Der neue Landdoktor – 46 – Im Schatten der schönen Schwester

Der neue Landdoktor
– 46–

Im Schatten der schönen Schwester

Gibst du kampflos auf, Luise?

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-931-3

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»Weißt du schon, was du auf dem Reiterball anziehen willst, Anna?«, fragte Emilia Seefeld. Die Tochter des verwitweten Landdoktors schaute ihre Freundin erwartungsvoll an.

Anna Bergmann lächelte leicht. »Nein, ich habe mich noch nicht entschieden. Vielleicht kaufe ich mir etwas Neues, vielleicht ziehe ich das lange Abendkleid an, das ich getragen habe, als Sebastian und ich in der Oper gewesen sind.«

»Das aus der zartgrünen Seide?« Emilia lächelte. »Papa wird begeistert sein. Du hättest mal hören sollen, wie er uns am Frühstückstisch von dir in diesem Kleid vorgeschwärmt hat. Natürlich musste Opa ihn ein bisschen aufziehen und hat ihn gefragt, ob er von der Bühne überhaupt etwas mitbekommen oder nur dich angeschaut hat.«

Anna, die diesen schönen Abend nur zu gut in Erinnerung hatte, konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Und was hat Sebastian geantwortet?«

Emilia ahmte sehr gekonnt die Stimme ihres Vaters nach und antwortete würdevoll: »Eine Oper sollte man hören, die Augen können sich derweil an etwas anderem Schönen erfreuen.«

Beide lachten, und die Hebamme nahm kurz eine Hand vom Steuer, um dem jungen Mädchen spielerisch gegen das Knie zu boxen. »Ach, Emilia, so etwas hat er nie im Leben gesagt.«

Die Tochter des Landdoktors grinste verschmitzt. »Stimmt. Er hat schlicht gesagt, dass er den ganzen Abend nur Augen für dich gehabt hat.«

Anna wurde unwillkürlich rot. Die unausgesprochene zarte Liebesgeschichte, die sie mit Sebastian Seefeld verband, ließ ihr Herz schneller schlagen. Es gab so viel, was sie zusammenführte, und einiges, was sie noch trennte. Manchmal war es bitter-süß, manchmal aufregend und immer wunderschön.

»Bis zum Ball dauert es noch einige Zeit. Wer weiß, welches Kleid mir noch über den Weg läuft«, antwortete Anna leichthin. Sie wechselte das Thema. »Ich finde es sehr nett von dir, dass du mitkommst, um im Haushalt der Bäuerin auszuhelfen, während ich mich um die Mutter und die Babys kümmere.«

»Der Hof liegt sehr weit abgelegen vom Dorf, und Frau Melchior hat neben den neugeborenen Zwillingen noch den kleinen Florian. Wenn du sowieso zu ihr hinausfährst, kann ich doch gut die Lebensmittel aus Fannys Geschäft mitnehmen, Traudels vorgekochtes Essen einfrieren und eine Runde mit dem kleinen Flo spielen.«

Anna schaute das Mädchen, mit dem sie eine tiefe Freundschaft verband, voller Stolz an. Emilia war ein Teenager, der mit Schule, Freundinnen, Hobbys und Freund Markus viel Zeit verbrachte, aber darüber nie die Nachbarschaftshilfe vergaß.

Unter angeregtem Plaudern fuhr die junge Hebamme weiter die gewundene Straße hinauf, neben der sich rechts und links Wiesen und Weiden mit Milchvieh erstreckte.

Unten im Tal glitzerte der Sternwolkensee, der sich am Dorf Bergmoosbach entlang erstreckte, und im Hintergrund grüßte das beeindruckende Alpenpanorama. Von der Straße bog ein breiter Seitenweg ab, der durch lichten Mischwald führte, in den Sonnenstrahlen ein funkelndes Streifenmuster zauberte.

Plötzlich bremste Anna. An der Weggabelung, die zum Hof der Familie Melchior hinaufführte, stand ein großes Auto, an das ein Pferdeanhänger gekoppelt war. Zwei junge Frauen hatten sich über die Motorhaube des Wagens gebeugt, über der eine altmodische Straßenkarte ausgebreitet war. Die eine der beiden Frauen schien verärgert zu sein und schimpfte halblaut vor sich hin. Die andere wirkte geduldig und so, als erlebe sie derartigen Ärger nicht zum ersten Mal.

