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Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

 

Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert

 

Herausgegeben von Arne Burchartz, Hans Hopf und Christiane Lutz

Marie-Luise Althoff

Die begleitende Psychotherapie der Bezugspersonen

Theorien, Modelle und Behandlungstechnik in der psychodynamischen Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030161-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030163-4

epub:    ISBN 978-3-17-030164-1

mobi:    ISBN 978-3-17-030165-8

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Vorwort

 

 

 

Auf die Mitarbeit der Bezugspersonen kann in der Kinder- und oft auch in der Jugendlichenpsychotherapie nicht verzichtet werden (Ahlheim, 2007, Chethik, 2000, Novick & Novick, 2009, Althoff, 2007, Windaus, 1999). Auch in den Psychotherapie-Richtlinien ist die begleitende Psychotherapie der Bezugspersonen vorgesehen und zwar mit einem Regelverhältnis von 1 Sitzung der Bezugspersonen zu 4 Sitzungen des Kindes (Rüger, et al., 2015). In begründeten Fällen kann von diesem Verhältnis abgewichen werden (Images Kap. 6).

Die Bedeutung der Mitarbeit der Bezugspersonen ergibt sich im Wesentlichen aus zwei Gründen:

1.  Sie müssen die Therapievereinbarung – manchmal sogar gegen den erklärten Wunsch des Kindes – schließen und halten.
Sie sind für die Aufrechterhaltung des Rahmens in organisatorischer Hinsicht zuständig. Die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut muss also ein Arbeitsbündnis mit den Bezugspersonen herstellen und aufrechterhalten.

2.  Der fortschreitende Prozess einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie verlangt darüber hinaus auch von den Bezugspersonen Reflexion und eigene Entwicklung, denn der von ihnen formulierte Behandlungsauftrag stimmt oft mit dem – ggf. implizit ausgedrückten – Behandlungsauftrag des Kindes nicht überein. Der Auftrag der Bezugspersonen ist vielleicht zunächst eher auf die Symptomreduktion und das individuelle Glück des Kindes gerichtet, während das Kind (unbewusst) auch die Dynamik in der Familie und die Konflikte seiner Eltern als Quelle des Leidens zum Ausdruck bringt und als Behandlungsauftrag die Veränderung und Harmonisierung der Beziehungen in der Familie im Sinn hat.

Um die Aufgaben, die sich in der begleitenden Psychotherapie der Bezugspersonen ergeben, bewältigen zu können, wird sich die Psychotherapeutin oder der Psychotherapeut an bestimmten Konzepten und Methoden, aber auch eigenen Motivationen und Wertvorstellungen orientieren und die klinische Vorgehensweise dementsprechend strukturieren.

In diesem Buch sollen die Bausteine, die für ein Gelingen der Arbeit mit den Bezugspersonen bzw. mit Bezugssystemen unabdingbar sind, dargestellt werden. Die allgemeine Zielvorstellung der Elternarbeit hat sich m. E. seit den Anfängen ihrer Institutionalisierung in Deutschland bis heute nicht geändert. Nicht die Belehrung oder Beratung, sondern die »Umstimmung der Gefühlslage« (Dührssen, 1980, S. 181) der Eltern bzw. Bezugspersonen sollte angestrebt werden. Damit wird klargestellt, dass Bezugspersonenarbeit nicht beratende, sondern therapeutische Tätigkeit ist. Auch Bezugspersonen tragen die Erwartung einer hilfreichen Beziehung an den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten heran.

Das Buch beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die klassischen Konzepte der Elternarbeit sowie mit einem Überblick über die Konzepte des aktuellen fachlichen Diskurses (Images Kap. 1). Anschließend wird diskutiert, welche Motivationszusammenhänge Psychotherapeuten dazu bringen können, einen nicht unerheblichen Teil ihrer Arbeitskraft (1/4 bis 1/3) Eltern zur Verfügung zu stellen und welche therapeutische Haltung sich daraus den Eltern gegenüber ergeben kann (Images Kap. 2). Als weiterer psychodynamisch wirksamer Faktor wird die grundsätzliche Bedeutung, die ein Kind für die Bezugspersonen hat, untersucht sowie die Bedeutung der mit Elternschaft verbundenen Entwicklungs- und Konfliktpotentiale diskutiert (Images Kap. 3). Zu den Grundannahmen der begleitenden psychodynamischen Psychotherapie gehört, dass eine komplexe Übertragungssituation vorliegt. Die Eltern bzw. Bezugspersonen sind als reale Beziehungspartner des Patienten und des Psychotherapeuten anwesend. Gleichzeitig haben Sie eine große dynamische Bedeutung als Objektrepräsentanzen im Kind (mit ihrem frühen und aktuellen Selbst) und im Psychotherapeuten (mit ihren eigenen kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Anteilen) sowie mit ihren eigenen unbewussten und schuldgefühlsbehafteten Über-Ich- und Ideal-Ich-Vorstellungen von Elternsein (Images Kap. 4).

