1. Die Meinung über sich und über die Welt

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Es ist für mich außer Zweifel, daß jeder sich im Leben so verhält, als ob er über seine Kraft und über seine Fähigkeiten eine ganz bestimmte Meinung hätte; ebenso, als ob er über die Schwierigkeit oder Leichtigkeit eines vorliegenden Falles schon bei Beginn seiner Handlung im klaren wäre; kurz, daß sein Verhalten seiner Meinung entspringt. Dies kann um so weniger wundernehmen, als wir nicht imstande sind, durch unsere Sinne Tatsachen, sondern nur ein subjektives Bild, einen Abglanz der Außenwelt zu empfangen. »Omnia ad opinionem suspensa sunt.« Dies Wort Senecas sollte bei psychologischen Untersuchungen nicht vergessen werden. Unsere Meinung von den großen und wichtigen Tatsachen des Lebens hängt von unserem Lebensstil ab. Nur dort, wo wir unmittelbar auf Tatsachen stoßen, die uns einen Widerspruch zu unserer Meinung von ihnen verraten, sind wir geneigt, in unmittelbarer Erfahrung im kleinen unsere Ansicht zu korrigieren und das Gesetz der Kausalität auf uns wirken zu lassen, ohne unsere Meinung vom Leben zu ändern. In der Tat hat es für mich die gleiche Wirkung, ob nun eine Giftschlange sich meinem Fuß nähert, oder ob ich glaube, daß es eine Giftschlange ist. Das verzärtelte Kind verhält sich ganz gleichartig in seiner Angst, ob es sich nun vor Einbrechern fürchtet, sobald die Mutter es verläßt, oder ob wirklich Einbrecher im Hause sind. In jedem Falle bleibt es bei seiner Meinung, daß es ohne die Mutter nicht sein könne, auch wenn es in seiner angsterregenden Annahme widerlegt wird. Der Mann, der an Platzangst leidet und die Straße meidet, weil er Gefühl und Meinung hat, der Boden schwanke unter seinen Füßen, könnte sich in gesunden Tagen nicht anders benehmen, wenn der Boden unter seinen Füßen wirklich schwankte. Der Einbrecher, der der nützlichen Arbeit ausweicht, weil er, unvorbereitet zur Mitarbeit, irrtümlicherweise das Einbrechen leichter findet, könnte die gleiche Abneigung gegen die Arbeit zeigen, wenn sie wirklich schwerer wäre als das Verbrechen. Der Selbstmörder findet, daß der Tod dem, wie er annimmt, hoffnungslosen Leben vorzuziehen ist. Er könnte ähnlich handeln, wenn das Leben wirklich hoffnungslos wäre. Dem Süchtigen bringt sein Giftstoff Erleichterung, die er höher schätzt als die ehrenhafte Lösung seiner Lebensfragen. Wenn dem wirklich so wäre, er könnte ähnlich handeln. Der homosexuelle Mann findet die Frauen, vor denen er sich fürchtet, nicht anziehend, während ihn der Mann, dessen Eroberung ihm als Triumph erscheint, anlockt. Sie alle gehen jeweils von einer Meinung aus, die, wenn sie richtig wäre, auch ihr Verhalten objektiv richtig erscheinen ließe.

Da ist folgender Fall: Ein 36jähriger Rechtsanwalt hat alle Lust an seinem Beruf verloren. Er hat keinen Erfolg und schreibt dies dem Umstand zu, daß er offenbar auf die wenigen Klienten, die ihn aufsuchen, einen schlechten Eindruck macht. Es fiel ihm auch immer schwer, sich anderen anzuschließen, und besonders Mädchen gegenüber war er stets von großer Scheu befallen. Eine Ehe, die er außerordentlich zögernd, geradezu mit Ablehnung einging, endete nach einem Jahr mit einer Scheidung. Er lebt nun ganz zurückgezogen von der Welt mit seinen Eltern, die größtenteils für ihn sorgen.

Er ist das einzige Kind und war von seiner Mutter in einem unglaublichen Grade verwöhnt worden. Sie war stets um ihn. Es gelang ihr, das Kind und den Vater zu überzeugen, daß ihr Sohn dereinst ein ganz hervorragender Mann sein werde, und der Knabe lebte in der gleichen Erwartung weiter, was durch seine glänzenden Erfolge in der Schule bestätigt schien. Kindliche Masturbation gewann, wie bei den meisten verwöhnten Kindern, die sich keinen Wunsch versagen können, eine unheimliche Macht über ihn und machte ihn frühzeitig zum Gespött der Mädchen in der Schule, die seinen heimlichen Fehler entdeckt hatten. Er zog sich von ihnen ganz zurück. In seiner Isolierung gab er sich den triumphalsten Phantasien über Liebe und Ehe hin, fühlte sich aber nur zu seiner Mutter hingezogen, die er völlig beherrschte und auf die er lange Zeit auch seine sexuellen Wünsche bezog. Daß dieser sogenannte Ödipuskomplex nicht »Grundlage«, sondern ein schlechtes Kunstprodukt verzärtelnder Mütter ist, deutlicher zutage tretend, wenn der Knabe oder Jüngling sich in seiner überragenden Eitelkeit von den Mädchen betrogen sieht und zu wenig soziales Interesse entwickelt hat, um sich an andere anzuschließen, ist auch aus diesem Falle klar genug zu sehen. Kurz vor Vollendung seiner Studien, als die Frage einer selbständigen Existenz an ihn herantrat, erkrankte er an Melancholie, so daß er auch jetzt wieder den Rückzug antrat. Als Kind war er, wie alle verwöhnten Kinder, ängstlich und zog sich vor fremden Leuten zurück. Später von Kameraden und Kameradinnen. Ebenso vor seinem Beruf, was in wenig gemildertem Grade bis jetzt andauert. 

