Für Jeanette P. Myers und all die anderen Bibliothekare, die uns helfen, das zu finden, wonach wir suchen.

Inhalt

Widmung

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Danke …

Impressum

Leseprobe

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Warum wurde Kyle Keeley zu einer Woche Hausarrest verdonnert? Darum:

Zunächst einmal nahm er eine Abkürzung durch die Lieblingsrosen seiner Mutter.

Oh ja, die Dornen pieksten, aber nachdem er sich hindurchgezwängt und dann noch ein paar Petunien niedergetrampelt hatte, hatte er vor seinem ältesten Bruder Mike fünf Sekunden Vorsprung.

Kyle und sein Bruder wussten beide genau, wo sie finden würden, was sie brauchten, um das Spiel zu gewinnen: im Haus!

Kyle war bereits im Besitz des Kiefernzapfens, mit dem er seine Runde draußen im Freien beendet hatte. Und er war ziemlich sicher, dass Mike auch schon eine «gelbe Blume» gefunden hatte. Immerhin war jetzt Juni. Überall blühte der Löwenzahn.

«Gib auf, Kyle!», schrie Mike, während die Brüder die Einfahrt hochhetzten. «Du hast keine Chance!»

Mike sauste an Kyle vorbei und steuerte auf die Haustür zu. Kyles Vorsprung war dahin.

Klar doch, was sonst?

Der siebzehnjährige Mike Keeley war ein Sport-Ass, ein richtiger Highschool-Superstar. Football, Basketball, Baseball – wenn ein Ball im Spiel war, konnte niemand Mike Keeley das Wasser reichen.

Der zwölfjährige Kyle war überhaupt kein Superstar.

Curtis, Kyles anderer Bruder und fünfzehn Jahre alt, hing immer noch im Garten des Nachbarn fest und mühte sich mit dem Hund ab. Curtis war der klügste der Keeley-Brüder. Aber für seine Runde im Freien hatte er die unglückselige «Klau dem Hund des Nachbarn sein Lieblingsspielzeug»-Karte gezogen. Und jede Hundekarte bedeutete fast automatisch, dass man eine Runde verlor.

Wenn sich jetzt jemand fragt, warum die Keeleys an einem Sonntagnachmittag wie durchgedreht in der Nachbarschaft herumrannten und irgendwelches sinnlose Zeug aufsammelten – nun daran war ihre Mutter schuld.

Denn sie war es gewesen, die gesagt hatte: «Wenn ihr euch langweilt, dann holt euch doch ein Brettspiel!»

Also war Kyle in den Keller gegangen und hatte ihr absolutes Lieblingsspiel nach oben gebracht: Mr. Banancellos Haus-und-Garten-Schnitzeljagd. Es war ein riesiger Erfolg für Mr. Banancello, den berühmten Spieleerfinder, gewesen. Früher hatten es Kyle und seine Brüder so oft gespielt, dass Mrs. Keeley schließlich einen Brief an Mr. Banancellos Firma schreiben und um einen neuen Kartensatz bitten musste. Auf den neuen Karten standen alle möglichen abgefahrenen Sachen, die man finden musste, zum Beispiel «eine ausgeleierte Männerunterhose», «einen schmutzigen Teller» oder «eine angefaulte Bananenschale».

Nach dem Spiel musste der Verlierer alle Gegenstände wieder genau da hinlegen, wo sie gefunden worden waren. Das war die offizielle Regel, die auf der Innenseite der Verpackung stand, sodass jeder sein letztes Hemd dafür gegeben hätte, nicht zu verlieren.

Während Curtis nebenan festsaß und versuchte, Twinky, einem ausgewachsenen Dobermann, sein liebstes Spielzeug abzuschwatzen, stöberten Kyle und Mike nach denselben zwei Gegenständen. In der letzten Runde bekamen nämlich alle Spieler dieselbe Rätselkarte.

Die Karte, die an diesem Tag ausgespielt worden war, hatte Kyle noch nie zu Gesicht bekommen. Aber sie war kinderleicht.

Finde zwei Münzen aus dem Jahr 1982, die zusammen dreißig Cent ergeben. Eine davon darf kein Nickel sein.

Babykram. Man musste bloß einen Vierteldollar und einen Nickel zusammenlegen, denn es hieß ja, dass nur eine der Münzen kein Nickel sein durfte.

Um zu gewinnen, musste Kyle also einen Vierteldollar und einen Nickel aus dem Jahr 1982 finden.

Wie gesagt: Babykram.

Ihr Dad hatte in seiner Werkstatt im Keller einen alten Apfelweinkrug mit Wechselgeld.

Und das war das Ziel des Wettrennens zwischen Kyle und Mike.

Miles schoss durch die Haustür.

Kyle grinste.

Er liebte es, gegen seine älteren Brüder anzutreten. Für ihn als den Jüngsten war dies so ziemlich die einzige Chance, sie in einem fairen Wettkampf zu besiegen. Bei Brettspielen waren sie alle gleich. Man brauchte ein gutes Händchen beim Würfeln, ein bisschen Glück beim Austeilen der Karten und Köpfchen. Wenn die Sache gut lief und man sein Bestes gab, konnte jeder gewinnen.

Besonders heute, weil Mike seinen Vorteil verspielt hatte, indem er den gewöhnlichen Weg in den Keller gewählt hatte. Er war durch die Haustür gerannt, raste jetzt einmal quer durch das Haus bis zur anderen Seite, die Treppe hinunter und dann in die Werkstatt ihres Vaters.

Kyle dagegen entschied sich für eine Abkürzung.

