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© edition Lichtland

Stadtplatz 4, 94078 Freyung

Deutschland

Bilder, soweit nicht anders angegeben:

„Verein der Nationalpark-Freunde e.V.“

Layout: Edith Döringer, Illustrationen unter

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Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2017

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-942509-61-9

eISBN: 978-3-942509-82-4

www.lichtland.eu

HANS BIBELRIETHER

NATUR
NATUR SEIN
LASSEN

DIE ENTSTEHUNG DES
ERSTEN NATIONALPARKS
DEUTSCHLANDS:

DER NATIONALPARK
BAYERISCHER WALD

Vorwort

Die Geschichte des Nationalparks Bayerischer Wald ist politisch und fachlich exemplarisch für die Entwicklung des Naturschutzes in Deutschland. Damit verbunden war auch der Lernprozess der Systemzusammenhänge in der Natur, den Ökosystemen.

Alle diese Lernprozesse waren natürlich auch Konfliktprozesse. In der gesellschaftlichen Debatte, in der politischen Auseinandersetzung und in der naturschutzfachlichen Diskussion. Für die politische Durchsetzung des Projektes Nationalpark Bayerischer Wald steht der Name eines Politikers, der im Naturschutz weitgehend unbekannt ist: Dr. Hans Eisenmann, der damalige Staatsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Bayern. Er verstand die ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Mit dem Bayerischen Waldgesetz wurden erstmals Naturschutz und Schutzwälder als Aufgabe benannt. Mit diesem Geist, dieser Haltung setzte Hans Eisenmann auch das von Anfang an umkämpfte Projekt Nationalpark Bayerischer Wald durch. Für die fachliche Verwirklichung steht das leidenschaftliche Engagement und die Fachkenntnis von Dr. Hans Bibelriether. Der Preis waren nicht nur große Belastungen und Anstrengung; der Preis waren auch unendlich viele Anfeindungen und Schmähungen. Nur mit großem Engagement, großer Überzeugungskraft und innerer Stärke war dieser Weg zu meistern.

Beiden Pionieren danken wir für diese große Lebensleistung, die nachhaltiger nicht sein könnte.

Alois Glück

Landtagspräsident a. D.

INHALT

1 |VISIONEN UND VISIONÄRE

WIE DIE GESCHICHTE IHREN ANFANG NIMMT

2 |WIR TUN DREI JAHRE SO ALS OB …

DER AUFBAU DES NATIONALPARKS BEGINNT

3 |HIRSCHE UND REHE FRESSEN DEN WALD

DAS WILDPROBLEM DER ANFANGSJAHRE

4 |ZWEI SCHRITTE VOR – EIN SCHRITT ZURÜCK

DER WEG ZUM WILDEN WALD BEGINNT

5 |ZUR RECHTEN ZEIT AM RECHTEN ORT

DER VEREIN DER NATIONALPARK-FREUNDE E.V.

6 |DAS UNABHÄNGIGE SPRACHROHR

DIE ZEITSCHRIFT „NATIONALPARK“ WIRD GEGRÜNDET

7 |EIN URWALD FÜR UNSERE KINDER UND KINDESKINDER

DER WINDWURF VON 1983 UND SEINE FOLGEN

8 |IST DER ROTHIRSCH WERTVOLLER ALS DER BORKENKÄFER?

DIE MASSENVERMEHRUNG DES BORKENKÄFERS UND IHRE FOLGEN

9 |MITEINANDER ARBEITEN – VONEINANDER LERNEN

EIN NATIONALES UND INTERNATIONALES NETZWERK ENTSTEHT

10 |LERNEN UND ERLEBEN MITEINANDER VERBINDEN

EIN INFORMATIONSZENTRUM WIRD GEBAUT

11 |NATIONALPARKGEMEINDEN WERDEN UNTERSTÜTZT

EINRICHTUNGEN FÜR BESUCHER

12 |RANGER UNERWÜNSCHT!

DIE NATIONALPARKWACHT WIRD AUFGEBAUT

13 |WALD ERLEBEN – NATUR VERSTEHEN

UMWELTBILDUNG WIRD AKTUELL

14 |DER NATIONALPARK IST KEINE INSEL

NATIONALPARKVORFELD UND INTEGRATION

15 |KEINE ANGST VOR GROSSEN TIEREN

FINDEN WOLF UND LUCHS IM BAYERISCHEN WALD WIEDER EIN ZUHAUSE?

16 |KEINE SPIELWIESE FÜR FORSCHER

FORSCHUNG MUSS DEM NATURSCHUTZ DIENEN

17 |EINE JAHRHUNDERT-TRAGÖDIE?

DER STREIT UM DIE NATIONALPARKERWEITERUNG VON 1995 BIS 1997

18 |NATURSCHUTZ AUF NEUEN WEGEN

VOM ARTENSCHUTZ ZUM SCHUTZ NATÜRLICHER ENTWICKLUNGEN

19 |DIE SCHÖPFUNG BEWAHREN

1 |VISIONEN UND VISIONÄRE

WIE DIE GESCHICHTE IHREN ANFANG NIMMT

Manchmal werden Wünsche und Träume wahr. Oft ist es schwer, neue Ideen durchzusetzen. Mitunter scheint es unmöglich. Und doch – es lohnt sich, für seine Träume zu kämpfen – umso mehr, wenn man vom Sinn einer Sache überzeugt ist. Immer wieder gibt es Menschen – Visionäre –, die etwas weiter sehen als andere und für machbar halten, was andere für unerreichbar erklären. Nicht selten werden solche Visionäre verlacht oder sogar angefeindet. Dennoch halten sie fest an ihrem Ziel und setzen sich mit ihrer ganzen Kraft dafür ein. Sie verkraften Rückschläge und stecken Niederlagen weg. Sie stehen immer wieder auf. Oftmals schaffen solche Visionäre etwas von bleibendem Wert. Sie schreiben ein Stück Geschichte. Unzählige solche Geschichten gibt es, und eine davon nahm ihren Anfang vor über einhundert Jahren. Es ist die Geschichte des ersten deutschen Nationalparks, des Nationalparks Bayerischer Wald.