In den nachfolgenden Kapiteln wird auf der Basis dieser vorbereitenden Überlegungen und Grundannahmen der Prozess der begleitenden Psychotherapie der Bezugspersonen konzipiert als eigener Prozess, der stets ein die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie begleitender sein soll und doch auch immer seinen eigenen Gesetzen folgt. Es werden konzeptionelle Überlegungen und konkrete Handlungsoptionen zur diagnostischen und Auswertungsphase (Images Kap. 5), zur Vereinbarung des Rahmens (Images Kap. 6), zur Anfangsphase der Behandlung (Images Kap. 7), zur mittleren Phase (Images Kap. 8), zur Vorbereitung der Beendigung (Images Kap. 9) und Beendigung der therapeutischen Arbeit (Images Kap. 10) vorgestellt. Der Fall, dass Bezugspersonen über die begleitende Arbeit hinaus oder im Anschluss an die Kinder- und Jugendlichentherapie eine weitere Therapiemotivation entwickeln, wird in Kapitel 9 (Images Kap. 9) und Kapitel 10 (Images Kap.10) diskutiert.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die begleitende Psychotherapie der Bezugspersonen eine spezielle Form der Therapie ist, die in der Regel niederfrequent und mit einer Zahl von 3-6 Sitzungen als Kurzzeittherapie bis hin zu 45 Sitzungen als Langzeittherapie, bei einem Regelverhältnis von 1 : 4, stattfindet (Stand 4/2017). Im begründeten Ausnahmefall können es bei einem veränderten Verhältnis von Bezugspersonen- zu Patientensitzungen noch etliche Sitzungen mehr sein (Images Kap. 6). Begleitende Psychotherapie der Bezugspersonen ist weder Beratung noch Einzel- oder Paartherapie, sondern sie hat unter Beachtung der strukturellen Fähigkeiten der Bezugspersonen die Mentalisierung und Bearbeitung der Vorstellungen von Elternschaft und der Beziehung zum Kind unter Nutzung des Übertragungs-Gegenübertragungsprozesses zum Inhalt (Images Kap. 11). Ich werde nachfolgend der Einfachheit halber statt »begleitende Psychotherapie der Bezugspersonen« oft abgekürzt von »Elternarbeit« sprechen. Mit Eltern sind dann die Bezugspersonen gemeint, die für den Patienten Elternfunktion haben, also neben den leiblichen Eltern z. B. Pflege-, Adoptiv-, Stief-, Zieh- und Großeltern, oder diejenigen, die sorgende Aufgaben übertragen bekommen haben, z. B. Betreuer, Erzieher und Vormünder.

 

Dank

 

 

 

Dieses Buch habe ich als Psychotherapeutin, Supervisorin, Dozentin und immer mehr auch als Elternteil, als Mutter und Großmutter geschrieben. Mir wurde aus diesem Anlass mal wieder bewusst, wie sehr ich meiner Familie für ihre Unterstützung und ihr Wohlwollen mir gegenüber von Herzen danke.

Meine Erfahrungen, die in dieses Buch eingeflossen sind, verdanke ich meinen Patienten und deren Bezugspersonen, die mich vieles gelehrt und mich bereichert haben. Danke!

Ich danke den Herausgebern dieser Buchreihe, Frau Lutz, Herrn Hopf und Herrn Burchartz, herzlich dafür, dass sie mir dieses wertvolle Thema zugetraut und anvertraut haben und mir die tiefergehende Beschäftigung mit dem Thema der begleitenden Psychotherapie der Bezugspersonen ermöglicht haben.

Besonders herzlich danke ich Arne Burchartz für seine freundliche und konstruktive Durchsicht des Manuskripts. Dem Kohlhammer-Verlag, insbesondere Frau Filbrandt und Frau Grupp, gilt mein Dank für die hilfreichen Rückmeldungen der anstehenden nächsten Schritte und Aufgaben und die Ermöglichung dieses Projekts.