Er sprang über ein paar gedrungene Büsche und öffnete mit einem Fußtritt das niedrige Kellerfenster. Er hörte es knacken, als sein Tennisschuh gegen die Fensterscheibe stieß, aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Erst musste er seinen großen Bruder besiegen.

Er krabbelte durch die Fensteröffnung, ließ sich zu Boden fallen und rannte zur Werkbank, wo der Apfelweinkrug stand. Er schüttete ihn aus und fing an, durch den Haufen Münzen zu kramen.

Bingo!

Kyle fand einen 1982er Nickel. Er stopfte ihn in seine Jeanstasche, wobei etliche Pennys, Nickel und sonstige Münzen scheppernd zu Boden fielen. Hektisch sortierte er die Vierteldollars aus. 2010. 2003. 1986.

«Komm schon, komm schon», murmelte er.

Die Tür zur Werkstatt flog auf.

«Was zum …?» Verdattert sah Mike, dass Kyle ihm zuvorgekommen war. Dann ließ er sich auf die Knie fallen und suchte in den Münzen, die zu Boden gekullert waren, aber in dem Moment schrie Kyle: «Ich hab’s!» und fischte einen Vierteldollar von 1982 aus dem Haufen.

«Und was ist mit dem Nickel?», wollte Mike wissen.

Kyle zog die Münze aus seiner Jeanstasche.

«Du bist durchs Fenster rein?», ertönte eine Stimme von draußen.

Es war Curtis. Er kniete im Blumenbeet.

«Ja», sagte Kyle.

«Das hatte ich auch vor. Die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie.»

«Ich kann nicht glauben, dass du gewonnen hast!», stöhnte Mike, der es nicht gewohnt war zu verlieren.

«Tja», sagte Kyle, stand auf und hob das Kinn, «glaub’s oder glaub’s nicht, Bruderherz. Auf jeden Fall müsst ihr beiden Nieten jetzt den ganzen Kram zurückbringen.»

«Oh nein, das hier bringe ich garantiert nicht zu Twinky zurück!», sagte Curtis und hielt ein schleimiges, geknotetes Seil hoch.

«Oh doch, das tust du», sagte Kyle. «Du hast verloren. Da nutzt es dir auch nichts, dass du durch das Fenster gehen wolltest …»

«Ähm, Kyle», murmelte Curtis. «Du hältst jetzt besser die Klappe …»

«Was? Wieso denn? Ach, komm schon, Curtis. Bist du so ein schlechter Verlierer? Bloß weil es mir gelungen ist, die Abkürzung zu nehmen und das Fenster aufzutreten und …»

«Du warst das, Kyle?»

Ein neues Gesicht tauchte vor dem Fenster auf.

Ihr Vater.

«Hi, hi, hi», kicherte Mike hinter Kyle.

«Du hast die Glasscheibe zerbrochen?» Ihr Vater klang verärgert. «Tja, dann rate doch mal, von wessen Taschengeld wir eine neue kaufen.»

Und so kam es, dass Kyle Keeley von seinem wöchentlichen Taschengeld für den Rest des Jahres fünfzig Cent abgezogen wurden.

Und er wurde zu einer Woche Hausarrest verdonnert.

Eine weltberühmte Bibliothekarin marschierte auf der anderen Seite der Stadt mit resoluten Schritten durch das riesige Gebäude, das in wenigen Tagen mit einer großen Gala eröffnet werden sollte.

Fünf Jahre lang hatte man an der neuen Bibliothek von Alexandriaville gebaut, unter strengster Geheimhaltung und mit allen nur vorstellbaren Sicherheitsvorkehrungen. Eine Gruppe von Handwerkern war mit der Renovierung der Außenfassade des einstmals großartigsten Bauwerks dieser kleinen Stadt im Bundesstaat Ohio beschäftigt – der Gold Leaf Bank. Andere Handwerker – Zimmerleute, Steinmetze, Elektriker und Klempner – arbeiteten im Inneren des Gebäudes.

Und alle sechs Wochen wurden sämtliche Handwerker gegen neue ausgetauscht.

Keiner der Handwerker wusste, was der andere tat. Oder tun würde.

Und als alle Handwerker fertig waren, gingen etliche streng geheime Spezialkräfte ans Werk (hoch bezahlte Arbeiter, die Stein und Bein schworen, niemals auch nur einen Fuß in die Nähe der Bibliothek von Alexandriaville gesetzt zu haben, ja noch nie im Leben überhaupt in Ohio gewesen zu sein) und gaben dem Ganzen den letzten Schliff.

Dr. Yanina Zinchenko, eben jene weltberühmte Bibliothekarin, hatte das Bauprojekt für ihren Arbeitgeber überwacht, einen sehr exzentrischen – einige würden sogar behaupten, verrückten – Milliardär. Nur sie kannte all die Wunder und Sensationen, die diese unglaubliche neue Bibliothek bereithielt (und verbarg).

Dr. Zinchenko war eine groß gewachsene Frau mit knallroten Haaren. Sie trug ein teures, maßgeschneidertes Kostüm, elegante High Heels, einen Bluetooth-Ohrstöpsel und eine Brille mit einem breiten roten Rahmen.

Ihre Absätze klackerten über den Marmorboden und ihre Finger tippten auf das Glas des hochmodernen Tablet-Computers. So marschierte Dr. Zinchenko an der roten Tür des Kontrollzentrums vorbei, unter einer bogenförmigen Türöffnung hindurch und hinein in den atemberaubend großen, kreisrunden Lesesaal unter der drei Stockwerke hohen Rotunde der Bibliothek.