Am 30. März 1898 – das Deutsche Reich wurde vom machtbesessenen Kaiser Wilhelm II. regiert – bewies ein preußischer Parlamentarier beeindruckenden Weitblick. In einer aufsehenerregenden Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus forderte er den gezielten Schutz der bedrohten Natur. Wilhelm Wetekamp hieß der Mann, der in Zeiten massiver Aufrüstung und drohender Kriegsgefahr das Parlament aufforderte, „…gewisse Gebiete unseres Vaterlandes zu reservieren, (…) in „Staatsparks“ umzuwandeln, (…) Gebiete, deren Hauptcharakteristik ist, dass sie unantastbar sind.“

Damit wurde der Reformpädagoge Wetekamp einer der Begründer der deutschen Naturschutzbewegung. Ihm ist die Einrichtung der ersten deutschen Naturschutzbehörde, der „Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege“ in Preußen 1906 zu verdanken. Nur drei Jahre später, am 23. Oktober 1909, wurde in München der „Verein Naturschutzparke e.V.“ gegründet und 1911 der Bayerische Wald erstmals als geeignetes Gebiet für ein großes Naturreservat benannt. Bedingt durch die Abgeschiedenheit und klimatische Rauheit der Gegend, hatte eine intensive Forstwirtschaft im Bayerischen Wald viel später als anderswo in unserem Land begonnen, weshalb ursprüngliche Wälder noch großflächig erhalten waren.

Im selben Jahr – 1911 – rief Dr. Emmerich in einem Beitrag der „Niederbayerischen Monatshefte“ zum Widerstand gegen den materialistischen Zeitgeist auf. Er demonstrierte eine Einsicht, die uns auch heute gut zu Gesicht stünde: „Wir haben ein Recht zu leben, aber wir haben nicht das Recht, unser Vaterland zu einer Wüste zu machen, unseren Kindern und Enkeln ein verödetes, schematisiertes, von Paragraphen und Nützlichkeitstheorien, die so schnell vergehen, wie sie gekommen sind, regiertes Land zu hinterlassen. Zur wirksamen Abhilfe gibt es nur ein Mittel: Die Schaffung großer Naturschutzparke, in denen die gesamte, in diesen Gebieten einheimische Tier- und Pflanzenwelt ein dauerndes Asyl erhält“.

Doch wie so oft, folgte darauf zunächst nichts. Jahre gingen ins Land. Die Menschen kämpften während des Ersten Weltkrieges und in den Folgejahren der Weltwirtschaftskrise ums eigene Überleben. Der Schutz der Natur musste warten. Zwar meldete sich 1928 ein weiterer Visionär zu Wort, der Waldbaureferent der Bayerischen Staatsforstverwaltung, Geheimrat Dr. Karl Rebel. In blumigen Worten beschrieb er seine Vision bei einem Vortrag vor dem Bund Naturschutz. Er erträumte sich einen Nationalpark nach internationalem Vorbild, „wo keine Axt hallt, keine Sense klingt, kein Schuss fällt, kein Vieh weidet“. Doch wie die Axt im Wald, so verhallte auch dieser Ruf.

Den Preußischen Ministerpräsidenten und engen Vertrauten von Adolf Hitler, Hermann Göring, trieben andere, egoistische Visionen an, als er nach Hitlers Machtergreifung 1933 die Zuständigkeit für Forstwesen, Jagd und Naturschutz an sich riss und in einem „Reichsforstamt“ organisierte. Die von ihm in der Folge geschaffenen Reichsnaturschutzgebiete in der Schorfheide, auf dem Darß, in der Rominter Heide und im Elchwald ähnelten zwar von der Größe her späteren Nationalparken, in Wahrheit dienten sie Göring und seinen Freunden aber ausschließlich als feudale Jagdgebiete, betreut durch die Oberste Jagdbehörde. Es war die Fortsetzung eines jahrhundertealten Umgangs mit den tierischen Bewohnern unserer Landschaften. Darauf will ich an anderer Stelle noch ausführlicher eingehen. Vorerst genügt es festzuhalten: Naturschutz – Fehlanzeige! Ab 1941 wurden die Gebiete zu Staatsjagdrevieren erklärt, welche direkt Görings „Reichsjagdamt“ unterstellt waren. Doch während für Göring der Naturschutz als Deckmäntelchen für eigene Interessen diente, gab es auch zu dieser Zeit ernste Absichten zur Errichtung von Nationalparken.

Der Naturschutzbeauftragte der Regierung von Niederbayern, Oberstudienrat Eichhorn, legte 1937 dem Berliner Reichsforstamt einen Kartenentwurf vor, in dem der bayerischböhmische Grenzgebirgskamm als Nationalpark vorgeschlagen wurde. Heute unvorstellbare 100.000 Hektar sollte das Reservat umfassen!

Am 8. Dezember 1938 stand die Einrichtung eines Nationalparks noch einmal auf der Tagesordnung, und zwar bei einer Dienstbesprechung der Reichsstelle für Naturschutz unter dem Vorsitz von deren Leiter, Dr. Lutz Heck. Der Wille zur Errichtung eines ersten Nationalparks war vorhanden. Doch der Zweite Weltkrieg machte derartige Pläne zunichte. Der Plan für einen Nationalpark im bayerischböhmischen Grenzgebiet ging zusammen mit dem Dritten Reich unter. Die Idee blieb jedoch bestehen.