 

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Dank
  3. 1 Therapeutische Arbeit mit Bezugspersonen – Einführung und historischer Überblick
  4. 1.1 Die Bedeutung der Arbeit mit Bezugspersonen in den Anfängen der Kinderanalyse
  5. 1.1.1 Einbeziehung der Eltern als Co-Therapeuten
  6. 1.1.2 Werbung um Geduld, Duldsamkeit und Informationen
  7. 1.1.3 Vorbeugung, Aufklärung, Beeinflussung und Simultananalyse
  8. 1.1.4 Werben für Zurückhaltung
  9. 1.1.5 Anleitung, Einbeziehung und Wertschätzung der Eltern
  10. 1.2 Die Bedeutung der Arbeit mit den Eltern in aktuellen Konzepten der Kindertherapie
  11. 1.2.1 Ich-psychologisch orientierte Arbeit an der Elternpathologie
  12. 1.2.2 Wiedergewinnung oder Stärkung der Elternfunktion
  13. 1.2.3 Schaffung eines günstigen therapeutischen Klimas
  14. 1.2.4 Angebot einer hilfreichen Beziehung und der Arbeit an unbewussten pathogenen Überzeugungen
  15. 1.2.5 Beachtung der Übertragungsangebote der Eltern
  16. 1.2.6 Verstehen typischer Muster durch szenisches Verstehen
  17. 1.2.7 Berücksichtigung der Typenlehre nach C.G. Jung
  18. 1.2.8 Hilfe zur Entwicklung von triadischer Kompetenz
  19. 1.2.9 Gewinnung der Eltern als Bündnispartner mit dem Ziel von Weiterentwicklung derselben
  20. 1.2.10 Förderung der Mentalisierungskompetenz der Eltern
  21. 2 Die Motivation des Therapeuten für die therapeutische Arbeit mit Bezugspersonen
  22. 2.1 Widerstände gegen die Arbeit mit Bezugspersonen
  23. 2.1.1 Sozial-historische Ursachen
  24. 2.1.2 Theoretische Ursachen
  25. 2.1.3 Berufspolitische Ursachen
  26. 2.1.4 Psychodynamische Ursachen
  27. 2.1.5 Wie kann sich angesichts dieser Widerstände, Gegenübertragungen und Übertragungen die Motivation für eine tiefgehende und intensive Elternarbeit zu einer entsprechenden Praxis entwickeln?
  28. 2.2 Von der Motivation zur Intention für Elternarbeit
  29. 2.2.1 Psychodynamische Voraussetzungen
  30. 2.2.2 Entwicklung der eigenen triadischen Kompetenz
  31. 2.2.3 Entwicklung der eigenen Mentalisierungsfähigkeit
  32. Was versteht man unter Mentalisierungsfähigkeit?
  33. Wie entwickelt sich die Fähigkeit zu Mentalisieren?
  34. Frühe Affektspiegelung (bis ca. 9. Lebensmonat)
  35. Entwicklungsschritte der weiteren Mentalisierungsfähigkeit
  36. Entwicklung bis zur Adoleszenz
  37. 2.2.4 Erweiterung des Ausbildungscurriculums
  38. 3 Die Bedeutung des Kindes für die Bezugspersonen
  39. 3.1 Unbewusste Wünsche
  40. 3.2 Unbewusste Ängste
  41. 3.3 Unvorhersehbare Risiken
  42. 3.4 Traumatisierungen durch Elternschaft
  43. 3.5 Warum kommen Eltern so spät in die Sprechstunde des Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten?
  44. 3.6 Warum kommen die Eltern mit dem Kind, warum gehen sie nicht selbst in Therapie?
  45. 3.7 Chancen für Kind und Eltern
  46. 4 Konzeptionelle Grundlagen der begleitenden Psychotherapie
  47. 4.1 Grundlagen des therapeutischen Selbstverständnisses
  48. 4.1.1 Elternschaft als normale Entwicklungsphase
  49. 4.1.2 Die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion
  50. 4.1.3 Das therapeutische Bündnis mit den Eltern
  51. 4.1.4 Behandlungsphasen
  52. 4.1.5 Die Aufgaben des Bündnisses
  53. 4.1.6 Die Zielsetzung
  54. 4.1.7 Die Interventionen
  55. 4.2 Spezielle Grundlagen der therapeutischen Interventionstechnik
  56. 4.2.1 Die Förderung von Mentalisierung
  57. 4.2.2 Die Arbeit an der unbewussten pathogenen Überzeugung
  58. 4.2.3 Die Kontextanalyse
  59. 5 Die Erkundungsphase
  60. 5.1 Erste Kontaktaufnahme
  61. 5.2 Erstes Gespräch mit den Eltern (ggf. im Beisein des Kindes oder der Kinder)
  62. 5.3 Zweites und weitere Erkundungsgespräche
  63. 5.4 Entwicklungs- und Umstellungsbereitschaft sowie Bündnisaufgabe
  64. 5.5 Behandlungsempfehlung
  65. 6 Die Phase der Vereinbarung des Rahmens
  66. 6.1 Widerstände, Ängste und daraus resultierende Bündnisaufgaben
  67. 6.2 Die Vereinbarung von Rahmen und Setting
  68. 6.3 Die Nutzung der Macht der Umstände in der Elternarbeit
  69. 7 Die Anfangsphase der Psychotherapie
  70. 7.1 Zentrale Bündnisaufgabe
  71. 7.2 Therapeutische Interventionen
  72. 7.3 Besonderheiten der Jugendlichen-Psychotherapie bei Beginn der Therapie
  73. 8 Die mittlere Therapiephase
  74. 8.1 Bündnisaufgaben und Ängste
  75. 8.1.1 Die unbewusste pathogene Überzeugung
  76. 8.1.2 Die Ängste
  77. 8.1.3 Destruktive Machtkämpfe in Familien
  78. 8.2 Arbeitsaufgaben des Therapeuten
  79. 9 Die Vorbereitung der Beendigung
  80. 9.1 Bündnisaufgabe
  81. 9.2 Kontextanalytisches Beispiel
  82. 10 Die Beendigungsphase und Vorbereitung des »Danach«
  83. 10.1 Bündnisaufgabe
  84. 10.2 Vorbereitung des »Danach«
  85. 11 Perspektive und Ausblick
  86. Literatur
  87. Stichwortverzeichnis
  88. Personenverzeichnis

