren.

Hierzu wird ein umfassender Ansatz vorgestellt, der aber nicht nur die technische Seite in allen Facetten beinhaltet, sondern diese auch mit der politischen Funktion der jeweiligen Waffe in Beziehung setzt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf denjenigen Ländern, deren Raketenaktivitäten seit geraumer Zeit im Mittelpunkt des weltweiten Interesses stehen, und von denen gerne behauptet wird, dass sie ein unmittelbares Bedrohungspotential darstellten, dem man mit politischen, technischen und militärischen Maßnahmen begegnen müsse.

Das vorliegende Werk ist als Sachbuch abgefasst und verzichtet auf wissenschaftliche Fußnoten. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist es aus einer Vorlesung heraus entstanden (Technische Universität München seit 1998 und Universität der Bundeswehr München seit 2003). Zum anderen ist zwar eine Flut technischer Informationen zu Raketen im Internet oder anderswo verfügbar, die aber meist wenig belastbar sind. Deshalb wird in diesem Buch nicht darauf zurückgegriffen, und lediglich bei den Raketen, zu denen verlässliche Informationen verfügbar sind, wird dies vermerkt. Ansonsten sind die Angaben das Ergebnis jahrelanger eigener Arbeiten mit umfassenden Recherchen, unzähligen Gesprächen und Diskussionen und vor allem detaillierten Analysen. Deshalb sind sämtliche rekonstruierte Angaben auch als Daten mit einer gewissen Bandbreite zu verstehen. Da es sich um eine dynamische Materie handelt, war und ist es notwendig, die Ergebnisse ständig zu hinterfragen und gegebenenfalls dem neuen Kenntnisstand anzupassen. Die für die Bedrohungsbewertung verwendeten Methoden, die auf technisch-physikalischen Zusammenhängen beruhen, sind jedoch zeitlos weitgehend gültig.

Das Buch zielt auf eine breite Leserschaft ab: Von Interessierten ohne Vorkenntnisse bezügliche Politik und Technik bis hin zu Experten (Politiker und Politikwissenschaftler, die sich Wissen zu Fernraketen aneignen möchten, genauso wie Ingenieure, die mehr über Raketentechnik oder politische Aspekte wissen wollen). Von den neun Hauptkapiteln könnten lediglich für Kapitel 3 über Raketentechnik technische Vorkenntnisse hilfreich sein, aber selbst bei Vernachlässigung der Abschnitte mit Formeln lassen sich hier die Kernpunkte erkennen, die die Schwierigkeiten der Raketenrekonstruktion verdeutlichen.

In der Öffentlichkeit wird viel Unsinn über ballistische Raketenwaffen verbreitet, ja selbst in politischen und akademischen Kreisen. Es ist der Zweck dieser Abhandlung die Problematik des Themenkomplexes besser zu verstehen, um gegenwärtige und zukünftige Bedrohungen realistischer einzuschätzen und ihnen dadurch besser begegnen zu können. Dies könnte dazu beitragen sinnvolle politische Entscheidungen zu treffen, und dadurch Fehler zu vermeiden.

Man macht sich immer übertriebene Vorstellungen von dem,
was man nicht kennt.

Albert Camus (1913-1960)
aus: Der Fremde

Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

Aldous Huxley (1894-1963)

1.

Die Situation in den Ländern der Krisenregionen

Die Fernwaffensituation in den Ländern der Krisenregionen vom Nahen bis zum Fernen Osten stellt ein Thema mit vielen Fragezeichen dar. Wegen der strikten Geheimhaltung, die insbesondere Massenvernichtungswaffen (MVW/WMD – Weapons of Mass Destruction) sowie die dazu benötigten Transportsysteme – hauptsächlich Fernraketen – betrifft, sind von diesen Ländern kaum sinnvolle Informationen zu erwarten. Allerorten ist man mit Desinformation konfrontiert. Vielfach wird übertrieben, was Leistung und Charakteristik der Waffensysteme – Wurfleistung mit Reichweite und Nutzlast – sowie Genauigkeit anbelangt; aber auch die Angaben zu Eigenständigkeit, Status der Serienproduktion, Menge der verfügbaren Raketen und Aufstellung bei der Truppe müssen mit äußerster Vorsicht behandelt werden. Dem stehen auf der anderen Seite absichtliche Untertreibungen gegenüber, im Rahmen derer Arbeiten zur Nukleartechnik als "ausschließlich zivil" bezeichnet, Raumfahrtaktivitäten zur Tarnung in den Vordergrund gestellt werden oder auf bescheidene technische Fähigkeiten in Verbindung mit Abhängigkeit von fremder Unterstützung hingewiesen wird.

