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Ashley Carrington

Éanna

Traum vom Glück

Roman

hockebooks

20. Kapitel

Einige Tage später stießen sie auf die ersten Indianer. Das Zusammentreffen war mit höchster Spannung und noch größerer Sorge erwartet worden, fiel nun aber höchst unspektakulär, ja geradezu enttäuschend aus.

Bei einem schmalen Wasserlauf trafen sie auf eine fünfköpfige Gruppe von Shawnees, die an der Stelle, wo der Trail das Flüsschen kreuzte, eine primitive Brücke aus Baumstämmen gebaut hatten. Sie lagerten am Ostufer und erwarteten von jedem Zug, der den Elm Creek auf ihrer Brücke überquerte, einen Wegzoll. Doch die Indianer hatten nichts mit jenen »edlen Wilden« gemein, von denen in Flugschriften und Zeitungen im Osten so oft die Rede war, sondern waren abgerissene Gestalten, die mit der abgelegten Kleidung des weißen Mannes bekleidet waren.

Kaum waren die Shawnees in Sicht gekommen, als sich die aufgeregte Kunde innerhalb weniger Augenblicke wie ein Lauffeuer von der Spitze der Kolonne bis an ihr Ende ausbreitete. Augenblicklich griffen die Männer zu ihren Waffen. Überall hörte man das harte metallische Klicken von entsicherten Gewehren und das Spannen von Revolverhähnen, während die Mütter ihre Kinder ängstlich zurück zu den Wagen riefen.

»Runter mit den Waffen!«, brüllte Jeremiah Fennmore, der an diesem Morgen noch nicht außer Sicht des Wagenzuges entschwunden war. »Von diesem Pack Wegelagerer ist nichts weiter zu befürchten als die Flöhe, die sie mit sich tragen. Die Burschen sind sesshaft und schlimmstenfalls lästige Schmarotzer. Also steckt bloß Gewehre und Revolver weg!«

»Ihr habt gehört, was der Scout gesagt hat«, rief Captain Palmer, der an seiner Seite ritt. »Mister Fennmore wird mit diesem Gesindel den Wegzoll aushandeln!«

Aber dazu kam es erst gar nicht. Denn die Seligmanns hatten an diesem Morgen mit ihrer rollenden Baumschule die Spitze der Kolonne übernommen. Und als die drei Wagen mit ihren Bäumen auf den Elm Creek zurumpelten, wichen die Shawnees von der Brücke zurück. Mit fast andächtigem Staunen schauten sie auf den jungen Wald, der die Frachträume der drei Prärieschoner ausfüllte. Sie machten nicht einmal den Versuch, dem Wagenzug den Zugang zur Brücke zu verwehren und mit dem Scout um die rechte Höhe des Wegzolls zu feilschen.

Mit einer verächtlichen Geste warf der Scout der fünfköpfigen Gruppe je einen Beutel Glasperlen und Tabak vor die Füße, während die Wagen der Seligmanns schon über die Brücke rollten.

»Die Rothäute habe ich mir aber ganz anders vorgestellt«, sagte Brendan enttäuscht, als sie an den Shawnees vorbeikamen und den Fluss überquerten. »Jedenfalls nicht so erbarmungswürdig und zerlumpt. Ich hätte niemals gedacht, dass sie wie Bettler aussehen.«

»Ich glaube, wir dürfen nicht zu voreilig sein. Indianer ist nicht gleich Indianer, habe ich gehört«, bemerkte Emily. »Die von der kriegerischen Sorte wie die Sioux leben weiter im Westen und mit denen soll nicht so leicht Kirschen essen sein wie mit diesen hier!«

»Ich hätte nichts dagegen, wenn sie beim Anblick unseres rollenden Waldes genauso beeindruckt wären wie die Shawnees«, sagte Éanna. »Eine Schießerei mit Sioux auf dem Kriegspfad ist wirklich das Letzte, was wir gebrauchen können.«

Brendan verdrehte die Augen. »Jetzt macht euch doch nicht so verrückt. Wahrscheinlich sind die Sioux genauso harmlos wie diese Rothäute und haben es einfach nur auf unser Geld abgesehen.«

Warum die Shawnees so rasch den Weg über die Brücke freigegeben hatten, erfuhren sie später von Patrick. Er hatte das Glück gehabt, ein kurzes Gespräch mit dem Scout zu führen, bei dem er Jeremiah Fennmore etwas mehr als die üblichen einsilbigen Antworten hatte entlocken können.

Was wohl auch daran lag, dass der Scout an diesem Tag ungewöhnlich nüchtern war.

»Die Wagen der Seligmanns scheinen für unseren Zug ein wahrer Segen zu sein, wenn es um Indianer geht«, erzählte er. »Jedenfalls nach dem, was mir der Scout erzählt hat.«

»Und wieso?«, fragte Éanna.

»Weil die Indianer glauben, dass der Große Geist, den sie als Gottheit verehren, in den Bäumen wohnt. Deshalb ist es bei vielen Stämmen auch Sitte, ihre Toten nicht in der Erde zu begraben, sondern sie als letzte Ruhestätte im Geäst von Bäumen zu lassen«, wiederholte er, was er von Jeremiah Fennmore erfahren hatte. »Als die Shawnees die Bäume der Seligmanns gesehen haben, waren sie offenbar überzeugt davon, dass sie unter dem besonderen Schutz des Großen Geistes stehen.«

Éanna nickte. »Das soll uns nur recht sein! Wir können auf dem Trail allen Schutz und jedes Quäntchen Glück gut gebrauchen.«

Dass ein Treck nach Westen aber nicht nur monatelange Strapazen mit sich brachte, sondern auch niemals frei von Tragödien war, wurde ihnen noch am selben Tag nachdrücklich vor Augen geführt: Kurz nach Ende der gut anderthalbstündigen Mittagspause führte ihr Trail sie an dem ersten Grab ihrer Reise vorbei.

Ein kleiner Hügel aus zusammengetragenen Feldsteinen und ein schlichtes Holzkreuz markierten die Stelle. Als der Wagenzug langsam vorüberrollte, konnten alle, die nicht mit dem Führen der Ochsen beschäftigt waren, einen Blick auf das Grab werfen. Und so manche Mutter, die an den Hügel trat und las, was in das Holzkreuz eingeritzt war, sprach ein stilles Gebet für die Verstorbene und ihre eigenen Kinder. Denn auf der Querlatte standen schlicht und ergreifend ein Name, die Daten eines allzu kurzen Lebens und die Todesursache:

Mary Jensen, 1844–1848, gest. an Fieber.

»Allmächtiger, die Kleine ist gerade vier Jahre alt gewesen!«, sagte Éanna betroffen.

