Frieder von Ammon

Meine Cellisten und ich – und unsere Begegnungen mit Goethe, Haydn, Mozart und anderen
Wolf Wondratschek spielt ›the Mara‹

»Für viele Menschen bedeutet das Cello alle möglichen Dinge.«

Gregor Piatigorsky

Sprechende Musikinstrumente? Doch, das hat es immer wieder gegeben in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Rilke zum Beispiel hat eine Laute zum Sprechen gebracht. Das klingt dann so: »Ich bin die Laute. Willst du meinen Leib / beschreiben, seine schön gewölbten Streifen: / sprich so, als sprächest du von einer reifen / gewölbten Feige. Übertreib // das Dunkel, das du in mir siehst. Es war / Tullias Dunkelheit. […].«1 Nicht nur diejenigen, die des Italienischen mächtig sind, verstehen, was mit der »Feige« hier gemeint ist, und es hätte auch der Anspielung auf Tullia d’Aragona, die berühmte Kurtisane (und Dichterin) des 16. Jahrhunderts, nicht bedurft, um zu durchschauen, was hier gespielt wird: Diese verruchte Laute versucht, den Leser zu verführen, und dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund.

Anders klingt es, wenn Josef Weinheber Musikinstrumente sprechen lässt, etwa in seinem vierteiligen Gedichtzyklus »Kammermusik«, in dem nacheinander die vier Instrumente eines Streichquartetts zu Wort kommen. Den Anfang macht, wie es sich gehört, die erste Geige: »Ich, in die Schönheit dieser Welt verliebt, / beschenke sie mit meiner eignen Schöne. / Die Welt ist ohne Abgrund. Strömend gibt / mein Herz sich aus. Ich bin nur Lied: Ich töne.« Die Bratsche hingegen lässt sich folgendermaßen vernehmen: »Mein grauer Scheitel macht es mir zur Pflicht, / den Abgrund euch zu nennen. Wie ihr beide / verschwistert hingeht, Kindliche, besticht / selbst noch der Streit um nichts. Ich aber leide.«2 Und so fort. Man muss kein Bratschist sein, um zu erkennen, dass dieses lyrische Quartett – anders als die Streichquartette der Wiener Klassik, die Weinheber im Sinn gehabt haben dürfte – nicht frei ist von Klischees.

Einen weiteren Beitrag zu dieser so bemerkenswerten wie merkwürdigen literarischen Tradition (die sich mindestens bis in die Romantik zurückverfolgen lässt), hat Wolf Wondratschek mit seiner Erzählung »Mara« aus dem Jahr 2003 geleistet. In gewisser Weise geht Wondratschek sogar über alle seine Vorgänger hinaus: Denn seine als autobiografischer Monolog eines Violoncellos angelegte Erzählung umfasst nicht nur (wie die Gedichte Rilkes und Weinhebers) wenige Strophen, sondern ganze 200 Seiten; schon allein im Hinblick auf seinen Umfang steht dieser Text somit konkurrenzlos da. Zudem ist es nicht irgendein Violoncello, das da spricht, sondern ein ganz besonderes, ein einzigartiges sogar: ›the Mara‹ – eines der wenigen weltberühmten und legendenumwobenen Celli aus der Werkstatt Antonio Stradivaris. Wondratschek wollte also nicht (wie Rilke und Weinheber) ein Musikinstrument exemplarisch für seine ›Gattung‹ sprechen lassen; stattdessen hat er einem einzelnen, spezifischen Instrument eine Stimme gegeben, einem Individuum gewissermaßen. Dabei herausgekommen ist ein unterhaltsamer und – in mehr als einer Hinsicht – ungewöhnlicher Text. Von ihm und seinen Besonderheiten soll im Folgenden die Rede sein.

1 »Mein Cello und ich«: Ein Prätext?