Das Bankgebäude – das Gehäuse für die neue Bibliothek – stammte aus dem Jahr 1931. Mit hoch aufragenden korinthischen Säulen, einem Torbogen, reichlich Verzierungen und einer prunkvollen goldenen Kuppel sah es so aus, als gehöre es Tür an Tür mit den triumphalen Gedenkstätten in Washington D.C., nicht in eine läppisch kleine Straße in einer läppisch kleinen Stadt in Ohio.

Dr. Zinchenko blieb stehen und starrte hinauf zu dem erstaunlichsten visuellen Effekt, den die Bibliothek zu bieten hatte: die Wunderkuppel. Zehn keilförmige, hochauflösende Bildschirme – so gestochen scharf wie die auf dem Times Square – bedeckten die innere Wölbung der Kuppel wie Orangenspalten. Jeder Bildschirm konnte ein eigenes Bild zeigen oder das Fragment eines großen, zehnteiligen Bildes. Die Wunderkuppel war manchmal ein mit Sternbildern gespickter Nachthimmel, und wenn die Wolken schnell über sie hinwegzogen, dann hatten die Besucher unten auf dem Boden den Eindruck, dass sich das ganze Gebäude auf magische Weise von der Erde gelöst hätte und durch das Weltall flog. Oder auf den zehn Bildschirmen erschienen in regelmäßigem Wechsel aufregende und spannende Bilder aus den einzelnen Kategorien des in der Dewey-Dezimalklassifikation angeordneten Bibliothekskatalogs.

«Ich habe die letzten Nummern im Dewey-Modus für den vierten Abschnitt der Wunderkuppel», sagte Dr. Zinchenko in ihre Freisprechanlage. «364 Punkt 1092.» Sie betonte die Zahlen überdeutlich, damit der angesprochene Videokünstler genau wusste, welche Nummern von Zeit zu Zeit über den vierten Bildschirm gleiten sollten, inmitten einer kreiselnden Montage zum Thema Sozialwissenschaften, bestehend aus dem schwebenden Hammer eines Richters, einem kullernden Apfel und dem sanften Schneefall aus Icons, wie man sie aus Reiseprospekten kennt. «Die Zahlen sollen jedoch nicht vor Sonntag, elf Uhr vormittags, erscheinen. Haben Sie verstanden?»

«Ja, Dr. Zinchenko», erwiderte die blecherne Stimme in ihrem Ohr.

Als Nächstes betrachtete Dr. Zinchenko die holografischen Statuen in den mit schwarzem Seidenstoff ausgeschlagenen Nischen, welche aus dem massiven Stein zwischen den hohen Bogenfenstern gehauen waren, die das Fundament der Wunderkuppel bildeten.

«Warum stehen da immer noch Shakespeare und Dickens? Sie sind nicht für die Eröffnungsfeier vorgesehen.»

«Ich bitte um Entschuldigung», ließ sich der Abteilungsleiter für holografische Bilder vernehmen, der sich ebenfalls an der Konferenzschaltung beteiligte. «Ich werde mich gleich darum kümmern.»

«Danke.»

Die Bibliothekarin verließ die Rotunde und betrat die Kinderabteilung.

Es war dämmrig hier, nur ein paar Arbeitsleuchten waren eingeschaltet, aber Dr. Zinchenko wusste genau, wo jeder einzelne der winzigen Tische stand, und gelangte ohne sich die Schienbeine anzustoßen in die Erzähl-Ecke, um ein letztes Mal die Gänse zu überprüfen.

Die sechs animierten Gänseküken – flauschige Roboter mit Augen so rund und groß wie Tischtennisbälle (die ein ehemaliger Bildgestalter aus Disney World für die neue Bibliothek kreiert hatte) – standen auf einem winkelförmigen Bücherregal in der Ecke. Mutter Gans samt Haube und Nickelbrille thronte reglos in ihrer Mitte.

«Hier spricht Bibliothekar eins», sagte Dr. Zinchenko laut und deutlich, sodass die in der Decke eingelassenen e ihre Stimme aufnehmen konnten. «Erzählmodus Ein.»

Die Gänse erwachten zu mechanischem Leben.

«Kinderlied.»

Die Gänslein stimmten sechsstimmig das Kinderlied «Suse, liebe Suse» an.

«Die Schatzinsel.»

Sogleich jo-ho-ho-ten sich die Gänse durch «Fünfzehn Mann auf des Toten Mannes Kiste».

Dr. Zinchenko klatschte in die Hände, und das fröhliche Geplärre und Geschunkele hörte auf.

«Noch eins», sagte sie. Ihr Blick fiel auf ein Buch, das auf dem kleinen Tisch lag. «Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat.»

Die sechs Gänse machten eine Kehrtwendung, hoben einträchtig die Schwanzfedern und furzten geräuschvoll.

«Ausgezeichnet. Erzählmodus Aus.»

Die Gänse erschlafften, und Dr. Zinchenko betätigte eine Schaltfläche auf ihrem Tablet-Computer. Die Checkliste wurde immer kürzer, was sie sehr freute. Die Eröffnungsfeier war für Freitagabend angesetzt, und Dr. Z. und ihrem Heer von Helfern blieben nur noch wenige Tage, um eventuelle Macken in dem komplexen Betriebssystem der Bibliothek auszumerzen.

Plötzlich hörte Dr. Zinchenko ein dumpfes, grummelndes Grollen.

Als sie sich umdrehte, blickte sie in die eisblauen Augen eines sehr seltenen weißen Tigers.

Dr. Zinchenko seufzte und berührte ihren Bluetooth-Ohrstöpsel.