»Gebe Gott, dass es uns erspart bleibt, jemanden von unserem Zug auf dem Trail begraben zu müssen«, murmelte Emily und schlug ein Kreuz.

Wie unwahrscheinlich es war, den Trail durchzustehen, ohne eine ähnliche persönliche Tragödie zu erleiden, zeigte sich in den nächsten Tagen. Denn je weiter sie nach Westen kamen, desto öfter stießen sie auf Gräber. An manchen Stellen fanden sich sogar mehrere Grabhügel nebeneinander. Die Toten, die auf solchen Gräberfeldern bestattet waren, waren meist Opfer der Cholera geworden. Und immer seltener trugen die Gräber und Kreuze noch die Namen und Lebensdaten. Vielmehr zeugten sie, je weiter der Trail in den Westen führte, immer mehr von dem Bestreben, die Gestorbenen eilig der Erde zu übergeben und so bald als möglich weiterzuziehen. Schnell wurden die Gräber zu einem grimmig vertrauten Anblick, der kaum noch jemanden dazu brachte, vom Trail abzuweichen und einen Blick auf die letzte Ruhestätte eines unbekannten Overlanders zu werfen.

Die Reisenden gewöhnten sich an den Gedanken, dass scheinbar kein Treck sein Ziel ohne Opfer erreichte. So kroch der Wagenzug allmählich westwärts und gelangte schließlich nach Alcove Spring. Das Fleckchen war ein beliebter Lagerplatz für die Trecks, denn hier entsprang eine Quelle mit köstlich klarem Wasser, das von einer zehn Fuß hohen Felsplatte herabfloss und sich in einer tiefen Mulde zu einem kleinen Teich sammelte. Auch Éannas Zug machte hier Rast und nutzte die Gelegenheit, das Vieh ausgiebig zu tränken, Körper und Kleidung einmal ordentlich zu waschen und die Wasservorräte aufzufüllen. Die Overlander genossen die allzu kurze Atempause, denn sie wussten, dass gleich hinter Alcove Spring die erste große Herausforderung auf sie wartete. Sie erreichten nun nämlich den Big Blue River, einen gut sechzig Fuß breiten Fluss, der zu dieser Jahreszeit noch viel Wasser mit sich führte. Es galt, alle Tiere, Wagen, Vorräte, Gepäckstücke und natürlich alle Treckteilnehmer heil über den Fluss zu bringen.

In schweißtreibender Arbeit fällten die Männer Bäume und banden die Stämme zu Flößen zusammen, auf denen die schweren Wagen dann nacheinander über den Fluss gebracht werden sollten. Die Frauen bemühten sich unterdessen, die Ausrüstung in und an den Wagen zu verstauen und zu sichern. Erst nach mehreren Stunden schwerer Anstrengung konnten sie die eigentliche Aufgabe in Angriff nehmen und begannen mit der Überführung der Wagen. Diese erwies sich als so schwierig wie erwartet. Mehr als einmal drohte ein Wagen von den schwankenden Flößen in den Fluss zu stürzen und die Männer mussten alle Kraft aufwenden, um ein solches Unglück zu verhindern.

Es war ihre erste Flussüberquerung, doch sie war bei Weitem nicht die gefährlichste, die sie auf ihrem langen Weg gen Westen zu meistern hatten. Aber die Unerfahrenheit der Männer erschwerte die Arbeit und spiegelte sich in dem allgemeinen Chaos wider, das bald am Ufer und auf dem Big Blue River herrschte.

»Das pausenlose Gefluche und Geschrei in allen Sprachen der Welt hätte vermutlich auch den größten Stoiker der Christenheit in den Wahnsinn getrieben«, bemerkte Patrick hinterher treffend. Er war schweißüberströmt und sichtlich erschöpft von der Anstrengung, denn die Wagen der Seligmanns mit ihren Bäumen waren auf den Flößen noch schwerer unter Kontrolle zu halten gewesen als die der anderen Reisenden. »Und ich muss gestehen, auch ich habe meinen Teil dazu beigetragen!«

Doch trotz aller Mühen waren sie am Ende dieses aufregenden und besonders beschwerlichen Tages dankbar und zufrieden, denn das Glück war ihnen hold geblieben und niemandem ging bei der Überquerung des Big Blue River etwas verloren.

Zwei Tage später jedoch traf dann das erste Unglück den Wagenzug, als sie den Little Blue River erreichten und ihm hinein in das sich rasch weitende, offene Land folgten, das die Siedler Nebraska nannten und wo Wälder bald nur noch eine sehnsuchtsvolle Erinnerung waren. Hier bekamen die Overlander einen ersten Eindruck von der endlosen Weite des trockenen Graslandes, das sich unter dem hohen Himmel bis an den Horizont erstreckte und über das fast ständig der Wind wehte. Für tausend lange Meilen sollte dieses eintönige Grasland nun der Anblick sein, der sich ihnen Tag für Tag von morgens bis abends bot.

»Allmächtiger, jetzt weiß ich, warum man die Wagen Prärieschoner nennt!«, stieß Éanna überwältigt hervor, als ihr Wagenzug im Morgengrauen aufbrach, um die nächsten zehn Meilen Tagesstrecke hinter sich zu bringen. Sie waren an diesem Morgen zum ersten Mal mit Sweet Sallie an die Spitze vorgerückt. »So wie das Gras im Wind wogt, sieht dieses Land wirklich wie ein grenzenloses Meer aus.« Emily nickte und meinte ein wenig beklommen: »Und wenn die Wagenspuren vor uns nicht wären, wüsste ich nicht, wie man hier ohne Kompass auch nur einigermaßen Kurs halten sollte.«

»Dafür haben wir ja Captain Palmer und seinen Scout«, meinte Brendan.

Liam lachte spöttisch auf. »Ja, ein schöner Scout, den Palmer da angeheuert hat! Habt ihr gesehen, wie er vorhin sturzbetrunken auf sein Pferd geklettert ist? Ich dachte, der kippt jeden Moment aus dem Sattel.«

»Ja, viel hätte wirklich nicht gefehlt«, pflichtete Brendan ihm bei, während er neben ihren Leitochsen herlief.

Keine zwei Stunden später überschritten sie eine sanfte Erhebung und sahen im nächsten Augenblick den schwarzen Hengst von Jeremiah Fennmore vor sich. Shadow stand ein Stück weit vom Trail entfernt im Gras, doch der Scout saß nicht im Sattel, sondern lag neben ihm am Boden.