So gibt es einerseits erklärte "Habenichtse", die vollkommen vom Ausland abhängen, und andererseits Staaten, denen perfekte Fähigkeiten in jeder Hinsicht zugesprochen werden oder die sich solche selbst zusprechen. Daher kommen Regierungsstellen und andere Institutionen aufgrund verfügbarer Informationen zu regionalen und globalen Bedrohungseinschätzungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Natürlich unterliegt all dies einer hohen Dynamik, was nicht nur die innenpolitische Seite betrifft, sondern auch die Außenbeziehungen. Bedrohungen können sich rasch in nichts auflösen, aber genauso "über Nacht" neu entstehen.

1.1Länder im Brennpunkt

Im Spektrum der resultierenden Lagebewertungen stellen Länder mit unsicheren, instabilen oder demokratisch nicht legitimierten Regierungen ein nicht zu übersehendes Problem dar. Der Blick richtet sich auf diejenigen Krisenregionen, denen zwei charakterische Merkmale zu eigen sind:

Eine besorgniserregende Entwicklung hinsichtlich Art, Verfügbarkeit und Umfang von Waffensystemen:

nachgewiesener Nuklearwaffenbesitz außerhalb der Großmächte (Indien – "friedlicher Test 1974", Pakistan, Nordkorea),

nachgewiesene Raketen mit Reichweite von mehr als 1.000 km (Indien, Pakistan, Iran, Nordkorea),

Hinweise auf umfangreiche Hilfen durch unterschiedliche Institutionen oder Personen.

Die Aktivitäten dieser Länder bei Transportmitteln und Massenvernichtungswaffen – hier stehen nukleare Ladungen im Vordergrund – sind im Regelfall charakterisiert durch

Abhängigkeit von fremder Unterstützung (Produkte, Experten, …),

extrem langen Zeitbedarf für die Realisierung, wobei eigenständige Erfolge, insbesondere bei Transportsystemen, eher selten sind,

Verknüpfung und Verdeckung der Transportsystemaktivitäten durch Raumfahrtprogramme (Atmosphärenforschung, Trägersysteme – Argentinien, Pakistan, Indien, …).

Verdeckung von Arbeiten an Nuklearwaffen durch zivile Programme.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Unterstützungsquellen nicht klar ersichtlich sind und fehlerhafte Deklarationen in die Irre führen, sodass sich die zu beurteilende Lage immer unübersichtlicher gestaltet und schwieriger zu durchschauen ist.

Diese Lage ist aber keinesfalls eine Folge des zu Ende gegangenen Ost-West-Konflikts. Denn neben den USA, der UdSSR und den anderen Siegern des Zweiten Weltkriegs waren bereits seit den 50er Jahren weitere Länder an solchen Programmen interessiert. Zu nennen sind unter anderem Ägypten, Argentinien, Brasilien, Indonesien, Indien, Israel und Südafrika, aber auch der Irak, Nordkorea und der Iran. Jedoch konnten nur wenige ihre Anstrengungen mit Erfolg krönen.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich die Lage verkompliziert, da der kontrollierende Einfluss der Großmächte verschwunden ist und wirtschaftliche Aspekte in den Vordergrund gerückt sind. Ließ sich die damalige Situation auf die zwei Spieler USA und Sowjetunion eingrenzen, die sich durch Raketenbedrohung gegenseitig in Schach hielten, so wurde nun daraus ein unübersichtliches weites Feld zahlreicher Mitspieler – aus der Raketenbedrohung 1.0 wurde die Raketenbedrohung 2.0.

