2Der Band versammelt Schlüsseltexte zu Geschichte und Begriff des Fetischismus aus Ethnographie, Anthropologie, Religionsgeschichte und -philosophie, Soziologie, Waren- und Konsumkritik, Psychoanalyse und Gender-Theorie, Ästhetik und Semiotik sowie der jüngeren und jüngsten Wissenschaftsgeschichte. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Kräfte die Beziehung des Menschen zu seinen Lieblingsobjekten regieren. Wiederholt die Verehrung eines Kleidungsstücks archaische Prägungen aus einer religiösen Urzeit? Ist der Warenfetisch ein Nachfahre der Idole der Naturvölker? Oder ist die Existenz des Fetischs nur dem abwertenden Blick auf das Unverständliche und Fremde geschuldet? Einleitende Kommentare führen in die Texte ein und markieren Entwicklungslinien einer jahrhundertelangen Faszinationsgeschichte.

Johannes Endres ist Associate Professor an der University of California in Riverside, USA.

3Fetischismus

Grundlagentexte
vom 18.
 Jahrhundert bis
in die Gegenwart

Herausgegeben
von Johannes Endres

Suhrkamp

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eISBN 978-3-518-74212-9

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

1. Ethnographie und Anthropologie

Einleitung

Charles de Brosses
Ueber den Dienst der Fetischengötter oder Vergleichung der alten Religion Egyptens mit der heutigen Religion Nigritiens

Friedrich Nietzsche
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt

Fritz Schultze
Der Fetischismus. Ein Beitrag zur Anthropologie und Religionsgeschichte

Wilhelm Wundt
Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte

2. Religionsphilosophie und Religionsgeschichte

Einleitung

Immanuel Kant
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Christoph Meiners
Allgemeine kritische Geschichte der Religionen

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte

Friedrich Max Müller
Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion, mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des alten Indiens

3. Gesellschaftstheorie und Warenökonomie

Einleitung

Auguste Comte
Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug

Karl Marx
Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie

Walter Benjamin
Das Passagen-Werk

Theodor W. Adorno
Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens

4. Psychoanalyse und Gender-Theorie

Einleitung

Alfred Binet
Der Fetischismus in der Liebe

Richard von Krafft-Ebing
Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen

Sigmund Freud
Zur Genese des Fetischismus

Sigmund Freud
Fetischismus

Julika Funk und Elfi Bettinger
Weiblichkeit als Maskerade und der Fetisch Phallus

5. Ästhetik und Semiotik

Einleitung

Novalis
Fragmente

Sigmund Freud
Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva

Gilles Deleuze
Sacher-Masoch und der Masochismus

Jean Baudrillard
Fetischismus und Ideologie: Die semiologische Reduktion

6. Epistemologie und Diskursgeschichte

Einleitung

Jean Pouillon
Fetische ohne Fetischismus

Homi K. Bhabha
Die Frage des Anderen. Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus

Bruno Latour
Überraschungsmomente des Handelns. Fakten, Fetische und Faitiches

Hartmut Böhme
Fetischismus im neunzehnten Jahrhundert. Wissenschaftshistorische Analysen zur Karriere eines Konzepts

Über die Autorinnen und Autoren

Editorische Notiz

Textnachweise

Sachregister

9Vorwort

1. Objekte des Fetischismus

1972 erschien im Suhrkamp Verlag ein inzwischen vergriffener Band mit dem Titel Objekte des Fetischismus.[1] Es handelte sich um die Übersetzung einer Textsammlung, die zwei Jahre zuvor auf Französisch publiziert worden war. Ihr Herausgeber war der Sartre-Schüler Jean-Bertrand Pontalis, der wie die Mehrzahl der Beiträger der Psychoanalyse nahestand. Neben deren Aufsätzen enthielt der Band einige wenige historische Quellentexte, an prominenter Stelle Freuds Schriften Fetischismus (1927; siehe hier S. 262-267) und Die Ichspaltung im Abwehrvorgang (1938/40) sowie knappe Auszüge aus einschlägigen Texten von de Brosses, Hegel, Comte und Marx. Der Band ist in die Geschichte der Fetischismusforschung als epochaler Einschnitt und Neubeginn eingegangen.

1907 hatte der Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss den Fetischismus für tot erklärt. In einer berühmt gewordenen Besprechung eines Buchs von Richard Edward Dennett in der L’Année sociologique war Mauss zu folgender Schlussfolgerung gelangt:

Wenn man einmal die Geschichte der Religionswissenschaft und der Ethnographie schreiben wird, wird man erstaunt sein über die ungebührliche und zufällige Rolle, die ein Begriff wie der des Fetischs in den theoretischen und deskriptiven Arbeiten gespielt hat. Sie entspricht nur einem ungeheuren Mißverständnis zwischen zwei Zivilisationen, der afrikanischen und der europäischen; sie gründet auf nichts anderem als auf einem blinden Gehorsam gegenüber den kolonialen Gepflogenheiten, den fränkischen Sprachen der Europäer der Westküste.[2]

Auch Pontalis’ Band nahm auf Mauss’ Verabschiedung des Fetischismusbegriffs als brauchbares Instrument der Ethnographie und Religionsgeschichte Bezug. Er konnte ihr jedoch die Tatsache entgegenhalten, dass zum Zeitpunkt von Mauss’ Feststellung – und von diesem scheinbar unbeachtet – ein neues Feld der Fetischis10musforschung entstanden war, das Mauss zwar nicht widerlegte, das aber vom Bedeutungsverlust des ethnographischen Fetischismuskonzepts doch profitierte: das des sexuellen Fetischismus in Psychologie und Psychoanalyse.[3] Hätte es diese Koinzidenz – von Ende und Neuanfang – nicht gegeben, würden heute nur noch Marxisten bzw. Spezialisten der marxistischen Kapitalismuskritik von Fetischismus reden.