 

1          Therapeutische Arbeit mit Bezugspersonen – Einführung und historischer Überblick

 

 

 

Seit den Anfängen der Kindertherapie in den 1920-er Jahren hat es Überlegungen zur Elternarbeit gegeben. Diese bezogen sich damals gesellschaftsbedingt fast ausschließlich auf die Arbeit mit den (leiblichen) Müttern. Nach einer Darstellung der historischen Vorläufer der heutigen Konzepte werden diese auf ihre Aktualität hin untersucht. Gleichzeitig werden Gründe dafür benannt, warum es trotz der großen Bedeutung des Themas nur wenig Literatur dazu gibt und diesem Thema ein m. E. zu geringer Teil der psychotherapeutischen Ausbildung gewidmet ist. Dieses Buch soll dazu beitragen, die Lücke zu schließen.

Die begleitende psychotherapeutische Arbeit mit den Bezugspersonen umfasst immerhin 25-35% der therapeutischen Arbeit eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Hinzu kommt, dass die Organisation der Therapie sowie die Auseinandersetzung mit den Settings- bzw. Rahmenbedingungen – je jünger der Patient ist, umso mehr – zwischen Bezugspersonen und Therapeut ausgehandelt und vereinbart wird. Der Anteil an vorzeitig beendeten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapien, die von Seiten der Bezugspersonen abgebrochen werden, ist hoch; sei es, dass die Therapien gar nicht in Gang kommen, unerwartet abgebrochen werden oder ein vorzeitiges Ende finden. Insofern kommt diesem großen Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Stellenwert einer »conditio sine qua non« (notwendige Bedingung) zu – bei kurioserweise immer noch vorhandener Verleugnung der großen Bedeutung dieses Bereiches in Curricula und Lehrbüchern.

Vermutlich hat diese geringe Beachtung auch historische Gründe, denn der Stellenwert der begleitenden Arbeit mit den Eltern wurde in den Anfängen der Kinderanalyse als noch geringer erachtet. Erst recht wurde eine mögliche psychotherapeutische Bedeutung der Elternarbeit für die Eltern kaum reflektiert. Es gab folglich auch noch kein Bewusstsein für die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der therapeutischen Einbeziehung von Eltern im Rahmen von begleitender Elternarbeit.

 

1.1       Die Bedeutung der Arbeit mit Bezugspersonen in den Anfängen der Kinderanalyse

 

Es ist bekannt, dass Sigmund Freud nicht mit Kindern gearbeitet hat. Patienten im Jugendlichenalter hat er im Rahmen der normalen analytischen Methode im dyadischen Setting behandelt. Eine Ausnahme bildet Freuds Darstellung der Behandlung eines fünfjährigen Kindes, die »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (Freud, 1909). Der Patient ist allgemein bekannt geworden als der kleine Hans. Allerdings hat Freud im Fall des kleinen Hans‘ nur »ein einziges Mal in einem Gespräche mit dem Knaben persönlich eingegriffen« (Freud, 1909, S. 243) und ansonsten den Vater angeleitet. Er hat das Kind wohl mehrmals gesehen – es gibt ein Foto, das ihn auf Freuds Schoss sitzend zeigt –, beschränkte sich aber darauf, mit dem Vater zu diskutieren. Der Vater war von 1904-1909 Mitglied der Mittwochsgesellschaft, also ein Vertrauter Freuds. Er protokollierte seine Beobachtungen und Interventionen und besprach diese dann mit Freud. Über Gespräche mit der Mutter des Jungen gibt es keine Informationen. Freud schreibt, dass für die Eltern von Beginn der Erkrankung feststand, dass man »den Zugang zu seinen verdrängten Wünschen auf psychoanalytischem Wege suchen müsse« (Freud 1909, S. 351), damit sie selbst die Familiensituation besser verstehen und ihrem Kind helfen können. Ein solches Vorgehen könnte sicherlich noch heute, z. B. bei einer kindlichen Neurose in statu nascendi, in Erwägung gezogen werden. Darüber hinaus ging es Freud bei dieser Behandlung vermutlich weniger um die Darstellung einer therapeutischen Behandlung, sondern vielmehr darum, seine Hypothesen über die infantile Sexualität an den Fantasien und Äußerungen von Hans zu belegen. Er schreibt in der Einleitung zur Falldarstellung:

»Der besondere Wert dieser Beobachtung ruht aber in Folgendem: Der Arzt, der einen erwachsenen Nervösen psychoanalytisch behandelt, gelangt durch seine Arbeit des schichtweisen Aufdeckens psychischer Bildungen schließlich zu gewissen Annahmen über die infantile Sexualität, in deren Komponenten er die Triebkräfte aller neurotischen Symptome des späteren Lebens gefunden zu haben glaubt« (Freud, 1909, S. 243).

Dennoch kommt diesem Fall eine große Bedeutung zu, bleibt »Der kleine Hans« doch die erste Darstellung einer kinderanalytischen Behandlung. Schon in dieser Behandlung wurden neben der sprachlichen Verständigung die Ausdrucksformen von Spielhandlungen, Zeichnungen und Träumen genutzt, um die Fantasien des Jungen zu verstehen und zu deuten. Bahnbrechend neu daran war, kindliche Gedanken und Fantasien überhaupt als bedeutungsvoll zu erachten und die Ermutigung Freuds an seine »Schüler und Freunde, Beobachtungen über das zumeist geschickt übersehene oder absichtlich verleugnete Sexualleben der Kinder« zu sammeln (Freud, 1909, S. 244).

1.1.1     Einbeziehung der Eltern als Co-Therapeuten

In dieser Fallgeschichte wird auch eine mögliche Form der Elternarbeit dargestellt, nämlich die Anleitung der Eltern darin, dem Kind bei der Lösung seiner Probleme zu helfen. Damit stand das Kind im Zentrum der Behandlung. Die Vater-Kind-Interaktion, geschweige denn die Mutter-Kind-Interaktion, war nicht Gegenstand des Gespräches von Sigmund Freud und dem Vater. In moderner Sprache könnte man sagen, der Vater nahm die Rolle eines Co-Therapeuten ein. Allerdings kann man entdecken, dass Freud eine der Begrenzungen des Einsatzes von Eltern als »Co-Therapeuten«, nämlich deren Verhaftung in einer übertriebenen Sorge um das Kind, erkannt hat, wenn er schreibt:

»Hätte ich allein die Verfügung darüber gehabt, so hätte ich’s gewagt, dem Kinde auch noch die eine Aufklärung zu geben, welche ihm von seinen Eltern vorenthalten wurde. Ich hätte seine triebhaften Ahnungen bestätigt, indem ich ihm von der Existenz der Vagina und des Koitus erzählt hätte, so den ungelösten Rest um ein weiteres Stück verkleinert und seinem Fragedrang ein Ende gemacht. Ich bin überzeugt, er hätte weder die Liebe zur Mutter noch sein kindliches Wesen infolge dieser Aufklärungen verloren und hätte eingesehen, dass seine Beschäftigung mit diesen wichtigen, ja so imposanten Dingen nun ruhen muß, bis sich sein Wunsch, groß zu werden, erfüllt hat. Aber das pädagogische Experiment wurde nicht soweit geführt« (Freud, 1909, S. 375 f.).

Im Fall der 18-jährigen Dora hat Sigmund Freud den Behandlungsauftrag vom Vater entgegengenommen, den er zuvor behandelt hatte. Er hat nicht mit der Mutter gesprochen. Das Mädchen selbst war schon zwei Jahre zuvor als 16-jährige und dann wieder als 18-jährige nicht zur Behandlung motiviert: »Jeder Vorschlag, einen neuen Arzt zu konsultieren, erregte ihren Widerstand, und auch zu mir trieb sie erst das Machtwort des Vaters.« (Freud, 1905, S 177). Freud begann diese Behandlung also auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters, ohne Einbeziehung der Mutter und gegen den Widerstand der Jugendlichen; ein aus heutiger Sicht fragwürdiges Vorgehen für eine Jugendlichenpsychotherapie.