Die Motive dieser Länder, sich auf dem Markt mit Fernwaffentechnik zu versorgen, sind grundlegend andere als die entsprechenden Motive der Blöcke zuzeiten des Kalten Krieges. Diese neuen Interessen neuer Mitspieler im Kräftekonzert ließen nicht nur alte Konflikte wieder aufbrechen, sondern zusätzlich neue entstehen, was dann gegenseitige Waffen- und Vernichtungsdrohungen zur Folge hatte.

Derzeit stehen drei Hauptregionen im Brennpunkt, die sich in einem Gürtel nördlich des Äquators vom Nahen bis zum Fernen Osten erstrecken; daneben gibt es andere Regionen von derzeit geringerer Bedeutung sowie neben der VR China und Russland einige Länder der früheren Sowjetunion:

MENA – Middle East and North Africa (Mittlerer/Naher Osten und Nordafrika) – Ägypten, Irak (erzwungene Beendigung der Aktivitäten), Iran, Jemen, Libyen (freiwillige Beendigung der Aktivitäten), Saudi Arabien, Sudan, Syrien,

Ferner Osten – Nordkorea,

Indischer Subkontinent – Indien, Pakistan,

Verschiedene ehemalige Sowjetrepubliken – Ukraine, Weißrussland, …

Im Mittelpunkt des Interesses stehen derzeit zwei Länder – Iran und Nordkorea. Dies hat zwei Gründe: Beide haben Nuklearambitionen – im letzteren Fall erklärte, im ersteren vermutete – und beide scheinen über die Voraussetzungen zu verfügen, bald geeignete, operativ effektiv nutzbare Trägersysteme in ihren Arsenalen zu haben. Zwar ist die reale, aktuelle Lage unklar, dessen ungeachtet dreht sich aber die Diskussion nur noch um den Zeitrahmen und die daraus abzuleitenden Konsequenzen. Diese Fragen sind im Fall des Iran auch deshalb so dringend, weil hier wegen der vielen daran beteiligten und davon betroffenen Länder die Gefahr eines sich ausweitenden Konfliktherds besteht, der sich auf die ganze Region ausweiten könnte.

Als angehende Großmacht auf demokratischer Grundlage befindet sich Indien, im Gegensatz zu Pakistan, auf dem Weg zum anerkannten Nuklearstaat, kann also in Ruhe weiterarbeiten. Aber es gibt noch weitere Länder, die derzeit keine wesentliche Rolle spielen, die aber nicht aus den Augen verloren werden dürfen.

– Kritische Krisenregionsländer –

1.2Bisheriger Einsatz ballistischer Raketenwaffen größerer Leistung

Der massive Einsatz von ballistischen Fernraketen begann im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen A4, besser bekannt unter der Propagandabezeichnung V2 (Vergeltungswaffe Nr. 2). Erst drei Jahrzehnte später wurde wieder auf ballistische Raketen zurückgegriffen, als Ägypten im Jom-Kippur-Krieg einige Flugkörper gegen Israel verschoss, die aber wirkungslos verpufften. Ab den 80er Jahren begann dann der beinahe routinemäßige Einsatz dieses Waffentyps auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen. Den Raketeneinsätzen des Irak und Iran im Golfkrieg folgten sowjetische und russische Streitkräfte mit den Abschüssen von Flugkörpern in Afghanistan, Tsche-tschenien und Georgien. Militärisch resultierte daraus jedoch kein Vorteil. Dies gilt auch für die kürzlich erfolgten vereinzelten Einsätze in den Bürgerkriegen in Libyen, Syrien und der Ukraine, die keine Veränderung des Kriegsglücks brachten. All diese Einsätze erfolgten überwiegend gegen zivile Ziele.

Die Geschichte hat also gezeigt, dass sich durch Raketen mit konventionellen Gefechtsköpfen keine militärischen Vorteile gewinnen lassen, die politischstrategischen Auswirkungen hingegen beträchtlich sein können, insbesondere bei Angriffen auf zivile Ziele. Zusammen mit der Veränderung der globalen politischen Situation führte diese Erkenntnis zu einer wachsenden Bedeutung der Raketenwaffen, sodass immer mehr Länder der Krisenregionen begannen, sich mit solchen Systemen auszurüsten.