Zunächst ist jedoch auf ein anderes Buch zu verweisen, das möglicherweise ein versteckter Prätext der Erzählung ist: die Autobiografie des berühmten russisch-amerikanischen Cellisten Gregor Piatigorsky, die zuerst im Jahr 1965 erschien, und zwar unter dem nüchternen – und insofern die schillernde Persönlichkeit Piatigorskys und auch seinen lebendigen Erzählstil verfehlenden – Titel »Cellist«. Der Titel der wenige Jahre später erschienenen deutschen Ausgabe war da schon passender: »Mein Cello und ich« lautet er und deutet damit bereits die symbiotische Beziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument an. Und auch der in der deutschen Ausgabe hinzugekommene überlange Untertitel hat seine Berechtigung: »Mein Cello und ich – und unsere Begegnungen mit Béla Bartók, Sir Thomas Beecham, Pablo Casals […], Bruno Walter, Felix Weingartner, Stefan Zweig und anderen«3. Dieser (hier in gekürzter Form wiedergegebene) Katalog berühmter Namen ist insofern nicht überflüssig, als die zumeist in Form amüsanter Anekdoten geschilderten Begegnungen Piatigorskys mit all diesen berühmten Musikern (und dem einen Schriftsteller Zweig) im Zentrum des Buches stehen, das auf diese Weise auch zu einer Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wird, einer Musikgeschichte aus der – sehr subjektiven – Perspektive Piatigorskys. Am Ende des Buches steht das (etwas aus der Reihe fallende) Kapitel »Geschichten aus dem Leben einiger berühmter Celli«, in dem Piatigorsky von ›seinen‹ Celli erzählt, darunter auch mehrere aus der Werkstatt Stradivaris. Eines davon – das ›Batta‹ – liebte Piatigorsky über alle Maßen. Folgendermaßen beschreibt er die Wirkung dieses Instruments auf sich: »Mit seinen beinahe unergründlichen Möglichkeiten spornte es mich an, in seine Tiefen zu dringen, und ich habe nie schwerer gearbeitet und nie etwas heißer ersehnt, als aus diesem überragenden Instrument alles herauszuholen, was es zu geben vermag.«4 Auch auf die Geschichte dieses Instruments geht er ein: »Das ›Batta‹ wurde in Cremona im Jahre 1714 geboren, aber über sein Leben während seiner ersten hundertzweiundzwanzig Jahre ist geheimnisvollerweise nichts bekannt. Die Geschichte dieses Cellos beginnt für uns erst im Jahre 1836, als es nach Paris kam, dort gesehen und von dem berühmten Servais und dann von seinem Kollegen Alexandre Batta gespielt wurde. Beide, Servais und Batta, behaupteten, noch nie in ihrem Leben einen so herrlichen Klang gehört zu haben.«5

Und daraufhin erzählt Piatigorsky, wie es weiterging mit Batta und seinem Cello. Es ist eine rührende Geschichte, die, wie sollte es anders sein, mit bitteren Tränen endet (Batta musste das Cello schließlich verkaufen): »Nachdem das Geschäft abgeschlossen war, sah er sein geliebtes Cello zum letztenmal, als man es in eine Kutsche legte, um es wegzuführen. Er beugte sich vor, Tränen rannen ihm übers Gesicht, und er küßte den Cellokasten.«6 Wenigstens trug das Cello fortan Battas Namen; heute wird es ›Batta-Piatigorsky-Cello‹ genannt und befindet sich im Metropolitan Museum of Art in New York.