Ich begnüge mich mit dieser Darstellung und übergehe die Begleitakkorde, die »Gründe«, die Ausreden, die anderen Krankheitssymptome, mit denen er seinen Rückzug »sicherte«. Klar ist eines: Dieser Mann hat sich zeitlebens nicht geändert. Er wollte immer der erste sein und zog sich immer zurück, wenn er am Erfolge zweifelte. Seine Meinung vom Leben läßt sich (wie wir erraten können, was ihm aber verborgen war) in die Formel fassen: »Da die Welt mir meinen Triumph vorenthält, ziehe ich mich zurück.« Man kann nicht leugnen, daß er als ein Mensch, der seine angestrebte Vollendung im Triumph über die anderen sieht, nur darin richtig und intelligent gehandelt hat. Es ist nicht »Vernunft«, nicht »common sense« in seinem Bewegungsgesetz, das er sich gegeben hat, wohl aber, was ich »private Intelligenz« genannt habe. Würde jemandem dies Leben tatsächlich jeden Wert verweigern, könnte er nicht viel anders handeln.

Ähnlich, nur mit anderen Ausdrucksformen, mit geringerer Ausschaltungstendenz behaftet, erscheint folgender Fall: Ein 26jähriger Mann wuchs zwischen zwei von der Mutter vorgezogenen Geschwistern auf. Mit großer Eifersucht verfolgte er die überlegenen Leistungen seines älteren Bruders. Der Mutter gegenüber nahm er sehr bald eine kritische Haltung ein und lehnte sich — immer eine zweite Phase im Leben eines Kindes — an den Vater an. Seine Abneigung gegen die Mutter griff infolge unleidlicher Gewohnheiten seiner Großmutter und einer Kinderfrau bald auf das ganze weibliche Geschlecht über. Sein Ehrgeiz, nicht von einer Frau beherrscht zu werden, dagegen Männer zu beherrschen, wuchs riesengroß. Die Überlegenheit seines Bruders suchte er auf alle mögliche Weise zu unterbinden. Daß der andere an Körperkraft, im Turnen und auf der Jagd überlegen war, machte ihm die körperlichen Leistungen verhaßt. Er schloß sie aus der Sphäre seiner Wirksamkeit aus, wie er auch schon im Begriffe war, die Frauen auszuschalten. Leistungen lockten ihn nur an, wenn sie für ihn mit einem Triumphgefühl verbunden waren. Eine Zeitlang liebte und verehrte er ein Mädchen so recht aus der Ferne. Dem Mädchen gefiel offenbar diese Zurückhaltung nicht, und so entschied sie sich für einen anderen. Daß sein Bruder eine glückliche Ehe führte, erfüllte ihn mit Furcht, nicht so glücklich zu sein und in der Meinung der Welt, wieder wie in der Kindheit bei seiner Mutter, eine schlechtere Rolle zu spielen. Ein Beispiel für viele, wie es ihn drängte, dem Bruder den Vorrang streitig zu machen. Einst brachte der Bruder von der Jagd einen prächtigen Fuchspelz nach Hause, auf den er sehr stolz war. Unser Freund schnitt heimlich die weiße Schwanzspitze ab, um den Bruder um seinen Triumph zu bringen. Sein Sexualtrieb nahm jene Richtung an, die ihm nach Ausschaltung der Frau übriggeblieben war und wurde in Anbetracht seiner im kleineren Rahmen stärkeren Aktivität homosexuell. Seine Meinung vom Sinn des Lebens war leicht zu entziffern: Leben heißt: ich muß in allem, was ich beginne, der Überlegene sein. Und er suchte diese Überlegenheit zu erreichen, indem er Leistungen ausschloß, deren triumphale Erfüllung er sich nicht zutraute. Daß im homosexuellen Verkehr auch der Partner sich den Sieg seiner magischen Anziehungskraft wegen zusprach, war die erste störende bittere Erkenntnis im Laufe unserer aufklärenden Gespräche.

Auch in diesem Falle dürfen wir behaupten, daß die »private Intelligenz« ungestört ist und daß vielleicht die meisten den gleichen Weg betreten würden, wenn die Zurückweisung von seiten der Mädchen allgemeine Wahrheit wäre. In der Tat findet sich die große Neigung zur Verallgemeinerung als grundlegender Fehler im Aufbau des Lebensstils ungemein häufig. »Lebensplan« und »Meinung« ergänzen sich gegenseitig. Sie beide haben ihre Wurzel in einer Zeit, in der das Kind unfähig ist, seine Schlußfolgerungen aus seinem Erleben in Worte und Begriffe zu fassen, aber in der es bereits beginnt, aus wortlosen Schlußfolgerungen, aus oft belanglosen Erlebnissen oder aus stark gefühlsbetonten wortlosen Erfahrungen allgemeinere Formen seines Verhaltens zu entwickeln. Diese allgemeinen Schlußfolgerungen und die entsprechenden Tendenzen, gebildet in einer Zeit der Wort- und Begriffslosigkeit, sind nun, allerdings verschiedentlich gemildert, weiter wirksam in der späteren Zeit, in der der common sense mehr oder weniger korrigierend eingreift und Menschen davon abhalten kann, sich allzusehr auf Regeln, Phrasen und Prinzipien zu stützen. Wie wir später sehen werden, ist diese Befreiung von zuweitgehenden Stütz- und Sicherungsversuchen, Ausdrücken eines schweren Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühls, dem durch das Gemeinschaftsgefühl gesteigerten common sense zu verdanken. Daß derselbe fehlerhafte Vorgang auch bei Tieren vorkommt, zeigt unter anderem folgender, häufig zu beobachtende Fall: Ein junger Hund wurde abgerichtet, seinem Herrn auf der Straße zu folgen. Er hatte es in dieser Kunst schon ziemlich weit gebracht, als es ihm eines Tages einfiel, ein im Fahren begriffenes Automobil anzuspringen. Er wurde von diesem weggeschleudert, ohne Schaden erlitten zu haben. Dies war sicherlich eine singuläre Erfahrung, für die er kaum eine angeborene Antwort bereit haben konnte. Man wird auch schwerlich von einem »conditioned reflex« sprechen können, wenn man erfährt, daß dieser Hund weiter in seiner Dressur Fortschritte machte, nur an den Ort des Unfalles nicht mehr hinzubringen war. Er fürchtete nicht die Straße, nicht die Fuhrwerke, sondern den Ort des Geschehnisses und kam zu einem allgemeinen Schluß, wie ihn auch manchmal Menschen ziehen: Der Ort, nicht die eigene Unachtsamkeit und Unerfahrenheit ist schuld. Und immer an diesem Orte droht Gefahr. Er sowohl, wie auch manche, die ähnlich vorgehen, halten an solchen Meinungen fest, weil sie wenigstens das eine dadurch erreichen, »an diesem Orte« nicht mehr geschädigt werden zu können. Ähnliche Strukturen finden sich häufig in der Neurose, in der ein Mensch sich vor einer drohenden Niederlage, einem Verlust seines Persönlichkeitsgefühls fürchtet und sich dadurch zu schützen trachtet, daß er die aus seiner seelischen Erregung vor einem als unlösbar mißverstandenen Problem stammenden körperlichen oder seelischen Symptome in Kauf nimmt und ausnützt, um den Rückzug antreten zu können.