Eine Idee nimmt neue Formen an

Erneute Rufe nach einem Nationalpark in Deutschland während der 50er Jahre blieben zwar noch ungehört, doch Mitte der 60er Jahre schlug die Stunde eines weiteren Visionärs. Bei seinem Antritt als ehrenamtlicher Naturschutzbeauftragter der Regierung von Niederbayern stieß der Diplomforstwirt Hubert Weinzierl 1966 auf umfangreiche Akten über einen geplanten Nationalpark Bayerischer Wald/Böhmerwald. Sie stammten aus den 20er und 30er Jahren und bewegten Weinzierl dazu, die Begründung des ersten Nationalparks in Deutschland zu seiner Aufgabe zu machen.

Weinzierl war mit Dr. Bernhard Grzimek befreundet und begleitete den berühmten Tierfilmer und Präsidenten des Deutschen Naturschutzrings auf Reisen in afrikanische Nationalparke, vor allem die Serengeti. Auf einer zweitägigen gemeinsamen Wanderung 1967 durch den Bayerischen Wald gelang es Weinzierl, den Freund für seine Idee zu gewinnen. Fortan hatte Weinzierl einen prominenten Mitstreiter an seiner Seite. Im Juni 1967, bei einer Abendveranstaltung in Freyung, konnte Grzimek rund 700 Waldler für die Nationalparkidee begeistern.

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Hubert Weinzierl und Bernhard Grzimek, 1970.

(Foto: Schmiedl, Seewiesen)

Bereits ein Jahr zuvor, am 15. Juli 1966, trafen sich mehrere einflussreiche Persönlichkeiten zu einem vertraulichen Gespräch mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Alfons Goppel. Der Geschäftsführer des „Bund Naturschutz“, Ludwig Rueß, der Ministerialrat im Innenministerium, Dr. Heigl, der Generaldirektor der „Staatlichen naturwissenschaftlichen Sammlungen“, Dr. Wolfgang Engelhard, Hubert Weinzierl und Dr. Bernhard Grzimek überreichten dem Ministerpräsidenten eine Denkschrift. Darin priesen sie die prächtigen Wälder, Schachten und Filze entlang der bayerischtschechischen Grenze und plädierten für die Schaffung eines Nationalparks in Bayern als „einer staatsmännischen Tat von großer Weitsicht.“

In der Pressemitteilung der Staatskanzlei vom selben Tag hieß es, die bayerische Regierung werde die Möglichkeiten zur Errichtung eines Nationalparks in Bayern prüfen. Diese Ankündigung löste bundesweite Diskussionen aus. Gegner der Nationalparkidee warfen Grzimek und Weinzierl zum Beispiel vor, sie wollten aus dem Bayerischen Wald einen Safaripark machen, obwohl Grzimek dem von Anbeginn widersprach.

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„Der Mensch wird hier Gast in der Natur sein, nicht aber in erster Linie Gestalter, wie in der übrigen Landschaft.“

(Bernhard Grzimek, 1970 zum
Nationalpark Bayerischer Wald)

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Wie sehr sich Menschen auch außerhalb des Bayerischen Waldes mit dem Thema befassten, beweisen viele Zeitungsartikel von damals, die sich auf Experten beriefen, die statt der Rettung die Zerstörung der Natur vorhersagten. So zum Beispiel im „Münchner Merkur“ vom 21. Mai 1968, wo aus Verlautbarungen des „Verein Naturschutzpark“ wie folgt zitiert wurde: „Bei Grzimeks Nationalparkplan, gleichgültig ob es sich um 6.000 oder 10.000 ha handelt, kann nicht von Naturschutz oder Landschaftsschutz, sondern nur von zwangsläufiger Naturzerstörung und Waldvernichtung die Rede sein, die auch wirtschaftlich nicht zu verantworten wäre.“

Der Unternehmer Alfred Töpfer, damals Vorsitzender des „Verein Naturschutzpark“, nannte es unsinnig, ausgestorbene Tierarten in diesem Gebiet wieder heimisch zu machen, zumal der geplante Nationalpark in diesem Fall eingezäunt werden müsse und deshalb den Wanderern nicht mehr zugänglich sei. Ferner wurde behauptet, dass die Wälder „Horden von pflanzenfressenden Großsäugern quasi zum Fraß“ vorgeworfen werden sollten.

Andere fürchteten um das Wohl der Tiere, die während der langen und kalten Winter doch sicherlich erfrieren müssten. In dem bereits erwähnten Bericht des „Münchner Merkur“ äußerte sich Graf Lennart Bernadotte, Sprecher des „Deutschen Rates für Landespflege“: „Der Deutsche Rat für Landespflege vertritt die Auffassung, daß die in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellung, im Bayerischen Wald könne ein Nationalpark in der Art eines Großwildreservates eingerichtet werden, nicht an den natürlichen Gegebenheiten dieses Raumes orientiert ist. Die dortigen Klima-, Boden- und Vegetationsverhältnisse verbieten die Haltung eines so großen frei lebenden Wildbestandes, der touristisch attraktiv sein und für die wirtschaftliche Entwicklung des Raumes ins Gewicht fallen könnte … Das Ergebnis einer kritischen Untersuchung der Möglichkeiten lässt eindeutig erkennen, daß die Voraussetzungen für einen deutschen Nationalpark im Bayerischen Wald nicht gegeben sind.“

Die Waldler wollen einen Nationalpark

Solchen Unkenrufen zum Trotz scharten sich die Nationalparkbefürworter um Hubert Weinzierl und gewannen – über Parteigrenzen hinweg – die Unterstützung der kommunalen und regionalen Politiker aus dem Bayerischen Wald. Schon im August 1966 stimmten die Bezirksregierung von Niederbayern und die betroffenen Landkreise Wolfstein und Grafenau (heute Landkreis Freyung-Grafenau) geschlossen für die Nationalparkidee. Einer der engagiertesten Mitstreiter war der damalige Grafenauer Landrat Karl Bayer (Sohn eines Waldarbeiters aus dem Steigerwald), der in Spiegelau als Forstmeister das Sägewerk der Bayerischen Staatsforstverwaltung leitete. Bayer ging es nicht nur um die wirtschaftliche Entwicklung im Bayerischen Wald, er war auch ein überzeugter Naturschützer.