Manches nun spricht dafür, in diesem Kapitel einen Prätext von Wondratscheks »Mara« zu sehen: Denn auch in dieser Erzählung werden ja Geschichten aus dem Leben eines berühmten Cellos erzählt, und dies auf eine ähnlich anekdotisch-pointierte Weise wie bei Piatigorsky. Darüber hinaus erinnert einer der ersten Sätze der Erzählung sogar wörtlich an einen der bereits zitierten Sätze Piatigorskys. Der hatte geschrieben: »Das ›Batta‹ wurde in Cremona im Jahre 1714 geboren […].« Bei Wondratschek heißt es: »Ich bin 1711 in Cremona, in der Werkstatt meines Meisters Antonio Stradivari zur Welt gekommen […].«7 Damit soll freilich keinesfalls gesagt sein, Wondratschek habe bei Piatigorsky abgekupfert. Die Parallelen machen vielmehr deutlich, dass er mit »Mara« eine Art Gegenstück zu dem letzten Kapitel von »Mein Cello und ich« geschrieben hat, und dies in dreifacher Hinsicht: erstens, indem er als Gegenstand ein Stradivari-Cello wählte, das sich niemals im Besitz Piatigorskys befunden hat und in dessen Buch auch nicht erwähnt wird; mit seiner Erzählung über ›the Mara‹ hat Wondratschek also gewissermaßen eine Lücke geschlossen, die Piatigorsky gelassen hatte. Zweitens, indem er die Geschichte dieses Cellos in aller Ausführlichkeit erzählt; Piatigorsky hingegen hat die Geschichte des ›Batta‹ in nur wenigen Sätzen abgehandelt. Und drittens, indem er keinen Cellisten, sondern das Cello selbst erzählen lässt und die Erzählperspektive somit umkehrt; auch damit bietet »Mara« etwas, was »Mein Cello und ich« nicht leistet, und zwar etwas genuin Literarisches. Allem Anschein nach gehört Piatigorskys Autobiografie also in der Tat zu den (zahlreichen) intertextuellen Bezugspunkten von Wondratscheks Erzählung. Der Name Piatigorsky wird in »Mara« zwar an keiner Stelle erwähnt (anders als die Namen von Pablo Casals, Mstislav Rostropowitsch und einigen anderen berühmten Cellisten des 20. Jahrhunderts), aber immerhin lässt Wondratschek ›the Mara‹ an einer Stelle mit großer Deutlichkeit den Wunsch formulieren, einmal von einem russischen Cellisten gespielt zu werden: »Aber um ehrlich zu sein, wünsche ich mir manchmal insgeheim doch etwas, eine Kleinigkeit – einen Russen. Halten Sie mich für sentimental oder altmodisch oder abergläubisch, aber ich denke, Sie verstehen. Einmal von einem russischen Cellisten gespielt (fast hätte ich gesagt: verwöhnt) werden, einem jungen, draufgängerischen, unverschämt begabten Russen. So ganz aus der Welt ist der Wunsch ja nicht, oder? Russen waren immer schon verrückt nach uns, angefangen bei dem Zaren.« (M 52)

Wenige russische Cellisten entsprechen dieser Wunschphantasie besser als Piatigorsky, so viel ist sicher; insofern wäre es tatsächlich verlockend, diese Passage als eine verborgene Hommage an ihn zu lesen.

2 Der Erzähler als rhetorisch versierte Diva: Zu Struktur und Erzählweise

In jedem Fall ist »Mara« die Autobiografie eines weltberühmten Cellos – und das dürfte einzigartig sein in der Literaturgeschichte. Wie aber ist dieser Text im Detail gemacht? Und welche (weiteren) Besonderheiten weist er auf? Auf den ersten Blick ist die Erzählung ganz konventionell angelegt: In der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts erzählt ›the Mara‹ rückblickend von seinem zu diesem Zeitpunkt fast 300-jährigen Leben, und es tut dies nicht – wie man angesichts des Alters und vor allem des Wertes dieses Instruments erwarten könnte – auf eine elitär-distinguierte, sondern auf eine vitale und betont kolloquiale, gelegentlich sogar burschikose Weise. Zu der Kolloquialität der Erzählweise tragen auch die zahlreichen Leseransprachen bei, die dem Text, der natürlich trotzdem schriftlich verfasst ist, den Anschein geben, eine mündliche Erzählung zu sein. Bereits im ersten Satz wird diese Technik der schriftlichen Fiktion von Mündlichkeit angewendet: »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, meine Geschichte, wenn ich das darf, die Geschichte eines Cellos« (M 5). Rhetorisch durchaus geschickt, wird der Leser so von Beginn an mit in die Erzählung einbezogen; ›the Mara‹ macht ihn gleichsam zu seinem Vertrauten. Und wer wollte nicht der Vertraute eines solchen Cellos sein?

Schenkt man ihm Gehör, wird man nach und nach nicht nur mit der Lebensgeschichte, sondern auch mit Persönlichkeit und Weltanschauung dieses Instruments vertraut. So hat es etwa durchaus dezidierte musikästhetische Ansichten und vertritt an einer Stelle vehement die Idee einer unbedingten Kontemporaneität in der Musik: »Zeitgenössische Musik? Was denn, was denn! Ich stehe seit meiner Geburt im Dienste zeitgenössischer Musik. Ich bin nun fast schon drei Jahrhunderte hindurch Zeitgenosse. Und bin einverstanden! Ich dulde kein Bedauern, ich nicht; und unter Zeitdruck stehe ich bei meiner Lebenserwartung auch nicht. […] Ich habe Türen knallen gehört wie Ohrfeigen. Ganze Stuhlreihen lehrten sich unter schlurfenden Schritten, andere waren von Beginn an überhaupt leer geblieben. Macht nichts, macht doch nichts, denn seht! Oder hört, sage ich, und glotzt nicht!« (M 78 f.)