»Das sieht dem Kerl ähnlich«, rief Brendan. »Liegt im Gras und schläft seinen Rausch aus! Und Palmer will uns immer weismachen, er reitet voraus, um den Trail auszukundschaften und nach Wild Ausschau zu halten.«

Éanna kniff die Augen zusammen. »Er liegt aber schon recht komisch da, wenn ihr mich fragt«, sagte sie beunruhigt. »Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.«

»Du hast recht, er sieht wirklich nicht so aus, als würde er ein gemütliches Schläfchen halten«, pflichtete Emily ihr zögernd bei und spähte ebenfalls hinüber zu der Stelle, wo der Scout mit verdrehten Gliedern am Boden lag.

»Um Gottes willen, dann nichts wie hin!«, rief Éanna bestürzt und rannte los. Emily und Liam folgten ihr, während Brendan die Ochsen in der Spur hielt.

Captain Palmer hatte die im Gras liegende Gestalt seines Scouts unterdessen ebenfalls bemerkt und trieb sein Pferd an. Fluchend jagte er an ihnen vorbei. Er war schon aus dem Sattel gesprungen und hatte sich über seinen Scout gebeugt, als Emily, Éanna, Liam und einige andere bei ihm eintrafen.

»Verdammter Hundesohn!«, fluchte Captain Palmer und versetzte Jeremiah Fennmore einen wütenden Stiefeltritt in die Seite.

»Seid Ihr von Sinnen, Captain?«, herrschte ihn Peer Erickson an, der zu den Ersten gehörte, die sich um die am Boden liegende Gestalt drängten. »Wollt Ihr ihm die Rippen brechen? Er mag ein übler Trunkenbold sein, aber das gibt Euch nicht das Recht, ihn so brutal zu treten!«

»Und wenn ich ihm alle Knochen im Leib breche, wird ihn das kaum kümmern«, erwiderte Captain Palmer erbost. »Der Kerl ist tot! Ist wohl besoffen aus dem Sattel gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen.«

Fassungslosigkeit und dann Bestürzung traten auf die Gesichter der Männer und Frauen. Hastig kniete sich Peer Erickson neben Jeremiah Fennmore ins Gras und fühlte nach seinem Puls. Doch es war, wie Captain Palmer gesagt hatte. Der Scout war tot.

»Möge der Allmächtige seiner Seele gnädig sein«, murmelte der Schwede und schloss dem Toten die Augen.

Entsetzt sahen sich Éanna und ihre Freunde an. Ihr Wagenzug, der mittlerweile kurz vor dem im Gras liegenden Scout zum Halten gekommen war, hatte sein erstes Todesopfer zu beklagen – und es war ausgerechnet der Mann, der wie kein anderer unter ihnen mit den Gefahren des Trails vertraut war! Das schloss zweifellos auch Nathan Palmer ein, der wohl seine guten Gründe gehabt hatte, warum er ihn angeheuert hatte.

»Und was soll jetzt ohne ihn aus uns und unserem Treck werden?«, stieß eine der Frauen angstvoll hervor. Ihr Name war Sarah Kendall und sie hatte sich mit ihrem Mann und drei kleinen Töchtern auf die gefahrvolle Reise begeben.

»Was soll schon werden?«, knurrte Captain Palmer gereizt.

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, als hätte sie eine ausgesprochen dumme Frage gestellt. »Alles geht so weiter wie bisher!«

»Aber Ihr habt doch mehr als einmal gesagt, dass der Scout für das Gelingen unseres Trecks von größter Bedeutung ist«, wandte die Frau besorgt ein. »Insbesondere in den Bergketten der Rocky Mountains und auf der Strecke durch …«

Captain Palmer fiel ihr schroff ins Wort. »Unsinn! Das habe ich so niemals gesagt. Ihr habt mir nicht richtig zugehört, sonst wüsstet ihr, dass ich mich selbst bestens auf dem Trail auskenne. Dass ihr Weibsbilder immer alles verdrehen müsst!«

Peer Erickson runzelte argwöhnisch die Stirn. »Dann muss ich das auch getan haben, Captain. Obwohl ich das schlecht glauben mag, denn ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie Ihr davon gesprochen habt, dass die Erfahrung Eures Scouts so überaus wichtig ist. Das war, als wir Euch wegen der ständigen Trunkenheit von Mister Fennmore zur Rede gestellt haben und …«

Doch auch ihn ließ Nathan Palmer nicht ausreden. »Ihr könnt glauben, was Ihr wollt. Es ist so, wie ich gerade gesagt habe. Und ich habe nicht die Absicht, mich mit Euch auf Haarspaltereien darüber einzulassen, was ich angeblich geäußert habe«, beschied er ihn grob. »Welche Schlüsse Ihr daraus gezogen habt, Mister Erickson, ist ganz allein Eure Angelegenheit. Jeremiahs idiotischer Tod mag bedauerlich sein, aber sein Verlust ist für den Fortgang unseres Trecks wahrlich nicht von großer Bedeutung. Mit den Indianern kann auch ich verhandeln. Und wir haben genug erfahrene Jäger im Zug, die ohne seine Hilfe Wild ins Lager bringen werden.«

»Ihr kennt also den Weg über die High Plains und die Berge ebenso gut wie Euer Scout?«, vergewisserte sich Sarah Kendall.

»Natürlich!« Captain Palmer sah sie an, als wäre ihre Frage eine Beleidigung. »Und jetzt genug der müßigen Rederei. Bringen wir ihn unter die Erde und sehen zu, dass wir so schnell wie möglich weiterkommen!« Demonstrativ wandte er ihnen den Rücken zu und ging zum Hengst hinüber.

»Er mag ja dreimal unser Treckcaptain sein, aber einem so über den Mund zu fahren, als wäre man ein dummes Kind, ist wohl mehr als ungebührlich«, beschwerte sich Sarah Kendall entrüstet bei Peer Erickson. »Dieser ungehobelte Kerl weiß wohl nicht, was Anstand ist und wie man sich einer ehrbaren Frau gegenüber zu benehmen hat!«

»Da kann ich Euch leider nur zustimmen, Missis Kendall, so leid es mir auch tut«, pflichtete der Schwede ihr bei.

Nathan Palmer kümmerte die Entrüstung der beiden offensichtlich nicht im Geringsten. Ungerührt öffnete er die Schnalle der Satteltasche und kramte darin herum. Dann fand er endlich, wonach er gesucht hatte, und grinste zufrieden. In seiner Hand hielt er den ledernen Geldbeutel, den er Jeremiah Fennmore am Tag vor ihrem Aufbruch in Independence als Lohn für seine Dienste ausgehändigt hatte.

»Der Körper seines Scouts ist noch nicht einmal kalt und der Captain denkt an nichts anderes, als sich sein Geld wiederzuholen«, murmelte Brendan voller Verachtung.