Daß wir nicht von »Tatsachen«, sondern von unserer Meinung über Tatsachen beeinflußt sind, liegt klar auf der Hand. Unsere größere oder geringere Sicherheit, den Tatsachen entsprechende Meinungen gebildet zu haben, liegt ganz, insbesondere bei unerfahrenen Kindern und gemeinschaftsfremden Erwachsenen, in der immer unzulänglichen Erfahrung und in der Widerspruchslosigkeit unserer Meinung und dem Erfolg unseres Handelns entsprechend unserer Meinung. Daß diese Kriterien häufig unzulänglich sind, weil der Kreis unseres Handelns oft eingeschränkt ist, auch weil kleinere Fehlschläge und Widersprüche oft mühelos oder mit Hilfe anderer mehr oder weniger glatt erledigt werden können, ist leicht zu ersehen und hilft mit, den einmal erfaßten Lebensplan dauernd einzuhalten. Erst größere Fehlschläge erzwingen ein schärferes Nachdenken, das aber nur bei Menschen fruchtbar ausfällt, die an der mitmenschlichen Lösung der Lebensfragen beteiligt sind, die frei sind von persönlichen Zielen einer Überlegenheit.

Wir kommen so zum Schlüsse, daß jeder eine »Meinung« von sich und den Aufgaben des Lebens in sich trägt, eine Lebenslinie und ein Bewegungsgesetz, das ihn festhält, ohne daß er es versteht, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gibt. Dieses Bewegungsgesetz entspringt in dem engen Raum der Kindheit und entwickelt sich in wenig eingeschränkter Wahl unter freier, durch keine mathematisch formulierbare Aktion beschränkter Ausnützung von angeborenen Kräften und Eindrücken der Außenwelt. Die Richtung und die gerichtete Ausnützung von »Instinkten«, »Trieben«, Eindrücken der Außenwelt und der Erziehung ist das künstlerische Werk des Kindes, das nicht »besitzpsychologisch«, sondern »gebrauchspsychologisch« verstanden werden kann. Typen, Ähnlichkeiten, annähernde Übereinstimmungen sind oft nur Befunde, zu denen die Armut unserer Sprache Vorschub leistet, weil sie die immer vorhandenen Nuancen nicht einfach auszudrücken vermag, oder Ergebnisse einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Ihre Feststellung darf nie zur Aufstellung einer Regel ausarten; sie kann niemals den Einzelfall dem Verständnis näher bringen, sondern nur zur Beleuchtung eines Gesichtsfeldes Verwendung finden, in dem der Einzelfall in seiner Einmaligkeit gefunden werden muß. Die Feststellung eines verschärften Minderwertigkeitsgefühls zum Beispiel sagt noch nichts aus über Art und Charakteristik des Einzelfalles, ebensowenig der Hinweis auf irgendwelche Mängel der Erziehung oder der sozialen Verhältnisse. Sie zeigen sich im Verhalten des Individuums zur Außenwelt immer in verschiedener Form, die durch die Interferenz der schöpferischen Kraft des Kindes und seiner daraus entsprungenen »Meinung« jedesmal individuell anders ist.

Einige schematische Beispiele mögen das Obige erläutern. Ein Kind, das von Geburt an an Magen-Darmschwierigkeiten leidet, also etwa an einer angeborenen Minderwertigkeit des Verdauungsapparates, aber die vollkommen zweckentsprechende Nahrung nicht erhält, was in idealer Weise kaum je zustande kommt, wird so leicht zu einem besonderen Interesse bezüglich der Nahrung und allem, was damit zusammenhängt, hingeleitet. Seine Meinung von sich und vom Leben ist dadurch stärker mit einem Interesse für Ernährung verbunden, später wohl auch wegen des bald erkannten Zusammenhangs auf Geld gerichtet, was freilich im Einzelfall immer wieder nachgeprüft werden muß.

Ein Kind, dem die Mutter seit Beginn des Lebens alle Leistungen abnimmt, ein verwöhntes Kind also, wird selten geneigt sein, auch später seine Sachen allein in Ordnung zu halten. Neben gleichlaufenden Erscheinungen berechtigt uns dies zu sagen: es lebt in der Meinung, daß alles von den anderen geleistet werden sollte. Auch hier, wie in den folgenden Fällen, kann die nötige Sicherheit des Urteils nur durch weitgehende Bestätigungen erfolgen. Ein Kind, dem man frühzeitig Gelegenheit gibt, seinen Willen den Eltern aufzuzwingen, wird die Meinung erraten lassen, daß es stets im Leben die anderen beherrschen möchte, was bei gegenteiligen Erfahrungen in der Außenwelt meist so ausfällt, daß das Kind der Außenwelt gegenüber eine »zögernde Attitüde« zeigt und sich mit allen seinen Wünschen, oft sexuelle Wünsche eingeschlossen, auf die Familie zurückzieht, ohne die nötige Korrektur im Sinne des Gemeinschaftsgefühls zu vollziehen. Ein Kind, das frühzeitig als gleichberechtigt zur Mitarbeit im weitesten Ausmaße, entsprechend seiner Leistungsfähigkeit, erzogen wurde, wird stets, soweit nicht übermenschliche Forderungen herantreten, alle Lebensfragen im Sinne seiner Meinung vom richtigen Gemeinschaftsleben zu lösen trachten.

So kann sich bei einem Mädchen, dessen Vater ungerecht ist, der die Familie vernachlässigt, leicht die Meinung entwickeln, insbesondere wenn ähnliche Erfahrungen mit einem Bruder, mit Verwandten, mit Nachbarn, aus der Lektüre hinzutreten, alle Männer seien von der gleichen Art, wobei andere Erfahrungen nach kurzem Bestand der vorgefaßten Meinung kaum mehr ins Gewicht fallen. Ist etwa ein Bruder für eine höhere Entwicklung im Studium, im Beruf auserwählt, so kann dies leicht zur Meinung verleiten, die Mädchen wären unfähig oder ungerechterweise von einer höheren Entwicklung ausgeschlossen. Fühlt sich eines der Kinder in einer Familie zurückgesetzt oder vernachlässigt, so kann dies zur Folge haben, daß sich bei ihm eine Verschüchterung breitmacht, als wollte es sagen: »ich werde immer zurückstehen müssen«. Oder es wird auf Grund der Meinung, es auch leisten zu können, in ein aufgepeitschtes Streben verfallen, alle übertreffen und niemanden gelten lassen zu wollen. Eine Mutter, die ihren Sohn über die Maßen verzärtelt, kann ihm die Meinung beibringen, er müsse überall, bloß um seiner selbst willen, ohne richtig mitzuspielen, im Mittelpunkt stehen. Steht sie ihm mit ununterbrochener Kritik und mit Nörgeleien gegenüber, zieht sie vielleicht auch noch deutlich einen anderen Sohn vor, so kann sie erreichen, daß ihr Kind später allen Frauen mit Mißtrauen gegenübertritt, was zu tausenderlei Konsequenzen Anlaß geben kann. Ist ein Kind vielen Unfällen oder Krankheiten ausgesetzt, so kann es daraus die Meinung entwickeln, die Welt sei voll von Gefahren, und wird sich danach benehmen. Dasselbe in anderen Nuancen kann geschehen, wenn die Familientradition nach außen hin ängstlich, mißtrauisch ist.

Daß alle diese tausendfach verschiedenen Meinungen sich zur Wirklichkeit und ihren sozialen Forderungen in Widerspruch setzen können und setzen, liegt auf der Hand. Die irrige Meinung eines Menschen über sich und über die Aufgaben des Lebens stößt früher oder später auf den geharnischten Einspruch der Realität, die Lösungen im Sinne des Gemeinschaftsgefühls verlangt. Was bei diesem Zusammenstoß geschieht, kann mit einer Schockwirkung verglichen werden. Die Meinung des Fehlenden, sein Lebensstil halte der Forderung, dem exogenen Faktor nicht stand, wird aber dadurch nicht aufgelöst oder verändert. Das Streben nach persönlicher Überlegenheit geht seinen Weg weiter. Es bleibt dabei nichts übrig als die mehr oder weniger starke Einschränkung auf ein kleineres Territorium, die Ausschaltung der mit einer Niederlage des Lebensstils drohenden Aufgabe, der Rückzug vor dem Problem, zu dessen Lösung die richtige Vorbereitung im Bewegungsgesetz fehlt. Die Schockwirkung aber äußert sich seelisch und körperlich, entwertet den letzten Rest von Gemeinschaftsgefühl und erzeugt alle möglichen Fehlschläge im Leben, indem sie das Individuum zwingt, einen Rückzug anzutreten wie in der Neurose, oder mit noch vorhandener Aktivität, die keinesfalls Mut bedeutet, auf die Bahn des Antisozialen hinüberzugleiten. In jedem Falle ist es klar, daß die »Meinung« dem Weltbild eines Menschen zugrunde liegt und sein Denken, Fühlen, Wollen und Handeln bestimmt.

2. Psychologische Mittel und Wege zur Erforschung des Lebensstils

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Um die Meinung des einzelnen zu ermitteln, wie er sich zu den Fragen des Lebens stellt, vollends, um den Sinn zu ermitteln, den das Leben uns offenbaren will, wird man kein Mittel und keinen Weg a limine verwerfen. Die Meinung des Individuums vom Sinn des Lebens ist keine müßige Angelegenheit. Denn sie ist in letzter Linie die Richtschnur für sein Denken, Fühlen und Handeln. Der wahre Sinn des Lebens aber zeigt sich in dem Widerstand, der sich dem unrichtig handelnden Individuum entgegenstemmt. Zwischen diesen zwei Gegebenheiten spannt sich die Aufgabe der Belehrung, der Erziehung, der Heilung. Das Wissen um den Einzelmenschen ist uralt. Um nur einiges zu nennen: Geschichts- und Personen­beschrei­bungen der alten Völker, die Bibel, Homer, Plutarch, alle die Dichter der Griechen und Römer, Sagen, Märchen, Fabeln und Mythen weisen Glanzpunkte der Persönlichkeitserkenntnisse auf. Bis in die neuere Zeit waren es hauptsächlich die Dichter, denen es am besten gelang, dem Lebensstil eines Menschen auf die Spur zu kommen. Was unsere Bewunderung für ihr Werk aufs höchste steigert, ist ihre Fähigkeit, den Menschen als ein unteilbares Ganzes leben, sterben und handeln zu lassen im engsten Zusammenhang mit den Aufgaben seines Lebenskreises. Kein Zweifel, daß es auch Männer aus dem Volk gab, die in der Menschenkenntnis voraus waren und ihre Erfahrungen auf die Nachkommen übertrugen. Was sie und die Genies der Menschen­kenntnis auszeichnete, war offenbar der tiefere Blick in die Zusammenhänge der menschlichen Triebfedern, eine Fähigkeit, die nur aus ihrer Angeschlossenheit an die Gemeinschaft, aus ihrem Interesse für die Menschheit erwachsen konnte. Die größere Erfahrung, die bessere Einsicht, der tiefere Blick waren der Lohn für ihr Gemeinschaftsgefühl. Was bei ihrem Werk nicht entbehrt werden konnte, die unausrechenbaren, tausendfältigen Ausdrucksbewegungen so beschreiben zu können, daß der andere sie annähernd versteht, sie zu erfassen, ohne die Hilfe des Messens und Wagens dabei in Anspruch nehmen zu müssen, war immer die Gabe des Erratens. Nur auf diese Weise konnten sie dazu kommen zu sehen, was hinter und zwischen den Ausdrucksbewegungen steckt: das Bewegungsgesetz des einzelnen. Manche nennen diese Gabe »Intuition« und glauben, daß sie nur den höchsten Geistern vorbehalten ist. Diese Gabe ist in Wirklichkeit die allermenschlichste. Jeder übt sie unaus gesetzt im Chaos des Lebens, in der Unergründlichkeit der Zukunft.

Da jede kleinste und größte Aufgabe, die vor uns steht, immer neu, immer abgeändert ist, so wären wir stets in neue Fehler verwickelt, wenn wir sie nach einem Schema, etwa nach »bedingten Reflexen« zu lösen gezwungen wären. Die stetige Andersartigkeit stellt an den Menschen immer neue Ansprüche, sein etwa vorher geübtes Verhalten einer neuen Probe auszu­setzen. Nicht einmal beim Kartenspiel kommt man mit »bedingten Reflexen« aus. Das richtige Erraten erst hilft uns die Aufgaben zu meistern. Dieses Erraten aber zeichnet am stärksten den Menschen aus, der ein Mitspieler, ein Mitmensch ist, der Interesse hat an der glücklichen Lösung aller Menschheitsfragen. Der Blick in die Zukunft alles menschlichen Geschehens ist ihm zu eigen und lockt ihn an, ob er nun Menschheitsgeschichte oder Einzelschicksale prüft.

Psychologie blieb eine harmlose Kunst, bis sich die Philosophie ihrer annahm. In ihr und in der Anthropologie der Philosophen keimen die Wurzeln der wissenschaftlichen Menschenkenntnis. In den mannigfachen Versuchen einer Einordnung alles Geschehens in ein umfassendes Weltgesetz konnte der Einzelmensch nicht übersehen werden. Die Erkenntnis der Einheit aller Ausdrucksformen eines Individuums wurde zur unumstößlichen Wahrheit. Die Übertragung von Gesetzen alles Geschehens auf die menschliche Natur zeitigte verschiedene Standpunkte, und die unergründliche, unbekannte lenkende Kraft wurde von Kant, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Hartmann, Nietzsche und anderen in einer unbewußten Triebkraft gesucht, die bald Sittengesetz, bald Wille, bald Wille zur Macht oder das Unbewußte genannt wurde. Neben der Übertragung allgemeiner Gesetze auf das menschliche Geschehen kam die Introspektion zur Herrschaft. Menschen sollten etwas über das seelische Geschehen und über den Vorgang dabei aussagen. Diese Methode hielt nicht lange vor. Sie kam mit Recht in Mißkredit, weil den Menschen nicht zuzutrauen war, daß sie objektive Aussagen machen könnten.

Im Zeitalter einer entwickelten Technik kam die experimentelle Methode in Schwung. Mit Hilfe von Apparaten und sorgfältig ausgewählten Fragen wurden Prüfungen veranstaltet, die über Sinnesfunktionen, Intelligenz, Charakter und Persönlichkeit Aufschluß geben sollten. Dabei ging die Einsicht in den Zusammenhang der Persönlichkeit verloren oder konnte nur durch Erraten ergänzt werden. Die später in Erscheinung getretene Hereditätslehre gab wohl alle Mühe verloren und fand Genugtuung darin, nachzuweisen, daß es auf den Besitz der Fähigkeiten ankomme und nicht auf den Gebrauch. Dorthin zielte auch die Lehre vom Einfluß der endokrinen Drüsen, die sich bei Spezialfällen von Minderwertigkeitsgefühlen und deren Kompensation im Falle minderwertiger Organe aufhielt.

Eine Renaissance erlebte die Psychologie in der Psychoanalyse, die in der Sexuallibido den allmächtigen Lenker des Menschheitsschicksals wieder aufleben ließ und den Menschen die Schrecken der Hölle im Unbewußten und die Erbsünde im »Schuldgefühl« sorgfältig ausmalte. Die Vernachlässigung des Himmels wurde später in Anlehnung an das »ideale« Ziel der Vollkommenheit der Individualpsychologie in der Erschaffung des »Ideal-Ich« wieder gutgemacht. Immerhin war es ein bedeutsamer Versuch, zwischen den Zeilen des Bewußtseins zu lesen, ein Schritt vorwärts zur Wieder­entdeckung des Lebensstils, der Bewegungslinie des Individuums, des Sinns des Lebens, ohne daß dieses vorschwebende Ziel von dem in Sexualmetaphern schwelgenden Autor wahrgenommen wurde. Auch war die Psychoanalyse allzusehr in der Welt der verwöhnten Kinder befangen, so daß die seelische Struktur ihr immer als Abklatsch dieses Typus erschien und die tiefere seelische Struktur als Teil der menschlichen Evolution ihr verborgen blieb. Ihr vorübergehender Erfolg lag in der Disposition der Unmasse verwöhnter Menschen, die willig psychoanalytische Anschauungen als allgemein menschlich vorhanden annahmen und in ihrem eigenen Lebensstil dadurch gestärkt wurden. Die Technik der Psychoanalyse war darauf gerichtet, die Beziehung der Ausdrucksbewegungen und Symptome zur Sexuallibido mit geduldiger Energie darzustellen und das Tun des Menschen als abhängig von einem inhärenten sadistischen Trieb erscheinen zu lassen. Daß letztere Erscheinungen künstlich gezüchtetes Ressentiment verwöhnter Kinder seien, erschien erst in der individual­psychologischen Anschauung genügend klar. Immerhin ist auch dem evolutionären Moment annähernd und spurweise Rechnung getragen, wenn auch verfehlt und in gewohnt pessimistischer Weise durch die Idee des Todeswunsches als Ziel der Erfüllung, nicht aktive Anpassung, sondern ein Hinsterben erwartend, in Anpassung an das immerhin zweifelhafte zweite Grundgesetz der Physik.

Die Individualpsychologie steht ganz auf dem Boden der Evolution und sieht alles menschliche Streben im Lichte derselben als ein Streben nach Vollkommenheit. Körperlich und seelisch ist der Lebensdrang unverrückbar an dieses Streben geknüpft. Für unser Erkenntnisvermögen stellt sich deshalb jede seelische Ausdrucksform als Bewegung dar, die von einer Minussituation zu einer Plussituation führt. Der Weg, das Bewegungsgesetz, das sich jedes Individuum im Beginne seines Lebens selbst gibt, in verhältnismäßiger Freiheit der Ausnützung seiner angeborenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, ebenso seiner ersten Eindrücke aus der Umgebung, ist für jedes Individuum verschieden im Tempo, im Rhythmus und in der Richtung. Im steten Vergleich mit der unerreichbaren idealen Vollkommenheit ist das Individuum ständig von einem Minderwertigkeitsgefühl erfüllt und von diesem angetrieben. Wir dürfen feststellen, daß jedes menschliche Bewegungsgesetz, sub specie aeternitatis und vom fiktiven Standpunkt einer absoluten Richtigkeit gesehen, fehlerhaft ist.

Jede Kulturepoche formt sich dieses Ideal in der Reichweite ihrer Gedanken und ihrer Gefühle. So wie heute können wir immer nur in der Vergangenheit das vorübergehende Niveau menschlicher Fassungskraft in der Aufstellung dieses Ideals finden, und wir haben das Recht, diese Fassungskraft aufs tiefste zu bewundern, die für unabsehbare Zeiten ein tragfähiges Ideal menschlichen Zusammenlebens erfaßt hat. Das: »Du sollst nicht töten!« oder »Liebe Deinen Nächsten!« kann wohl kaum aus dem Wissen und Fühlen als oberste Instanz mehr verschwinden. Diese und andere Normen menschlichen Zusammenlebens, durchaus Ergebnisse der menschlichen Evolution, verankert in der menschlichen Natur wie das Atmen und das Aufrechtgehen, lassen sich zusammenfassen in der Idee einer idealen menschlichen Gemeinschaft, hier rein wissenschaftlich betrachtet als evolutionärer Zwang und als evolutionäres Ziel. Sie geben der Individual­psychologie die Richtschnur, das »dos pu stô« an dem allein alle anderen, der Evolution widersprechenden Ziele und Bewegungsformen als richtig oder falsch zu bewerten sind. An diesem Punkt wird die Individualpsychologie Wertpsychologie, ebenso wie die medizinische Wissenschaft, Förderin der Evolution, bei ihren Untersuchungen und Feststellungen wertende Wissenschaft ist.

Minderwertigkeitsgefühl, Streben nach Überwindung und Gemeinschafts­gefühl, diese Grundpfeiler in der individualpsychologischen Forschung, sind demnach aus der Betrachtung eines Individuums oder einer Masse nicht wegzudenken. Man kann ihre Tatsächlichkeit umgehen und umschreiben, man kann sie mißverstehen, kann versuchen Haare zu spalten, aber man kann sie nicht auslöschen. Jede richtige Betrachtung einer Persönlichkeit muß diesen Tatsachen irgendwie Rechnung tragen und feststellen, wie es mit dem Minderwertigkeitsgefühl, mit dem Streben nach Überwindung, mit dem Gemeinschaftsgefühl beschaffen ist.

Aber so wie andere Kulturen aus dem Zwang der Evolution andere Vorstellungen und unrichtige Wege abstrahierten, so jedes einzelne Individuum. Der gedankliche und der damit verbundene gefühlsmäßige Aufbau eines Lebensstils im Strom der Entwicklung ist das Werk eines Kindes. Als Maßstab seiner Kraft dient ihm die gefühlsmäßig und ungefähr erfaßte Leistungsfähigkeit in einer durchaus nicht neutralen Umgebung, die nur schlecht eine Vorschule des Lebens abgibt. Aufbauend auf einem subjektiven Eindruck, oft durch wenig maßgebende Erfolge oder Niederlagen geleitet, schafft sich das Kind Weg und Ziel und Anschaulichkeit zu einer in der Zukunft liegenden Höhe. Alle Mittel der Individualpsychologie, die zum Verständnis der Persönlichkeit führen sollen, rechnen mit der Meinung des Individuums über das Ziel der Überlegenheit, mit der Stärke seines Minderwertigkeitsgefühls und mit dem Grade seines Gemeinschaftsgefühls. Bei näherer Einsicht in das Verhältnis dieser Faktoren wird man sehen, daß sie alle die Art und den Grad des Gemeinschaftsgefühls konstituieren. Die Prüfung erfolgt ähnlich wie in der experimentellen Psychologie oder wie in der Funktionsprüfung medizinischer Fälle. Nur daß hier das Leben selbst die Prüfung anstellt, was die tiefe Verbundenheit des Individuums mit den Fragen des Lebens anzeigt. Es kann nämlich das Ganze des Individuums nicht aus dem Zusammenhang mit dem Leben — man sagt wohl besser mit der Gemeinschaft — herausgerissen werden. Wie es sich zur Gemeinschaft stellt, verrät erst seinen Lebensstil. Deshalb kann die experimentelle Prüfung, die bestenfalls nur Anteile am Leben berücksichtigt, nichts über Charakter oder gar über künftige Leistungen in der Gemeinschaft aussagen. Und auch die »Gestaltpsychologie« bedarf der Ergänzung durch die Individualpsychologie, um über die Stellungnahme des Individuums im Lebensprozeß Aussagen machen zu können.

Die Technik der Individualpsychologie zur Erforschung des Lebensstils muß demnach in erster Linie eine Kenntnis der Lebensprobleme und ihrer Forderungen an das Individuum voraussetzen. Es wird sich zeigen, daß ihre Lösung einen gewissen Grad von Gemeinschaftsgefühl voraussetzt, eine Angeschlossenheit an das Ganze des Lebens, eine Fähigkeit zur Mitarbeit und zur Mitmenschlichkeit. Mangelt diese Fähigkeit, so wird man in tausendfachen Varianten ein verstärktes Minderwertigkeitsgefühl und dessen Folgen, im großen und ganzen als »zögernde Attitüde« und als Ausweichung beobachten können. Die dabei auftretenden körperlichen oder seelischen Erscheinungen in ihrem Zusammenhang habe ich als »Minderwertigkeitskomplex« bezeichnet. Das nie ruhende Streben nach Überlegenheit trachtet diesen Komplex durch einen Überlegenheitskomplex zu verdecken, der immer außerhalb des Gemeinschaftsgefühls auf den Schein einer persönlichen Überlegenheit hinzielt. Ist man im klaren über alle im Falle des Versagens auftretenden Erscheinungen, so hat man nach den Ursachen der mangelnden Vorbereitung in der frühen Kindheit zu forschen. Auf diese Weise gelingt es, ein getreues Bild vom einheitlichen Lebensstil eines Individuums zu erlangen, gleichzeitig im Falle eines Fehlschlags den Grad der Abweichung zu erfassen, der sich immer als ein Mangel an Anschlußfähigkeit herausstellt. Die Aufgabe, die dem Erzieher, dem Lehrer, dem Arzt, dem Seelsorger zufällt, ist dabei gegeben: Das Gemeinschaftsgefühl und dadurch den Mut zu heben durch die Überzeugung von den wirklichen Ursachen des Fehlschlags, durch Aufdeckung der unrichtigen Meinung, des verfehlten Sinnes, den das Individuum dem Leben unterschoben hat, um ihn dem Sinne näherzubringen, den das Leben dem Menschen aufgegeben hat.

Diese Aufgabe ist nur zu lösen, wenn eine eingehende Kenntnis der Lebensprobleme vorhanden ist und wenn der zu geringe Einschlag des Gemeinschaftsgefühls im Minderwertigkeits- und Überlegenheitskomplex sowie in allen Typen der menschlichen Fehlschläge verstanden ist. Desgleichen bedarf es einer großen Erfahrung bezüglich jener Umstände und Situationen, die mit Wahrscheinlichkeit in der Kindheit die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls verhindern. Die bis jetzt in meiner Erfahrung am besten bewährten Zugänge zur Erforschung der Persönlichkeit sind gegeben in einem umfassenden Verständnis der ersten Kindheitserinnerungen, der Position des Kindes in der Geschwisterreihe, irgendwelcher Kinderfehler, in Tag- und Nachtträumen und in der Art des exogenen, krankmachenden Faktors. Alle Ergebnisse einer solchen Untersuchung, die auch die Stellung zum Arzt einschließen, sind mit größter Vorsicht zu bewerten und ihr Bewegungsablauf ist stets auf den Gleichklang mit anderen Feststellungen zu prüfen.

3. Die Aufgaben des Lebens

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Hier ist der Punkt, an dem sich die Individualpsychologie mit der Soziologie berührt. Es ist unmöglich, ein richtiges Urteil über ein Individuum zu gewinnen, wenn man nicht die Struktur seiner Lebensprobleme kennt und die Aufgabe, die ihm durch sie gesetzt ist. Erst aus der Art, wie sich das Individuum zu ihnen stellt, was in ihm dabei vorgeht, wird uns sein Wesen klar. Wir haben festzustellen, ob es mitgeht, oder ob es zögert, halt macht, sie zu umschleichen trachtet, Vorwände sucht und schafft, ob es die Aufgabe teilweise löst, über sie hinauswächst, oder sie ungelöst läßt, um auf gemeinschaftsschädlichem Wege den Schein einer persönlichen Überlegenheit zu gewinnen.

Seit jeher habe ich daran festgehalten, alle Lebensfragen den drei großen Problemen unterzuordnen: dem Problem des Gemeinschaftslebens, der Arbeit und der Liebe. Wie leicht ersichtlich, sind es keine zufälligen Fragen, sondern sie stehen unausgesetzt vor uns, drängend und fordernd, ohne irgend ein Entkommen zu gestatten. Denn all unser Verhalten zu diesen drei Fragen ist die Antwort, die wir Kraft unseres Lebensstils geben. Da sie untereinander eng verbunden sind, und zwar dadurch, daß alle drei Probleme zu ihrer richtigen Lösung ein gehöriges Maß von Gemeinschaftsgefühl verlangen, ist es begreiflich, daß sich der Lebensstil jedes Menschen mehr oder weniger deutlich in der Stellung zu allen drei Fragen spiegelt. Weniger deutlich in der, die ihm gegenwärtig ferner liegt oder günstigere Umstände bietet, deutlicher, sofern das Individuum strenger auf seine Eignung geprüft wird. Probleme wie Kunst und Religion, die die durchschnittliche Lösung der Probleme überragen, haben Anteil an allen drei Fragen. Diese ergeben sich aus der untrennbaren Bindung des Menschen an die Notwendigkeit der Vergesellschaftung, der Sorge für den Unterhalt und der Sorge für Nachkommenschaft. Es sind Fragen unseres Erdendaseins, die sich vor uns auftun. Der Mensch als Produkt dieser Erde in seiner kosmischen Beziehung konnte sich nur entwickeln und bestehen in Bindung an die Gemeinschaft, bei körperlicher und seelischer Vorsorge für sie, bei Arbeitsteilung und Fleiß und bei zureichender Vermehrung. In seiner Evolution wurde er körperlich und seelisch dazu ausgestattet durch das Streben nach besserer körperlicher Eignung und besserer seelischer Entwicklung. Alle Erfahrungen, Traditionen, Gebote und Gesetze waren schlecht oder recht Versuche, dauernd oder hinfällig, in dem Streben der Menschheit nach Überlegenheit über die Schwierigkeiten des Lebens. In unserer gegenwärtigen Kultur sehen wir die bisher erreichte, freilich unzulängliche Stufe dieses Strebens. Aus einer Minussituation zu einer Plussituation zu gelangen, zeichnet die Bewegung des einzelnen wie der Masse aus und gibt uns das Recht, von einem dauernden Minderwertigkeitsgefühl beim einzelnen wie bei der Masse zu sprechen. Im Strom der Evolution gibt es keinen Ruhezustand. Das Ziel der Vollkommenheit zieht uns hinan.

Sind aber diese drei Fragen mit ihrer gemeinschaftlichen Basis des sozialen Interesses unausweichlich, dann ist es klar, daß sie nur von Menschen gelöst werden können, die ein zulängliches Maß von Gemeinschaftsgefühl ihr eigen nennen. Es ist leicht zu sagen, daß bis auf den heutigen Tag wohl die Eignung jedes einzelnen zur Erlangung dieses Maßes vorhanden ist, daß aber die Evolution der Menschheit noch nicht genug vorgeschritten ist, um Gemeinschaftsgefühl dem Menschen so weit einzuverleiben, daß es sich automatisch auswirkt, gleich Atmen oder gleich dem aufrechten Gang. Es ist für mich keine Frage, daß in einer — vielleicht sehr späten — Zeit diese Stufe erreicht sein wird, falls die Menschheit nicht an dieser Entwicklung scheitert, wofür heute ein leichter Verdacht vorhanden ist.

Auf die Lösung dieser drei Hauptfragen zielen alle anderen Fragen hin, ob es sich um die Fragen der Freundschaft, der Kameradschaft, des Interesses für Stadt und Land, für Volk und für die Menschheit handelt, um gute Manieren, um Annahme einer kulturellen Funktion der Organe, um Vorbereitung für die Mitarbeit, im Spiel, in der Schule und in der Lehre, um Achtung und Schätzung des anderen Geschlechts, um die körperliche und geistige Vorbereitung zu allen diesen Fragen sowie um die Wahl eines geschlechtlichen Partners. Diese Vorbereitung geschieht richtig oder unrichtig vom ersten Tag der Geburt des Kindes an durch die Mutter, die in der evolutionären Entwicklung der Mutterliebe der von Natur aus geeignetste Partner im mitmenschlichen Erlebnis des Kindes ist. Von der Mutter, die als erster Mitmensch an der Pforte der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls steht, gehen die ersten Impulse für das Kind aus, sich als ein Teil des Ganzen ins Leben einzufinden, den richtigen Kontakt zur Mitwelt zu suchen.

Von zwei Seiten können Schwierigkeiten entstehen. Von Seiten der Mutter, wenn sie unbeholfen, schwerfällig, unbelehrt dem Kinde den Kontakt erschwert, oder wenn sie sorglos ihre Aufgabe allzu leicht nimmt. Oder, was am häufigsten zutrifft, wenn sie das Kind von jeder Mithilfe und jeder Mitarbeit entbindet, es mit Liebkosungen und Zärtlichkeiten überhäuft, für das Kind ständig handelt, denkt und spricht, ihm jede Entwicklungs­möglichkeit unterbindet und es an eine imaginäre Welt gewöhnt, die nicht die unsere ist, in der alles von anderen für das verwöhnte Kind getan wird. Eine verhältnismäßig kurze Zeitstrecke genügt, um das Kind zu verleiten, sich immer im Mittelpunkt des Geschehens zu sehen und alle anderen Situationen und Menschen als feindlich zu empfinden. Dabei darf die Vielfältigkeit der Ergebnisse nicht unterschätzt werden, die aus dem freien Ermessen und der, Mitwirkung der freien schöpferischen Kraft des Kindes erfließen. Das Kind gebraucht die Einflüsse von außen, um sie in seinem Sinne zu verarbeiten. Im Falle der Verwöhnung durch die Mutter lehnt das Kind die Ausbreitung seines Gemeinschaftsgefühls auf andere Personen ab, trachtet sich dem Vater, den Geschwistern und anderen Personen zu entziehen, die ihm nicht ein gleiches Maß von Wärme entgegenbringen. Im Training dieses Lebensstils, in der Meinung vom Leben, als ob alles leicht, nur durch die Mithilfe von außen, gleich im Beginn zu erreichen sei, wird so das Kind später für die Lösung der Lebensfragen mehr oder weniger ungeeignet und erlebt, wenn diese herantreten, unvorbereitet im Gemeinschaftsgefühl, das sie verlangen, eine Schockwirkung, die in leichten Fällen vorübergehend, in schweren dauernd zur Verhinderung einer Lösung beiträgt. Einem verwöhnten Kind ist jeder Anlaß recht, die Mutter mit sich zu beschäftigen. Es erreicht dieses sein Ziel der Überlegenheit am leichtesten, wenn es der Aufnahme einer Kultivierung seiner Funktionen Widerstand leistet, sei es im Trotz — eine Stimmungslage, die trotz der individualpsychologischen Aufklärung neuerdings von Charlotte Bühler als ein natürliches Entwicklungsstadium betrachtet wird —, sei es in mangelhaftem Interesse, das immer auch als ein Mangel an sozialem Interesse zu verstehen ist. Andere krampfhafte Versuche, die Erklärung von Kinderfehlern, wie Stuhlverhaltung oder Bettnässen, von der Sexuallibido oder von sadistischen Trieben abzuleiten und zu glauben, daß damit primitivere oder gar tiefere Schichten des Seelenlebens aufgedeckt sind, verkehren die Folge zur Ursache, da sie die Grundstimmung solcher Kinder, ihr übertriebenes Zärtlichkeitsbedürfnis, verkannt haben, fehlen auch darin, daß sie die evolutionäre Organfunktion so ansehen, als ob sie stets von neuem erworben werden müßte. Die Entwicklung dieser Funktionen ist ebenso menschliches Naturgebot und menschlicher Naturerwerb wie der aufrechte Gang und das Sprechen. In der imaginären Welt der verwöhnten Kinder können sie freilich, ebenso wie das Inzestverbot, als Zeichen des Verwöhntseinwollens umgangen werden, zum Zwecke der Ausnützung anderer Personen oder zum Zwecke der Rache und Anklage, falls die Verwöhnung nicht erfolgt.

Verwöhnte Kinder lehnen auch in tausend Varianten jede Änderung ihrer zufriedenstellenden Situation ab. Erfolgt sie dennoch, so kann man stets die widerstrebenden Reaktionen und Aktionen beobachten, die in mehr aktiver oder in mehr passiver Art zur Durchführung gelangen. Angriff oder Rückzug, die Ausgestaltung hängt größtenteils vom Grad der Aktivität, doch auch von der Lösung fordernden äußeren Situation (vom exogenen Faktor) ab. Erfolgserfahrungen in ähnlichen Fällen geben später die Schablone ab und werden von manchen in unzulänglicher Erfassung als Regression abgefertigt. Manche Autoren gehen noch weiter in ihren Vermutungen und versuchen den gegenwärtig als festen und dauernden evolutionären Erwerb zu betrachtenden seelischen Komplex auf Rückbleibsel aus Urzeiten zurückzuführen und kommen dabei zu phantastischen Funden von Übereinstimmung. Meist sind sie dadurch irregeführt, daß menschliche Ausdrucksformen, insbesondere wenn man die Armut unserer Sprache nicht in Rechnung setzt, zu allen Zeiten eine Ähnlichkeit aufweisen. Es ist nur eine andere Ähnlichkeit getroffen, wenn versucht wird, alle menschlichen Bewegungsformen auf die Sexualität zu beziehen.