In nur scheinbarem Widerspruch zu dieser entschiedenen Haltung hat man es bei ›the Mara‹ aber auch mit einer so empfindsamen wie empfindlichen Künstlerseele zu tun. Zwar bestreitet es einmal, dem weiblichen Geschlecht anzugehören (»Ich, eine Frau? Sehr witzig, wirklich!«, M 102), divenhaft kann es sich aber dennoch äußern: »Ich spüre bei jedem Konzert, daß ich etwas Besonderes, eben ein Stradivari, bin. Trägt mich mein Cellist hinaus auf das Podium, starrt das Publikum nicht ihn, sondern mich an. Ich bin eben nicht nur einfach ein Cello, sondern das Kind meines Vaters, ein Kunstwerk eigenen Rechts. Und ich bin Mara, eine Legende« (M 28).

Dieses gesunde Selbstwertgefühl verhindert allerdings nicht, dass ›the Mara‹ auch von Konkurrenzangst überwältigt werden kann, wenn andere berühmte Celli ins Spiel kommen – vor allem dann, wenn es sich dabei um Celli aus der Werkstatt Domenico Montagnanas handelt: »Plötzlich tauchte sie auf, diese alte Diva, die sich Sleeping Beauty nennt, Schlafende Schönheit. Kein Kommentar! Als sei das noch nicht genug, ist sie ein Montagnana. Auch das noch, ausgerechnet! Und das mir!« (M 200)

So menschlich, allzu menschlich ›the Mara‹ aber auch sein mag: Zugleich erweist es sich als ein souveräner, stellenweise sogar gewiefter Erzähler. Mit einem sicheren Gespür für Dramaturgie wählt es aus der Fülle des Erlebten aus, schildert einzelne Episoden – wie etwa das Schiffsunglück auf dem Río de la Plata, bei dem es beinahe unwiederbringlich zerstört worden wäre – ausführlich, andere knapp, überspringt manches und lässt sich gelegentlich auch zu Abschweifungen hinreißen. Trotzdem ist die Erzählung klar gegliedert: Auf einen Einleitungsteil folgen drei größere Abschnitte, die jeweils einem Jahrhundert gewidmet sind, und diese Jahrhunderte werden, von wenigen Abweichungen abgesehen, durchweg chronologisch erzählt. Im Mittelpunkt stehen dabei die zahlreichen Cellisten, die ›the Mara‹ im Lauf der Zeit gespielt haben: eine stattliche Reihe, mit einigen berühmten Namen darunter. Um nur einige davon zu nennen: Auf Johann Baptist Mara (nach ihm wurde ›the Mara‹ benannt) folgen unter anderem Alessandro Pezze, Carlos Tornquist, Anthony Pini, Amadeo Baldovino und zuletzt Heinrich Schiff. Neben all diesen Cellisten ist ›the Mara‹ aber auch noch vielen weiteren Protagonisten der Kulturgeschichte begegnet, darunter – um wiederum nur wenige Namen zu nennen – prominente Persönlichkeiten wie Goethe, Haydn und Mozart, aber auch weniger bekannte wie etwa der englische König Georg IV. (dessen Cellolehrer John Crosdill ›the Mara‹ einige Zeit besaß) oder der heute fast völlig vergessene englische Komponist Thomas Linley der Jüngere, der mit nur 22 Jahren ertrank. ›The Mara‹ ist sich schmerzlich bewusst, der Einzige zu sein, »der sich seiner noch leibhaftig erinnert« (M 47).