Dabei hat die psychoanalytische Wiederentdeckung und Neubestimmung des Fetischismus Mauss’ Verdikt durchaus Recht gegeben. Nicht nur spielt das Konzept im ethnographischen Diskurs des 20. Jahrhunderts praktisch keine Rolle mehr. Der psychoanalytische und psychopathologische Fetischismusbegriff kommt auch weitgehend ohne dessen Vorgeschichte in der ethnographischen und religionsgeschichtlichen Literatur aus. Zwar ist sich vor allem Freud einer solchen Vorgeschichte sehr wohl bewusst. In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905, der frühesten Erwähnung des Fetischismus in Freuds Werk, heißt es unter Rückbezug auf das Phänomen des sogenannten primitiven Fetischismus: »Dieser Ersatz [des Sexualobjekts durch ein Körperteil oder unbelebtes Objekt wie die Kleidung der Sexualperson] wird nicht mit Unrecht dem Fetisch verglichen, in dem der Wilde seinen Gott verkörpert sieht« – wobei es vor allem Freud selbst ist, der einen derartigen Zusammenhang inauguriert.[4] Tatsächlich bleiben die gelegentlichen Hinweise auf den Fetischismus der »Wilden« in den Theorien des sexuellen Fetischismus jedoch randständig. Es scheint somit, dass die Entdeckung des Fetischismus durch die Psychoanalyse den Niedergang des Konzepts in Ethnographie und Religionsgeschichte voraussetzt: Dieser kann erst zu einem Terminus zur Bezeichnung des »Eigenen« werden, wenn er aufgehört hat, als Bezeichnung des »Anderen« zu funktionieren.[5]

11Dann würde die Geschichte des Begriffs jenen Mechanismus wiederholen, der dem Phänomen laut psychoanalytischem Verständnis zugrunde liegt: So wie der Fetisch das Ergebnis und »Denkmal« der Verdrängung eines Kindheitserlebnisses ist, so ist der psychoanalytische Fetischismusbegriff das Ergebnis einer Verdrängung seiner terminologischen Vergangenheit. Die Psychoanalyse müsste Letztere also gar nicht thematisieren – und dürfte es vielleicht nicht einmal –, um die Psychodynamik des sexuellen Fetischismus als Wiederkehr einer negierten Vorgeschichte zu beglaubigen. Die »Wanderung«[6] des Fetischismusbegriffs wäre dann weniger eine Wanderung mit vertikalem Richtungssinn als das allmähliche Emportauchen eines individual- und kollektivgeschichtlichen Sediments nach der Logik der Freud’schen »Erinnerungsspur« – vergleichbar dem Fußabdruck der Jugendfreundin in der seelischen Phantasielandschaft der Hauptfigur in Wilhelm Jensens Novelle Gradiva.[7]

Demnach könnte die psychoanalytische Wiederentdeckung des Fetischismus auch schon um das Problem gewusst haben, das erst Pontalis’ Sammelband explizit formuliert: die Frage nämlich, was die Reprisen des Fetischismus bei Binet, Krafft-Ebing und Freud – aber auch in Marx’ Kapital – mit der ethnographischen Tradition des Begriffs zu tun haben. Denn es ist diese – auf den ersten Blick akademisch anmutende – Frage, die den Neubeginn der Fetischismusforschung seit den Objekten des Fetischismus markiert. Ohne sie würde es auch den vorliegenden Band gesammelter Grundlagentexte zum Fetischismus – 45 Jahre nach den Objekten des Fetischismus – nicht geben.

2. Theorien des Fetischismus – oder:
Die Frage nach der Frage

Was also steht mit der Frage nach den möglichen Verbindungen zwischen den unterschiedlichen historischen Theorien des Fetischismus und den Wissensgebieten, aus denen sie hervorgegangen 12sind, auf dem Spiel? Zur Beantwortung dieser »Frage nach der Frage« müssen wir einen kleinen Umweg gehen. Er beginnt mit einer der ältesten Fragen der Geschichte des Fetischismus, derjenigen, was ein »Fetisch« ist. Keine Fetischismustheorie vor den 1970er Jahren hat es versäumt, darauf eine Antwort zu geben. Demnach ist der Fetisch ein Götze, ein Zaubermittel, ein irrtümlich für lebendig gehaltenes Ding, ein Schutzgott, die älteste und primitivste Religionsform, ein Aberglaube, ein Tauschobjekt, das Produkt eines Wertmissverständnisses, ein Wahrzeichen der Entfremdung, ein Ersatz, der Phallus, ein Statussymbol – die Reihe ließe sich fortsetzen. So heterogen – und zum Teil gegensätzlich – diese Bestimmungen sind, so essentiell sind sie für die jeweilige Fetischtheorie. Keine von ihnen käme ohne eine geregelte Ansicht vom »Wesen« des Fetischs aus – sie ist nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit geboten, sondern bestätigt auch das theoretische Vorverständnis, dass es Fetische gibt und man ihre Funktionsprinzipien erkannt und diskursiv erfasst hat. Denn – und darin sind sich alle Fetischismustheorien seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart einig – Fetische sind vor allem eines: gefährlich.

Womit sich die Theoriegeschichte des Fetischismus dagegen nur am Rande befasst hat, ist die Frage, wie die unterschiedlichen Definitionen des Phänomens miteinander verknüpft sind. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: erstens die Vermutung, dass die diversen Begriffe dasselbe Phänomen unterschiedlich gut beschreiben und es darum geht, kein integrales Konzept zu finden, sondern das beste – dies ist in der Diskursgeschichte des Fetischismus die ältere Position, der wir im vorliegenden Band allenthalben begegnen; sowie zweitens die gegenteilige Annahme, dass die unterschiedlichen Begriffe auch unterschiedliche Phänomene beschreiben, die man deshalb nur verstehen kann, wenn man die Begriffe selbst versteht – dies ist sowohl die in Pontalis’ Sammelband vertretene Position als auch die der – für die Fetischismusforschung wegweisenden – Studien von William Pietz aus den 1980er Jahren.[8] Auch eine solche Position führt aber nicht zu einem integralen Konzept des Fetischismus, dessen Existenz sie vielmehr bestreitet. Von Pietz stammt denn auch die Formulierung: »Von diesem Standpunkt aus 13muss der Fetisch als zu keinem anderen historischen Feld zugehörig gesehen werden als der Geschichte des Worts selbst […].«[9]

Welcher von beiden Ansichten man also auch folgt, die Frage nach den Gemeinsamkeiten der Disziplinen des Fetischismus ist entweder überflüssig oder aussichtslos. Das ändert sich eigentlich erst mit Hartmut Böhmes Buch Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne (2006), der ersten zusammenhängenden Darstellung des Themas, die die Karriere des Fetischismuskonzepts auf den unterschiedlichen Diskursfeldern weder als Inkonsistenz des Fetischbegriffs noch des ihm zugrundeliegenden Phänomens liest.[10] Nach Böhme antworten die verschiedenen Fetischkonzepte auf ein gemeinsames Problem – die industrielle Proliferation der Dingwelt im 19. Jahrhundert – und auf den Versuch der zeitgenössischen Wissensagenturen – von der Ethnographie und Religionswissenschaft über die Philosophie und Ökonomie bis hin zur Psychoanalyse und Sexualwissenschaft –, mit einer solchen Proliferation Schritt zu halten. Demnach fungiert der Fetisch einerseits als Sammelname einer »korrupten Objektbeziehung«,[11] die er zugleich begrifflich kanalisiert und diskursstrategisch anschlussfähig macht. Andererseits verweisen die historischen Wandlungen des ursprünglich interkulturellen zum intrakulturellen Begriff – die einer Logik der Übertragung vom »Anderen des Eigenen« auf das »Eigene des Anderen« folgen – auf eine mit der statistischen Zunahme der Dinge korrespondierende Zunahme ihrer Bedeutung für den Menschen. Die scheinbaren Kapriolen der Begriffsgeschichte kartieren also im Grunde zuverlässig die Expansionsgeschichte des Fetischismus in der Moderne.

Was die Theorien des Fetischismus letztlich verbindet, ist mithin das versatile Phänomen des Fetischs selbst, die Geschichte seiner »Entwicklung« und »Genese«, wie es erstmals bei Max Müller (siehe hier S. 135) und dann bei Freud heißt (siehe hier S. 255). Um 14ihr gerecht zu werden, bedarf es der unterschiedlichen Konzepte des Fetischismus, die so vielgestaltig und wechselhaft sind wie ihr Gegenstand und dessen historische Eskapaden. Insofern ersetzt Böhme sowohl die Theoriegeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts als auch die Diskursgeschichte des späteren 20. Jahrhunderts durch eine »Kulturgeschichte des Fetischs«. Allerdings: Auch sein Ansatz kann eine Frage nicht wirklich beantworten: ob und wie die unterschiedlichen Konzeptionen des Fetischismus, außer über den hypostasierten Bezugspunkt des Fetischs selbst, zusammenhängen. Im hier abgedruckten Aufsatz »Fetischismus im neunzehnten Jahrhundert. Wissenschaftshistorische Analysen zur Karriere eines Konzepts« aus dem Jahr 2000 unternimmt Böhme zwar einen Versuch in dieser Richtung, indem er (einen Vorschlag von Pietz aufgreifend) einen »Wertskandal« als verbindenden Nenner zentraler Fetischismustheorien postuliert (siehe hier S. 442 u. ö.). Aber greift die materielle Geringschätzung der »primitiven« Fetische durch die Spanier und Portugiesen in der frühen Neuzeit wirklich auf Marx’ Verurteilung des Warenfetischs als eines irrigerweise für einen Gebrauchswert gehaltenen Tauschwerts voraus? Und inwiefern berührt sich Marx’ Verdikt wiederum mit Freuds Analyse des sexuellen Fetischs als eines Substituts für den bei der Frau vermissten Penis? Oder gibt man angesichts solcher Überlegungen die Suche nach einem missing link besser auf?

3. Fetischismus als Übertragung und Inversion

Der vorliegende Band geht von der Annahme aus, dass die hier präsentierten Texte untereinander in Verbindung stehen, aufeinander aufbauen und bis zu einem gewissen Grad auseinander hervorgehen. Er beantwortet, mit anderen Worten, die eingangs gestellte Frage nach den Korrespondenzen und Konvergenzen der historischen Theorien des Fetischismus und der sie produzierenden Diskurse positiv. Dabei orientiert er sich an einer entscheidenden Szene der Formationsgeschichte des fetischistischen Arguments, die in der Forschung wenig beachtet wird, für die theoretische Entwicklung des Fetischismus aber bezeichnend ist.[12] Sie findet sich in 15einer frühen Erwähnung des Fetischismus bei Marx, 25 Jahre vor der Niederschrift des berühmten Fetischismuskapitels des Kapitals (1867), in einem Beitrag zu den »Debatten über das Holzdiebstahlgesetz« für die Rheinische Zeitung vom 3. 11. 1842. Marx überträgt dort das Konzept des »primitiven« Fetischismus auf die heimischen Verhältnisse der Gegenwart, wobei der Kontext aber nicht, wie im Kapital, ein ökonomischer, sondern ein politischer ist:

Die Wilden von Kuba hielten das Gold für den Fetisch der Spanier. Sie feierten ihm ein Fest und sangen um ihn und warfen es dann ins Meer. Die Wilden von Kuba, wenn sie der Sitzung der rheinischen Landstände beigewohnt, würden sie nicht das Holz für den Fetisch der Rheinländer gehalten haben? Aber eine folgende Sitzung hätte sie belehrt, daß man mit dem Fetischismus den Tierdienst verbindet, und die Wilden von Kuba hätten die Hasen ins Meer geworfen, um die Menschen zu retten.[13]

Es handelt sich bei dieser Passage um eine der eher sporadischen Bezugnahmen auf den außereuropäischen Fetischismus bei Marx – und zweifellos um die differenzierteste.[14] Marx vergleicht nämlich nicht nur den Fetischismus der »Wilden« mit dem (Holz-)Fetischismus der Rheinländer und bereitet damit die »Europäisierung« des Konzepts im Kapital vor.[15] Das Zitat – das seinerseits ein Zitat ist – motiviert einen solchen Vergleich zudem durch eine dem Konzept des »primitiven« Fetischismus inhärente Logik der Übertragung, in diesem Fall der Übertragung des Fetischismus der »Wilden von Kuba« auf die quasi religiöse Wertschätzung des Goldes seitens der spanischen Kolonisatoren. Dabei benutzt Marx wiederum eine Passage aus Charles de Brosses’ epochaler Abhandlung Ueber den Dienst der Fetischengötter (deutsch 1785; siehe hier S. 40), die den Neologismus »Fetischismus« (fétichisme) in die Literatur eingeführt und die Marx nachweislich exzerpiert hat.[16] Bei de Brosses lautet 16die Stelle folgendermaßen: »Keine Gottheit dieser Art hat den Wilden aber mehr Unglück gebracht, als das Gold. Sie hielten es ganz gewiß für den Fetisch der Spanier, wegen der großen Verehrung, die sie bey denselben gegen dieses Metall bemerkten, und schlossen von ihrer Religionsart auf die Spanier.«[17]

Marx’ Zitat stellt also eine »Reappropriation« in mehrfacher Hinsicht und auf mehreren Ebenen dar, wobei die jeweilige Referenzebene durch Umkehrung in ihren neuen Bezugsrahmen integriert wird: der Fetischismus der Rheinländer in den Fetischismus der Kubaner, der Fetischismus der Kubaner in den Fetischismus der Spanier und de Brosses’ ethnographisches Fetischismuskonzept in das politische und dann ökonomische Fetischismuskonzept des Marx’schen Werks. Was diese Übertragungskette stabilisiert, ist nicht die Identität des Fetischobjekts, denn das ändert sich ja gerade: erst ist es der Tierdienst, dann das Gold, dann das Holz. Es ist vielmehr die jenen Übertragungen zugrundeliegende Logik der Inversion, die nicht nur die nächstfolgende Aneignung des Konzepts motiviert, sondern auch die »Generationenreihe« der Fetischobjekte hervorbringt, die aus den jeweils vorherigen durch eine umkehrende Transformation entstehen.[18] Es würde also zu nichts führen, den Tierdienst, das Gold und das Holz nach verbindenden Eigenschaften abzusuchen oder sie in Objektklassen einzuteilen – wie es Christoph Meiners Allgemeine kritische Geschichte der Religionen (1806) und nach ihm manch anderer unternommen hat. Ihre Gemeinsamkeit enthüllen diese phänomenologisch so unterschiedlichen Objekte erst, wenn man die im Hintergrund mitlaufenden theoretischen Kontexte mit in den Blick nimmt, die das dazu gehörige Transferprotokoll enthalten. Deshalb braucht es die Theo17rie: Denn Fetischismus ist sowohl eine sozial-symbolische Praxis als auch eine »Weise der Beobachtung«.[19]

Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, das Prinzip der »inversen Übertragung« für die einzelnen hier vorgelegten Texte aufzuzeigen – Hinweise dazu finden sich in den Einleitungen zu den betreffenden Sektionen. Auch sprechen diese Texte in ihrer Auswahl und Anordnung durchaus für sich. So werden der interessierte Leser/die interessierte Leserin auch weitere Texte, die Auslassungen zum Opfer gefallen sind, in das hier angeregte Grundgerüst eintragen oder es gegebenenfalls modifizieren können. Insofern versteht sich der Band auch nicht als kanonische Sammlung, sondern als Vorschlag zur Systematisierung eines ungewöhnlich weiten und heterogenen Diskursfelds sowie als Aufforderung zu seiner Diskussion und Fortschreibung. Die in allen Texten prominente Rolle der Theorie – im Sinne einer auf Generalisierung zielenden Ordnung des Gegenstands – organisiert also, bis zu einem gewissen Grad, auch die Konzeption dieses Bandes.

Dabei ist die Theorie des Fetischismus seiner Geschichte nicht etwa äußerlich, vielmehr lässt sie sich von ihrem Gegenstand nicht wirklich trennen. Dies verdeutlicht schon die Geschichte des Terminus »Fetischismus« und damit die Geschichte der Epistemologie des Konzepts, die beide so alt sind wie die (westliche) Rede über den Fetisch. Schon bei de Brosses dient der Begriff des Fetischismus der Überführung eines empirisch unübersichtlichen Phänomens in ein handhabbares Konzept. Dabei sind bestimmte Erscheinungen dem Konzept einverleibt, andere aus ihm hinausverlagert worden, worauf sich spätere Autoren affirmativ oder kritisch bezogen haben. Angesichts dessen mag das Wort vom inhärenten »Fetischismus der Theorie« naheliegen.[20] Man sollte jedoch nicht übersehen, dass die Theorie des Fetischismus für die Ausbreitung der fetischistischen Faszination bis in die Gegenwart unentbehrlich gewesen ist. Erst de Brosses’ Integration unterschiedlicher religiöser und präreligiöser Praktiken in einen nachreligiösen Fetischismusbegriff aus dem Geist aufklärerischer Religionskritik hat die Karriere desselben als kultureller und transkultureller Begriff und damit seine Übertragungsgeschichte in der westlichen Moderne ermöglicht. Ohne die – mit de Brosses beginnende – Theoretisierung des Fetischs hätte 18dessen Überlieferung mit der Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts geendet.

4. Was ist (k)ein Fetisch?

Das Problem der ersten Europäer, die das Wort »Fetisch« (von portugiesisch feitiço, Amulett, Zauber, künstlich, nachgemacht, falsch; sowie lateinisch facticius, durch Kunst gemacht, nachgemacht, dem Natürlichen entgegengesetzt) zur Bezeichnung einer sie vertraut-unvertraut anmutenden Praxis fremder Kulturen gebildet haben, ist im Laufe der Geschichte des Fetischismus also nicht geringer geworden. Im Gegenteil: Die Schwierigkeit, zu entscheiden, was ein Fetisch ist – die die Literatur seit dem ersten Auftauchen des Begriffs bis hin zu Freud und darüber hinaus vexiert hat –, wurde durch die Übertragungen und Metaphorisierungen des Begriffs zur noch viel größeren Schwierigkeit: zu entscheiden, was kein Fetisch ist. Wie oben angedeutet, kann die Lösung des Problems nicht in einer Inspektion des Fetischs liegen, der an sich schon das Ergebnis einer »Übertragung« ist – so dass die Transaktionen des Fetischismus auf die Übertragung antworten, die der Fetisch darstellt. Auch im Fall des konkreten Fetischobjekts ist es vielmehr entscheidend, das Transferprotokoll zu kennen, in dem die Geschichte seiner Genese gespeichert ist. Zu Recht hat man den Fetisch darum eine »Geschichte« genannt, »die sich als Gegenstand maskiert«.[21]

Zu den Praktiken, die an der Konstitution eines Fetischs beteiligt sind – sei dies ein religiöser Fetisch, ein Warenfetisch oder ein sexueller Fetisch – zählen Verfahren der Verzauberung, der Projektion, des Quidproquo, der Fragmentierung und Separation, der Teil-Ganzes-Relationierung, der Bearbeitung, der Verehrung, des Erwerbs und der Sammlung oder auch der Weitergabe. In der Mehrheit der Fälle ist dem Fetisch zudem ein Ding-Aspekt eigentümlich, wobei der Begriff der Verdinglichung die Erscheinungsmodi dieses Aspekts jedoch eher verkürzt und auch nicht zwischen der Konversion eines Dings in ein Nicht-Ding – wie sie in der ethnographischen und religionswissenschaftlichen Literatur thematisiert wird – und der umgekehrten Konversion eines Nicht-Dings in 19ein Ding – wie in Marx’ Theorie des Warenfetischs – unterscheidet. Am ehesten ließe sich der Fetisch vielleicht ein »Konzept mit Ding-Aspekt« nennen; nie aber ist der Fetisch nur Ding, sonst würde es auch keine »fetischistische Transaktion« (Victor N. Smirnoff) geben.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt des Fetischs ist seine Sichtbarkeit – wobei seine Übertragungen unsichtbar sind: Der Frauenschuh ist sichtbar, nicht aber seine fetischistische »Bedeutung«, die mit ihm unsichtbar assoziiert ist. Damit sind Fetische nicht einfach Zeichen – auch nicht Indizes im Sinne von Peirce –,[22] denn während das Zeichen nur wegen seiner Bezeichnungsfunktion von Bedeutung ist, ist der Fetisch wichtig »an sich«. Und im Unterschied zum Index, dessen Bedeutung jeder versteht, der den Index wahrnimmt (so zum Beispiel Rauch als Zeichen von Feuer), bleibt dem Nicht-Fetischisten die Bedeutung des Fetischs in der Regel obskur – die Fetischismusliteratur liefert dafür zahllose Belege. Ein in den Texten zum Fetischismus immer wiederkehrendes Motiv ist dagegen die Bezeichnung des Fetischs als »Bild«, bei der es sich wohlgemerkt um einen metasprachlichen Ausdruck handelt, der eine Beobachtersicht artikuliert.[23] Eine solche Bezeichnung – des Fetischs als Bild – erklärt sich zum Teil aus den Überschneidungen von Idolatrie- und Fetischismusdiskurs, denen jeweils ein ikonoklastischer Impuls eigen ist – weshalb man beide Diskurse auch nicht sauber trennen kann.[24] Sie erklärt sich aber auch aus dem Vi20sualitätscharakter des Fetischs, der seine Beteiligung an den ästhetischen Diskursen seit dem 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Erfindung der Ästhetik im modernen Sinne, motiviert. Denn wie nicht nur Hegels Diskussionsbeitrag in diesem Band verdeutlicht, wurde der Fetisch immer wieder auch als schlechtes Kunstwerk gedeutet – und der Fetischist als schlechter Künstler (siehe hier S. 120).

Das macht den Fetisch zwar so wenig zu einem Kunstwerk, wie es ihn zu einem Zeichen macht. Aber es zeigt, dass der Fetisch auch deshalb in die Netze der Aufklärung und der Kunstphilosophie des 19. Jahrhunderts geraten konnte, weil er in die von diesen regulierte Kultur des Visuellen und die Schlüsselfunktion der Bildkultur für das Selbstverständnis der Moderne eindringt. Von daher versteht es sich auch, dass der Fetisch als Umkehrung negativer Konnotationen des ästhetischen Kunstwerks und das Kunstwerk – so vor allem in der Romantik – als Positivierung negativer Konnotationen des Fetischs aufgefasst werden konnte.[25] Fetische sind also nicht einfach »schön« oder »häßlich«,[26] rufen aber – wegen ihrer unbestreitbaren Präsenz und Sichtbarkeit – nicht zuletzt ein im weitesten Sinne ästhetisches Kritikvermögen auf den Plan.

Außerdem sind Fetische gefährlich, weshalb sie ihrerseits zu Schutzzwecken dienen können: den »Wilden« bewahren sie vor widrigen Natureinflüssen, den Warenfetischisten vor der Anerkennung kapitalistischer Entfremdung, den Liebhaber sexueller Fetische vor dem Anblick des kastrierten Weibes usw.[27] Die pejorativen Konnotationen des Fetischs in allen europäischen Sprachen unterstreichen dieses Gefahrenpotential und formieren sich zu seiner Abwehr. Fetische stellen nämlich nicht nur die Prinzipien der ästhetischen Kontemplation und die Regelungen der materiellen und visuellen Kultur durch die Moderne in Frage. Sie scheinen auch den seit der Aufklärung propagierten Trennungen von Religion und Aberglauben, Natur und Kultur, Narzissmus und Selbstbe21wusstsein, innerer und äußerer Kausalität, Empirie und Metaphysik sowie der Idee einer »apollinischen« Antike zu widersprechen.

Ein in allen kritischen Kommentaren zum Fetischismus sich wiederholender Vorwurf ist zudem der des Solipsismus des Fetischisten, der in der ethnographisch-anthropologischen Literatur als Verdacht der geringen sozialen Organisiertheit der fetischistischen Kultur wiederkehrt, in der marxistischen Theorie als Vorwurf der Entfremdung und in der psychologisch-psychoanalytischen Literatur als Narzissmus-Verdacht. Fetischismus bedroht mithin auch die sozialen Grundlagen der modernen Kultur durch einen Hedonismus der Wunscherfüllung, der seinerseits gegen-, außer-, sub- sowie massenkulturelle Sozialisationsformen in Gestalt von Gruppenfetischen, Kulten, Waren, Sammlungen, Nischen und Phantasiewelten hervortreibt. In ihnen errichtet sich der Fetischismus Domänen einer funktionierenden Beziehung zur Welt, die das Reflexionsniveau eines komplexen modernen Welt-Bezugs unterschreitet und die Illusion eines gelingenden Lebens kultiviert. Nicht von ungefähr sind die Simplifikationen des Fetischismus – von der Entdeckung des Fetischismus der »Wilden« bis hin zu Freud – als naiv und infantil bzw. als Erscheinung eines menschheitsgeschichtlichen Kindheitsstadiums beargwöhnt worden.[28]

5. Das Versprechen des Fetischismus

Dabei scheint der Fetischist sehr wohl um die Konzessionen zu wissen, die er seinem Fetisch macht. Auch für ihn sind die Dinge ansonsten widerständig, dysfunktional oder unerreichbar. Nur im Umgang mit dem Fetisch gelingt es ihm, für begrenzte Zeit und in dessen Bannkreis, die Vorstellung einer gefügigen und gehorsamen Materie zu unterhalten. Wird diese Erwartung enttäuscht, so wird auch der Fetisch zerstört. Einer solchen Logik zufolge wären Fetischismuskritiker wiederum ehemalige Fetischisten, die zu »Enttäuschern« des Fetischismus geworden sind, ohne den Glauben an den Fetisch aufzugeben.

Vielleicht sind Fetische darum auch nur aus der Beobachterper22spektive ihres Kritikers wohlfeil, wie die Theoretiker des »primitiven« Fetischismus gegen die scheinbare Beliebigkeit und Ubiquität der Fetischobjekte einwenden, die marxistische Fetischismuskritik gegen den Massencharakter der Ware oder die Psychoanalyse gegen die Unzahl der Sexualfetische im Vergleich zur Endlichkeit fortpflanzungstauglicher Organe. Für den Fetischisten sind Fetische dagegen prinzipiell selten, was erklären würde, warum sie unter anderem zu Sammlungsobjekten taugen – denn gesammelt wird nur, was rar ist oder im Kontext der Fülle, die die Sammlung suggeriert, anderswo als knapp erscheint.[29] Diese Knappheit ist andererseits ein wesentlicher Aspekt der Anziehungskraft des Fetischs, die sich umgekehrt in den materiellen und emotionalen Kosten seiner Anschaffung (seinem »Preis«), seiner Verehrung und Pflege materialisiert. Der Fetisch ist, mit anderen Worten, ein kostbarer Schatz der Bedeutsamkeit im Ozean einer von Angst, Wertverlust und Sinnlosigkeit erfüllten Welt.

Fetischismus ist damit auch ein Krisenphänomen, so wie die Theorien des Fetischismus – bis in die Gegenwart hinein – vor allem Krisentheorien sind. Im großen Maßstab lässt sich dies an der Umbruchszeit erkennen, in die die Entstehung der modernen Debatten über den Fetisch fällt. So diskreditiert de Brosses den Fetischismus als archaische Religionspraktik, um ihn für eine Theorie der Säkularisation in Anspruch zu nehmen, in der das Paradigma der (Fortschritts-)Geschichte das einer religiösen Heilszeit und einer chiliastischen Zeitrechnung ablöst. In dem Maße aber, in dem de Brosses den »primitiven« Fetischismus als Nicht-Religion verweltlicht, etabliert er ihn als Variable einer interkulturellen Komparatistik, in der der Verlust religiöser Sinngebungen zu einer Wissenschaft von jenen Sinngebungen führt.

Im Gegenzug macht die – spätestens seit Auguste Comte unterstellte – Wiederholbarkeit früherer Stadien der individual- wie kollektivgeschichtlichen Entwicklung die Historisierung des Fetischismus für den Gedanken einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« und damit für Retardationen und Degenerationen durchlässig.[30] Noch Freuds Hypothese einer Wiederkehr des Ver23drängten, die sein Verständnis des sexuellen Fetischismus grundiert, beteiligt sich an einer solchen Überlegung, ebenso wie Binets und Krafft-Ebings Deutungen des Fetischismus als Dekadenzphänomen sowie kulturwissenschaftliche Lektüren der Memorialfunktion des Fetischs.[31] In praktisch allen hier präsentierten Texten firmiert der Fetischismus darum auch als sowohl aktuelles wie akutes Problem, auf das man reagieren muss. Dabei wird er nirgends wirklich abgeschafft oder aufgegeben. Worum es in den meisten Stellungnahmen vielmehr geht, ist eine Anpassung, Verbesserung oder Um-Kontextualisierung des Konzepts, das einerseits wie bei Mauss als »ungeheures Missverständnis« entlarvt und andererseits als latente Wissensressource gepflegt wird. Andernfalls wäre die Altersbeständigkeit und andauernde Aktualität des Themas kaum erklärlich.

Umgekehrt ist es kein Zufall, dass der Fetischismus eine zentrale Rolle bei der Einrichtung der modernen Humanwissenschaften gespielt hat – deren führende Akteure und Agenden denn auch im hier vorliegenden Band vertreten sind.[32] Freuds Ausführungen zur »metapsychologischen« Bedeutung des Fetischismus für die Genese der Psychoanalyse werden diesbezüglich nur besonders explizit; eine vergleichbare Bedeutung kommt dem Fetischismus auch für die Disziplingeschichten der Ethnographie, der Religionswissenschaft, der Soziologie, der marxistischen Wirtschaftstheorie, der postmarxistischen Kultur- und Kunstkritik, des Poststrukturalismus, des Postkolonialismus, der Gender Studies und der Kulturwissenschaft(en) zu. Der Marginalisierung des Fetischismus korrespondiert so – in wiederum »inverser« Form – seine wissenschaftsgeschichtliche und epistemologische Mittelstellung, die Ausweis der methodischen Reflektiertheit und diskursiven Anschlussfähigkeit des Themas ist.

Der hier vorgelegte repräsentative wie systematische Quer24schnitt durch die deutschen, französischen und englischsprachigen Fetischismusdebatten vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart wendet sich deshalb an alle, die speziell an den Konjunkturen des Fetischismus in Vergangenheit und Gegenwart oder generell an der Geschichte der modernen Humanwissenschaften interessiert sind. Er ist damit seinerseits Teil jener jahrhundertelangen, sich bis in die Gegenwart verstärkenden Faszinationsgeschichte, die von der Anhänglichkeit des Menschen an seine Lieblingsobjekte erzählt. Insofern gibt er Zeugnis von der scheinbar paradoxen Bereitschaft, gegen jede Evidenz am Sinnversprechen des Fetischismus festzuhalten: dass die Welt außer uns bedeutungsvoll sein kann für uns, auch unter Absehung von ihrer Gemachtheit durch uns.

6. Modernität des Fetischismus

Nicht erst die inflationäre Zunahme von Fetischismustheorien seit dem 19. Jahrhundert oder die Vervielfältigung fetischistischer Praktiken und Motivationen auf der »Benutzerebene« haben den Eindruck einer Allgegenwärtigkeit des Fetischismus in der westlichen Moderne erzeugt. Selbst die Explosion und Proliferation von zur Fetischisierung tauglichen Objekten seit den produktionstechnischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts – bis hin zur virtuellen Simulation materialer Objektwelten, die nicht zufällig eine marxistisch inspirierte Gesellschaftstheorie zuerst kritisiert hat –[33] hat einen solchen Eindruck lediglich begünstigt, nicht aber hervorgebracht. Die eigentlichen Gründe für die nicht minder viel beschworene wie viel kritisierte Aktualität des Fetischismus muss man vielmehr woanders suchen – und zwar in der »Modernität« des Fetischismus sowie in der anhaltenden gesellschaftlichen Aktualität der Moderne selbst.

So kommt es nicht von ungefähr, dass praktisch alle bedeutenden Theorien gesellschaftlicher Modernisierung – seien sie dieser zustimmend oder kritisch zugetan – auf eine Theoretisierung fetischistischer Verhaltensweisen nicht verzichten zu können scheinen. Das gilt für de Brosses’ vernunfttheologische Kreation des Fetischismusbegriffs, für Kants und Hegels Abwehr des Fetischis25mus aus dem Geist idealistischer Subjektphilosophie, für Comtes Aufriss der in der Moderne gipfelnden Stadien der Weltgeschichte, für Marx’ Analyse des modernen Wirtschaftssystems, für Binets, Krafft-Ebings und Freuds Versuche einer Verwissenschaftlichung des modernen Seelenlebens sowie für Latours polemische Dekonstruktion der Epistemologie der modernen Wissenschaften – sie alle handeln vom Fetischismus nicht nur wenn, sondern auch weil sie von der Moderne handeln.

Das ist in der Fetischismusforschung keine neue Beobachtung, wie schon ein Blick in die Quellen selbst zeigt, die den Zusammenhang von Moderne- und Fetischreflexion in der Regel zu markieren pflegen, und zwar seit de Brosses’ terminologischer Einführung des Fetischismus als »unaufgeklärter«, das heißt dezidiert nicht-moderner Geisteshaltung. Dabei ist ein solcher Zusammenhang unterschiedlich erklärt und bewertet worden: als »Gleichzeitigkeit« moderner und prämoderner Bewusstseinsstadien (etwa bei Comte, Nietzsche, Benjamin), als Rückfall der Moderne in die Vor-Moderne (bei Kant, Marx oder Adorno), als Wiederkehr der Vor-Moderne (beispielsweise bei Novalis und Freud), als Nicht-Modernität der Moderne (bei Latour) bzw. als Beweis einer universellen, anthropologisch-kulturellen Disposition zum Fetischismus (bei Böhme und anderen). Im Zuge dessen ist sowohl die Rolle des Fetischismus(begriffs) für die Selbstkonstitution der Moderne – als deren Gegenpol, Fremdkörper oder unbewusste Rückseite – als auch der Einfluss moderner Selbstbeschreibungen auf die Konzeption des Fetischismus erörtert worden – Beschreibungen, die Muster des Fetischismus zugleich reflektieren und vollziehen. Kaum gesehen wurde jedoch, dass die Moderne den Fetischismus nicht nur als »unmodern« ausgegrenzt oder als latenten Selbstwiderspruch der Moderne inkriminiert hat, sondern dass sie im Fetischismus auch »zu sich selbst« kommt: Der Fetischismus ist – gerade wegen seines Ursprungs in ethnographischen und religionsgeschichtlichen Diskurszusammenhängen des Aufklärungszeitalters – ein spezifisch modernes Phänomen.

Selbstbeobachtungen der Moderne zeichnen sich charakteristischerweise durch einen kritischen Selbstbezug aus. Die Literatur der Moderne ist dafür ein besonders schlagendes Beispiel, insofern ihre Diagnosen moderner Zerrissenheit, Obdachlosigkeit, Anonymität und Entzauberung Eigenschaften der gesellschaftlichen Mo26[34][35][36][37]