1.1.2     Werbung um Geduld, Duldsamkeit und Informationen

Erst 10 Jahre später befasste sich Hermine Hug-Hellmuth systematisch mit der Analyse von Kindern und widmete sich auch als erste erklärtermaßen dem Thema der Elternarbeit (1920). In ihrer Arbeit betonte sie die erzieherischen und heilpädagogischen Aufgaben des Kinderanalytikers. Auch sie arbeitete nicht konfliktbezogen mit den Eltern, versuchte sie eher zurückzudrängen:

Eine »Schwierigkeit erwächst aus dem übereifrigen Bestreben der Eltern, die Analyse durch ihre Mithilfe zu fördern und zu beschleunigen. Zumindest die Mütter wollen fast insgesamt aktive Therapie betreiben. Es ist unendlich schwer, sie zu überzeugen, dass ihre Aufgabe auf einem anderen Felde liegt, dass sie die richtigen Helfer sind, wenn sie dem Kinde während der Behandlung das größtmögliche Ausmaß von Geduld und Duldsamkeit zuteil werden lassen« (Hug-Hellmuth, 1920, S. 24 f.).

Hug-Hellmuth fragte sich nicht, ob es möglicherweise ein berechtigtes Anliegen sei, »aktive Therapie« betreiben zu wollen. Sie reduzierte die Eltern auf den Status von Informanten, indem sie schrieb, dass es oft hilfreich sei, etwas von den Eltern über die schulische oder häusliche Situation, aber auch über die frühe Genese des Kindes zu erfahren.

»Trotz der Schwierigkeiten, die das Verhältnis zwischen Eltern und Analytiker sich nicht so freundlich gestalten lassen, als es im Interesse des Kindes gelegen wäre, ist auf den Kontakt nicht zu verzichten. Er ist eine berechtigte Forderung des Elternhauses und für die Behandlung zweckmäßig. Denn das Kind übergeht, ohne bewußt Kritik zu üben wie der Erwachsene, rein instinktiv, was keine Gefühlsnote trägt oder was von ihm vollständig erledigt wurde. So erfahren wir in der Analyse oft nichts von den Verdrießlichkeiten daheim oder in der Schule« (Hug-Hellmuth, 1920, S. 25 f).

Sie schlägt vor, das Bedürfnis der Eltern nach aktiver Mithilfe zu befriedigen, indem man sie um die schriftliche Beantwortung von Fragen bittet – eine heute noch gängige Form der Befragung mittels Fragebogen und Anamnesegespräch. Interessant ist, und deshalb sei es am Rande erwähnt, dass sie schon in diesem vielbeachteten Vortrag bzw. Aufsatz erklärte, dass sie »die Psychoanalyse des eigenen Kindes […] für undurchführbar halte« (Hug-Hellmuth, 1920, S. 26).

1.1.3     Vorbeugung, Aufklärung, Beeinflussung und Simultananalyse

Wenige Jahre nach diesen ersten kinderanalytischen Veröffentlichungen begann Anna Freud, sich theoretisch und praktisch intensiver mit Kinderanalyse zu beschäftigen. Anna Freud hatte als Lehrerin gearbeitet, eine Lehranalyse bei ihrem Vater gemacht und nahm ab 1918 an Psychoanalytischen Kongressen und Sitzungen teil. Sie soll auch 1920 anwesend gewesen sein, als Hermine Hug-Hellmuth ihren Vortrag zur Kinderanalyse hielt. 1923 eröffnete sie ihre eigene Praxis, in der sie sowohl Erwachsene als auch Kinder behandelte. Anna Freuds frühe Schriften zur Kinderanalyse, z. B. die grundlegende »Einführung in die Technik der Kinderanalyse« (1927), entstanden.

Anna Freud wurde ab 1927 auch bekannt durch ihre psychoanalytisch orientierte Arbeit in Schulprojekten. Erst nach der Emigration nach London und mit Beginn des Krieges entstand das wohl bekannteste Projekt aus dem Kontext der Betreuung von Kriegswaisen in den Hampstead Nurseries, die später als Hampstead Clinic weitergeführt wurden. Ab 1947 gab es dort auch Ausbildungskurse in Kinderpsychoanalyse (Sandler et al. 1980, S. 11). Eine ihrer Grundannahmen, die auch die allgemeine Lehrmeinung in Deutschland bis zu Formulierungen im Kommentar Richtlinien (2015) mitbestimmt hat, war, dass Kinderanalytiker keine der Erwachsenenanalyse identische Übertragungsbeziehung zu einem Kind aufbauen können. Sie bemerkte 1980 (Anna Freud 1987g, S. 8), dass bei Kindern »bei einer in korrekten Grenzen durchgeführten Therapie eine Vielzahl von Übertragungserscheinungen auftreten«, dass es aber nur »äußerst selten« vorkomme, dass sich eine vollausgebildete Übertragungsneurose bilde.