Mit Blick auf diese Namenslisten zeigt sich noch einmal, dass Wondratscheks Erzählung in der Tat als Gegenstück zu Piatigorskys Autobiografie gelesen werden kann: Denn während dort ein Cellist von seinen Celli erzählt, erzählt hier ja eben ein Cello von seinen Cellisten. Insofern könnte »Mara« auch den Titel »Meine Cellisten und ich« tragen. Und auch den Untertitel müsste man nur leicht variieren: und unsere Begegnungen mit Goethe, Haydn, Mozart und anderen. Auf diese Begegnungen wird gleich noch einmal zurückzukommen sein.

Was ist aber nun mit den erwähnten weiteren Besonderheiten dieses Buches? An erster Stelle ist hier zu nennen, dass Wondratschek mit seiner Erzählung nicht ›nur‹ einen unterhaltsamen literarischen Text geliefert hat, sondern dass er damit auch Musikgeschichtsschreibung betreibt, eine spezifische, genuin literarische Form der Musikgeschichtsschreibung allerdings, auf die im nächsten Abschnitt näher einzugehen sein wird.

3 Skandal um Mara: Literarische Musikgeschichtsschreibung in progress

Manches verbindet »Mara« aber auch mit konventionellen Musikgeschichten. Dies gilt vor allem für die Bebilderung: Wondratschek hat einige Abbildungen in die Erzählung integriert, so zum Beispiel historische Darstellungen verschiedener Londoner Konzertsäle, so das Echtheits-Zertifikat der Firma W.E. Hill & Sons aus dem Jahr 1954 und so eine Fotografie, die Heinrich Schiff mit ›the Mara‹ im Jahr 1997 zeigt. Schon auf diese, nicht zu übersehende Weise wird also die Historizität der Erzählung markiert. Wondratschek hat demnach durchaus den Anspruch, mit seinem Text auch musikgeschichtliche Fakten zu vermitteln. Entsprechend hat er ausführlich und genau recherchiert. Entscheidend ist nun aber, dass er sich die Freiheit herausnimmt, stellenweise von den überlieferten Fakten abzuweichen oder sie um fiktive Elemente zu ergänzen. An einem Beispiel soll dies vorgeführt werden: Benannt wurde ›the Mara‹, wie gesagt, nach Johann Baptist Mara, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte und als Cellist eine gewisse Bekanntheit erlangte, allerdings nicht mehr. Anders die Frau, mit der er einige Jahre lang verheiratet war: Gertrud Elisabeth Mara, geborene Schmehling – ›die Mara‹, wie sie von den Zeitgenossen genannt wurde. Sie war eine der großen Sopranistinnen des 18. Jahrhunderts; europaweit bekannt, wurde sie von Friedrich dem Großen (der deutsche Sänger ansonsten ablehnte) bewundert und gut bezahlt, Goethe besang sie in Gedichten. Wenig überraschend, hielt die Ehe zwischen Mara und ›der Mara‹ aber nicht lange; Mara trank und fiel wiederholt aus der Rolle, woraufhin sie ihn schließlich zugunsten eines Flötisten verließ.8

In einer längeren, bemerkenswerten Passage erzählt das Cello ›the Mara‹ nun von dieser Ehe, die es ja aus nächster Nähe beobachten konnte. Wondratschek kombiniert dabei auf virtuose Weise historische Dokumente mit frei Erfundenem: So lässt er ›the Mara‹ etwa das Gedicht zitieren, das der junge Goethe über ›die Mara‹ schrieb, nachdem er sie in Leipzig gehört hatte. Dann lässt er das Cello aber noch hinzufügen, dass Mara »dieses artige kleine Sträußlein hohl- und heißwangig Reim für Reim verspottet[]« (M 39) habe. Wondratschek dichtet Mara hier also an, auf den jungen Goethe eifersüchtig gewesen zu sein, was – bei allem, was man über die Wirkung Goethes auf Frauen weiß – keineswegs unrealistisch, vor allem aber durchaus witzig ist. Übertroffen wird dies aber noch durch eine Passage, in der ›the Mara‹ von einem veritablen Skandal erzählt, in den, neben ihm selbst, auch Mara und ›die Mara‹ verwickelt waren, außerdem kein Geringerer als Mozart. Um die Faktur und nicht zuletzt auch die Komik dieser Passage zur Geltung zu bringen, sei sie hier etwas ausführlicher zitiert:

»Frau Mara, wenigstens sie hoch angesehen, sang u.a. auch in Wien ein Konzert, von dem Mozart, der anwesend war, seinem Vater in einem Brief nach Salzburg berichtet, datiert auf den 24. November 1780. Als die Erste Sinfonie vorbey war, traff es Mad. Mara zu singen – da sah ich ihren H: Gemahl hinter ihr mit einem violoncell herschleichen. Ein Engagement seiner Frau betrachtete Mara grundsätzlich immer auch als das eigene, auch wenn davon ausdrücklich nie etwas in den Verträgen stand. Aber er sah das so. Der Alkohol hatte ihm die Skrupel ausgetrieben. […] darauf gieng die aria an – Giov-Mara stunde wie ein armer sünder mit dem Baßl in der hand hinter seiner frau – als sie in den saal eintratten, waren sie mir beyde schon unerträglich – denn so was freches hat man nicht bald gesehen. Mara, schreibt Mozart weiter, beschimpfte das orchestre. Und: Alles war über die impertinence des Mara aufgebracht.« (M 36)

Wie man sieht, hat Wondratschek hier Sätze aus einem realen Mozart-Brief in die Erzählung integriert; er kombiniert also ein historisches Dokument mit frei Erfundenem und bringt den Wiener Skandal um Mara auf diese Weise wirkungsvoll zur Darstellung. Ähnlich wie das Cello selbst wird hier somit auch das historische Material gleichsam zum Sprechen gebracht.

Dass dem Autor kleinere historische Ungenauigkeiten unterlaufen: geschenkt. (So kann Goethe ›die Mara‹ etwa nicht in der Oper »S. Elena al Calvario« von Johann Adolph Hasse gehört haben – denn diese Oper gibt es gar nicht, es handelt sich dabei um ein Oratorium; und dessen Aufführung fand auch nicht im Jahr 1771 statt, sondern bereits 1766.) In jedem Fall gelingt es Wondratschek mit seiner Vorgehensweise, dem Leser auch ansonsten schwer vermittelbare Aspekte der Musikgeschichte nahezubringen. Wer hätte sich sonst schon für einen versoffenen Cellisten des 18. Jahrhunderts interessiert (der nicht einmal in den einschlägigen Musiklexika unserer Zeit berücksichtigt wird)?

Eine weitere Besonderheit der literarischen Musikgeschichtsschreibung, die Wondratschek in »Mara« betreibt, ist, dass er sie fortgesetzt hat. Wie das? Die Tatsache, dass die Erzählung im Jahr 2003 erschien, bedeutete natürlich nicht, dass damit die Geschichte von ›the Mara‹ zu Ende gewesen wäre. Vielmehr ging sie nach dem Erscheinen der Erzählung auf ziemlich spektakuläre Weise weiter, schon allein deshalb, weil das Cello im Jahr 2011 seinen 300. Geburtstag feiern konnte. Vor allem aber musste der Cellist, der es zu diesem Zeitpunkt spielte (und mit dem die Erzählung endet) – Heinrich Schiff –, seine Karriere überraschenderweise aus gesundheitlichen Gründen beenden. Genauer: Er musste ein Konzert abbrechen, weil er vor lauter Schmerzen in der Schulter nicht mehr weiterspielen konnte, und in der Folge musste er auch alle Konzerte absagen, die für das Geburtstagsjahr 2011 geplant gewesen waren. Die Musikwelt verfolgte damals voller Spannung, was nun aus ›the Mara‹ werden würde. Und wirklich, die Ereignisse überschlugen sich: Beinahe wäre das Cello nach Korea verkauft worden, was jedoch knapp verhindert werden konnte, sodass Schiff es schließlich an seinen Schüler Christian Poltéra weitergeben konnte, in dessen Besitz es sich seitdem befindet.

Wie hat aber nun Wondratschek auf diese Ereignisse reagiert? Eben, indem er »Mara« fortsetzte und um einen neuen Schlussabschnitt ergänzte, in dem von Schiffs Karriereende und der Weitergabe des Cellos an Poltéra erzählt wird. In der im Jahr 2015 erschienenen sechsten Auflage der Erzählung ist dieser Schluss zum ersten Mal enthalten, worauf im Paratext des Buches auch ausdrücklich hingewiesen wird.9

»Mara« ist also der ungewöhnliche Fall einer literarischen Musikgeschichte in progress. Ob diese Geschichte mit dem neuen Schluss tatsächlich abgeschlossen ist, muss vorläufig offenbleiben.