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Karl Bayer war unter den Kommunalpolitikern vor Ort der wichtigste Unterstützer des Nationalparks Bayerischer Wald.

„Und so sage ich abschließend noch einmal, die Natur kann gar nicht streng genug geschützt werden. Der Mensch wird nur leben und überleben, wenn er Natur und Umwelt gesund erhält. Mit jedem Stück Natur, das wir zerstören oder zerstören lassen, zerstören wir einen Teil der Zukunft unseres Volkes, unserer Gemeinden, unserer Bürger. Wer es wirklich ernst meint mit der Forderung „der Mensch geht vor“, dem kann es mit dem Naturschutz gar nicht ernst genug sein, der wird in Zukunft mit uns, den Naturschützern, sein müssen.“

(Karl Bayer 1976)

In der wirtschaftlich kaum entwickelten und benachteiligten Grenzregion gewann die Nationalparkidee immer mehr Freunde. Lediglich die Bayerische Staatsforstverwaltung lehnte den Nationalpark von Anfang an entschieden ab. Um besser zu verstehen, weshalb Jäger und Forstverwaltung dieser Entwicklung und Waldnationalparken bis heute so starken Widerstand entgegensetzen, muss man einen kurzen Blick in die Geschichte der deutschen Wälder werfen.

Die Jäger und der König des Waldes

Seit jeher galt der Rothirsch als König der deutschen Wälder. Kaum ein anderes Tier ist hierzulande in Märchen und Legenden derart präsent. Hirsche zählen zum Hochwild. Sie zu jagen, die sogenannte „hohe Jagd“ auszuüben, war im Mittelalter das Vorrecht der Landesherren. In Bannforsten und bewaldeten königlichen Jagdreservaten frönten sie dieser Leidenschaft. Der von Adligen und Landesherren erhobene Anspruch auf den Wald als ein aristokratisches Revier endete zunächst mit der Revolution von 1848. Im Dritten Reich aber erlebte diese Geisteshaltung unter dem Reichsjägermeister Hermann Göring eine erstaunliche Renaissance. Die Vorstellung einer Jagd nach Gutsherrenart wurde von Göring sogar in das Reichsjagdgesetz übernommen. Wesentliche Inhalte aus jener Zeit haben unverändert in das heute gültige Bundesjagdgesetz Eingang gefunden.

Manche Tierarten sind, weil der Adel sie bevorzugte, in den vergangenen 200 Jahren gewissermaßen zu jagdlichen Lustobjekten avanciert. Das heißt: Sie wurden einseitig gehegt, damit eine möglichst große Zahl der Trophäen wegen „waidgerecht“ erlegt werden konnte. Die Unterscheidung zwischen Nutzwild wie Hirsch, Reh oder Gams und den sogenannten Schädlingen wie Bär, Wolf, Luchs, großen Greifvögeln oder Kolkraben führte zur Ausrottung letzterer, während sich erstere so stark vermehrten, dass sie zu einem Problem für die deutschen Wälder wurden.

Die jagdlichen Interessen hatten in der Auseinandersetzung um den Nationalpark große Bedeutung. Zumal die Anliegen von Jagd und Naturschutz im Wald extrem unterschiedlich sind. Die Staatsforstverwaltung war einerseits nicht Willens, auch nur ein Prozent der Fläche des Bayerischen Staatswaldes für den ersten deutschen Nationalpark freizugeben. Andererseits wurden bis in die 80er Jahre ein bis zwei Prozent eben dieser wertvollen Wälder für die Umwandlung in Wildäsungsflächen reserviert.

Das Rotwildvorkommen im Bayerischen Wald war bis Ende des Zweiten Weltkrieges unbedeutend geblieben. Weshalb, darüber wird in Kapitel 3 ausführlich berichtet. Das änderte sich, als Anfang der 50er Jahre Oberforstmeister Dr. Götz von Bülow die Leitung des Staatsforstamtes St. Oswald übernahm – Herzstück des späteren Nationalparks. Für von Bülow war der Verlust der Rotwildvorkommen in Ostpreußen durch den verloren gegangenen Krieg ein nationales Unglück. Er wob eine mystische Aura um die Bayerwald-Hirsche und stilisierte das Grenzgebirge zu einem bedeutenden Rotwild-Lebensraum hoch. Entsprechend hochtrabend beschreibt er seine Arbeit als Forstamtsleiter: „Die Betreuung unseres Edelwildes erfordert Mühe, Arbeit und Opferbereitschaft. Sie erscheint aber als verpflichtende kulturelle Aufgabe! Lohn ist oft allein der so seltene Anblick des Königs dieser Wälder, der jedem Besucher zum unvergesslichen Erlebnis wird. (…) Lohn ist aber auch nicht zuletzt die Genugtuung, den Wald gesund und die Biozönose im Gleichgewicht erhalten zu haben. (…) Wem ist mehr Leben in solcher Vielfalt in die Hand gegeben als dem Forstmann und wem ist hier mehr Sorge und Verantwortung aufgebürdet als ihm? Wer ist aber auch – um mit Adalbert Stifter zu sprechen – in der weiten Stille dieser Wälder der göttlichen Offenbarung teilhaftiger als er?