Als hätte Nathan Palmer seine Worte gehört, sagte er laut vernehmlich, während er sich umdrehte: »Ich nehme mir nur, was mir zusteht! Ich habe Jeremiah für viereinhalb Monate Scouten bezahlt. Diesen Vertrag hat er nicht erfüllt und somit steht das Geld, das von seinem Lohn noch übrig ist, mir zu. Und nun schafft ihn endlich unter die Erde!« Damit führte er Shadow weg, schwang sich auf sein Pferd und ritt mit dem Hengst im Gefolge davon.

»Allmählich beginne ich, für Captain Palmer mehr Verachtung zu empfinden, als ich für den versoffenen Scout aufbringen konnte«, sagte Emily.

Éanna verzog das Gesicht. »Aber leider ist er der einzige Führer, den wir jetzt noch haben, und wir werden noch einige Zeit mit ihm auskommen müssen.«

»Bleibt bloß zu hoffen, dass er wirklich so erfahren ist, wie er behauptet«, sagte Liam sorgenvoll. »Mittlerweile würde es mich jedenfalls gar nicht wundern, wenn wir einem Blender aufgesessen sind, der selbst keine Ahnung hat und sich nur auf die Erfahrung seines Scouts verlassen hat.«

»Gott behüte! Mal bloß nicht den Teufel an die Wand, Liam«, rief Emily erschrocken aus.

Dieser zuckte die Achseln. »Ist nur so ein blödes Gefühl. Aber ich habe natürlich nichts dagegen, wenn es sich als unbegründet herausstellt.«

21. Kapitel

In den nächsten Tagen stieg der Trail allmählich an und führte den meilenlangen Wagenzug über das öde Grasland der High Plains von Nebraska. Langsam näherten sie sich den Ufern des schlammreichen Platte River.

Der Wind blies hier erbarmungslos. Er zerrte an der Kleidung, fegte Hüte und Hauben, die nicht mit Bändern unter dem Kinn festgebunden waren, von den Köpfen, trieb Mensch und Tier Sand in die Augen und riss an der Leinwandbespannung der Wagen. Manche Windstöße waren so heftig, dass kleinere Kinder von ihnen umgeworfen wurden und die hochrädrigen Wagen wie in schwerer See taumelten. Dazu erfüllte ein merkwürdiges und beständiges Stöhnen die Luft, als klagte um sie herum ein unsichtbarer Geisterchor, und die Sonne brannte mit wachsender Kraft vom Himmel.

»Wenn wir jetzt auf unseren Prärieschonern Segel setzen könnten, wären wir bei dem Wind in kürzester Zeit an der Westküste«, seufzte Emily.

Éanna verzog das Gesicht zu einem müden Lächeln. »Ja, in Windeseile sogar. Das wäre was! Aber ich fürchte, dass weiterhin die Ochsen das Tempo angeben werden.«

»Manchmal wünschte ich, wir hätten uns doch einer der Gruppen angeschlossen, die mit Maultieren auf den Trail gehen. Die sind einfach viel schneller«, sagte Brendan, dem das quälend langsame Vorantrotten der Ochsen inzwischen merklich an den Nerven zerrte. Dabei hatten sie noch nicht einmal einen Monat hinter sich gebracht!

Aber er war nicht der Einzige, dem es so erging. Bei manchen Teilnehmern stellten sich jetzt schon erste Ermüdungserscheinungen ein. Dabei war trotz aller Strapazen das Gemüt meist viel stärker betroffen als der Körper. Das tägliche Gleichmaß von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und die gleichbleibend öde, fast baumlose Landschaft laugten die Overlander aus. Selbst die meist fröhlich herumspringenden Kinder spürten die ungeahnte seelische Entkräftung der Erwachsenen. Die gewaltige Einsamkeit und Kargheit des Landes hatten etwas Erdrückendes.

»Träum du nur weiter«, meinte Liam.

Brendan winkte ab. »Ja, ich weiß, dafür hätten wir nie im Leben genug Geld gehabt. Aber schön wäre es gewesen«, sagte er mit einem schweren Stoßseufzer und zog sich die Krempe seines Hutes tiefer in die Stirn. »Was für ein einsames und karges Land. Stellt euch nur mal Irland dagegen vor!«

»Tu das lieber nicht«, erwiderte Emily. »Ich will gar nicht daran denken, dass wir noch mehrere Hundert Meilen dieses Ödlands hinter uns bringen müssen.«

»Aber du tust es eben doch«, meinte Liam. »Wie jeder von uns. Aber wer weiß, ob wir uns nicht noch mal nach diesem offenen Gelände zurücksehnen, wenn es durch die Berge geht. Die Rocky Mountains sollen ja nicht nur ein einziger Bergzug sein, sondern eine Bergkette hinter der anderen!«

»Also, ich denke erst einmal nur daran, dass wir in zwei Stunden wieder eine Tagesstrecke hinter uns gebracht haben, ohne dass uns eine Radspeiche oder gar eine Achse gebrochen ist. Ich kann mir gerade gar nichts Schöneres vorstellen, als endlich unser Camp für die Nacht aufzuschlagen«, sagte Éanna. »Mich würde es nur entmutigen, mir vorzustellen, was wohl morgen oder gar in den nächsten Wochen und Monaten vor uns liegt.«

Emily nickte. »Du hast recht, lass uns lieber nicht daran denken. Ich freue mich vor allem darauf, dass wir vielleicht schon morgen bei Fort Kearny eintreffen und dort zwei Ruhetage einlegen werden.«

»Oh ja, das ist ein gutes Etappenziel«, stimmte Liam ihr zu. »Auch wenn ich gehört habe, dass dieses Fort nicht allzu viel hermacht. Aber eine gute Abwechslung nach all dem eintönigen menschenleeren Land wird es allemal sein!«

Éanna, Emily und Brendan stimmten ihm aus vollem Herzen zu. Keiner im Wagenzug, ob Kind oder Erwachsener, konnte es noch erwarten, nach Fort Kearny zu kommen und wieder so etwas wie eine Besiedlung vor Augen zu haben. Und dass sie dort zwei ganze Ruhetage einlegen würden, war ein zusätzlicher Grund, ihrer Ankunft dort voller Ungeduld entgegenzusehen.

Doch vorher hatten sie noch eine Nacht auf offener Prärie zu überstehen. Als sie bei Einbruch der Dämmerung einen passablen Lagerplatz gefunden hatten und sich die Wagen wie gewohnt zu einer Wagenburg formierten, schlug das Wetter jäh und unerwartet um. Dunkle Wolkenfelder zogen auf und der Wind verwandelte sich fast schlagartig in einen tobenden Sturm.