4 Annäherungsversuche: Wolf Wondratschek als literarischer Cellist

Am Ende ist noch einmal auf den Anfang und damit auf die so bemerkenswerte wie merkwürdige literarische Tradition zurückzukommen, Musikinstrumente zum Sprechen zu bringen, eine Tradition, deren vorläufiger Höhepunkt mit Wondratscheks Erzählung erreicht sein dürfte. Doch worin besteht eigentlich der Reiz, den dieser Kunstgriff ja offensichtlich auf Schriftsteller ganz unterschiedlicher Epochen und Stilrichtungen ausübt?

Der zentrale Punkt dabei dürfte das untergründige Konkurrenzverhältnis sein, das zwischen den Künsten Literatur und Musik besteht, seitdem die Musik sich als Instrumentalmusik von der Literatur emanzipiert hat, seit der Wiener Klassik also. Von diesem Zeitpunkt an trat die Musik immer selbstbewusster und immer öfter auch ganz ohne die Unterstützung der Literatur in Erscheinung, und in dieser Form, als wortlose, aber umso formbewusstere Kunst wurde sie zum Vorbild der anderen Künste. Von Walter Pater stammt das berühmte Diktum: »All art constantly aspires towards the condition of music.«10 Mit dieser Entwicklung ist es auch zu erklären, dass seit der Romantik Schriftsteller immer wieder und auf ganz unterschiedliche Weise versucht haben, sich der Musik anzunähern. Sie taten dies, indem sie zum Beispiel – wie etwa Clemens Brentano mit »Der Spinnerin Lied« – Gedichte schrieben, die auf Kosten des Inhalts nur Form und Klang sein sollten, indem sie – wie etwa Thomas Mann in »Doktor Faustus« – einen fiktiven Komponisten und seine Musik in einem Roman beschrieben oder indem sie – wie etwa Ernst Jandl und Peter Rühmkorf – von vornherein mit Musikern zusammenarbeiteten. Oder sie taten dies, indem sie – wie Rilke, Weinheber und Wondratschek – Musikinstrumente zum Sprechen brachten.

Mit Blick auf die Tatsache, dass »Mara« bei Musikern offenbar besonders beliebt ist – ansonsten hätte Wolfgang Riehm Wondratschek nicht dafür gelobt11 und ansonsten wäre auch Christian Poltéra nicht mehrfach gemeinsam mit ihm aufgetreten –, mit Blick auf diese Tatsache könnte man sagen, dass Wondratscheks Annäherungsversuch an die Musik durchaus erfolgreich war. Insofern könnte man vielleicht auch sagen, dass im Lauf seiner inzwischen mehr als 300-jährigen Geschichte nicht nur Johann Baptist Mara, Alessandro Pezze, Carlos Tornquist, Heinrich Schiff und einige andere Musiker auf ›the Mara‹ gespielt haben, sondern eben auch der Schriftsteller Wolf Wondratschek, der diesem Instrument eine Stimme gegeben und es auf diese Weise gleichsam literarisch gespielt hat. Mit seiner Erzählung hat Wondratschek sich somit in die mehr oder weniger glanzvolle, in jedem Fall aber illustre Reihe von Cellisten eingeschrieben, die das Glück hatten, eine Rolle in der Geschichte von ›the Mara‹ spielen zu dürfen. Sollte einmal wieder ein Buch über dieses Instrument geschrieben werden – der literarische Cellist Wolf Wondratschek dürfte darin nicht fehlen.