Die in diesen Kriegen eingesetzten Raketen hatten durchweg nur kürzere Reichweiten und waren – lässt man einfache Terror- und Artillerieraketen beiseite – in keinem Fall mit Massenvernichtungswaffen bestückt. Trotz der vielen Kriegseinsätze ist die Liste der verwendeten Raketenmodelle extrem kurz, und man kann eigentlich nur zwei Typen identifizieren, die in großem Umfang verschossen wurden: A4 und Scud.

A4/V2

Zunächst war es die deutsche A4, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs das Raketenzeitalter einläutete. Sie war der entscheidende technische Schritt, der innerhalb eines Jahrzehnts zu einem neuen Typ von Waffensystemen führte.

Die Rakete A4 – der Buchstabe A ist die Abkürzung für die früher für eine Rakete benutzte Bezeichnung "Aggregat" (heute statt dessen System), und 4 steht für die 4. Gerätekonfiguration dieser Raketenreihe – spielt zwar naturgemäß heute waffentechnisch keine Rolle mehr, aber als Mutter aller Raketenwaffen hat sie eine herausragende Bedeutung: Alle modernen Raketen stellen die Fortführung dieses

Einsatz ballistischer Raketenwaffen in Kriegen

* Die Lage in Afghanistan während des Krieges und nach dem Abzug sowjetischer Truppen ist nicht sicher geklärt

** Lage unklar

Anfangspunktes dar, und die seither erreichten Verbesserungen beschränken sich auf technische Details.

– Vorbereitungen zum Abschuss der A4/V2 –

Informationen zur A4/V2

Herkunft

Deutschland

Erstflug [Jahr]

1942

Länge[m]

14

Durchmesser [m]

1,65

Startgewicht [t]

12,9

Nutzlast [t]

1

Reichweite [km]

300

R-17/Scud B

Seit den 70er Jahren kommt bei den Ländern der Krisenregionen praktisch nur ein Raketentyp größerer Reichweite zum Einsatz, der aus der Sowjetunion stammt oder auf diesen zurückgeführt werden kann. Es handelt sich dabei um die Rakete R-17, besser bekannt unter dem westlichen Designator Scud B.

Diese Rakete, die beim halben A4-Startgewicht dieselbe Leistung und Reichweite bietet, zieht sich wie ein roter Faden durch die Proliferationsund Bedrohungsgeschichte. Sie wurde in großen Stückzahlen produziert, ist gut verfügbar und gilt als die meistverbreitete Fernrakete. Ihr Ursprung kann bis auf die deutschen Raketenentwicklungen und die A4 zurückgeführt werden.

– R-17/Scud B –

Informationen zur R-17/Scud B

Herkunft

Sowjetunion

Erstflug [Jahr]

1959

Länge [m]

10,9

Durchmesser [m]

0,88

Startgewicht [t]

5,9

Nutzlast [t]

1

Reichweite [km]

300

Das Interesse an dieser Waffe ist ungebrochen, denn neben der Ausgangsversion Scud B gibt es weitere Varianten, deren Reichweite (bei deutlich verringerter Nutzlast) bis weit über 500 km beträgt. Deshalb präsentieren einzelne Länder bis in die jüngste Vergangenheit neue Konfigurationen dieses Raketentyps.

Die Bedrohungssituation war mit diesem Raketentyp also gut überschaubar. Durch die bescheidenen Leistungswerte insbesondere im Hinblick auf die Reichweite hatte diese Rakete nur bei regionalen Konflikten eine gewisse Bedeutung, und massive Gefährdungen jenseits dieser Zonen waren nicht abzusehen.