Éanna hatte schon die Kochkiste vom Wagen gehoben und wollte gerade ein Feuer entzünden, als sich zu dem heftigen Brausen ein peitschender Regen gesellte, der von grellen Blitzen und fürchterlich ohrenbetäubendem Donner begleitet wurde.

»Das warme Essen können wir heute wohl vergessen!«, rief sie gegen das Stürmen und Heulen des Windes an und brachte das Feuerholz rasch in den Wagen zurück.

Die Männer hatten derweil alle Hände voll zu tun, das ängstlich schnaubende Vieh in das Innere der Wagenburg zu bringen, damit die Tiere nicht in wilder Panik davonstürzten. In den strömenden Fluten, die auf sie niedergingen, konnten sie zeitweise kaum ihre eigene Hand vor Augen sehen. Schräge Regenvorhänge, die mit schwerem Getöse herunterrauschten und in Gischt auf dem Boden aufspritzten, umgaben das Lager. Gegen diese wahre Sintflut konnte selbst eine mit Leinöl getränkte Plane wenig ausrichten.

Kaum hatten sie Ochsen, Pferde, Kühe, Rinder und Ziegen in das geschlossene Rund getrieben, als wütende Windböen von unglaublicher Kraft das Camp trafen – und mit einem Schlag zwei schwer beladene Prärieschoner umstürzten, als wären sie leicht wie leere Bretterkisten.

»Gebt auf die Wagen acht!«, schrie jemand mit gellender Stimme. Éanna glaubte, sie als die von Peer Erickson zu erkennen, dessen Wagen in der Kolonne vier Plätze vor ihnen positioniert war. »Der Sturm hat schon zwei umgeworfen! Wir müssen sie mit Seilen sichern!«

»Das gibt es doch gar nicht, dass der Wind so viel Kraft hat«, stöhnte Brendan fassungslos. Sie hatten zu viert Zuflucht im Wagen gesucht und kauerten nun eng beieinander auf ihren Kisten und Fässern. »Keiner hat weniger als tausend Pfund Fracht geladen!«

»Tja, dann wirft der Sturm eben auch Wagen mit tausend Pfund Fracht um«, erwiderte Liam und knotete hastig die Schnüre auf, die die beiden Planenenden am Eingang zusammenhielten. »Los, komm mit! Irgendwie müssen wir unseren Wagen sichern.«

»Beeilt euch«, drängte Emily, während immer neue Windstöße den Wagen trafen und an ihm rüttelten, dass die Vorräte durcheinanderpurzelten. »Lange hält unsere Sweet Sallie das nicht aus!«

Brendan griff nach zwei Seilrollen und dem Bündel zusammengeschnürter Holzpflöcke, mit denen sie jeden Abend ihr Zelt aufbauten. »Bring den Hammer mit! Er liegt vorn im Kasten«, rief er Éanna zu, während er schon hinter Liam aus dem Wagen kletterte und hinaus in die regengepeitschte Sturmnacht sprang.

Hastig schnitten sie eines der Seile auf halber Länge durch, befestigten die Enden vorn und hinten am Wagen und spannten die Leinen mithilfe der Pflöcke in die Richtung, aus der Wind und Regen heranjagten. Auch auf der anderen Seite brachten sie zur Sicherheit ein Seil an. »Braucht ihr mich noch?«, rief Éanna, als sie den letzten Pflock in die Erde getrieben hatte, und nahm den Rest des zweiten Seils an sich.

»Nein. Warum fragst du?«

»Weil ich zu den anderen will, die vielleicht noch Hilfe brauchen.«

»Und an wen denkst du dabei?«, fragte Brendan argwöhnisch. »Vielleicht an die Seligmanns, bei denen sich der Herr Schriftsteller einquartiert hat?«

»Ja, an die auch! Ohne fremde Hilfe kommen sie mit ihren vier Wagen niemals zurecht und die jungen Bäume nehmen bei so einem unglaublichen Sturm bestimmt schnell Schaden, der nicht wiedergutzumachen ist«, antwortete sie gereizt. »Aber ich will auch nach Mister Talbot sehen.«

Éanna sah im Licht der Blitze, wie sich Brendans Gesicht verfinsterte. Er stemmte die Arme in die Seiten und musterte sie stumm. So stand er regungslos vor ihr, im strömenden Regen und noch ganz außer Atem von der überstürzten Arbeit. Er versuchte jedoch nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Tu, was du nicht lassen kannst!«, schrie er dann gegen das Unwetter an. »Aber das Seil kommt wieder zurück zu uns, wenn der Sturm vorbei ist!«

Éanna ersparte sich eine Antwort und wankte unter den Windstößen zu der Wagengruppe der deutschen Auswanderer, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, eine komplette Baumschule nach Oregon zu bringen.

Erika und Siegbert Seligmann waren der Verzweiflung nahe, fürchteten sie doch, bei dem Sturm unzählige ihrer jungen Obstbäume zu verlieren. Sie wussten gar nicht, wo sie zuerst Hand anlegen sollten. Obwohl neben Patrick auch ihre beiden halbwüchsigen Söhne sowie die zehnjährige Tochter mitarbeiteten, waren es doch viel zu wenig Helfer. Denn bei ihnen ging es nicht allein darum, die Wagen durch Spannseile zu sichern, sondern sie mussten zusätzlich eine zweite Schutzplane über die Wagen mit den Bäumen ziehen. Deshalb waren sie in höchstem Maße dankbar, als Éanna bei ihnen auftauchte und tatkräftig mithalf, um Schaden von ihrer kostbaren Fracht abzuwenden.

Sie arbeitete Seite an Seite mit Patrick. Bis auf die kurzen Kommandos und notwendigen Absprachen beim Bändigen der störrischen Leinwandplanen fielen kaum Worte, und dennoch fühlte sie die Verbundenheit, die zwischen ihnen herrschte. Und sie ertappte sich trotz des Sturms bei dem Wunsch, dass ihre gemeinsame Arbeit so schnell nicht enden möge.

Als die vier Wagen endlich so gut es eben ging vor dem Toben des Sturms gesichert waren und die Seligmann-Kinder eiligst zurück in die Prärieschoner kletterten, blickte Patrick gen Himmel und rief fasziniert: »Ist das nicht ein gewaltiges Schauspiel der Natur?«

»Ich würde es eher Furcht einflößend nennen«, erwiderte Éanna und drehte sich schnell wieder mit dem Rücken zu Wind und Regen. Sie musste sich regelrecht dagegenstemmen, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Eigentlich hatte sie noch nach Winston Talbot sehen und ihm helfen wollen. Aber sie konnte sich einfach nicht von Patrick trennen. In den Wochen des Trecks hatte er zwar immer wieder ihre Nähe gesucht und mit ihr gesprochen, aber sie waren dabei nie außer Hörweite von Brendan, Emily oder Liam gewesen. Wie sehr hatte sie es vermisst, ganz ungestört Zeit mit ihm zu verbringen.