In Erinnerung an Heinrich Schiff (18. November 1951–23. Dezember 2016)

1 Rainer Maria Rilke: »Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden«, hg. von Manfred Engel u.a. Frankfurt/M., Leipzig 1996, Bd. 1, S. 559. — 2 Josef Weinheber: »Kammermusik. Gedichte«, München 1939, S. 6. — 3 Gregor Piatigorsky: »Mein Cello und ich und unsere Begegnungen mit Béla Bartók, Sir Thomas Beecham (…)«, aus dem Englischen übertragen von Else Winter, Tübingen 1968. — 4 Ebd., S. 249. — 5 Ebd., S. 248 f. — 6 Ebd., S. 249. — 7 Wolf Wondratschek: »Mara. Eine Erzählung«, München, Wien 2003, S. 5. Zitate aus diesem Buch werden unter der Sigle M im Folgenden im Text nachgewiesen. — 8 Vgl. Irene Brandenburg: »Mara, Gertrud Elisabeth, geb. Schmeling, Schmehling, Schmahling« (Art.), in: Ludwig Finscher (Hg.): »Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume«, 2., neubearbeitete Auflage, 29 Bände in zwei Teilen, Kassel u.a. 1994–2008, Personenteil 11, Sp. 1024f. Eine ausführlichere biografische Darstellung (die Wondratschek wahrscheinlich auch verwendet hat) bietet Rosa Kaulitz-Niedeck: »Die Mara. Das Leben einer berühmten Sängerin«, Heilbronn 1929. — 9 Wolf Wondratschek: »Mara. Eine Erzählung«, 6., neue, um die Seiten 203 bis 207 ergänzte Auflage, München 2015. — 10 Walter Pater: »Studies in the History of the Renaissance«, hg. von Matthew Beaumont, New York 2010, S. 124. — 11 Er tut dies auf einer Postkarte an Wondratschek, die man auf dessen Homepage nachlesen kann: http://wolfwondratschek.de/extras_mara.cfm (letzter Zugriff am 3.3.2016).

Ingo Irsigler

Die Kunst des Verschwindens
Wolf Wondratscheks Selbstpräsentation in Reportagen und Interviews

1 »Bin in einer Stunde zurück«

Vom 20. Februar bis zum 9. April 2016 fand unter dem Titel »Bin in einer Stunde zurück« in einer Berliner Einzimmerwohnung eine Ausstellung statt, in der Originale von Wolf Wondratschek gezeigt und zum Verkauf angeboten wurden. Interessierte mussten sich über eine E-Mail-Adresse anmelden. Die Aktion suggerierte zwar Privatheit, beworben wurde sie allerdings äußerst öffentlichkeitswirksam: Jim Rakete produzierte einen Trailer, in Berlin wies ein geheimnisvolles Plakat auf die Kunstaktion hin und große Zeitungen wie die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« berichteten über das bevorstehende Event.1

Die Kunstaktion atmete die Luft der Underground-Kunst, womit Wondratschek offensichtlich jene Form der Selbstvermarktung wählte, die ihn in den 1970er Jahren berühmt gemacht hatte, als er seine Gedichtbände im Selbstverlag publizierte und über Zweitausendeins vertreiben ließ. Das Konzept der Ausstellung fügt sich überdies nahtlos in jene Form schriftstellerischer Selbstinszenierung ein,2 die Wolf Wondratschek spätestens seit seinem Umzug von München nach Wien forciert hat: »Ich mußte nach Wien gehen«, erklärt Wondratschek in den Interview-Passagen des Trailers, »ich hatte die Schnauze voll von meinem Leben in München […]. Ich habe mir gesagt, ich will von der Bildfläche verschwinden. Ich war mehr oder weniger nur noch der Darsteller von Wolf Wondratschek.«3

Formuliert wird der Wunsch des Autors, unsichtbar zu werden, was den Fokus auf sein eigentliches Vermächtnis lenken soll: »Und ich habe eine Idee immer gehabt, nicht nur zu verschwinden […], [sondern], dass man nach meinem Tod irgendwas findet und die Luft anhält und das ganze Bild von Wondratschek revidiert. Dieser Fund würde dann die Leute zu einem gewissen Ernst anhalten zu sagen, ja der Wondratschek mit seinen Huren und seinen Boxern und seinen Cowboystiefeln und seinem Macho-Getue […]; das all das wegfegt, das würde mich freuen.«4

Der Wunsch, zu verschwinden, manifestiert sich überdies prägnant in den Bildinszenierungen: Jim Raketes Trailer zeigt ihn, wie schon eine Ausgabe der Zeitschrift »wespennest« aus dem Jahr 2002, in permanenter Bewegung.5 Die Bildästhetik des Trailers ist dabei von schnellen Schnitten geprägt, die