«Miss G.? Hier ist Dr. Z. Was tut unser weißer Bengalischer Tiger in der Kinderabteilung? … Ich verstehe. Da gibt es offensichtlich ein kleines Missverständnis. Wir wollen ihn nicht dauerhaft neben dem Dschungelbuch positionieren. Überprüfen Sie bitte die Katalognummer. 599 Punkt 757. … Genau. Er sollte in der Abteilung Zoologie sein. … Ja, bitte. Sofort. Danke, Miss G.»

Und wie eine Fata Morgana verschwand der Tiger.

«Raus aus den Federn, Miles, Curtis, Kyle!», rief ihre Mutter von der Küche aus nach oben. «Aufwachen!»

Obwohl er Hausarrest hatte, musste Kyle natürlich zur Schule gehen.

Kyle ließ die Füße auf den Boden patschen, rieb sich die Augen und blickte sich schlaftrunken um.

Der Computer, der vor ihm seinem Bruder Curtis gehört hatte, stand auf dem Schreibtisch, der früher seinem anderen Bruder, Mike, gehört hatte. Der Läufer auf dem Boden, der mit dem Logo der Cincinnati Reds, hatte in Mikes Zimmer gelegen, als er zwölf Jahre gewesen war. Die Bücher, die auf seinem Bücherregal standen, hatten vorher auf Mikes und Curtis’ Regalen gestanden, außer denjenigen, die Kyle an jedem Weihnachtsfest von seiner Großmutter bekam. Das von letztem Jahr hatte er immer noch nicht gelesen.

Kyle hatte es nicht so mit Büchern.

Außer es waren Handbücher oder Anleitungen für Videospiele. Im Wohnzimmer stand seine Sony Playstation, allerdings nicht das neueste Modell, sondern diejenige, die Mike vor ungefähr vier Jahren vom Nikolaus bekommen hatte. (Das neueste Blu-ray-Modell hielt Mike in seinem Zimmer unter Verschluss.)

Die Spielkonsole im Wohnzimmer war alt und klobig, aber sie funktionierte noch.

Nur nicht in dieser Woche.

Na ja, theoretisch funktionierte sie schon, aber Kyles Vater hatte ihm Fernseh- und Videospielverbot erteilt, und wenn er nicht vorhatte, einfach bloß stumm dem Surren der Festplatte zu lauschen, hatte es keinen Sinn, die Playstation einzuschalten. Erst am Sonntag endete seine Strafe.

«Hausarrest muss ja schließlich einen Sinn haben», hatte sein Vater gesagt. «Und wenn du dich hier im Haus amüsieren könntest, wäre es keine Strafe.»

Wenn Kyle in dieser letzten Woche vor den Ferien einen Computer für die Hausaufgaben brauchte, dann musste er den seiner Mutter benutzen, der in der Küche stand.

Auf dem Computer seiner Mutter gab es keine Spiele.

Okay, sie hatte Solitaire drauf, aber das zählte nicht.

Wenn einer der Keeley-Brüder Hausarrest hatte, dann gab es für ihn nicht viel zu tun, außer «darüber nachzudenken, warum er Hausarrest bekommen hat», wie sein Vater immer sagte.

Kyle wusste genau, was er angestellt hatte: Er hatte eine Fensterscheibe zerbrochen.

Aber – hey! – ich habe außerdem meine älteren Brüder besiegt!

«Guten Morgen, Kyle», sagte seine Mutter, als er in die Küche kam. Sie saß an ihrem Schreibtisch, trank Kaffee und tippte auf der Tastatur. «Nimm dir einen Pop-Tart.»

Curtis und Mike saßen schon am Tisch und kauten an den letzten leckeren Pop-Tarts – denen mit Zuckerguss und Erdbeergeschmack. Für ihn war nur noch der mit Zimtgeschmack übrig – ohne Zuckerguss –, der genauso schmeckte wie die Schachtel, in der sie verpackt waren.

«Die neue Bibliothek eröffnet am Freitag, gerade rechtzeitig zur Ferienzeit», murmelte Kyles Mom und las etwas auf ihrem Computerbildschirm. «Es ist zwölf Jahre her, seit sie die alte Bibliothek abgerissen haben. Hört euch das an: Dr. Yanina Zinchenko, die Diplom-Bibliothekarin, verspricht, dass die neue Bibliothek einige Überraschungen für ihre Benutzer bereithält.»

«Echt?», sagte Kyle, der Überraschungen liebte. «Was es wohl da drin gibt?»

«Ähm … vielleicht Bücher?», sagte Mike. «Es ist eine Bibliothek, Kyle.»

«Trotzdem», sagte Curtis, «ich kann’s kaum erwarten, bis ich meinen Bibliotheksausweis habe.»

«Du bist ja auch ein Nerd», sagte Mike.

«Ich ziehe die Bezeichnung ‹Streber› vor», sagte Curtis.

«Also, ich muss jetzt los», sagte Kyle und schnappte sich seinen Rucksack, «sonst verpasse ich den Bus.»

Er sauste zur Tür hinaus. Was er tatsächlich nicht verpassen wollte, waren seine Freunde, die alle eine Sony PSP oder einen Nintendo 3DS hatten.

Mit massenhaft Spielen!

Kyle kämpfte sich mit Fäusten und Ellbogen zu seinem üblichen Platz im Schulbus durch. Fast jeder begrüßte ihn mit einem lauten «Hey!», außer natürlich Sierra Russell.

Wie immer saß Sierra, die in die siebte Klasse ging, ganz hinten im Bus, die Nase in einem Buch vergraben – vermutlich eins über Mädchen, die in kleinen Häusern irgendwo in der Prärie wohnen.

Seit sich ihre Eltern hatten scheiden lassen und ihr Vater die Stadt verlassen hatte, war Sierra Russell ganz still geworden und las die meiste Zeit.