»Ja, es kann einem schon angst und bange werden, wenn man fast ungeschützt den Naturgewalten ausgesetzt ist«, räumte er ein. »Aber zu dieser Furcht gehört doch auch immer ein andächtiges Staunen. Jedenfalls geht es mir so.«

Éanna schüttelte den Kopf. »Wenn ich staunen muss, dann meist über das, was dir manchmal so durch den Kopf geht, Patrick!«

Er lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Wann nehmen wir uns denn schon mal die Zeit, uns Gedanken darüber zu machen, welch riesige Kräfte in der Natur herrschen? Ich finde, jetzt ist so ein Moment, der geradezu danach verlangt. Er führt einem überdeutlich vor Augen, wie klein der Mensch in der wilden Natur doch ist und wie wenig Kontrolle er über die atemberaubenden Wunder der Schöpfung hat.«

»Das ist wahr.«

»Den meisten Menschen ist es allein wichtig, wie viel Lebenszeit ihnen vergönnt ist«, sagte Patrick und blickte nach Nordwesten, wo eine unablässige Kette von Blitzen den Himmel aufriss und ihr gleißendes Licht über die Prärie warf. »Aber ich finde es bedeutend wichtiger, wie oft es einem den Atem vor Staunen und Glück verschlägt! Und wenn du noch so lange lebst, was nutzt es dir, wenn du dein Dasein nicht genießen kannst?«

Verblüfft und zugleich eigenartig berührt sah sie ihn an. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, gestand sie.

»Es lohnt sich, es zu tun, Éanna. Wir haben nur dieses eine Leben und seine Dauer ist ungewiss. Wenn man nicht aufpasst, wie man sich darin einrichtet …«

Weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment drehte der Wind und eine heftige Böe traf Éanna unerwartet von der Seite, brachte sie aus dem Gleichgewicht und hätte sie um ein Haar zu Fall gebracht, wenn Patrick sie nicht gerade noch rechtzeitig zu fassen bekommen hätte.

Éanna stürzte förmlich in seine Arme, die sich sofort schützend um sie schlossen. Für einige Sekunden lag sie fest an seine Brust gedrückt. Dann spürte sie seine Hand, die zärtlich über ihr triefnasses Haar strich, und hörte ihn sagen: »Es gibt nicht viel, was mir in meinem Leben bislang den Atem verschlagen hat. Du tust es jedoch immer wieder aufs Neue, Éanna.«

Éanna schauderte. Wie ungewohnt es war, in Patricks Armen zu liegen, und wie vertraut es sich zugleich anfühlte! Sturm und Nässe konnten ihr nichts anhaben, so sicher war sie bei ihm geborgen. Tief sog sie seinen Geruch ein und schloss die Augen. Doch obwohl sie in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte, als für immer so stehen zu bleiben, drangen nach und nach wieder die aufgeregten Stimmen der Overlander an ihr Ohr, die noch stets gegen das Gewitter ankämpften.

»Nicht, Patrick!«, stieß sie hervor und befreite sich hastig aus seiner Umarmung, bevor er noch mehr von seinen Gefühlen für sie preisgeben konnte. Sie fuhr sich über das Gesicht, um wieder zur Besinnung zu kommen. »Ich muss jetzt schnellstens zu Mister Talbot! Er und sein Dienstmann brauchen sicherlich ebenfalls Hilfe.« Und bevor Patrick noch etwas sagen oder versuchen konnte, sie zurückzuhalten, stürzte sie gehetzt davon.

22. Kapitel

Die beiden Schüsse der letzten Nachtwache krachten und das Camp erwachte widerwillig aus dem Schlaf. Mit schmerzenden Gliedern und vom Regen noch immer feuchter Kleidung krochen die Overlander aus ihren Wagen, in denen es in dieser Nacht fast überall äußerst gedrängt zugegangen war. Denn das schwere Unwetter hatte es völlig unmöglich gemacht, in den Zelten zu übernachten.

»Mein Gott, mir tut jeder Knochen im Leib weh. Sogar die, von denen ich bisher gar nicht wusste, dass ich sie habe«, stöhnte Emily, als sie sich aufsetzte. Sie bewegte sich vorsichtig, nicht nur, um die schmerzenden Glieder zu schonen, sondern auch, um in der engen Dunkelheit ihres Wagens niemandem einen Stoß zu versetzen.

Brendan rieb sich seinen steifen Nacken und klagte: »Das wird heute eine wahre Freude werden, die Ochsen unter das Joch und an die Deichsel zu bekommen.«

Éanna und Liam erging es nicht anders. Auch sie fühlten sich völlig zerschlagen. Sich zu viert in den Wagen zu drängen und in verkrümmter Haltung auf den Säcken und Proviantkisten zu schlafen, war fast so schlimm gewesen wie die Nächte im Zwischendeck des Auswandererschiffes, das sie nach Amerika gebracht hatte. Wirklich geruhsamen Schlaf hatte keiner von ihnen gefunden, und sie alle mussten sich sehr zusammenreißen, um sich dennoch an die morgendliche Arbeit zu machen.

Der Sturm hatte sich in den späten Nachtstunden gelegt und es regnete auch nicht mehr. Aber der Boden war von den Wassermassen, die vom Himmel gestürzt waren, völlig durchweicht. Und wer am Abend sein Brennholz nicht rechtzeitig ins Trockene gebracht hatte, bei dem fiel das Frühstück an diesem Morgen äußerst karg aus. Als das größte Übel wurde jedoch allgemein erachtet, dass es keinen starken Kaffee gab, um die Lebensgeister zu wecken.

Unter einem grau verhangenen Himmel ging es schließlich wieder auf den Trail. An diesem Tag kam der Wagenzug noch langsamer voran als sonst. Die Overlander waren erschöpft von der unerwarteten Arbeit des Abends und völlig gerädert von der unruhigen Nacht. Zudem sanken die voll beladenen Wagen mit ihren Rädern tief in den Boden ein und die nasse Erde klebte in dicken, schweren Klumpen an den Stiefeln. In gedrückter Stimmung und ungewöhnlich still mühte sich der Wagenzug auf breiter Front über die Prärie. Allein die Aussicht, am nächsten Tag hoffentlich das Fort Kearny zu erreichen, brachte sie über den mühsamen Tag.