»Für den gesunden Anteil ihrer Person ist der Analytiker eine interessante neue Figur, die in ihr Leben eintritt und zu neuartigen Beziehungen anregt; für die kranke Seite ist er ein Übertragungsobjekt, an dem sich alte Beziehungen wiederholen lassen. Für die Technik bedeutet diese doppelte Einstellung des Kindes eine offenbare Schwierigkeit. Wo der Analytiker die erstere Rolle akzeptiert und sich demgemäß benimmt, stört er die Übertragung; wo er das Umgekehrte tut, enttäuscht er den Patienten in Erwartungen, die, vom kindlichen Standpunkt aus gesehen, berechtigt sind« (Anna Freud 1987e, S. 2159).

Anna Freud fand es immer nachteilig, dass die kinderanalytische Arbeit durch die reale Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern und die Einflussnahme des Umfeldes erschwert wird.

»Daß der Hilfe der Eltern bei der Therapie selbst eine wichtige Rolle zufällt, ist eine unumstößliche Tatsache. Hier hat der Kinderanalytiker guten Grund, die Kollegen in der Erwachsenenanalyse um die Ausschließlichkeit der Beziehung zu ihren Patienten zu beneiden« (Anna Freud, 1987e, S. 2169).

Aber sie scheute die Herausforderungen nicht, denn sie hatte z. B. erkannt, welche Auswirkungen auf das Familiensystem von den therapeutischen Veränderungen eines Kindes ausgehen können:

»Neben den üblichen Stimmungsschwankungen während der Behandlung gibt es tiefergehende Veränderungen in den Einstellungen und Beziehungsweisen, die in das Familienleben eingepaßt werden müssen. Wenn man der Familie nicht hilft, Mittel und Wege dafür zu finden, können gute analytische Resultate sehr oft zunichte gemacht werden« (Sandler et al., 1982, S. 261).

Sie wies damit auf die Notwendigkeit einer parallelen Entwicklung von Eltern und Kind im Hinblick auf Problembewältigung und Integration von Veränderung hin. Dennoch ist Anna Freud eher der analytisch-erzieherischen Richtung, die auch Hug-Hellmuth eingeschlagen hatte, zuzuordnen. Ihre Form der Elternarbeit war pädagogisch geprägt. Anders als Melanie Klein hat sich Anna Freud immer um eine inhaltliche Einbeziehung der Eltern bemüht, erklärtermaßen aus pädagogischen Gründen. So verlangte sie z. B. von den Eltern eine »Anpassung an die Forderungen des Analytikers« (Anna Freud 1936, S. 67 f.). Die Eltern sollten das Kind in Phasen von negativer Übertragung mit ihren Einflussmöglichkeiten in der Analyse halten.

»Beim Kinde aber haben wir es mit lebendigen, durch die Erinnerung nicht verklärten, in der Außenwelt wirklich vorhandenen Personen (den Eltern, Anm. MLA) zu tun. Wenn wir der Arbeit von innen her hier eine äußere an die Seite stellen und nicht nur durch unseren analytischen Einfluß die schon vorhandenen Identifizierungen, sondern nebenbei noch die menschliche Bemühung und Beeinflussung, die wirklichen Objekte zu verändern versuchen, so ist die Wirkung eine durchschlagende und überraschende« (Anna Freud, 1987b, S. 74).

Sie erklärte, dass eine Behandlung, die von den Eltern nicht ausreichend gewollt sei, früher oder später scheitern müsse aufgrund der Abhängigkeit von den primären Liebesobjekten und der Bindung an sie. Sie empfahl konkret verschiedene Formen von Elternarbeit. In ihrem Aufsatz »Die kinderpsychiatrische Beratungsstelle« beschreibt sie verschiedene Formen von Elternarbeit: Die Therapie der Eltern in Simultananalyse in der Hampstead Clinic; die Unterstützung der Eltern durch Hilfe und Beratung; die Anleitung von Müttern geschädigter Kinder; die Behandlung des jungen Kindes durch die Mutter sowie die Etablierung als Autorität in der Öffentlichkeit, z. B. durch Vorträge (vgl. Anna Freud 1987c, S. 1887 ff.).

Ihre Begründungen und Maßnahmen erscheinen im Laufe der Jahre zunehmend analytisch. Sie begründete z. B. die Bedeutung der Elternarbeit u. a. mit der Verflechtung von kindlicher und mütterlicher bzw. elterlicher Pathologie, wie die beiden folgenden Zitate zeigen:

»Die meisten Beratungsstellen kennen heute Fälle, bei denen die Pathologien von Mutter und Kind untrennbar miteinander verflochten sind. […] In extremen Fällen ergänzen sich die Störungen von Mutter und Kind wie die Steine eines Puzzlespiels oder sind ineinander verwoben wie bei der erwachsenen folie á deux« (Anna Freud, 1987c, S. 1888).