Anna öffnete ihr Fenster und sagte freundlich. »Grüß Gott, können wir Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

Die Frau schaute von ihrer Karte auf. Sie war groß, sehr schlank und hatte lange, glänzende blonde Haare. Bekleidet war sie mit hautengen Designerjeans und einer modischen weißen Bluse aus schimmernder Baumwolle. Der schmale Ledergürtel ihrer Jeans passte perfekt zu den Stiefeletten mit den hohen Absätzen. Sie trug eine teure Armbanduhr und Ohrringe aus Weißgold, denen man ansah, dass sie Einzelstücke aus einer exklusiven Goldschmiede waren. Die Frau wirkte sportlich-elegant, stilsicher und sehr verärgert.

»Die Beschilderung an der Landstraße ist irreführend. Wir hätten schon längst auf dem Gestüt Brunnenhof angekommen sein müssen, stattdessen führt dieser Weg immer weiter den Berg hinauf«, antwortete sie gereizt und ohne zu grüßen.

Anna und Emilia wechselten einen vielsagenden Blick, stiegen aus und gingen zu der ausgebreiteten Karte hinüber.

»Grüß Gott«, sagte jetzt die andere Frau freundlich. »Es ist sehr nett, dass Sie uns helfen. Meine Schwester und ich haben uns leider verfahren.«

»Was ja wohl offensichtlich ist«, fiel ihr die Blondine ins Wort. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingerspitzen auf der Karte herum. »Was nützt einem das Smartphone, wenn man keinen Empfang hat.«

»Das kann hier draußen halt vorkommen«, antwortete Emilia leicht amüsiert. »Deshalb ist es immer gut, auch eine Straßenkarte dabeizuhaben.«

»Ich habe meiner Schwester gesagt, dass wir an dieser Stelle falsch abgebogen sind«, sagte die Frau mit den lockigen, dunklen Haaren und deutete auf einen bestimmten Punkt auf der Karte. »Kennen Sie sich in dieser Gegend aus? Können Sie uns sagen, ob die andere Abzweigung der richtige Weg zum Brunnenhof ist?«

Anna lächelte sie freundlich an. Im Gegensatz zu ihrer modischen, eleganten Schwester wirkte die jüngere Frau unscheinbar. Sie war klein und mollig und trug unvorteilhafte Jeans und ein weites Sweatshirt, das sie unförmig aussehen ließ. Ihre wunderschönen, kastanienbraunen Haare waren wie ein Vorhang, hinter dem sie ihr rundes Gesicht versteckte. Anna bemerkte, dass diese Frau leuchtende blaue Augen und ein warmherziges Lächeln hatte. »Ja, wir kennen uns gut hier in der Gegend aus«, antwortete sie freundlich. »Und Sie haben recht: Sie hätten an dieser Stelle nach links abbiegen müssen. Wenn Sie der Straße folgen, kommen Sie automatisch zum Brunnenhof.«

»Na, endlich. Brego muss aus dem Transporter heraus, und ich habe nach der langen Fahrt das dringende Bedürfnis, mich in ein pflegendes Schaumbad zu legen«, erwiderte die andere Frau. »Danke für den Hinweis, wir werden den Weg jetzt finden.«

»Der Weg hier ist zu schmal zum Wenden für Sie und den Pferdetransporter«, stellte Anna fest. »Wollen Sie uns auf dieser Abzweigung zum Melchior Hof folgen? Dort können Sie ungehindert wenden und wieder zurückfahren.«

Die Blondine seufzte genervt. »Dadurch verlieren wir noch mehr Zeit, aber das lässt sich jetzt nicht ändern. Wir werden Ihnen über diesen Waldweg folgen müssen.« Sie faltete achtlos die Straßenkarte zusammen und stieg ins Auto. »Luisa, kommst du endlich?«

Die Frau mit der üppigen Haarpracht lächelte entschuldigend und streckte Anna die Hand entgegen. »Nochmals danke für Ihre Hilfe. Ich heiße übrigens Luisa Bittner, und das ist meine Schwester Nathalie, wir machen Urlaub in Bergmoosbach. Vielleicht laufen wir uns dort noch einmal über den Weg?«

»Das ist sehr wahrscheinlich und würde mich freuen«, antwortete Anna und schüttelte herzlich die Hand der jungen Frau. »Wir beide heißen Emilia Seefeld und Anna Bergmann, und wir leben in Bergmoosbach.«

»Wie nett«, erwiderte Luisa erfreut. »Vielleicht können wir uns dann mit einem Kaffee für Ihre Hilfe bedanken.«

»Lu-iiisa!«, klang ein langgezogener, ungeduldiger Ruf aus dem Wagen. »Wird das heute noch etwas mit dir oder müssen wir hier übernachten?«

Anna blinzelte der Frau mitfühlend zu, und alle stiegen in ihre Autos. Langsam folgte der Wagen mit dem Anhänger dem Auto der Hebamme zum Hof hinauf.