Éanna hielt sich an diesem Morgen abseits von ihren Freunden. Ihr war nicht einmal danach, mit Emily zu reden. Unter dem Vorwand, nach Brennholz Ausschau zu halten, streifte sie abseits vom Wagenzug durch das Gelände. Sie wusste, dass sie kaum mehr als hier und da ein Stöckchen finden würde, denn Feuerholz war auf der fast baumlosen Prärie mittlerweile zu einer kostbaren Rarität geworden. Nur an den Ufern der Flüsse stieß man gelegentlich noch auf einige Baumgruppen und hohes Gesträuch, das für ein Kochfeuer taugte.

Sie brauchte jedoch Ruhe und Zeit für sich, um über ihre Gefühle zu Brendan und vor allem zu Patrick nachzudenken. Während sie durch den Matsch stapfte, ging ihr vieles durch den Kopf. Insbesondere beschäftigte sie das, was gestern Abend zwischen ihr und Patrick geschehen war. Ihre gefestigte Welt war wieder einmal durcheinandergewirbelt worden, als sie in Patricks Armen gelegen und gehört hatte, was er zu ihr gesagt hatte. Bedrückt grübelte sie darüber nach, warum sie immer noch nicht in der Lage war, sich über ihre Gefühle im Klaren zu werden. Sie konnte doch unmöglich zwei Menschen lieben! Was war nur mit ihr los, dass sie immer wieder Zweifel bekam, wem sie ihr Herz schenken sollte? Sie wünschte es sich so sehr, wie Emily völlig sicher zu wissen, zu wem sie gehörte und wem ihre bedingungslose Liebe galt.

Doch sosehr Éanna sich auch bemühte, Gewissheit zu erlangen, sie kam einfach keinen Schritt weiter. Und schließlich gab sie es auf, sich weiter damit zu quälen, und trottete mit ihrer kargen Ausbeute zu den anderen zurück. Als sie sich zu Emily gesellte, die hinter dem Wagen herlief, warf ihr die Freundin zwar einen forschenden Blick zu, doch sie fragte nicht nach. Éanna war ihr dankbar dafür, denn nicht einmal Emily gegenüber wollte sie schildern, was sie tief in ihrem Inneren aufwühlte.

Tags darauf erreichten sie den Platte River, der sich tadellos in die flache Landschaft einordnete. Nach ihren bisherigen Erfahrungen auf dem Treck waren die Overlander erstaunt, dass der Fluss ein breites, schlammiges Band war, das sich von den Rocky Mountains her kommend in trägen, weiten Kurven bis zum Missouri zog. Und er erstreckte sich über die unglaubliche Breite von einer guten Meile.

So beeindruckend seine enorme Breite war, so außergewöhnlich war auch seine geringe Tiefe, denn das Wasser reichte den Overlandern kaum bis an die Fersen. Es war, als hätten sich tausend Rinnsale zufällig getroffen und würden nun gemeinsam vor sich hinplätschern.

»Himmel, was soll das denn für ein Fluss sein, der dreimal breiter ist als der mächtige Mississippi, aber so flach wie eine klägliche Pfütze?«, rief einer der Reisenden fassungslos.

»Dieser Platte River ist wirklich ein Hohn auf alle Flüsse der Welt«, meinte ein anderer.

Und Patrick trug an diesem Tag in sein Notizbuch ein: »Der Platte River ist ein seltsames Gewässer, fischlos, zu schmutzig zum Baden und zu dickflüssig zum Trinken! Aber er wird uns zu den Rocky Mountains führen.«

Die Ebene zu beiden Seiten des Platte war mit kurzem Gras bedeckt und völlig baumlos. Nur auf einigen der Sandbänke konnte man kümmerliches Gewächs ausmachen, das ein wenig höher als Gras aufragte. Zahlreich dagegen waren die Bauten der Präriehunde. Die putzigen Nagetiere waren kaum größer als Eichhörnchen und ihr geschäftiges Hin und Her fesselte die meisten Overlander. Entzückt beobachteten Éanna und Emily die Tierchen und protestierten heftig, als Liam und Brendan die Absicht äußerten, zwei oder drei davon für ein leckeres Abendmahl einzufangen.

»Na gut, wenn es euch glücklich macht, verzichten wir eben auf den prächtigen Braten«, beugte sich Brendan großzügig ihrem Willen. Er zwinkerte Liam zu, wussten doch alle vier, dass ohnehin viel zu wenig Fleisch an den Präriehunden war, um daraus eine Mahlzeit zuzubereiten. Am späten Nachmittag kam zur großen Freude der Reisenden endlich das Fort Kearny in Sicht. Es war erst im Jahr zuvor von der Armee zum Schutz des Trails errichtet worden und bestand aus einer recht bescheidenen Ansammlung von Baracken um einen großen Innenhof, die von Palisaden umschlossen wurde. In der Ferne zeichneten sich Kliffe aus rötlichem Sandstein vor dem Abendhimmel ab und ragten wie achtlos verstreut aus der Ebene auf.

Während Nathan Palmer dem Befehlshaber des Forts seine Aufwartung machte, schlug die Reisegruppe ihr Lager vor der Westseite des Armeepostens auf. Im Camp herrschte eine ausgesprochen fröhliche Stimmung. Nach der Versorgung der Tiere und dem Essen wurden sogar endlich wieder einmal die Musikinstrumente sowie Kartenspiele und Würfelbecher hervorgeholt, um den Abschluss der ersten, fast einmonatigen Reiseetappe zu feiern.

Brendan nahm die Einladung der Larkin-Brüder zu einem Kartenspiel an. Emily und Liam zog es hinüber zu den Musikanten, wo auch gleich getanzt wurde. Und Éanna begab sich an diesem Abend zu Winston Talbot, um sich von ihm in das Schachspiel einweisen zu lassen. Er saß mit seinem russischen Dienstmann Alexander, einem kräftigen jungen Mann mit fröhlichem Gesicht, am Feuer und war mit seinem Essen noch nicht ganz fertig.