1.3Von Raketenbedrohung 1.0 zu Raketenbedrohung 2.0

Seit den späten 80er Jahren hat sich aber eine deutliche negative Änderung ergeben: Die stabile bipolare Raketenbedrohung 1.0 zwischen den USA und der Sowjetunion wurde durch die multipolare Raketenbedrohung 2.0 aus den Krisenregionen abgelöst. Seitdem ist eine Vielzahl neuer Raketentypen mit wesentlich höheren Leistungswerten aufgetaucht, die sogar interkontinentale Reichweiten zu ermöglichen scheinen. Eines der Kernprobleme ist dabei, dass in vielen Fällen die tatsächliche Waffensituation ungeklärt ist: Die Bandbreite reicht von wirklich existierenden Systemen bis zu lediglich zugesprochenen oder gar nur vermuteten Flugkörpern. Diese Unsicherheit macht es notwendig, jeweils einzeln die Programme genauer zu untersuchen, denn oft genug lässt sich die verbreitete Lehrmeinung zu Herkunft und Status der Raketen nicht mit den verfügbaren Informationen und Fakten in Einklang bringen. Dies gilt auch für unterstützende Quellen und Hilfen. Noch schwerer zu beurteilen ist der reale Stand der Programme in Bezug auf Offensivfähigkeit oder den Umfang der Bewaffnung.

Dieser Aufwuchs an Raketen begann in den 80er Jahren parallel zum Krieg des Irak gegen den Iran und hat seitdem zu einer ständigen Erweiterung geführt, die trotz der hohen Kosten und aller Versuche zur Eindämmung anscheinend kaum noch zu stoppen ist. So entwickelten sich über die Jahre in den verschiedenen Ländern umfangreiche Arsenale an Trägersystemen, die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüstet werden können.

Beschränkt man sich auf die wesentlichsten Raketenmodelle, so zeigt ein Überblick über die verfügbaren, vermuteten oder zugesprochenen Systeme, dass Grenzkonflikte immer mehr in den Hintergrund treten. Neben verschiedenen Systemen kürzerer Reichweite, die aber kaum Bedeutung haben, gibt es vermehrt Geräte, die angeblich so große Distanzen überbrücken könnten, dass sich nicht nur die unmittelbaren Nachbarn dieser Krisenregionsländer im Schussbereich befinden, sondern potentiell erstmals auch Europa und die USA.

– Wichtige Flüssigkeitsraketen der Krisenregionsländer (fett – bisher eingesetzte Waffen) –

– Wichtige Feststoffraketen der Krisenregionsländer (fett – bisher eingesetzte Waffen)

Zugesprochene Leistung verfügbarer oder vermuteter Flüssigkeitsraketen

Raketentyp

Land

Reichweite [km]

Prithvi

Indien

150

R-17/Scud B

viele Länder

300

Scud C

500

Scud D

700

Qiam

Iran

750

Nodong

Nordkorea

 

Ghauri

Pakistan

1.300

Shahab 3

Iran

 

Ghadr-1

Iran

1.800

Musudan

Iran Nordkorea

2.500-4.000

KN-08

Nordkorea

6.000+

Zugesprochene Leistung verfügbarer oder vermuteter Feststoffraketen

Raketentyp

Land

Reichweite [km]

Totschka

Russland

70-120

KN-02

Nordkorea

120-140

Iskander E

Russland

280

Ghaznavi

Pakistan

320

Shaheen 1

750

Shaheen 2

2.500

Sejil

Iran

2.000

Agni I

Indien

700+

Agni II

2.000+

Agni III

3.500+

Agni IV

3.000+

Agni V

5.000+

Zusätzlich zu diesen Feststoffraketen der Krisenregionsländer gibt es weitere Angebote für Raketen dieses Typs für kurze und mittlere Reichweite. Dazu kommen noch Berichte über Arbeiten in Syrien, die auf iranischen Flugkörpern aufbauen sollen.

Die beiden Länder Iran und Nordkorea, die derzeit im Brennpunkt des Interesses sind, bauen nahezu parallel ihre Fähigkeiten auf dem Raketensektor auf, denn eine Reihe der Flüssigkeitssysteme scheint weitgehend identisch zu sein. Zu nennen ist hier vor allem eine Rakete, die wie eine vergrößerte Version der Scud B erscheint. Diese Rakete wird in Nordkorea als Nodong, im Iran als Shahab 3 bezeichnet. Dabei ist unklar, wie diese Ergebnisse erzielt wurden: Es besteht die Möglichkeit einer direkten Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, oder die Erfolge basieren auf einer Kooperation mit einer gemeinsamen Quelle; eine völlige Unabhängigkeit scheint ausgeschlossen zu sein.