»Puh, das sind aber sehr unterschiedliche Schwestern«, stellte Emilia fest. »Ob diese Nathalie mit ihrem Pferd auch so ungeduldig ist wie mit Luisa?«

Anna schmunzelte. »Ich glaube, das lassen sich auf Dauer weder Brego noch Luisa gefallen«, sagte sie. »Ich finde die jüngere Schwester sehr sympathisch. Obwohl sie im Schatten ihrer energischen Schwester steht, scheint sie sich davon nicht unterkriegen zu lassen.«

Auf dem Hofplatz der Melchiors wendete Nathalie geschickt Wagen und Anhänger, und die beiden Schwestern fuhren mit einem kurzen Winken zurück. Anna und Emilia luden ihre mitgebrachten Sachen aus dem Auto und gingen zum Haus hinüber, auf dessen Dachfirst ein hölzerner Storch verkündete, dass hier neues Leben geboren worden war.

Während Anna die Nachsorge bei der jungen Mutter übernahm und Emilia mit dem zweijährigen Flo den Kühlschrank einräumte, waren die beiden Schwestern auf dem richtigen Weg zum Gestüt. Der Brunnenhof lag eingebettet in hügelige Weiden und war von einer niedrigen Backsteinmauer umgeben, die von zwei Pfeilern und einem zweiflügeligen Tor aus kunstvoll geschmiedetem Eisen unterbrochen wurde. Der eine Torflügel war einladend geöffnet, aber der andere versperrte die Hälfte der Zufahrt.

Nathalie bremste und hupte. »Haben sie denn hier kein Interesse daran, dass ihre Gäste ungehindert auf das Gelände kommen können?«, sagte sie ungeduldig.

»Das ist doch kein Problem, ich steige aus und öffne den anderen Torflügel«, erwiderte ihre Schwester vernünftig und griff nach dem Sicherheitsgurt, um ihn zu lösen.

»Nichts da, du bleibst sitzen. Siehst du den Mann bei dem linken Pfeiler? Soll er doch das Tor aufmachen«, sagte sie und senkte das Seitenfenster. »Hallo? Sie! Könnten Sie auch den anderen Flügel öffnen? Ich möchte aufs Grundstück fahren.«

Ein Mann hatte gebückt bei dem steinernen Pfeiler gestanden. Jetzt richtete er sich auf und schaute ruhig durch das verschnörkelte Gitter auf das Auto mit dem geöffneten Fenster.

»Doch, das könnte ich«, antwortete er mit einer unglaublich tiefen und warmen Stimme, die wie eine Welle durch Luisas Körper lief.

»Worauf …«, begann Nathalie hochnäsig und brach ab. Fasziniert starrte sie den Mann.

Er war sehr groß und breitschultrig. Sein markantes Gesicht wurde von leuchtend grünen Augen und einem gepflegten Vollbart beherrscht. Er hatte dichtes, dunkelblondes Haar und war mit schwarzen Jeans und einem schwarzen T-Shirt bekleidet. Sein Brustkorb und die Arme waren muskulös, seine Hände steckten in ledernen Arbeitshandschuhen. Er wirkte sehr kräftig und auf eine seltsame Weise gleichzeitig elegant.

Nathalie lächelte und fuhr sehr freundlich fort: »Und worauf warten wir dann noch? Würden Sie so freundlich sein und für mich das Tor ganz öffnen?«

Luisa sah in den grünen Augen des Mannes ganz kurz ein amüsiertes Funkeln aufblitzen. Wortlos deutete er eine Verbeugung an und ließ den zweiten Torflügel langsam zurückschwingen.

Nathalie war ganz strahlende Augen und charmantes Lächeln. »Vielen Dank, Herr …?«

»Wächter«, antwortete er mit dieser Stimme, die wie dunkle Glockenschläge nachhallte. »Ludger Wächter.«

»Ich bin Nathalie«, schnurrte sie, »und bringe mein Pferd für den Reiterurlaub aufs Gestüt. Gehören Sie zum Brunnenhof? Besteht die Chance, dass man sich hier wiederbegegnet?«

Ludger nickte flüchtig. »Die Möglichkeit gibt es«, antwortete er unverbindlich und wandte sich dann wieder dem schmiedeeisernen Gitter und den Türangeln zu.

Nathalie fuhr langsam über die mit Kies bestreute Auffahrt zu den Ställen hinüber. »Hast du diesen Typen gesehen? Was für ein Mann«, sagte sie mit glänzenden Augen. »Keine Ahnung, was er auf dem Gestüt tut, aber das kriege ich schnell raus. Von so einem Urlaubsflirt habe ich in diesem beschaulichen Dorf gar nicht zu träumen gewagt.«

»Urlaubsflirt?«, fragte Luisa.

»Natürlich!«, antwortete ihre ältere Schwester gewohnt forsch und zielstrebig. »Dieser Ludger ist ein toller Mann, und ich werde ihn mir angeln.«

»Du weißt doch gar nichts über ihn«, gab Luisa zu bedenken. »Es kann doch sein, dass er bereits eine Freundin hat oder sogar verheiratet ist.«

»Das werde ich sehr schnell herausbekommen«, lächelte Nathalie. »Wenn er gebunden ist, werde ich meine Zeit nicht sinnlos verschwenden, aber wenn er ledig ist, dann werden er und ich viel Spaß miteinander haben.«

Luisa schwieg, und ihre Schwester erwartete auch keine weitere Antwort. Die jüngere war immer die stillere und zurückhaltende gewesen, das unscheinbare Entlein neben dem stolzen Schwan. Luisa verkroch sich noch ein wenig tiefer in den Schutz ihrer langen Haare und hing den eigenen Gedanken nach.

Dieser unbekannte Mann, von dem sie nur seinen Namen wusste, hatte einen tiefen Eindruck auf die junge Frau gemacht. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, so hübsch und selbstbewusst zu sein wie ihre Schwester, so leicht plaudern und flirten zu können. Luisa Bittner war eine ruhige junge Frau, die in ihrem Beruf als Krankenschwester viel Anerkennung und Zuneigung erfuhr. In ihrem Privatleben gab es einige gute Freundinnen und Freunde, aber keinen besonderen Mann, dem ihr Herz gehörte. Stets blieb sie ein wenig im Schatten ihrer hübschen, wortgewandten Schwester, die ihr Leben in vollen Zügen genoss.

Für Nathalie war die Welt schwarz oder weiß, ein Mann war entweder großartig oder uninteressant, und wenn ihr jemand gefiel, dann ging sie sofort auf ihn zu. Luisas Schüchternheit konnte sie nicht verstehen und auch nicht, dass ihre jüngere Schwester so gar nichts aus sich machte. Wäre Nathalie allerdings aufrichtig gewesen, dann hätte sie zugegeben, dass ihr Luisas Aussehen sogar ganz gelegen kam. Je unscheinbarer die Schwester blieb, desto besser und strahlender kam sie selbst zur Geltung.

Während Nathalie voller Tatendrang leise vor sich hin summte und überlegte, wie und wo sie den attraktiven Mann wiedersehen konnte, saß Luisa still daneben und dachte an seine leuchtenden Augen und das amüsierte Lächeln, mit dem er sie durch das Gitter anschaute. Hatte er überhaupt bemerkt, dass neben der lebhaften Nathalie noch jemand im Auto saß? Wie immer war ihre Schwester schneller gewesen und hatte die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich gezogen. Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal gesehen, dass sie neben Nathalie saß.

»Aufwachen, Schlafmütze, wir sind endlich da«, sagte ihre Schwester laut und brachte den Wagen mit einem Ruck zum Stehen. »Jetzt werde ich schauen, ob sich dieses Prachtexemplar von Mann hier irgendwo bei den Ställen aufhält. Wenn er zum Brunnenhof gehört, kann er mir beim Ausladen von Brego helfen.«

Luisa unterdrückte einen Seufzer und stieg aus. Es war dann nicht der Mann vom Tor, der ihnen die Box für Brego zuwies, sondern Elise von Raven, die Gestütsbesitzerin. Sie war eine sportlich-elegante Frau mit dunklen Haaren, in denen die ersten Silberfäden schimmerten, was sie mit Anfang Vierzig besonders attraktiv machte. Freundlich und kompetent erklärte sie Nathalie die Gegebenheiten auf dem Gestüt und zeigte ihr den Platz, wo sie den Pferdeanhänger abstellen konnte. Danach verabschiedete sie sich. »Wir veranstalten hier bald den Tag des Pferdes, der mit einem Reiterball abschließt. Es gibt noch viel vorzubereiten, um das ich mich kümmern muss. Ich wünschen Ihnen einen schönen Urlaub in Bergmoosbach; wir sehen uns sicherlich in den nächsten Tagen auf dem Hof.«