«Nettes Shirt» sagte Akimi Hughes, als sich Kyle neben sie setzte.

«Danke. Hat früher Mike gehört.»

«Egal. Ist trotzdem cool.»

Akimis Mutter war Asiatin und ihr Vater Ire. Sie hatte sehr lange, rabenschwarze Haare, dunkelblaue Augen und unzählige Sommersprossen.

«Was spielst du?», fragte Kyle, während Akimi hektisch auf ihrer PSP 3000 herumdrückte.

«Eichhörnchen-Alarm», sagte Akimi.

«Eins von Mr. Banancellos besten Spielen», sagte Kyle, der das gleiche Spiel auf seiner Playstation hatte.

Ein Spiel, das er eine Woche lang nicht spielen durfte.

«Soll ich dir helfen?»

«Nö.»

«Pass auf die Bienenstöcke auf …»

«Ich weiß über die Bienenstöcke Bescheid, Kyle.»

«Ich meine ja nur …»

«Ja!»

«Was?»

«Ich habe gerade Level 6 geschafft! Endlich!»

«Krass.» Kyle erwähnte nicht, dass er bereits bei Level 27 angekommen war. Akimi war seine beste Freundin. Vor Freunden gab man nicht an.

«Als ich die Eichhörnchen auf die Falken abgeschossen habe», sagte Akimi, «sind die Piloten abgesprungen. Wenn ein Eichhörnchen einen Piloten in den Hintern gebissen hat, habe ich fünfzig Bonuspunkte gekriegt!»

Ja, in Mr. Banancellos neuestem Nager-Abenteuer gab es etliche verrückte Ideen. Die Falken waren keine Vögel, sondern F-16 Kampfjets. Und die Eichhörnchen? Die waren total abgefahren. Völlig durchgedreht. Mit kreiselnden Wirbelaugen. Sie schnatterten ständig irgendwelches unverständliche Zeug vor sich hin. Und sie bissen in alle Hintern, die sie erwischen konnten.

Das war einer der Gründe, warum Kyle alles, was aus Mr. Banancellos Erfindungsfabrik kam – Brettspiele, Puzzles und Videospiele – einfach wahnsinnig wunderbar fand. Für Mr. Banancello war ein Spiel erst dann ein Spiel, wenn es zumindest ein bisschen durchgeknallt war.

«Und, hast du dir den Bonuscode geholt?», fragte Kyle.

«Häh?»

«In dem Standbild da.»

Akimi betrachtete den Bildschirm.

«Dreh es um.»

Akimi tat es.

«Siehst du die Zahl da in der Ecke? Die musst du das nächste Mal eintippen, wenn der Homescreen dich nach deinem Passwort fragt.»

«Und dann? Was passiert dann?»

«Wirst du schon sehen.»

Akimi boxte ihm gegen den Arm. «Sag schon!»

«Tja, es würde mich nicht überraschen, wenn du in Level 7 plötzlich brennende Eichhörnchen schleudern kannst.»

«Echt jetzt?!?»

«Probier’s aus. Wirst schon sehen.»

«Das werde ich. Gleich heute Nachmittag. Übrigens, hast du deinen Aufsatz geschrieben?»

«Ähm … was für ein Aufsatz?»

«Ähm … den du heute abgeben musst? Der über die neue Bibliothek.»

«Hilf meinem Gedächtnis mal auf die Sprünge.»

Akimi seufzte. «Weil die alte Bibliothek vor zwölf Jahren abgerissen wurde, werden die zwölf Zwölfjährigen, die den besten Aufsatz zu dem Thema ‹Warum ich die neue Bibliothek so spannend finde› schreiben, am Freitagabend in der Bibliothek eingeschlossen.»

«Wie bitte?»

«Die Gewinner dürfen die Nacht in der neuen Bibliothek verbringen, ehe irgendjemand sonst einen Blick hineinwerfen kann!»

«So wie in Nachts im Museum? Meinst du, die Bücher werden lebendig und jagen die Leute herum und so was?»

«Nein. Aber bestimmt gibt es Filme zu sehen und leckere Sachen zu essen und Preise und Spiele

Ganz plötzlich war Kyle sehr interessiert.

«Welche Art von Spielen?»

«Keine Ahnung», sagte Akimi. «Lustige Spiele, denke ich mal.»

«Und du glaubst, dass es in dieser funkelnagelneuen Bibliothek auch funkelnagelneue Computer gibt?»

«Zweifellos.»

«Wi-Fi?»

«Vermutlich.»

Kyle nickte langsam. «Und die Show steigt am Freitagabend?»

«Ja.»

«Akimi, ich glaube, du hast mir gerade eine Möglichkeit gezeigt, meinen Hausarrest zu kippen.»

«Deinen was?»

«Meine spielelose Durststrecke, auf Anordnung meiner überhaupt nicht verspielten Eltern.»

Kyle fand die Aussicht, eine Nacht lang in einer Bibliothek mit hochmodernen Computern eingesperrt zu sein, viel verlockender als zu Hause zu hocken, ohne Computer und ohne Computerspiele.

«Kriege ich einen Stift und ein Blatt Papier von dir?»

«Wie bitte? Willst du etwa deinen Aufsatz jetzt schreiben? Hier im Bus?»

«Besser spät als nie.»

«Du musst in der ersten Stunde abgeben, Kyle. Gleich nach der Anwesenheitsliste.»

«Von mir aus. Ich mach’s kurz.»

Akimi schüttelte den Kopf und reichte Kyle einen Notizblock und einen Stift. Der Bus holperte über die Betonschwelle auf der Fahrbahn an der Einfahrt zum Schulgelände.

Er würde sich wirklich sehr, sehr kurz fassen müssen.

Er konnte nur hoffen, dass die zwölf Gewinner einfach aus einem Hut gezogen werden würden, wie die Lottozahlen im Fernsehen, sodass man bloß dabei sein musste, um gewinnen zu können.

In einem anderen Teil der Stadt saß Charles Chiltington in der Bibliothek seines Vaters, zusammen mit dem Studenten, der ihm bei seinem Aufsatz helfen sollte.

Er trug seine übliche Schuluniform: khakifarbene Hose, blaues Jackett, weißes Hemd mit geknöpftem Kragen und einen geschmackvoll gestreiften Schlips. Er war der einzige Schüler der Alexandriaville Middle School, der sich so anzog.

«Ich suche ein imposantes Wort für ‹Bibliothek›», sagte Charles zu seinem Tutor. «Lehrer lieben imposante Wörter.»

«‹Aufbewahrungsort für Bücher›.»

«Noch imposanter.»

«Hm, … ‹Athenäum›.»

«Perfekt. Das ist so ein abgefahrenes Wort, das müssen sie erst nachschlagen.»

Charles schrieb es auf, speicherte das Dokument ab und schickte es auf den Drucker.

«Dein Dad liest ziemlich viel, was?», meinte sein Tutor und bewunderte die ledergebundenen Bücher in Mr. Chiltingtons privater Bibliothek.

«Wissen ist Macht», sagte Charles. «Das ist einer der Grundsätze unserer Familie.»

Wir fressen Loser zum Frühstück, lautete ein weiterer.

Kyle und Akimi stiegen aus dem Bus und gingen auf das Schulgebäude zu.

«Weißt du», sagte Akimi, «mein Vater hat mir erzählt, dass die Bibliotheksleute sich ungefähr eine Million verschiedener Zeichnungen und Blaupausen von einer Million Architekten haben machen lassen, und keiner durfte die Arbeit des anderen sehen.»

«Wieso nicht?»

«Weil alles top secret sein sollte. Mein Dad und seine Firma haben die Eingangstür gemacht. Mehr nicht.»

In dem Augenblick, in dem sie Mrs. Camerons Klassenzimmer betraten, schrie Miguel Fernandez: «Hey, Kyle, guck dir das an, Mann!» Er hielt einen Plastikordner hoch, der ungefähr drei Zentimeter dick war. «Ein Meisterstück!»

«Dein Bibliotheks-Aufsatz?»

«Du sagst es! Ich habe Bilder und Karten eingefügt und ein ganzes Kapitel über die antike Bibliothek von Alexandria in Ägypten geschrieben, weil wir hier doch in Alexandriaville in Ohio sind!»

«Cool», sagte Kyle.

Miguel Fernandez war ein sehr begeisterungsfähiger Junge. Er war außerdem Präsident des Clubs der Bibliothekshelfer der Schule. «Hey, Kyle, weißt du, was man über Bibliotheken sagt?»

«Ähm, nicht wirklich.»

«Dort gibt es ein Buch für jedes Kapitel deines Lebens.»

Während Kyle innerlich stöhnte, verkündete die Klingel den Schulanfang.

«Guten Morgen», sagte Mrs. Dana Cameron, Kyles Klassenlehrerin. «Habt ihr eure Aufsätze dabei? Dann gebt sie jetzt ab.» Sie ging durch die Reihen. «Die Jury kommt heute Vormittag im Lehrerzimmer zusammen, um eine erste Auswahl zu treffen …»

Mist, dachte Kyle. Es gab eine Jury. Also keinen Hut, aus dem man Lose zog.

«Kyle?» Die Lehrerin stand vor seinem Schreibtisch. «Hast du einen Aufsatz geschrieben?»

«Ja. So was in der Art.»

«Wie bitte? Ich verstehe nicht. Entweder hast du oder du hast nicht.»

Grummelnd reichte ihr Kyle das hastig beschriebene Blatt Papier.

«‹Luftballons. Da gibt’s bestimmt Luftballons.›»

Das Klassenzimmer hallte wider vom Gelächter der Schüler. Erst als Mrs. Cameron ihre Brille nach unten schob und sie über den Rand hinweg einschüchternd anstarrte, kehrte wieder Ruhe ein.

«Das ist dein Aufsatz, Kyle?»

«Ja, Mrs. Cameron. Wir sollten doch schreiben, warum wir die Eröffnung einer neuen Bibliothek aufregend finden, und … na ja, Luftballons mochte ich schon immer.»

«So so», sagte Mrs. Cameron. «Weißt du, Kyle, dein Bruder Curtis hat immer brillante Aufsätze geschrieben, als er noch in meiner Klasse war.»

«Ja, Mrs. Cameron», murmelte Kyle.

Mrs. Cameron seufzte, in glückliche Erinnerungen versunken. «Grüß ihn von mir, Kyle.»

«Das mache ich, Mrs. Cameron.»

Mrs. Cameron ging zum nächsten Schreibtisch. Eifrig reichte Miguel ihr seinen dicken Schnellhefter.

«Sehr schön, Miguel.»

«Danke, Mrs. Cameron.»

Von draußen hörte man merkwürdige Geräusche. Ein Tuckern und Klappern und Klimpern.

«Ach du liebe Güte», sagte Mrs. Cameron. «Ob er das wohl ist?»

Sie eilte zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Die Schüler folgten ihr.

Und da sahen sie es: Auf dem Besucherparkplatz stand ein Auto, das aussah wie ein riesiger roter Stiefel auf Rädern. Die Stoßstangen bestanden aus geriffeltem schwarzen Sohlengummi. Dicke Schnürsenkel verliefen über Kreuz von der Windschutzscheibe bis an den oberen Rand des Stiefels, etwa zweieinhalb Meter darüber.

«Der sieht genauso aus wie der rote Stiefel von Hol den Hund!», sagte Miguel.

Kyle nickte. Hol den Hund! war Mr. Banancellos erstes und vielleicht berühmtestes Spiel. Der rote Stiefel war einer der Gegenstände, die man als Spielsteine benutzen konnte.

Ein großer, schlaksiger Mann stieg aus.

«Das ist Mr. Banancello!», keuchte Kyle. Sein Herz hämmerte. «Was macht er denn hier?»

«Es wurde gerade verkündet», sagte Mrs. Cameron, «dass heute Abend Mr. Bartolo Banancello das letzte Wort hat.»

«Das letzte Wort – wozu?»

«Zu euren Aufsätzen.»

Unten im Speisesaal starrte Kyle auf seine labberigen Fischstäbchen und wünschte, er könnte eine magische Umkehrkarte aus der Luft herbeizaubern.

«Ich hab’s vermasselt», murmelte er.

«Ja», nickte Akimi, «und zwar richtig.»

«Kannst du dir vorstellen, wie irrsinnig aufregend die neue Bibliothek sein wird, wenn Mr. Banancello und seine Erfindungsfabrik ihre Finger im Spiel haben?»

«Ja. Kann ich. Und ich hoffe, dass ich zu den Ersten gehöre, die es erleben werden. Immerhin habe ich einen Aufsatz geschrieben. Nicht bloß einen Satz. Über Luftballons.»

«Vielen Dank. Reib’s mir nur unter die Nase.»

Akimis Miene wurde sanfter. «Hey, Kyle, wenn du eine Runde Tschuldigung spielst und drei Felder zurückziehen musst, gibst du dann auf?»

«Nein. Wenn ich zurückziehen muss, spiele ich nur noch entschlossener, weil ich ja drei Felder aufholen und die anderen noch überholen muss.»

«Hallo Leute!» Miguel Fernandez kam mit seinem Tablett zu ihnen herüber.

Ihm folgte ein Junge mit einer Igelfrisur und so dicken Brillengläsern, dass sie aussahen wie die Linsen eines Feldstechers.

«Ihr kennt doch Andrew Peckleman, richtig?»

«Hey», sagten Kyle und Akimi.

«Hallo.»

«Andrew ist einer meiner besten Bibliothekshelfer», sagte Miguel.

«Cool», sagte Akimi.

«Mrs. Yunghans, die Bibliothekarin, hat gerade bestätigt, dass Mr. Banancello der geheime Sponsor ist, der das ganze Geld für den Bau der neuen Bibliothek gespendet hat. Fünfhundert Millionen Dollar!»

«Sie hat es auf NPR gehört», erklärte Peckleman, der sehr durch die Nase sprach. «Daraufhin haben wir eine Recherche über Mr. Banancello und seine Verbindung zu Alexandriaville angestellt.»

«Was habt ihr rausgefunden?», fragte Kyle.

«Erstens», sagte Miguel, «dass er hier geboren wurde.»

«Er hat neun Geschwister», ergänzte Andrew.

«Und alle haben in einer winzigen Wohnung mit nur einem Badezimmer in Little Italy gehaust», sagte Miguel.

«Und», sagte Peckleman, der klang, als wollte er Miguel übertrumpfen, «er liebte die alte Bibliothek unten in der Market Street. Er war da immer als Kind, wenn er einen ruhigen Ort brauchte, um nachzudenken und sich neue Dinge einfallen zu lassen.»

«Und», übertönte Miguel ihn eifrig, «Mrs. Tobin, die damalige Bibliothekarin, hat den kleinen Bartolo unter ihre Fittiche genommen, obwohl er nur ein ganz gewöhnlicher Junge war, wie wir. Sie hat die Bibliothek manchmal bis spätabends geöffnet und er durfte sich Sachen von ihrem Schreibtisch oder aus ihrer Tasche borgen – Stecknadeln und Reißzwecken und Klebestifte, sogar rote Barbie-Stiefel – Sachen, die er als Spielfiguren benutzen konnte, wenn er auf dem Tisch der Bibliothek seine ersten Spieleideen ausarbeitete. Und dann …»

Jetzt übernahm Andrew wieder. «Dann hat Mrs. Tobin Mr. Banancellos Skizze von Hol den Hund! ihrem Mann gezeigt, der eine Druckerei betrieb. Sie haben ein paar Papiere unterschrieben, eine Firma gegründet, und ein paar Jahre später waren sie alle Millionäre.»

Aber Miguel hatte das letzte Wort. «Jetzt ist Mr. Banancello natürlich längst schon ein Mega-Massenmillionär.»

«Warum seid ihr Nerds denn so aufgeregt?», fragte Haley Daley, die mit ihrem Hofstaat der beliebtesten Mädchen im Schlepptau an ihnen vorbeiging. Haley war die Prinzessin der Jahrgangsstufe 7. Blonde Haare, blaue Augen, ein strahlendes Lächeln. Sie sah aus wie eine wandelnde Zahnpastareklame.

«Wegen Mr. Banancello!», sagte Miguel.

«Und der neuen Bibliothek!», sagte Andrew.

«Und», setzte Kyle melodramatisch hinzu, «natürlich wegen dir, Haley.»

«Ihr seid ja so kindisch. Kommt, Mädchen.» Haley und ihre Freundinnen stolzierten weiter zu dem Tisch der ‹coolen Kids›.

«Guckt mal», sagte Akimi und deutete zur Schlange an der Essensausgabe, wo Charles Chiltington zwei Tabletts balancierte, auf jeder Hand eins. Eins für sich und eins für Mrs. Cameron.

«Ich bin so froh, dass Sie heute die Aufsicht im Speisesaal haben, Mrs. Cameron», hörte Kyle Chiltington sagen. «Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Mich würde interessieren, wie Konventionen innerhalb eines Genres – Dichtkunst, Drama oder Essay – die Bedeutung des Textes beeinflussen.»

«Das werde ich dir gerne erklären, Charles.»

«Danke, Mrs. Cameron. Und darf ich hinzufügen, dass Ihr Pullover ganz ausgezeichnet mit Ihrer Augenfarbe harmoniert?»

«So ein Schleimer», murmelte Akimi. «Chiltington versucht, Mrs. Cameron dazu zu bringen, seinen Aufsatz Mr. Banancello vorzulegen.»

«Keine Sorge», sagte Kyle. «Mrs. Cameron hat nicht das letzte Wort. Das hat Mr. Banancello. Und weil er ein Genie ist, wird er ganz bestimmt die Aufsätze aussuchen, die ihr geschrieben habt.»

«Zweifellos», sagte Peckleman.

«Danke, Kyle», sagte Miguel.

«Ich wünschte nur, du könntest auch gewinnen», sagte Akimi.

«Vielleicht kann ich das. Wie du schon sagtest, das ist bloß eine Umkehrkarte, wie ‹Gehe drei Felder zurück›. Oder ‹Geh auf der Allee spazieren›, obwohl die Allee jemand anderem gehört. Es ist der Schacht in Schacht und Leiter, ein Umweg in den Sirupsumpf in Bonbon-Land.»

«Sag mal, Kyle», ließ sich Miguel vernehmen, «wie viele Brettspiele kennst du eigentlich?»

«Genug, um zu wissen, dass man erst dann aufgibt, wenn jemand anderer wirklich und wahrhaftig gewonnen hat.» Er nahm sein Mittagessen und marschierte zu dem Geschirrwagen mit den schmutzigen Tabletts.

«Wo willst du denn hin?», rief Akimi ihm nach.

«Ich habe noch den Rest der Mittagspause Zeit, um einen neuen Aufsatz zu schreiben.»

«Aber Mrs. Cameron wird deinen Aufsatz nicht mehr annehmen.»

«Vielleicht nicht. Aber ich muss die Würfel noch einmal rollen lassen. Vielleicht habe ich Glück.»

«Ich drück dir die Daumen», sagte Akimi.

«Ich mir auch. Wir sehen uns nachher, im Bus.»

Selten hatte sich Kyle so hinter einen Aufsatz geklemmt wie hinter diesen. Er entwarf eine These, die jeden umhauen musste, der sie zu lesen bekam.

«In einer Bibliothek wird das Lernen zum Vergnügen», schrieb er. «Wenn man in einer Bibliothek Fakten zu einem Thema sucht, dann begibt man sich auf eine Schnitzeljagd. Man sucht nach Schätzen und hilfreichen Hinweisen, nicht auf dem Dachboden oder im Garten, sondern in Büchern.»

Er unterteilte den Text in Punkte und Unterpunkte.

Er fasste alles mit einer hieb- und stichfesten Aussage zusammen.

Er überprüfte sogar die Rechtschreibung. Zweimal.

Aber Akimi behielt recht.

«Tut mir leid, Kyle», sagte Mrs. Cameron, als er ihr schließlich den Aufsatz überreichte. «Das ist dir sehr gut gelungen, und ich bin beeindruckt, wie viel Mühe du dir gegeben hast. Aber die Abgabe war heute Morgen. So sind nun einmal die Regeln. Und Regeln müssen beachtet werden. Genau wie bei den Brettspielen, die du in deinem Aufsatz erwähnst.»

Im Grunde genommen hatte sie ihm damit eine Karte ausgeteilt, auf der stand: «Gehe fünfhundert Felder zurück.»

Aber Kyle gab nicht auf.

Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter einmal einen Brief an Mr. Banancellos Erfindungsfabrik geschrieben hatte, weil er und seine Brüder einen neuen Kartensatz für die Haus-und-Garten-Schnitzeljagd brauchten.

Vielleicht konnte er seinen Aufsatz direkt an Mr. Banancello schicken.

Vielleicht hatte er Glück und der Spieleerfinder las die ausgewählten Aufsätze erst spät am Abend. Zugegeben, dazu brauchte er viel Glück, aber manchmal hieß es «Alles oder Nichts».

Als er heimkam, setzte er sich gleich an den Computer seiner Mutter. Er wählte die E-Mail-Adresse von Mr. Banancellos Erfindungsfabrik und hängte seinen Aufsatz an die E-Mail an.

«Was machst du da, Kyle?», fragte seine Mom, die in die Küche kam und ihn am Computer sitzen sah.

«Ein paar Extra-Hausaufgaben.»

«Extra-Hausaufgaben? Ende der Woche sind Ferien.»

«Na und?»

«Du spielst doch nicht etwa Solitaire, oder?»

«Nein, Mom. Es ist ein Aufsatz. Über Mr. Banancellos fantastische neue Bibliothek von Alexandriaville.»

«Oh. Klingt interessant. Ich habe im Radio gehört, dass es diesen Freitag eine große Eröffnungsfeier im Parker House Hotel gibt, direkt gegenüber dem alten Bankgebäude. Ich meine natürlich gegenüber der neuen Bibliothek.»

Kyle tippte ein P.S. zu seiner E-Mail: «Ich hoffe, am Freitagabend gibt es auch Luftballons.»

Dann schickte er die E-Mail ab.