Auf der anderen Seite vollzieht der Iran einen klar erkennbaren Schwenk in Richtung größerer Feststoffraketen, während Nordkorea die Flüssigkeitsraketenlinie unverändert beibehält. Eine Beurteilung der realen Situation ist nicht einfach, da ab Nodong/Shahab 3 in Nordkorea die Testflüge für die neuen Raketen fehlen.

– Entwicklung der Waffenraketengröße im Iran (grau) und in Nordkorea (rot) – (fett – erfolgreich; gestrichelt – bisher kein Start; kursiv – Lage unklar)

Zusätzlich zu den Aktivitäten für Raketenwaffen gibt es in beiden Ländern auch Vorhaben für Raumfahrtträger. Diese Programme verlaufen in zwei Stufen, zunächst einer kleinen Version mit Nodong/Shahab 3 als Basis und danach einer großen Ausführung mit einem Triebwerksbündel von vier Motoren. Die letztere Konfiguration stellt größenmäßig selbst die leistungsstarken Waffenträger in den Schatten. Die Vorgehensweisen beider Länder sind allerdings unterschiedlich: Während Nordkorea die Lösung in dreistufigen Konfigurationen sieht, beschreitet der Iran den Weg mit zweistufigen Ausführungen. Dabei war der Iran mit dem kleinen Träger Safir bisher mehrmals erfolgreich, während der einzige Test des kleinen nordkoreanischen Trägers 1998 misslang.

– Raumfahrtträger des Iran (grau) und von Nordkorea (rot) – (fett – erfolgreich; gestrichelt – Projekt/Fehlschlag Striche Zeitleiste: dünn – Fehlschlag; dick – Erfolg Waffenraketen - dünn/gestrichelt)

Bei den großen Trägern war Nordkorea nach drei Fehlversuchen mit dem vierten Test schließlich erfolgreich, während auf der iranischen Seite bisher nur ein Modell der großen Rakete gezeigt wurde.

Diese Satellitenträgeraktivitäten sind von besonderem Interesse, da sich Waffenraketen und Raumfahrtraketen im Prinzip technisch nicht unterscheiden, also theoretisch jedes System für die jeweils andere Aufgabe herangezogen werden könnte. Da diese Satellitenraketen schwerer und damit potentiell leistungsfähiger sind als die vorhandenen Waffenraketen, könnten also unter dem Deckmantel der Raumfahrt in Wahrheit weitreichende Waffenraketen realisiert werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Raumfahrtnutzung von Waffenraketen eine gängige Prozedur ist, während man das Gegenstück bisher noch nicht beobachtet hat. Es kann daran liegen, dass dafür bei den Nationen, die Waffen- und Raumfahrtraketen entwickeln, kein Bedarf dafür vorhanden war. Aber auch dieses Thema kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern bedarf einer spezifischen Untersuchung für den jeweiligen Träger.

– Iranische und nordkoreanische Satellitenträger –

Der großen Anzahl unterschiedlicher Waffenraketen und Raumfahrtträger steht ein eklatanter Mangel an zuverlässigen Informationen gegenüber. Dazu kommt noch das Fehlen von Methodiken zur systematischen Untersuchung und Bewertung, was vielfach dazu führt, sich auf zweifelhafte, ungeprüfte Quellen zu stützen, oder es wird dem "Raten" der Vorzug gegeben.

Es besteht deshalb die dringende Notwendigkeit, mit einer analytischen Behandlung der tatsächlichen Lage auf den Grund zu gehen.

1.4Notwendigkeit einer Bedrohungsbewertung

Mit dieser Verbreitung weitreichender Raketenwaffen und den wachsenden technischen Fähigkeiten ergeben sich eine Reihe wichtiger Fragen:

Wie real sind diese neuen Raketen?

Gibt es überhaupt eine Bedrohung und welcher Art ist sie?

Wie ist diese Bedrohung rational zu behandeln?

Wie steht es um die Weiterentwicklung dieser Waffen in den nächsten Jahren und der ferneren Zukunft?

Was bedeutet das für die Bedrohung?

Kommt Europa in den Einzugsbereich dieser Waffen?

Gilt dies auch für die USA oder sogar noch weiter entfernte Gebiete?

Wie steht es um die Möglichkeit, Raumfahrtträger für Waffenzwecke einzusetzen?

Kann man unter dem Deckmantel von Raumfahrtaktivitäten auf dem Waffensektor weiterkommen?

Wie muss man an eine Eindämmung des Fernwaffenproblems herangehen?

Was kann getan werden, um die Bedrohung und das damit verbundene Risiko zu reduzieren oder ganz zu eliminieren?

Die zur Behandlung dieser Themen verfügbare Literatur ist größtenteils politisch orientiert. Technischen Gesichtspunkten wird deshalb nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet und vielfach ergeben sich hieraus Folgefehler, die geradewegs in eine Märchenwelt hinsichtlich Waffen und Bedrohung führen.

1.5Aufgabenstellung für die Bedrohungsanalyse

Üblicherweise orientieren sich die Darstellungen an westlichen Standpunkten, die naturgemäß auf einem breiten technischen Potential sowie umfangreichen finanziellen und personellen Ressourcen basieren. Dies entspricht aber in keinster Weise der Lage, den Absichten und Möglichkeiten dieser Länder, sodass eine wachsende Diskrepanz zwischen der realen Lage und der unter westlichen Gesichtspunkten konstruierten Situation sowie der künftigen Entwicklung generiert wird. Deshalb ist eine Konzentration auf das methodische Vorgehen, die Technik und den Blickwinkel der Länder dieser Regionen notwendig.

Obwohl Fernwaffen von vielen Ländern entwickelt und gefertigt werden, sind eigentlich nur einige dieser Länder von Interesse, sodass ein detaillierter Blick auf diese Länder und deren Flugkörper unabdingbar ist. Dann kann die Frage nach der Bedrohungssituation und -bewertung durch die Behandlung einer Reihe wichtiger Themen beantwortet werden.

Der Schwerpunkt liegt auf der Behandlung von Technologie und Proliferation ballistischer Flugkörper als Transportsystem; ergänzt wird dies durch eine Darstellung von Massenvernichtungswaffen (biologischen, chemischen, nuklearen und radiologischen Waffen) sowie den prinzipiellen Aspekten einer Flugkörperabwehr. Auf eine detaillierte Behandlung von Marschflugkörpern wird verzichtet, da sie aus Leistungsgründen als Fernwaffenträger nur eine Nischenrolle einnehmen.

Zwar sind Grundkenntnisse der Raketentechnik und Raumfahrt zum Verständnis dieses Themas von Vorteil, um aber auch Fachfremden den Zugang zu ermöglichen, ist der Umfang an Gleichungen und Formeln so gering wie möglich gehalten, wenn auch nicht ganz darauf verzichtet werden soll.

Im Einzelnen werden folgende Punkte behandelt:

Bedeutung von Waffen als Mittel zur Umsetzung politischer Ziele,

technische Aufgabenstellung mit Lösungsalternativen sowie Dimensionierung und Rekonstruktion,

Waffenladungen und Gefechtsköpfe,

Geschichte der Fernwaffen und deren Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg,

Methoden der Informationsgewinnung und Bewertung des Materials hinsichtlich Leistung und Status des Waffenprogramms sowie möglicher internationaler Verbindungen,

Übersicht von Fernwaffen der verschiedenen Länder mit technischer Beschreibung und Identifikation der Kontakte und Hilfen,

Flugkörperabwehr,

Folgerungen für die Zukunft.

Diese Darstellung dient dazu, sich mit den waffentechnischen Überlegungen und Zielsetzungen dieser Länder vertraut zu machen, die technischen Aspekte in ihren Grundzügen zu verstehen, die politischen Aspekte nicht aus dem Blick zu verlieren und die erarbeitete Analysemethode für eine Bewertung der Fernraketen mit den dazugehörigen Massenvernichtungswaffen anwenden zu können.