»Komme ich ungelegen?«, fragte sie entschuldigend. »Sagt es nur, dann warte ich noch ein bisschen. Es hat ja keine Eile, wir müssen morgen schließlich einmal nicht in aller Herrgottsfrühe wieder los.«

»Nein, nein! Setz dich nur, Éanna«, forderte Winston sie auf und wies auf eine Proviantkiste. »Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Die paar Löffel sind schnell gegessen und je eher ich sie hinuntergewürgt habe, desto besser.«

Éanna verzog das Gesicht, als sie die halb verbrannte Pampe sah, die Winston und der Russe auf ihren Tellern hatten. »Das sieht wirklich alles andere als einladend aus«, sagte sie bestürzt. »Wer ist denn bei Euch der Koch?«

Winston deutete mit seiner Gabel auf seinen Dienstmann. »Mein guter Alexander«, sagte er schmunzelnd und dieser grinste dazu breit. »Nun ja, er gibt sein Bestes.«

»Was offenbar aber nicht viel heißt.«

Winston lachte. »Alexanders Bestes stößt zugegebenermaßen schnell an seine Grenzen. Aber seine Kochkünste fallen immerhin noch um einiges besser aus als das, was ich zustande bringe. Und um ehrlich zu sein, nicht immer ist sein Essen so angebrannt wie heute. Manchmal schmeckt es sogar fast gut. Aber ich habe ihn ja auch nicht angestellt, damit er mich am Kochtopf verwöhnt, sondern damit er mir die harte Arbeit abnimmt. Und was das betrifft, so ist an ihm wahrlich nichts auszusetzen.« Er schaute unschlüssig auf seinen Teller und kratzte dann die Reste seiner Mahlzeit in die Feuerstelle. »So, dann wollen wir mal zum angenehmen Teil des Abends kommen und uns der Faszination des Schachspiels widmen.«

Éanna war verwundert, als Winston eine sichtlich schwere Holzschatulle aus seinem Wagen holte und die Figuren daraus zum Vorschein brachte. Sie hatte auf der Überfahrt nach Amerika schon verschiedene Schachspiele gesehen. Meist waren die Figuren aus Holz geschnitzt und zum Teil auch bunt angemalt gewesen. Die von Winston Talbot waren jedoch von grauer Farbe und sehr plump gearbeitet.

»Mein Gott, die sind ja schwer wie Blei!«, entfuhr es ihr verblüfft, als sie eine der Figuren in die Hand nahm.

Er lächelte. »Kein Wunder, denn sie sind ja auch aus Blei gegossen. Ich weiß, sie sind nicht sehr hübsch, aber dieses Schachspiel ist mir das Kostbarste, was ich besitze. Mein Vater besaß einst eine kleine Bleigießerei und hat es mir vererbt. Ich habe die Gießerei eine Zeit lang weitergeführt, bevor ich mich anderen Geschäften zugewandt habe, die meinem Naturell und meinen Fähigkeiten mehr entgegengekommen sind. Dieses Schachspiel ist das Einzige, was vom Geschäft meines Vaters noch übriggeblieben ist. Also dann, beginnen wir mit den Regeln und damit, welche Eigenschaften den verschiedenen Figuren zu eigen sind.«

Die Regeln des Schachspiels waren leichter zu merken, als Éanna erwartet hatte. Doch sie stellte schnell fest, dass das Spiel selbst noch lange nicht einfach, geschweige denn einfallslos war. Schnell begriff sie, dass die Zahl der möglichen Spielzüge fast unbegrenzt sein musste. Und ehe sie sich’s versah, hatte sie die Faszination des Schachspiels gepackt. Ihr war bislang noch nichts begegnet, was eine größere Herausforderung an ihren Geist gestellt hätte.

»Ich fürchte, ich ziehe mir mit dir einen Gegner heran, dem ich bald nicht mehr gewachsen sein werde«, lobte Winston sie, als es schließlich Zeit wurde, sich schlafen zu legen.

»Nun übertreibt Ihr aber gewaltig, Winston! Ich bin sicher, dass Ihr es mir leicht gemacht habt«, erwiderte sie, freute sich jedoch über sein Lob. »Vermutlich hättet Ihr mich jedes Mal schon nach wenigen Minuten schachmatt setzen können, wenn Ihr nur gewollt hättet.«

»Nun mach dich mal nicht schlechter, als du bist, Éanna. Du hast eine schnelle Auffassungsgabe und denkst bei deinen Zügen jetzt schon weiter als die meisten Anfänger, mit denen ich bisher am Brett gesessen habe«, versicherte er ihr und räumte die Figuren in die Holzschatulle. »Ich bin sicher, dass du es mir schon gegen Ende unserer Reise schwer machen wirst, deinen Fallen zu entkommen.«

»Na, da bin ich mir aber nicht so sicher«, wehrte sie lachend ab und dankte ihm für die schönen Stunden.

»Ach was, das Vergnügen war doch ganz meinerseits«, erwiderte er mit einem Lächeln.

Sie wollte sich schon auf den Weg zu ihrem Wagen machen, als ihr Blick auf die Kochkiste fiel, und ihr kam ein neuer Gedanke. »Winston, was haltet Ihr davon, wenn Ihr und Euer Russe fortan die Mahlzeiten bei mir und meinen Freunden einnehmt?«, schlug sie ihm vor.

Winston machte ein verblüfftes Gesicht. »Nein, das geht nicht! Das können wir unmöglich annehmen!«

»Warum denn nicht? Wenn ich demnächst daran denke, was für einen grässlichen Fraß Ihr morgens und abends hinunterwürgen müsst, wird es mir auch nicht mehr schmecken.«

»Das ist lieb von dir gemeint, Éanna. Aber ich kann dir und deinen Freunden auf gar keinen Fall noch mehr Arbeit aufbürden, als ihr sowieso schon habt. Ihr habt mit euch selbst genug zu tun, das weiß ich doch.«

»Ich habe ja nicht gesagt, dass Ihr die Hände in den Schoß legen und Euch von unseren Vorräten bekochen lassen sollt«, erwiderte Éanna. »Aber wenn Ihr Euren Proviant mit an unser Kochfeuer bringt, ist doch keinem geschadet. Wir kochen einfach größere Portionen. Und für zwei Personen mehr Kaffee aufzubrühen oder Maisfladen zu backen, macht wirklich keinen großen Unterschied. Ihr könnt in der Zeit ja anderweitig ein wenig mit anpacken.«

»Das würden wir gewiss gern tun, und Proviant haben wir mehr als reichlich mitgenommen. Aber meinst du denn, dass auch deine Gefährten mit diesem Arrangement einverstanden sind?«, fragte Winston, und seine Miene verriet, wie verlockend der Vorschlag für ihn war.

»Bestimmt!«, versprach sie zuversichtlich und streckte die Hand aus. »Also, dann ist das abgemacht, einverstanden?« Die Augen von Winston Talbot strahlten hinter den runden Gläsern seiner Nickelbrille und er ergriff ihre Hand. »Du hast wirklich ein Herz aus Gold, mein Kind!«

Sie lachte verlegen. »Ach, so eine große Sache ist das wirklich nicht. Dafür seid Ihr mir jetzt ein paar Spiele schuldig, die Ihr mich gewinnen lasst!« Dann wünschte sie ihm und seinem Dienstmann eine erholsame Nacht und kehrte zu ihren Freunden zurück.

Wie nicht anders erwartet, hatten Emily und Liam nichts dagegen einzuwenden, ihre Mahlzeiten fortan mit Winston Talbot und seinem Dienstmann zu teilen.