Diese neue Heilslehre wurde von der örtlichen Jägerschaft unterschiedlich aufgenommen. Die bäuerlichen Jäger lehnten die Verherrlichung des Rotwildes ab. Die Freibauern im Lamer Winkel lebten von den Einnahmen aus ihren tannenreichen Plenterwäldern und hielten das Gebiet nordwestlich des Arbermassivs frei von Rotwild. Im Winter 1952, als die hohe Schneelage im Staatswald dem Wild entlang des Grenzkammes schwer zu schaffen machte, wurden etliche Hirsche, die in tiefer gelegene Gebiete abwanderten, erlegt. Für Götz von Bülow war das „wahllose Zusammenschießen im Flachland“ eine Katastrophe. Er sah sich und seine mitjagenden Herrenjäger als „Besitzer und Beschützer“ der Hirsche. Um sie während des Winters von den Flinten der Bauern fern zu halten, ließ er mit einem enormen Aufwand an Steuergeldern Futterkrippen im Staatswald anlegen. Er sorgte dafür, so beschreibt es Georg Sperber, „dass keines der ein Jahrzehnt und länger herangehegten Edeltiere von einem angrenzenden Bauernjäger unstandesgemäß umgelegt wird.“

Wer sich bemühte, Reh- und Rotwild zahlenmäßig im Zaum zu halten, wie die bäuerliche Jägerschaft, aber auch wie Kämpfer für eine naturgemäße Waldwirtschaft, etwa der Leiter des Staatsforstamtes Zwiesel-Ost, Konrad Klotz, sah sich dem Vorwurf der „Jagdfeindlichkeit“ ausgesetzt. Götz von Bülows Jagdideologie fand dagegen an höherer Stelle der forstlichen Hierarchie Zustimmung. Der Wald um Lusen und Rachel war zu einer der ersten Adressen in Trophäenjägerkreisen geworden.

Als es ernst wurde mit dem Nationalpark im Bayerischen Wald, setzte sich die Bayerische Staatsforstverwaltung immer heftiger zur Wehr. Sie behauptete zum Beispiel, die im Nationalpark zu erwartenden großen Mengen an Rot- und Rehwild würden den Wald auf längere Sicht vernichten. Sie befürchtete Schälschäden größten Ausmaßes und in der Folge Borkenkäferkalamitäten, die Vernichtung des Unterwuchses bis hin zur völligen Vernichtung des schönen Landschaftsbildes. Gegen diese Vorstellungen argumentierte Bernhard Grzimek in einem Schreiben an Ministerpräsident Dr. Alfons Goppel: „Offensichtlich werden hier Verhältnisse, wie sie in engen eingegatterten Wildgehegen mit zu hohem Wildbestand herrschen, mit einem Nationalpark verwechselt (…). Es kann selbstverständlich keineswegs die Absicht sein, das Rotwild zu überhegen und dadurch das Aufkommen des Waldes in Frage zu stellen. (…) Der Herr Forstpräsident betonte immer wieder, wenn die Besucher überhaupt Rotwild sehen können sollten, müssten gewaltige Mengen dieses Wildes vorhanden sein. Diese Aussage widerspricht jedoch völlig den Erfahrungen, die wir allerorten in Nationalparken gemacht haben. Große Scheu der derzeitigen Wildbestände ist die Folge der jahrhundertelangen Bejagung (…) Es kann keineswegs Ziel eines Nationalparks sein, einseitig die Wildbestände in biologisch ungesunder Weise zu vermehren auf Kosten der Vegetation, also primär auch des Waldes. Es soll sich ja ein naturgemäßes Gleichgewicht einstellen, das einen Ausschnitt der deutschen Landschaft (…) zeigt, (…) in der die Eingriffe des wirtschaftenden Menschen auf das unbedingt Notwendige verringert werden.“

Nationalparkbefürworter und Nationalparkgegner formieren sich

Schon vor seiner Gründung war der „Nationalpark“ also heftigem Gegenwind ausgesetzt. Zu den Gegnern zählte neben der Bayerischen Staatsforstverwaltung der „Bayerische Forstverein“, der „Bayerische Jagdschutzverband“ und der „Verein Naturschutzparke e.V.“. Letzterer befürchtete im Nationalpark eine Konkurrenz für seine Naturparke.

Die Befürworter gründeten am 6. Juli 1967 auf Anregung der Regierung von Niederbayern einen „Zweckverband zur Errichtung des Nationalpark Bayerischer Wald“. Mitglieder waren die Landkreise Grafenau, Wolfstein und Wegscheid, die Kreisstädte Grafenau und Freyung, sechs an den geplanten Nationalpark angrenzende Gemeinden, der „Bund Naturschutz in Bayern“ und die „Zoologische Gesellschaft Frankfurt“, deren Präsident Bernhard Grzimek war. Der Zweckverband erarbeitete in den folgenden Monaten ein Konzept für den Nationalpark und beantragte am 13. Dezember 1967 die Ausweisung eines mindestens 9.000 Hektar großen Gebietes um Rachel und Lusen als Nationalpark. Schon im November 1967 hatte der niederbayerische Bezirkstag die Ausweisung eines großräumigen Landschaftsschutzgebietes im Inneren Bayerischen Wald beschlossen. Ein Nationalpark könnte das Glanzstück dieses 75.000 Hektar großen Areals werden, argumentierten die Befürworter.

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Werbefaltblatt des Zweckverbandes zur Errichtung des Nationalparks Bayerischer Wald aus dem Jahr 1966.

Im Mai 1968 empfing der Bayerische Landwirtschaftsminister Dr. Alois Hundhammer eine zwölfköpfige CSU-Delegation aus den Kreisverbänden Grafenau und Wolfstein, die sich für einen Nationalpark stark machten. Sie erreichten eine Weiterführung der Gespräche zwischen der Staatsregierung auf der einen und dem Zweckverband auf der anderen Seite. Zugrunde liegen sollte das seit Februar 1968 vorliegende „Gutachten zum Plan eines Nationalparks“ von Professor Dr. Wolfgang Haber, das sogenannte „Haber-Gutachten“.

Wo genau soll er liegen? Wie groß soll er sein? Wie soll er heißen? Nationalpark, Naturpark, Schutzgebiet? Im Rückblick hat man den Eindruck, der Nationalpark wäre bereits vor seiner Gründung beinahe totdiskutiert worden. Doch die Beharrlichkeit der Visionäre war größer. Und im entscheidenden Moment gab es politischen Rückenwind.

Der Wendepunkt: Dr. Hans Eisenmann wird Landwirtschaftsminister

Mit der Ernennung von Dr. Hans Eisenmann zum Bayerischen Landwirtschaftsminister im Frühjahr 1969 nahmen die Auseinandersetzungen um den Nationalpark eine positive Wendung. Ein weiterer Visionär trat auf den Plan. Vom ersten Tag an und in den nun folgenden Jahren seiner Amtszeit stellte sich Minister Eisenmann immer wieder hinter die Nationalparkidee – und zwar nicht eines Nationalparks „light“, sondern eines Nationalparks, der diesen Namen auch verdient und der auch internationalen Maßstäben entsprechen sollte. Eisenmann brachte die Auseinandersetzung um den Nationalpark rasch zu einem guten Ende. Er wurde in den darauffolgenden Jahren auch zum Wegbereiter einer zeitgemäßen Forstpolitik. Die während seiner Amtszeit entwickelte Waldfunktionsplanung und das erste „Wald“-Gesetz in Bayern waren Meilensteine der deutschen Forstgesetzgebung.

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Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann hat in den Anfangsjahren den Nationalpark Bayerischer Wald entscheidend vorangebracht.

Nationalpark im Bayerischen Wald wird beschlossen

Am 11. Juni 1969 war es soweit. Der Bayerische Landtag beschloss einstimmig (!) die Errichtung des Nationalparks Bayerischer Wald. Entscheidend dazu beigetragen hat Landwirtschaftsminister Eisenmann. Auf einer Pressefahrt im Mai 1969 in den Bayerischen Wald erklärte Minister Eisenmann, dass er dem Vorschlag, dort einen Nationalpark zu errichten, grundsätzlich positiv und ohne Voreingenommenheit gegenüber stünde. Der Träger des Nationalparks sollte der Freistaat Bayern sein. Es sollte eine Nationalparkverwaltung geschaffen und zusätzlich ein Gremium gebildet werden, dem Sachverständige, Vertreter der zuständigen Behörden und Körperschaften und Mitglieder des „Zweckverbandes zur Förderung des Projektes eines Nationalparks“ angehören.

Im Landtagsbeschluss wurde die Staatsregierung ferner aufgefordert, den Nationalpark entsprechend den Vorschlägen des „Gutachtens zum Plan eines Nationalparks“ von Wolfgang Haber zu errichten. Darin war im Gebiet zwischen Rachel und Lusen die Anlage von mindestens fünf Großwild-Schaugehegen für Rothirsche, Wildschweine, Bären, Wisente und Elche vorgesehen. Als Standorte wurden Neuhütte, Guglöd, Altschönau, Weidhütte und Glashütte vorgeschlagen. Die Gehege sollten nicht zu groß sein, damit Touristen die Tiere beobachten könnten. Außerdem steht im Gutachten, dass als frei lebendes Großwild neben Rotwild und Rehwild auch Gämsen und Mufflons im Park angesiedelt werden sollten. Damit sie dort gut leben könnten, sollten neue Wildwiesen angelegt und in geeigneten Tallagen Weichholzbestände gefördert werden.

In der Anlage zum Landtagsbeschluss wurde bestimmt, dass der Wald weiterhin naturgemäß gepflegt und die Holznutzung fortgesetzt werden sollte. Diese hätte sich aber den Erfordernissen des Parks unterzuordnen, etwa durch Erhöhung der Umtriebszeit. Die Erschließung des Gebietes durch Fahr- und Wanderwege sollte ebenfalls fortgesetzt und durch Reitwege ergänzt werden. Eine kleine Anzahl von Fahrwegen sollte für den Kraftfahrzeugverkehr freigegeben und an geeigneten Stellen weitere Parkplätze angelegt werden. Durch mindestens fünf Wald- und Wildlehrpfade sollten der Wald und die Tier- und Pflanzenwelt des Bayerischen Waldes dem Besucher näher gebracht werden. Dafür könnten auch die vorhandenen Naturschutzgebiete herangezogen werden.

Die Rechtsverordnung des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten über die Errichtung des Nationalparks Bayerischer Wald trat am 1. August 1969 in Kraft. Es wurde festgelegt, dass das zu errichtende Nationalparkamt diesem Ministerium unmittelbar nachgeordnet werden und sein Sitz in Spiegelau sein sollte. In der Verordnung wurden dem Nationalparkamt folgende Aufgaben übertragen: Planung der Einrichtungen des Nationalparks Bayerischer Wald und ihre Koordinierung mit den Planungen und dem Betrieb der fünf örtlich zuständigen Forstämter. Die an der Nationalparkfläche beteiligten Staatsforstämter behielten die volle Zuständigkeit für die Forstwirtschaft und die Waldbehandlung. Durch die Rechtsverordnung wurde auch der „Nationalparkbeirat“ gegründet, dem insgesamt 22 Mitglieder angehörten.

Am 2. Oktober 1969 fand die erste Sitzung des „Nationalparkbeirates“ unter Vorsitz von Minister Eisenmann statt. Übereinstimmend wurde festgelegt, dass das Nationalparkgebiet 10.160 Hektar umfassen sollte. Südgrenze war die heutige Nationalparkstraße zwischen Spiegelau und Mauth. Auf Antrag des „Nationalparkzweckverbandes“ wurde dann die Nationalparkgrenze bereits 1970 über die Straße hinaus an die Staatswaldgrenze nach Süden verlegt und der Kleine Rachel einbezogen. Damit wurde das Gebiet auf 13.000 Hektar erweitert.

Ein Naturpark erhält den Namen Nationalpark

Abschließend muss allerdings noch einmal zusammenfassend daran erinnert werden, dass Wolfgang Haber in seinem Gutachten, welches er im Auftrag des „Deutschen Rates für Landespflege“ erarbeitete und das die fachliche Grundlage für den Landtagsbeschluss war, forderte, dass eine bestmögliche touristische Nutzung des Gebietes erzielt werden sollte. Sowohl größere Besucherströme als auch einzelne Ruhesuchende und wildbeobachtende Wanderer sollten auf ihre Kosten kommen und dem Gebiet eine dauerhafte Beliebtheit sichern. Wörtlich heißt es im Gutachten: „Sobald ein Naturschutzgebiet dem Fremdenverkehr erschlossen werden soll, sei es als Nationalpark oder unter anderem Namen, ist ein Vollnaturschutz weder durchführbar noch sinnvoll.“

Nach Habers damaliger Überzeugung wünschte sich der erholungssuchende Tourist und Naturfreund eine naturgemäße und abwechslungsreich erschlossene Landschaft. Diese aber, so der Gutachter, könne nur unter Verzicht auf strengen Naturschutz erreicht werden. Deshalb plädierte Haber dafür, im Bayerischen Wald nicht einen Nationalpark, sondern einen Naturpark zu gründen – nach dem Muster der 30 in Deutschland bereits vorhandenen Naturparke. Sein Gutachten endet mit der Feststellung: „Sorgfältige forstliche Waldpflege und auch naturgemäße Holznutzung – nach den bewährten Grundsätzen der naturnahen Waldwirtschaft in den Staatsforsten des Bayerischen Waldes – müssen auch aus landschaftspflegerischen Erwägungen gewährleistet bleiben“. Ergänzend heißt es, dass „Vollnaturschutz und Fremdenverkehr nur dort einigermaßen vereinbar sind, wo eine kleinräumige landschaftliche Vielfalt eine hohe natürliche Selbstregulierungskraft bewirkt. In allen anderen Fällen muss die Natur durch überlegte Pflege und Gestaltung dem touristischen Gebrauch angepasst werden. Das aber ist das wesentliche Prinzip der Naturparke, dem auch der im Bayerischen Wald geplante Park einzuordnen wäre und seine Bezeichnung als Nationalpark mehr zu einer Vokabelfrage macht.“

2 |WIR TUN DREI JAHRE SO ALS OB…

DER AUFBAU DES NATIONALPARKS BEGINNT

Auf Vorschlag von Minister Eisenmann wurde ich am 2. Oktober 1969 in der ersten Sitzung des vom Landtag errichteten Nationalparkbeirates zum Leiter des Nationalparkamtes Spiegelau berufen. Mein Schulfreund Dr. Georg Sperber wurde von der Ministerialforstabteilung zu meinem Stellvertreter ernannt. Unser Dienst in Spiegelau begann am 2. November 1969. Trotz des einstimmigen Landtagsbeschlusses, einen Nationalpark einzurichten, gab die Ministerialforstabteilung in München den Widerstand gegen das Projekt nicht auf. Weder Georg Sperber noch ich hatten auch nur die geringste Ahnung, was da auf uns zukommen würde. Als wir am 5. November 1969 in Spiegelau von Regierungsdirektor Kilian Baumgart aus München in den Dienst eingeführt wurden, verabschiedete er sich mit den Worten: „Herr Dr. Bibelriether, da tun wir jetzt mal drei Jahre so als ob, dann erledigt sich das von selber.“ Ich hatte nur eine sehr beschränkte Vorstellung davon, was ein Nationalpark war, geschweige denn, wie ein solcher aufzubauen sei. Meine Bewerbung um den Posten hatte vor allem den Grund, endlich aus München weg zu kommen. Raus aufs Land, raus in die Natur – das war mein Wunsch! In meiner Jugend hatte sich dieser Wunsch entwickelt.

Große Freiheit mit zwölf Jahren

Bei Kriegsende 1945 war ich zwölf Jahre alt und brauchte ein Jahr lang nicht zur Schule zu gehen! Fernsehen oder Computerspiele gab es damals noch nicht, nur endlose Wälder, Wiesen und Feldfluren um mein Elternhaus in Ezelheim in Mittelfranken. Es war Frühling. Mein Bruder Martin und ich kundschafteten Vogelnester aus – etwa von Habicht und Krähe, Rotkehlchen und Rebhuhn. Am Ende der Brutzeit besaßen wir eine stattliche Eiersammlung von über 50 Vogelarten. Unvergessen sind mir unsere riskanten Klettertouren in die Gipfel alter Eichen, wo Mäusebussard und Gabelweihe, der Rote Milan, brüteten.

Als Jäger aus der Gefangenschaft heimkehrten, mussten sie ihre Gewehre abliefern und es gab jahrelang keine Jagd. So wurden Rehe und Wildschweine fast zahm. Ich sehe sie noch vor mir, am helllichten Nachmittag: Rotten feister Schweine, denen wir im Wald nachgespürt hatten. Zehn Meter vor uns erhoben sie sich grunzend von ihren Lagern auf und suchten eher beleidigt als ängstlich das Weite. Tagtäglich waren wir unterwegs. Nur das Unkrauthacken in den Kartoffel- und Rübenfeldern, das Zusammenrechen von Gras und Heu oder im Herbst die Kartoffel- und Rübenernte hielten uns von unseren Entdeckungstouren ab. Beim Kühe hüten dagegen blieb genug Zeit, den Forellen, Weißfischen und Krebsen im Bach nachzustellen.

Im Frühjahr 1946 war es dann zwar mit der großen Freiheit zu Ende. Wir mussten zurück auf die Schulbank. Aber die kleine Freiheit blieb. Die Rückfahrt mit dem Fahrrad aus der zwölf Kilometer entfernten Oberschule in Scheinfeld zog sich manchmal bis vier Uhr nachmittags hin. Schließlich wollten wir wissen, ob die jungen Waldohreulen schon ausgeflogen, die Walderdbeeren schon reif waren oder die Bekassinen noch in den Sumpfwiesen hockten. In mir wuchs in dieser Zeit nicht nur die Liebe zur Natur, sondern ganz besonders zum Wald. Das war auch der Grund, weshalb ich Forstwirtschaft studierte und Förster werden wollte. Dieses enge Band, das mich seit meiner Jugendzeit mit der Natur verbindet, hält bis heute. Und ich bin mir sicher: Das eine schulfreie Jahr hat mich mehr geprägt als zwölf Jahre Schule!

Stark durch Gemeinsamkeit

Schon bald nach unserem Dienstantritt im Nationalparkamt gab es erste Konflikte zwischen Georg Sperber und mir mit der Ministerialforstabteilung, weil wir den Aufbau des Nationalparks wirklich voranbringen wollten. Sie häuften sich und Ministerialdirektor Hermann Haagen stellte schon nach einem Jahr fest, es sei seine größte personalpolitische Fehlentscheidung gewesen, Georg Sperber und mich gemeinsam nach Spiegelau zu versetzen. Deshalb hat man auch versucht, Georg Sperber im September 1970 zur Bewerbung als Amtsvorstand an das freigewordene Forstamt Nürnberg-Süd zu überreden. Im Rückblick ist mir klar geworden: Einer allein hätte diese Anfangszeit nicht durchgestanden.

Doch wie kam es überhaupt dazu, dass Georg Sperber und ich uns beide um den Posten des Nationalparkleiters bemüht hatten? Mit Georg Sperber saß ich 1943 bis 1945 zusammen auf einer Schulbank in der Oberrealschule in Neustadt an der Aisch und als ich 1953 in München das Forststudium begann, traf ich ihn am ersten Tag im Hof der Forstabteilung der Universität in der Amalienstraße wieder. Unsere Schulfreundschaft wuchs in eine enge persönliche Beziehung. Im Studentenheim teilten wir uns eine Bude. Auf einer Exkursion im Herbst 1956 mit Waldbauprofessor Josef Köstler hörten wir im Bus hinter ihm sitzend, wie unser Studienkollege Karl Kreuzer mit Professor Köstler sprach, um bei ihm zu promovieren. Georg Sperber sagte am Abend zu mir, dass wir doch eigentlich auch promovieren könnten. Allerdings waren wir uns einig: Nur dann, wenn wir gemeinsam irgendwo die Außenarbeiten erledigen könnten. Wir trugen unser Anliegen Professor Köstler vor. Einige Wochen später sagte er uns, dass wir über die Lärche und die Weymouthskiefer im Spessart promovieren könnten. So begannen wir 1957 mit den Außenaufnahmen in Heigenbrücken im Spessart. Wir kauften uns gemeinsam einen gebrauchten VW-Käfer, arbeiteten einige Monate an Waldbestandsanalysen und Bodenuntersuchungen und promovierten beide im Jahr 1960 an der Universität in München.

Georg Sperber begann die dreijährige Referendarzeit erst 1958. Er kartierte, um Geld zu verdienen, nach seinem Studienabschluss einige Monate lang Waldstandorte im Forstbetrieb Öttingen/Spielberg. Dadurch machte er ein Jahr später als ich das Staatsexamen und lernte in dieser Zeit Hubert Weinzierl kennen. Sie freundeten sich an, da mein Freund Sperber – auch er hatte ein Jahr lang nicht in die Schule gehen müssen – bereits seit seiner Kinderzeit sehr an der Natur, vor allem der Vogelwelt interessiert war und mit Hubert Weinzierl diese Leidenschaft teilte.

Als im Juni 1969 der Landtag beschloss, den Nationalpark einzurichten und ein Nationalparkamt in Spiegelau zu schaffen, wurde er der Wunschkandidat von Hubert Weinzierl für die Amtsleitung. Ich selbst war damals noch in München im Dienst und traf in der Kantine des Landwirtschaftsministeriums Regierungsdirektor Kilian Baumgart beim Mittagessen. Ich sagte ihm: „Wenn sie jemand suchen, der in den Bayerischen Wald nach Spiegelau ginge, ich wäre daran interessiert.“ So wurde ich zum Kandidaten der Forstverwaltung. Dann trafen Georg Sperber und ich uns im August 1969 bei der Bayerischen Forstvereinstagung in Augsburg und beschlossen zu versuchen, diese Aufgabe wiederum gemeinsam zu übernehmen. Wir fuhren am Abend zu Hubert Weinzierl nach Ingolstadt – ich traf ihn da zum ersten Mal – und er war einverstanden, dass wir beide nach Spiegelau versetzt werden sollten.

Am nächsten Tag suchten wir während der Forstvereinstagung ein Gespräch mit Ministerialdirektor Hermann Haagen und schlugen ihm vor, dass nicht nur einer, sondern zwei Förster nach Spiegelau versetzt werden sollten. Denn wenn einer krank wäre, wäre das Amt führungslos. Er meinte, dass er dies auch für sinnvoll hielte. Wir sagten ihm, es wäre uns gleich, wer Leiter und wer Stellvertreter werden würde. So kam es, dass wir gemeinsam die schwierige Aufgabe, einen Nationalpark einzurichten, der keiner werden sollte, übernehmen konnten.

Dienstanfang in Spiegelau