An anderer Stelle (1987d) schreibt sie, wenn das neurotische Symptom, der Konflikt oder die Regression eines Kindes nicht nur in der eigenen Persönlichkeit verankert sei, sondern darüber hinaus durch starke affektive Kräfte von Seiten eines Elternteils unterstützt werde, könne der therapeutische Effekt der Analyse verlangsamt oder in extremen Fällen unmöglich gemacht werden:

»Unser Material enthält Beispiele, wo dem Kind gegebene Deutungen in genau demselben Maße zur Wirkung kamen oder regressive Libidopositionen verlassen wurden, indem die Mutter entweder selbst eine fixierte pathologische Position überwunden oder, in anderen Fällen, ihren pathologischen Einfluss auf das Kind aufgegeben hatte« (Anna Freud, 1987d, S. 2062).

Sehr bedeutsam erscheint mir auch Anna Freuds Feststellung, dass die Arbeit mit den Eltern auch in Zeiten, wenn es nicht um neurotische Konfliktbearbeitung, sondern um Reifeschritte geht, von großer Wichtigkeit sein kann. Insgesamt gesehen war ihre Arbeitsweise geprägt durch ein sehr wohlwollendes und differenziertes Eingehen auf die Eltern. Es ist zu vermuten, dass Anna Freud »wahrscheinlich aus politischen Gründen (…) nur wenig über dieses Thema geschrieben« hat (von Klitzing 2005, S. 114).

Die an der Hampstead Clinic unter ihrer Leitung begonnene Tradition der Beforschung von kinderanalytischen Daten (Sandler et al., 1980) wird bis heute fortgeführt. Seit 1984 läuft die Einrichtung unter dem Namen Anna Freud Centre – aktuell unter der Leitung von Peter Fonagy. Bezüglich Eltern- und Familienarbeit wurden schon an der Hampstead Clinic verschiedene Modelle erprobt und auch heute ist das Anna Freud Centre in der Entwicklung von Theorien, Methoden und Modellen zur Elternarbeit führend (Images Kap. 1.2.9).

Noch einmal zurück zur Historie: Anna Freud wurde in London zwar sofort zur Lehranalytikerin der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft ernannt, wurde aber von dem dortigen durch Melanie Klein begründeten Zweig eher feindselig betrachtet:

»Was die Britische Psychoanalytische Gesellschaft betrifft, so wurde unser ›kontinentaler‹ Zweig der Kinderanalyse durch ihre Mitglieder nicht sehr bereitwillig aufgenommen. In der Zwischenzeit hatte Melanie Klein in Kontrast zu meinen Wiener Bemühungen einen anderen Typ der Kinderanalyse begründet und ausgebaut, der zum großen Teil auf einer neuen, unabhängigen Theorie der frühen Kinderentwicklung beruhte« (Anna Freud, 1987a, S. 5).

Die Kontroversen waren bekanntermaßen theoretischer und technischer Natur, und es ist bis heute bemerkenswert, dass die Rivalität dieser beiden großen Begründerinnen der Kinderanalyse nicht nur die Kinderanalyse sondern die gesamte Psychoanalytische Bewegung in Großbritannien zu spalten drohte. Die Differenzen wurden nach dem Tod Sigmunds Freuds im Jahre 1938 in einer Reihe von Vorträgen und Diskussionen zwischen den Anhängern der verschiedenen Richtungen innerhalb der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft ausgetragen und erreichten ihren Höhepunkt in den so genannten »Controversial Discussions« in den Jahren 1943 und 1944. Eine Spaltung der britischen psychoanalytischen Gesellschaft konnte mit Mühe verhindert werden, allerdings kam es in der Folge 1946 zur offiziellen Einführung von drei Ausbildungsgängen, einem annafreudianischen (B-group) und einem kleinianischen (A-group) und einem von der kleinianischen Richtung abgespaltenen unabhängigen (middle group).

1.1.4     Werben für Zurückhaltung

Melanie Klein begann ihre psychoanalytischen Behandlungen mit kleinen Kindern ebenfalls in den frühen 1920er Jahren und stellte diese 1932 in dem Buch »The Psycho-Analysis of Children« dar (Segal 1983, S. 15). Sie konzeptualisierte ihre Arbeit mit Kindern ganz anders als Hug-Hellmuth und Anna Freud. Sie war die erste Analytikerin, die eine ausschließlich psychoanalytische, jedes pädagogische Element ausschließende Arbeit mit den Kindern zu realisieren versuchte. Sie vertrat von Anfang an die Hypothese, dass Kinder eine volle Übertragungsneurose entwickeln können und stellte 1932 fest: