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Bodo Bernd Nibbe

Unerledigte Flaschenpost

Meine Lebensgeschichte(n)

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© 2017 Bodo Bernd Nibbe

ISBN

Paperback 978-3-7345-9989-7
Hardcover 978-3-7345-9990-3
e-Book 978-3-7345-9991-0

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Beratung, Lektorat und Satz:

Cornelia Rüping, 81245 München

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Vorwort

Kinderjahre – Kriegsjahre

Flucht aus Graz

In der Schule zu Hause

Die Gier nach Anerkennung

Das geschäftstüchtige Kind

Rauschgift im Wäscheschrank

Die Leben von Vater und Mutter

Raus aus dem Flüchtlingslager

„Du wirst Jurist“

Knochenjobs und Schule des Lebens

Job, Sport, Latein

Gudrun, meine erste Liebe

Sehnsucht nach Unsterblichkeit

Unvermeidbarer Verbotsirrtum

Der „Künstler“ in mir

Die Reise nach Christchurch

Erste Eindrücke in der Fremde

Der Alltag als Seasonal Instructor

Vogelwild: der Kea

Wer war mein Vater?

Wirtschaftswunder

Jagdtrieb

Zurück nach München in Etappen

Kümmerer oder Prinzgemahl?

Examensstress?

Mit Amerikanern in Moskau

Frieden, Freiheit und Freundschaft

Ernste Absichten

Hochzeit in Gelsenkirchen-Buer

Die Stones in München

Bettina kommt!

Perspektivenwechsel

Oma Engel geht

Meine Zwillingsbrüder als Auswanderer

Springers neues Monatsmagazin

Eine Rockband verschafft mir ein Auto

„Eltern“ – mein Erfolgsprojekt

Ein Freund fürs Leben

Das Klima wird rauer

Springer verkauft!

„You are a smart guy“

Mondlandung

Unser neues Heim: Open House

Big Business in Südamerika

Brasilianischer Zahlungsverkehr

Das Ende von „Twen“ und „Jasmin“

Vorbei ist die Zeit als Verlagsleiter

Männerwochen in Montenegro

Kultur mit Zwillingsbrüdern

Beeindruckende Sprachkenntnisse

Jutta bei den Olympischen Spielen

Mark kommt!

Nibbe als Unternehmer

Neustart als juristischer „Hausmaurer“

Der „Mundraub“-Paragraph

Lukrative Geschäfte

Haus am See

Haus in den Bergen

Hole in one

Als Mutter starb

Vogelgezwitscher vor Sonnenaufgang

Juristischer Alltag

Absurde Fälle

Mit „vorgehaltener Klausel“

Mein größtes Mandat

Die Tietz-Familie im dritten Reich

Wiedergutmachung

Das Deutschlandlied

Jagd auf einen Elefant

Entdeckung auf Burg Rožmberg

Die Rückkehr des Elefanten

Besucherservice in der DDR

Das „Hermann-Tietz-Lieblingsessen“

Die Zwillenberg-Tietz-Stiftung

Mein 70. Geburtstag

Das Anhalter-Syndrom

Stabwechsel: Übergabe der Kanzlei

Eine beeindruckende Begegnung

Die Frau meines Lebens

Liebe leben

Anhang zum Schmunzeln

Danksagung

Schlusswort

Vorwort

Drei Bücher mit leeren Seiten sind mir von Menschen, die mir nahestehen, in den letzten zehn Jahren geschenkt worden. Ich möge doch mein „bewegtes Leben“ niederschreiben. Jetzt, da sich meine berufliche Tätigkeit dem Ende zuneigt, will ich es versuchen – auch um dem Gefühl entgegenzuwirken, zu nichts mehr nutze zu sein.

Motivierend war auch Curt Goetz, der große Komödienautor. Er war schon krebskrank, als er seine Memoiren begann. In seinem Vorwort lässt er den Tod winken und er fragt den Tod: „Schon?“ Als der Tod nickt, fragt er den Tod: „War das alles?“ Und der Tod antwortet: „Das war alles, was du daraus gemacht hast.“ Aber wie frei ist der Mensch, aus seinem Leben etwas zu machen? Wie viel macht das Leben mit ihm und aus ihm? Ich will am Ende dieses Buches eine Antwort versuchen.

Eines ist gewiss: Es hat glückliche Einflüsse gegeben, die ich vor allem meiner Frau und meinen Kindern verdanke. Ihnen sei deshalb dieses Buch gewidmet.

Und nun viel Freude beim Lesen!

Bodo Bernd Nibbe

Kinderjahre – Kriegsjahre

Es war ein heißer Tag im Juli 1940 in Maria Trost, einem hübschen kleinen Vorort von Graz in hügeliger Landschaft mit gleichnamiger Wallfahrtskirche. Mein Bruder Dieter und ich (er war noch nicht sechs, ich gerade vier Jahre alt) gingen auf einem steilen, staubigen Fahrweg bergauf. Plötzlich blieb mein Bruder stehen und sagte, ich solle ihn den Berg hinaufschieben. Wenn ich das nicht täte, würde er rückwärts bis an das Ende der Welt gehen.

Als ich nicht folgte, begann er, langsam rückwärtszugehen. Ich bekam es mit der Angst zu tun, mit der Angst um ihn. Wer weiß schon, wo das Ende der Welt ist. Und überhaupt! Voller Wut und heulend schob ich ihn dann doch den Berg hinauf. Voller Wut, weil ich es nicht fertigbrachte, seine Gemeinheit zu ignorieren. Auf dem sandigen Weg bin ich sogar hingefallen, aber ich musste weiterschieben. Diese kleine Geschichte ist meine erste Erinnerung an meine Kindheit. Ich wusste damals nicht, dass sich damit zum ersten Mal ein Verhalten bei mir zeigte, das mich noch oft belasten würde.

Mein ältester Bruder Jürgen war 1928, mein zweitältester Bruder Dieter 1934 und ich 1936 zur Welt gekommen, alle in einem Vorort von Stettin in Pommern. Im Herbst 1938, daran kann ich mich natürlich nicht selbst erinnern, übernahm mein Vater Walter Nibbe die SA-Gruppe Südmark, bestehend aus der Steiermark, Kärnten und Teilen von Slowenien (damals „Untersteiermark“ genannt). Das Hauptquartier war Graz. Meine jüngeren drei Brüder Wulf (geboren 1941) und die Zwillinge Hasso und Rüdiger (geboren 1944) kamen also als echte Grazer zur Welt.

Wir wohnten in einer schönen Villa mit großem Garten, uns umgaben Dienstmädchen, Kindermädchen und Pflichtjahrmädchen. (Das Pflichtjahr war für Frauen und Mädchen unter 25 Jahren das Pendant zum Reichsarbeitsdienst. Es sollte sie auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten.) Wir hatten vier Hühner im Garten, für die auch ein kleines Maisfeld angelegt worden war. Vom örtlichen Gärtner wurde es so gedüngt, dass die Maiskörner sehr groß wurden. Für den Winter wurden die Kolben auf dem Dachboden der Villa getrocknet. Meine Aufgabe war es, „kriegswirtschaftlich“ die harten Maiskörner mit einer Beißzange zu halbieren, damit die Hühner sie auch schlucken konnten.

In dem lieblichen Tal gab es einen Teich, etwa 400 bis 500 Meter entfernt. Von dort erscholl immer im Frühjahr zur Zeit der Dämmerung ein Konzert: Quack, quack – wawa, wawa … Und es gab kleine Bäche. Hinter den ausgeschwemmten Uferrändern lebten Krebse, die wir mit Stöckchen hervorkitzelten, um sie dann zu fangen. Mir haben sie nicht geschmeckt, aber unsere Mutter liebte sie. Durch das Tal fuhr auch eine Straßenbahn und natürlich wollte ich einmal Straßenbahnfahrer werden. Immerhin habe ich es später zum Omnibusschaffner gebracht.

Es war Krieg, aber davon haben wir Kinder nur deshalb etwas bemerkt, weil ranghohe Offiziere öfter bei uns zu Besuch waren, etwa General Eduard Dietl, Chef der Ersten Gebirgsdivision, die Narvik erobert hatte. Ab und zu gab es ab 1944 auch Luftangriffe auf Graz. Wir konnten sehen, wie die Bomberverbände von der Flak beschossen wurden. Es waren im Pulk immer schwarze, kleine Wölkchen zu sehen. Das waren explodierende Flakgranaten. Mein Bruder Jürgen hatte mir erklärt, dass ein Flugzeug absturzreif getroffen war, wenn so eine Flakgranate näher als in 30 Meter Entfernung explodierte. Damals war er ja schon Flakhelfer. Allerdings pfiffen uns die Granatsplitter oft um die Ohren, wenn wir draußen das Geschehen beobachteten. Manchmal fanden wir solche Splitter und hoben sie auf. „Schön ist, wenn im Grase liegt, schlecht ist, wenn in Fresse fliegt“ – KKR, Kriegskinderreime.

Ich wurde hochrangigen Gästen erst vorgeführt, als ich schon zur Schule ging, denn ich konnte gut rechnen. Als Baby hatte man mich versteckt, weil ich aussah wie der Alte Fritz – mit viel zu großer Nase. Außerdem war ich zu früh nach Dieter gekommen und überhaupt hätten meine Eltern lieber eine Tochter gehabt. Nach den Windeljahren blieb ich ein Bettnässer, wohl auch als Appell um Zuwendung. In den Jahren in Graz bis zur Flucht vor den anrückenden Russen war das nicht weiter schlimm mit Gummituch unter dem Laken und Personal, das die Schäden behob. Obwohl: Ein „deutscher Junge“ ist kein Bettnässer. Doch in den Flüchtlingsunterkünften, wo wir unterkamen und auf Strohsäcken schliefen, wurde es eine Katastrophe. Alles stank immer nach Urin und meine Brüder beschimpften mich. Ein normales Selbstwertgefühl konnte sich unter diesen Umständen nicht entwickeln und viele Jahre meinte ich, nur so viel wert zu sein, wie ich für andere von Wert war.

Unser Vater war ab Mitte 1943 selbst als Offizier an der Ostfront. Jürgen wurde mit knapp 16 Jahren Soldat bei der Luftwaffe. Dieter war Kadett in einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (NAPOLA, Eliteschulen der Nazis zur Heranbildung von Führungsnachwuchs). Zehn Wochen vor Kriegsende hat unser Vater durch einen Kurier eine Pistole an Dieter geschickt mit der Anweisung, uns alle zu erschießen, wenn „der Russe“ kommt. Dieter hatte wohl die Waffe bei sich, als er im Spätherbst 1944 nach Graz zurückkam. Er hat zeitlebens unter diesem Erlebnis gelitten. Wenn wir darauf zu sprechen kamen (nicht oft), hat er das Zimmer verlassen. Er wollte nicht, dass wir merkten, wie er weinte.

Dabei war er ein lustiger Bursche und vor allem ein glänzender Verkäufer, aus ihm wurde über die Zeit glatt ein Verkaufsleiter. Während der Arbeitszeit traf Dieter einmal seinen Chef, als er gerade aus dem Friseurladen kam. „Na, Herr Nibbe, beim Haareschneiden gewesen?“ „Ja“, antwortete Dieter. „Während der Dienstzeit?“ „Während der Dienstzeit sind mir die Haare auch gewachsen.“ „Aber doch nicht alle!“ „Alle habe ich mir auch nicht schneiden lassen.“

Flucht aus Graz

Die Flucht vor den von Ungarn heranrückenden Russen in einem Flakzug hat meine Mutter mit fünf ihrer Söhne und Oma Engel (die Mutter meiner Mutter, damals ungefähr 60 Jahre alt), die schon sechs Monate zuvor aus Pommern zu uns gekommen war, am 1. April 1945 angetreten. Hinten und vorne am Zug waren Vierlingsflakgeschütze auf Spezialwaggons platziert, um Tieffliegerangriffe abzuwehren. In den teilweise engen Gebirgstälern Österreichs konnten wir uns relativ sicher fühlen. Kurz vor den Amerikanern erreichten wir München, das damals zu 80 Prozent zerbombt war. An diesem Tag endete der Krieg (8. Mai 1945) und der Zug blieb einfach stehen am damaligen Südbahnhof.

Am Sendlingertorplatz stand noch die Blumenschule. Pro Klassenzimmer wurden bis zu fünf Familien mit etwa 30 Personen einquartiert. Kreuz und quer waren Seile gezogen. Darüber hingen Decken, damit jede Familie ihren Platz hatte. Für uns Kinder war das alles am Anfang ein großes Abenteuer. Vor allem lernten wir zu „organisieren“. Wir stöberten in den Kellern der Ruinen, um etwas Verwertbares zu finden. So fand ich einen Karton Seife, die sehr begehrt war. Schnell bildete sich ein „Schwarzer Markt“, wo alles verkauft oder getauscht werden konnte.

Die Besatzungssoldaten (meist Afroamerikaner von den Kampftruppen) waren zu uns Kindern sehr freundlich. Ab und zu ergatterten wir Schokolade oder auch Kaugummis. Dabei war uns doch gesagt worden, dass wir alle umgebracht werden.

Immer wieder sahen wir Kolonnen von deutschen Kriegsgefangenen, die irgendwohin geführt wurden, abgerissen, dreckig, unrasiert und unterernährt. Die Amerikaner dagegen waren elegant, meist gut gelaunt, wohlgenährt und freigiebig. Auch die Münchner Bevölkerung war im Grunde froh, weil endlich der Krieg vorbei war. Allerdings wurde ihre Haltung gegenüber den Flüchtlingen bald feindselig, sie sahen sie als Schmarotzer an, die nicht „hierher“ gehörten.

Ich sollte das schmerzlich erleben, als im Herbst 1945 die Schulen den Unterrichtsbetrieb wieder aufnahmen, soweit das möglich war. Wir waren inzwischen in ein Barackenlager im Norden Münchens (Knorrstraße 148) umquartiert worden. Wie wir später erfuhren, war dies ursprünglich ein Sammellager zur Deportation von Juden gewesen. Als es keine Juden mehr gegeben hatte, war es in ein Fremdarbeiterlager umgewandelt worden. Nun waren wir in diesen Holzbaracken untergebracht, in den großen Räumen, vollgestellt mit doppelstöckigen Stahlbetten. Anstelle von Matratzen gab es Strohsäcke, Wasser außerhalb in einem Brunnen, der im Winter häufig zugefroren war. Für die 750 Bewohner gab es eine Latrine mit je zehn Sitzlöchern für Männlein und Weiblein. In der Lagerküche wurde Gemeinschaftsverpflegung für alle gekocht, meistens irgendwelche Eintöpfe.

Unsere Mutter, damals 38 Jahre alt, war zum Kartoffelschälen abkommandiert. Ich habe sie immer dafür bewundert, wie sie den Wechsel ihres Schicksals getragen hat und ständig bemüht war, für die Familie irgendetwas zum Essen aufzutreiben. Dazu kamen die Krankheiten meiner Zwillingsbrüder, damals noch nicht zwei Jahre alt: Keuchhusten, Diphterie, Ruhr. Es gab noch keine Antibiotika, es gab keine ärztliche Versorgung. Meine Brüder wurden in ihrer Entwicklung schwer beeinträchtigt, aber sie haben beide überlebt.

In der Schule zu Hause

Die Wut und den Ärger über uns Flüchtlinge bekam ich am eigenen Leib zu spüren: In der Volksschule an der Rothpletzstraße war jeden zweiten Tag Unterricht und fast jedes Mal wurde ich von den einheimischen Schülern verprügelt. Nach dem dritten Mal fand ich eine Lösung: Ich ging einfach nicht mehr hin. Inzwischen war mein Bruder Dieter Schüler in der Gisela-Oberrealschule und nach ein paar Wochen begleitete ich ihn einfach einmal. Damals war man bemüht, die Kinder von der Straße wegzubringen, und so ließ man mich dort ohne Formalitäten in der ersten Klasse (heute fünfte Klasse) am Unterricht teilnehmen. Nach ein paar Wochen war klar: Ich hatte den Probeunterricht bestanden und wurde Oberschüler. Mein Bruder Dieter verließ später die Schule und begann eine Lehre als Automechaniker. Anders mein jüngerer Bruder Wulf. Er wurde 1952 auch „Giselaner“ und hat sein Abitur gemacht.

Die Schule sollte meine Oase im alltäglichen Chaos werden. Ich war zwar der Zweitjüngste in der Klasse und trug abgerissene Kleidung, aber ich wurde von meinen Mitschülern nicht gehauen. Eventuell sogar Freundschaften zu schließen erwies sich jedoch als schwierig, weil das Flüchtlingslager doch viele Kilometer von der Schule (Elisabethplatz) entfernt und nur schwer zu erreichen war (mindesten 45 Minuten mit Bus und Straßenbahn). Ein Fahrrad habe ich erst später organisiert, das Fahrradfahren war allerdings im Winter nicht immer möglich. Trotzdem wurde die Schule mein Zuhause. Ich war ein ganz passabler Schüler, wenn auch zum Beispiel meine Heftführung kreativ war: vorne Physik, hinten Mathe.

So entwickelte sich bei mir eine enge Bindung an die Schule und wahrscheinlich war das (damals unbewusst) auch der Grund, warum ich seit etwa 25 Jahren Klassentreffen organisiere (einmal im Sommer, einmal im Spätherbst). Es nehmen nur noch sechs bis acht Männer teil, aber die kommen regelmäßig. Sieben Klassenkameraden sind schon verstorben, drei leben im Ausland, drei sind dement. Es ergibt sich immer ein lebhafter Austausch zwischen Vorstandsmitgliedern, Diplom-Ingenieuren, einem Steuerberater, einem Rechtsanwalt und einem Schulrektor.

Die Gier nach Anerkennung

Als ich etwa elf Jahre alt war, hörte die Bettnässerei auf, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der einsetzenden Pubertät. Vorherige Aufenthalte in der Heckscher Kinderklinik hatten nichts gebracht. Mein Unwertgefühl hatte sich verfestigt. Im Rückblick kann ich sagen, dass ich damals nach Anerkennung gierte und ein ausgewachsenes Helfersyndrom entwickelt hatte. Jeder konnte von mir alles verlangen. Für alles übernahm ich Verantwortung. So wurde ich auch Mitglied im Jugend-Rotkreuz mit Uniform sowie „Dienst“ auf Rennplätzen und in Theatern.

Das war die eine Seite. Die andere Seite war, dass ich mich mit den Jahren anderen Menschen zunehmend moralisch überlegen fühlte. Ich entwickelte zudem eine Überheblichkeit. Ich glaubte besser zu wissen, was für sie gut sei, als die betreffenden Personen selbst. Daraus entstand eine Menschenverachtung, die mich allerdings selbst mit einschloss. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Da war bei mir etwas schiefgegangen. Ich habe das später so umschrieben: Ich muss mit mir auskommen und das kann ich ja wohl auch anderen zumuten.

Das geschäftstüchtige Kind

Immer war ich als Kind damit beschäftigt, ein paar Pfennige zu verdienen. Lukrativ war es zum Beispiel, Altmetall zu sammeln, besonders aus Material der Wehrmacht. In den Gasmasken befanden sich zum Beispiel Messingplatten, die man leicht ausbauen konnte. Für ein Kilo wurde 80 Pfennig bezahlt. Das war für uns viel Geld, eine Semmel kostete damals fünf Pfennig.

Mit 14 Jahren hatte ich meinen ersten Hilfsarbeiterjob. An meinem Schulweg entlang der Belgradstraße war ein großer Berg aus Bombenschutt entstanden. Die darin zu findenden Ziegel wurden von den Arbeitern körnig gemahlen und dann mit Wasser und Zement vermischt. Der Brei wurde in Ziegelformen abgefüllt und dann maschinell gerüttelt. Danach konnten die beiden Hohlblocksteine vom Rüttler zum Trocknen abgelegt werden. Eine Palette mit zwei solcher Ziegel und den Formen war ganz schön schwer. Zu zweit haben wir sie zum Trockenplatz getragen, dafür gab es 1,15 DM die Stunde!

Die Belgradstraße wurde des Öfteren mein Arbeitsplatz. Gegenüber dem Schuttberg gab es einen Tennisplatz mit zwölf Plätzen, dort verdiente ich einige Jahre lang als Balljunge mein Geld. Und schließlich avancierte ich in der letzten Klasse zum Omnibusschaffner auf einer privaten Buslinie zwischen Kurfürstenplatz und Harthof. Die Strecke, die sie im Auftrag der Stadt abfuhr, führte auch durch die Belgradstraße. Den Job habe ich als Student für den Nachtdienst behalten, dreimal wöchentlich von 18.00 bis 24.00 Uhr. Ein Kollege von mir war Ernst Hösl, der Zahnmedizin studierte und ein erfolgreicher Kieferorthopäde werden sollte. Mit ihm blieb ich zeitlebens verbunden. Wir sind später zusammen nach Kanada zum Hubschrauber-Skiing gereist und haben zusammen Geschäfte gemacht.

Rauschgift im Wäscheschrank

Im Sommer 1952 wurde meine Mutter in die Schule zitiert. Sie war dort nie vorher und nie nachher wegen mir gewesen, abgesehen bei der Abiturfeier 1954 im Herkulessaal der Residenz, weil unsere Schule zugleich ihr 50-jähriges Bestehen feierte. Hintergrund war meine Verhaftung durch die amerikanische Militärpolizei. Im Flüchtlingslager wohnten Menschen aus aller Herren Länder, Ukrainer zum Beispiel, die sich zur Wehrmacht gemeldet hatten und nach der Abschiebung in die Sowjetunion mit dem Tod bestraft worden wären. Wenn sie besoffen waren – und sie waren häufig besoffen –, sangen sie traurige Lieder.

Es wohnte dort auch Tibor F., ein Ungar, der bei den Amis in einem Offizierscasino arbeitete. Seine Frau war eine hübsche Berlinerin, der es gefiel, mich im Alter von 16 Jahren in die Geheimnisse der Liebe einzuweihen. Ihr Mann handelte tatsächlich mit Rauschgift und während man ihn beobachtete, sah man auch mich häufig bei Tibor F. ein- und ausgehen. Als er aufflog, wurde ich sicherheitshalber gleich mit verhaftet und in eine Zelle im Münchener Polizeipräsidium gesperrt, übrigens zufällig zusammen mit dem „König der Ladendiebe“, jedenfalls hat er sich so bekannt gemacht. Das sollte nicht mein letzter Kontakt zu Ladendieben sein, denn beruflich hatte ich später mit einigen hunderttausend von ihnen zu tun.

Sonntags fand die erste Anhörung vor dem amerikanischen Militärgericht in der Sophienstraße statt. Meine Mutter war auch geladen und der Richter ließ sich davon überzeugen, dass ich nichts mit der Sache zu tun hatte. Ich sollte mich aber bis zu einem ersten Haftprüfungstermin gegen Tibor F. am Dienstag oder Mittwoch für das Gericht zur Verfügung halten. Am Montag nach diesem Wochenende erschien in der Münchner „Abendzeitung“ auf der ersten Seite unten über alle Spalten ein Artikel mit der Überschrift „Rauschgift im Wäscheschrank“. Im Text hieß es, Tibor F. und der 16-jährige Bodo N. seien verhaftet worden.

Am Montag ging ich nicht zur Schule, natürlich wussten alle von der Geschichte. Zwei Tage darauf, am Mittwoch, wurde ich dann endgültig freigesprochen und ausgerechnet am nächsten Tag kam ich zehn Minuten zu spät zur Schule. Als ich die Tür zum Klassenzimmer öffnete, brach ein lautes Geschrei los: „Der Nibbe ist ausgebrochen.“ Ich habe versucht, die Sache zu erklären. Der Referendar, der gerade als Seminarist Unterricht geben sollte, packte mich sofort am Kragen und schleppte mich zum Rektor. Dem erklärte er, ich sei zu spät gekommen und hätte obendrein einen Riesenaufruhr inszeniert. Ich war eigentlich völlig unschuldig, habe aber meinen Direktoratsarrest mit stoischer Würde abgebüßt. Das war mein erster Kontakt mit der Justiz.

Die Leben von Vater und Mutter

Im Herbst 1952 wurde mein Vater nach München entlassen. Er war als SA-Obergruppenführer (sein letzter Rang) mehr als sieben Jahre irgendwo in Norddeutschland interniert gewesen. Wie es dazu kam, dass er in englische Gefangenschaft geriet, weiß ich nicht. Die Russen hätten ihn wahrscheinlich sofort erschossen. Als mein Bruder Jürgen später einmal nach Graz fuhr, hat man ihm dort erzählt, unser Vater sei in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Natürlich freuten wir uns alle sehr über die Rückkehr unseres Vaters, alle bis auf unsere Mutter. Unsere Eltern waren sich fremd geworden.

1945 war unsere Mutter 37 Jahre alt, eine sehr hübsche Frau, auch mit sechs Söhnen noch. Natürlich gab es im Lauf der Zeit Verehrer, die meisten waren Offiziere um die 35 Jahre. Wir Söhne haben das natürlich miterlebt und mitgetragen. Auch wir hatten gelernt, ohne Vater aufzuwachsen. Unsere Mutter war immer da – und wie. Als höhere Tochter führte sie in den ersten Jahren nach der Arbeit in der Lagerküche einen Kiosk. Direkt gegenüber dem Flüchtlingslager gab es ein ehemaliges Heereszeugamt, das die Amis in gleicher Weise nutzten. Sie nannten es „Alabama“ nach einem amerikanischen Bundesstaat. Innerhalb des Stacheldrahts gab es alles, was es außerhalb nicht gab: Zigaretten, Corned Beef in Dosen, Kaffee. Und alles wurde auch herausgeschmuggelt.

Im Kiosk meiner Mutter konnte man zum Beispiel im Sommer Zwetschgendatschi kaufen (von unserer Großmutter gebacken) und natürlich Zigaretten usw. Unsere Mutter notierte die Tagesumsätze und als die Zollfahndung kam, mussten die Beamten zur Berechnung der hinterzogenen Steuern nur die von Mutter notierten Zahlen ablesen.

Unsere Mutter war unendlich tapfer. Nur einmal erlebten wir sie verzweifelt. Von all dem Glanz und Gloria war ihr nur ein Silberfuchs geblieben, den die Dame von damals gern um den Hals trug. Als der geklaut wurde, brach sie zusammen. Der Silberfuchs hatte ihr ihre Illusion von einer besseren Zukunft erhalten.