Über das Buch:
1941/42: Das Jahr 1941 endet mit einem Paukenschlag: dem Angriff auf Pearl Harbour. Und auch die Philippinen werden bombardiert – ausgerechnet jetzt, wo Blair dort ist. Sie wollte einen letzten, verzweifelten Versuch unternehmen, ihre Ehe zu retten. Deshalb folgte sie ihrem Mann in ein Pulverfass. Jetzt muss Blair nicht nur um ihre Ehe, sondern auch ums Überleben kämpfen.
Währenddessen sehen ihre Schwestern sich in Russland und den USA mit ganz eigenen Problemen konfrontiert. Wo werden die drei Halt finden in einer Welt, die auf den Abgrund zutaumelt?

Über die Autorin:
Judith Pella studierte Sozialwissenschaften und gilt als Meisterin des historischen Romans. Sie liebt es, gründlich zu recherchieren und in verschiedene Zeitepochen einzutauchen. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Oregon.

7

Gegen Mittag kehrten Blair und Claudette gerade von den Besorgungen, zu denen Gary ihnen geraten hatte, in ihre Wohnung zurück, als eine Sirene zu heulen begann. Luftalarm. Die Explosionen, die folgten, kamen aus der Ferne, mindestens einige Meilen südwestlich der Stadt. Blair wusste, dass dies die Richtung war, in der Fort McKinley lag. Von Claudette erfuhr sie, dass in dieser Richtung auch einige Flugplätze lagen.

Fort McKinley war Garys Stützpunkt, aber ihr fiel ein, dass er irgendwo anders war. Fort St... Sie hatte nie besonders auf das ganze militärische Gerede geachtet, das sie gehört hatte, seit sie auf die Philippinen gekommen war. Gary hatte andere Stützpunkte erwähnt, aber – Gott vergebe ihr! – es hatte sie nicht genug interessiert, um richtig zuzuhören.

Jetzt, da die Einschläge in der Ferne in ihren Ohren widerhallten und der Boden unter ihren Füßen vibrierte, versuchte sie, sich die Gespräche, die sie in den letzten Wochen gehört hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Aber für sie war trotzdem alles unverständlich, selbst wenn sie sich alles hätte merken können. Sie war eine hirnlose Närrin, genau wie ihr Vater ihr immer vorgeworfen hatte. Vielleicht hatte ihr das als Kind und Jugendliche geholfen, denn wenn ihr Vater nichts von ihr erwartete, konnte sie ihn auch nicht enttäuschen. Oberflächlich und unkompliziert zu sein war gefahrlos gewesen, besonders da es von einem Leben im Reichtum unterstützt wurde. Cameron hatte sich ständig mit ihrem Vater angelegt und Jackie hatte es irgendwie geschafft, seinen strengen Erwartungen gerecht zu werden. Nun ja, Blair war keine Heilige wie Jackie und sie war gewiss keine Kämpferin wie Cameron. Das machte ihr jetzt noch mehr Angst als die Todesgefahr, in der sie sich befand. Sie konnte auf keine innere Stärke zurückgreifen, die ihr helfen würde, mit den Ungewissheiten, vor denen sie jetzt stand, fertigzuwerden. Wenn ihre Welt zerbrach, würde sie sicher mit ihr zerbrechen.

Blair und Claudette liefen zum Luftschutzraum, den der Bruder der Vermieterin ihr im hinteren Teil des Hauses gebaut hatte. Es waren schon mehrere andere dort versammelt.

„Wo ist Fort Stot...? Ich weiß nicht genau, so ähnlich hieß es“, fragte Blair ihre Vermieterin.

„Sie meinen Stotsenberg?“, erkundigte sich Frau Acosta. Blairs Vermieterin war eine Filipina, die Blair nicht besonders gut kennengelernt hatte, weil sie immer so streng und unnahbar wirkte. Das Krachen von Bombenexplosionen in der Ferne änderte daran nichts. Sie wirkte ziemlich unbeeindruckt.

„Ja“, antwortete Blair und versuchte erfolglos, das Zittern in ihrer Stimme zu unterbinden.

„Es ist in der Nähe von Clark Airfield, ungefähr hundertzwanzig Kilometer im Norden. Hält sich dort Ihr Soldatenfreund auf?“

„Ich ... ich glaube, ja.“

„Also, ich bin froh, dass ich Witwe bin und keine Kinder habe. Ich muss mir nur um mich selbst Sorgen machen. Sie tun mir leid.“ Die Frau klang nicht sonderlich mitfühlend. „Aber wenn die Japaner einmarschieren, geht es uns wahrscheinlich allen schlecht. Mein Mann kämpfte in der Rebellenarmee, als ihr Amerikaner die Philippinen eingenommen habt. Ich habe deshalb aber nichts gegen euch, und er hatte auch nichts gegen euch. Auf lange Sicht haben wir es ganz gut getroffen, denke ich. Mein Mann konnte genug sparen, um ein Haus zu kaufen. Ja, ich weiß, mein Haus steht nicht gerade im besten Teil der Stadt, aber ...“

Die Frau plapperte unaufhörlich weiter. Blair verstand nicht, wie sie so reden konnte, als wäre nichts geschehen.

Claudette gab Blair den größten Trost. Sie klammerte sich eng an Blair und flüsterte: „Ihm wird nichts passieren, Miss Blair. Ihm wird nichts passieren! Er ist weit weg von hier.“

Aber später, nachdem ein anderer Heulton Entwarnung gegeben hatte und sie wieder in ihrer Wohnung zurück waren, hörten sie im Radio, dass Clark Field und Fort Stotsenberg zur gleichen Zeit bombardiert worden waren wie Iba, der Flugplatz, dessen Bombardierung Blair von Manila aus hatte hören können. Panik ergriff sie. Ihr Magen zog sich zusammen.

Wo war Gary? Warum hatte er nicht angerufen? Etwas Schlimmes war passiert. Sie wusste es.

In dieser Nacht wurden die Flugplätze Neilson und Nicols und der Stützpunkt Fort McKinley bombardiert. Sie waren alle keine fünfzehn Kilometer von Manila entfernt. Die tödlichen Lichter von den Explosionen waren von der Stadt aus zu sehen. Einige Leute schauten zu, als wäre es ein Silvesterfeuerwerk. Blair zitterte und weinte und klammerte sich genauso sehr an Claudette, wie das Mädchen sich an sie klammerte.

Als sie in dieser Nacht schlafen gingen, zogen sie die Matratze vom Bett und schoben sie zum Schutz unter das Bett. Dort schliefen sie, auf der Matratze unter dem Bett, jede in den Armen der anderen. Obwohl Schlaf wohl kaum die richtige Bezeichnung für den unruhigen Schlummer war, der ihre Augen immer wieder vor Erschöpfung zufallen ließ. Jeder Tiefschlaf wurde durch das Krachen der Explosionen verhindert. Mitten in der Nacht heulten die Sirenen – es gab neuen Luftalarm. Sie stolperten in den Schutzraum hinab und kehrten gegen vier Uhr morgens, nachdem es Entwarnung gegeben hatte, in ihre Betten zurück.

Als das Tageslicht anbrach, endeten die qualvollen Versuche, Schlaf zu finden. Claudette ging in die Küche, um das Frühstück zu bereiten, obwohl keine von ihnen großen Appetit hatte. Blair nutzte die Zeit, um sich um die Schachteln mit den Waren zu kümmern, die gestern Nachmittag geliefert worden waren, ein Ergebnis ihrer Einkäufe mit Claudette. Sie hatte gestern so große Angst gehabt, dass sie nicht einmal an ihre Einkäufe gedacht hatte. Ihre Angst war jetzt kein bisschen kleiner, aber sie musste sich um diese Sachen kümmern. Falls Gary käme, um sie zu holen, müsste sie fertig sein.

Falls!

Ach, Gary, wo bist du nur? Warum bist du nicht gekommen?

Mit verbissener Miene schleppte Blair die Koffer ins Wohnzimmer und hievte sie aufs Sofa. Außerdem zog sie ihren Überseekoffer heraus. Sie wusste zwar, dass er zu groß wäre, um ihn mitzunehmen, aber Frau Acosta sagte, sie würde ihn für Blair aufheben. In diesen Koffer steckte sie alles, was sie gern behalten wollte, was aber nicht praktisch genug war, um es mitzunehmen nach ... wohin auch immer sie gehen würde. Sie packte die Abendkleider, die sie bei ihren Auftritten im Nachtklub getragen hatte, und ein paar gerahmte Fotos ein, eines von ihr und Gary an ihrem Hochzeitstag – er in seiner Ausgehuniform und sie in einem schlichten, aber hübschen beigefarbenen Kleid. Sie sahen wie das ideale Brautpaar aus. Nicht einmal der leiseste Schatten der Katastrophe, die zwei Tage später über sie hereinbrach, war auf ihren glücklichen Gesichtern zu sehen. Das andere Foto war ein Familienporträt, das an dem Tag, an dem ihr Vater seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, gemacht worden war. Sie hatte keine Ahnung, warum sie es in ihren Überseekoffer gesteckt hatte, als sie die Staaten verließ. Vielleicht bedeutete ihre Familie ihr doch mehr, als sie zugeben wollte.

Als sie die glücklichen Gesichter anschaute, die ihr von der Fotografie entgegenblickten, versank sie in Erinnerungen. Die Gesichter lächelten, aber die Familie Hayes kannte wahres Glück kaum. Was machten die anderen gerade? Was sagten sie zu diesem Krieg? Mit einem Mal vermisste sie ihre Familie. Verrückt, wenn man an ihre Geschichte mit ihnen dachte, vor allem mit ihren Eltern. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gegen sie rebelliert, aber wie viel gäbe sie jetzt darum, zu Hause zu sein! Zumindest bei ihrer Mutter und ihren Schwestern. Sie wusste, dass ihr Vater sie wahrscheinlich mehr als je zuvor verachtete. Am Tag ihrer Hochzeit mit Gary hatte sie fast die Zustimmung dieses Mannes gewonnen, weil sie endlich etwas getan hatte, was ihm gefiel. Dann hatte sie alles kaputt gemacht und sie konnte sich immer noch an den Blick auf seinem Gesicht erinnern, als er von ihrem Verrat erfuhr – einen Blick, der sagte, dass er nicht im Geringsten überrascht sei. Das hatte sie viel mehr verletzt als die enttäuschte Miene ihrer Mutter. Das Bild erinnerte sie daran, dass sie ein Telegramm schicken müsste, damit sie wüssten, dass es ihr gut ging. Ihre Mutter und Jackie machten sich bestimmt Sorgen.

„Miss Blair, das Frühstück ist fertig“, kam Claudettes Stimme. Sie war eine willkommene Ablenkung von ihren trüben Gedanken.

Blair ließ das Foto in den Überseekoffer fallen und ging zum Tisch. Ihr Magen war steinhart, aber sie zwang sich, etwas zu essen. Vielleicht würde sie die Energie brauchen für ... für was, das wusste sie nicht.

Als sie und Claudette ihr Frühstück aus Papayascheiben, Toast und Rühreiern aßen, kamen im Radio, das sie ständig laufen hatten, Nachrichten. Manuel Quezon, der Präsident der Philippinen, gab eine Erklärung zum Krieg ab. Sie war kurz, aber bewegend. Er bat Gott um seinen Schutz und bekräftigte die Loyalität der Filipinos zu Amerika.

Der Tag ging weiter, aber bis Mittwoch schienen die Angriffe zuzunehmen und der Tagesablauf wurde in immer kürzeren Intervallen durch das Heulen der Luftalarmsirenen und durch das Aufsuchen des Schutzbunkers unterbrochen. Einmal nahm Blair ihren ganzen Mut zusammen und gesellte sich zu ein paar anderen draußen auf dem Gehweg, wo sie einen Angriff beobachteten. Nichols Field und Fort McKinley wurden schwer getroffen. Riesige Rauchschwaden und Flammenzungen verrieten das Ausmaß der Zerstörung. In noch kürzerer Entfernung wurde auch Cavite Naval Yard bombardiert. Die meisten Marineschiffe in der Bucht waren aufs Meer hinaus geflohen. Cavite selbst hatte sich in einen riesigen brennenden Scheiterhaufen verwandelt.

Während sie zum Himmel hinaufschauten, stellten sie bedrückt fest, dass nur wenige amerikanische Flugzeuge aufstiegen, um dem feindlichen Angriff zu begegnen. Gegen Ende des Tages hatten die Japaner völlig freie Hand über den Luftraum. Flakfeuer beschossen den Feind, konnten aber nicht viel ausrichten. Blair musste fast lächeln. Flak. Noch vor einer Woche hatte sie diesen Ausdruck für Flugabwehrkanonen nicht gekannt und jetzt benutzte sie ihn wie ein abgebrühter Kriegsveteran. Oh, wie sie sich wünschte, sie wäre tatsächlich ein abgebrühter Veteran und könnte das alles mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen lassen, statt bei jeder neuen Explosion zu Tode zu erschrecken.

Die Gerüchte verschlimmerten nur das, was das Auge nicht sehen konnte. Es wurde viel von einer fünften Kolonne und japanischen Landungen gesprochen. Diese Gerüchte führten Silvia Wang in Blairs Wohnung.

„Ich verlasse die Stadt“, erklärte die Nachtklubbesitzerin. Die normalerweise kühle Fassade der Frau war unübersehbar erschüttert. „Ihr wärt gut beraten, dasselbe zu tun.“

Viele verließen inzwischen die Stadt, das wusste Blair, aber sie konnte nicht fortgehen, solange sie Gary nicht gesehen hatte.

„Ich kann nicht gehen, solange ich von Gary nichts gehört habe. Er sagte, er würde anrufen. Ich kann nicht gehen!“ Alles in ihr drängte sie davonzulaufen. Aber wohin? Genau diese Frage stellte sie ihrer Arbeitgeberin.

„Meine Familie hat ein Sommerhaus in den Bergen im Norden. Ihr könnt gern mitkommen.“

„Ich habe Gerüchte gehört, dass die Japaner im Norden landen werden.“

„Ja, aber in den Bergen ist es sicher. Sicherer als hier. Wenigstens für mich. Die Japaner hassen Chinesen. Lieber bringe ich mich um, bevor ich in ihnen in die Hände falle.“

„Oh, Silvia, das darf einfach nicht passieren! Wir werden sie aufhalten. Aus den Staaten wird Hilfe kommen.“

„Wie, Blair? Die Pazifikflotte ist zerstört. Euer Präsident hat England und Russland seine ganze militärische Ausrüstung zur Verfügung gestellt. Was haben sie da noch übrig, das sie uns schicken könnten? Es wird zu spät sein, bevor sie sich gerüstet haben, um die Japaner zu besiegen.“

„Das glaube ich nicht. Hilfe wird kommen. Wir haben viele Reserven.“

Traurig schüttelte Silvia den Kopf. „Glaub das ruhig, wenn es dir hilft, Schätzchen. Ich für meinen Teil werde kein Risiko eingehen. Was willst du machen, wenn dein Soldat nicht kommt und dich holt?“

Blair zitterte und spürte die Tränen, die in letzter Zeit nie weit unter der Oberfläche waren, in ihren Augen brennen. „Er wird kommen.“

„Ist gut, Schätzchen.“ Silvias Stimme wurde weicher. „Ist ja gut. Vielleicht kommt er ja. Wenn du wartest, kommt er vielleicht tatsächlich.“ Sie schwieg kurz, dann öffnete sie ihre Handtasche und zog einen Umschlag heraus. „Das ist dein letztes Gehalt und die Entschädigung für zwei Wochen Dienstausfall.“

„Oh, Silvia, das hättest du nicht tun müssen!“ Blair starrte den Umschlag an. Sie freute sich über diese Geste, aber inwiefern sollte ihr jetzt Geld weiterhelfen?

„Nimm es. Es ist alles in amerikanischen Dollars. Ich habe genug und du brauchst vielleicht alles, was du hast, besonders wenn du hier bleibst.“ Sie drückte Blair den Umschlag in die Hand, die widerwillig ihre zitternden Finger darumlegte.

„Danke.“ Sie brachte die Worte kaum über die Lippen.

Silvia drückte ihr einen mütterlichen Kuss auf die Wange. „Ich hoffe, ich sehe dich irgendwann wieder. Wenn nicht ... pass gut auf dich auf. Ich habe eine kleine Landkarte in den Umschlag gesteckt, die den Weg zu meinem Sommerhaus beschreibt. Du bist dort jederzeit herzlich willkommen.“

Weinend umarmte Blair Silvia, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Durch einen Schleier aus dicht fallendem Regen und mit dem Gefühl, dass eine weitere Lebenslinie abgeschnitten war, schaute sie ihrer Freundin nach. Claudette und Silvia waren die einzigen Menschen, die sie in der Stadt kannte und denen sie vertraute. Natürlich würde ihr jeder Soldat helfen, wenn sie zu ihnen durchkäme, doch wenn sie zu ihnen durchkommen könnte, müsste sie auch zu Gary durchkommen. Aber wie? Wenn er in McKinley zurück wäre, hätte er bestimmt angerufen.

Da fiel ihr wieder Pastor Sanchez ein. Sie kannte ihn nicht gut, aber Gary hatte gesagt, er würde ihr helfen, obwohl sie nicht sicher war, wie er das anstellen sollte. Immerhin hatte er ein Auto. Vielleicht könnte er es ihr leihen oder sie selbst nach Fort McKinley hinausfahren, damit sie Gary suchen könnte. Ihre Vernunft sagte ihr jedoch, dass das ein noch verrückterer Plan war als ihr Entschluss, überhaupt auf die Philippinen zu kommen. McKinley war Kriegsgebiet und das Militär würde nicht dulden, dass eine aufgeregte Frau dort herumlief und ihren Mann suchte.

Trotzdem wollte sie nicht das Risiko eingehen, ihre Wohnung zu verlassen, falls Gary tatsächlich versuchen sollte, sie anzurufen oder zu kommen. Und sie konnte Claudette nicht bitten, ganz allein in der Wohnung zu bleiben. Sie wartete also weiter. Der Donnerstag war der schlimmste Tag. Formosa ging in einem späten Monsunregen unter und die Japaner konnten nicht fliegen. Es gab keine Luftangriffe. Alle warteten darauf, aber das, was sie befürchteten, trat nicht ein. Das Warten war fast genauso schlimm wie die tatsächlichen Bombenangriffe. Blair fühlte sich wie ein dürrer Zweig, der jeden Augenblick zerbrechen würde.

Schließlich, am Freitag, konnte sie es nicht länger ertragen. Es sah aus, als seien alle amerikanischen Stützpunkte in Rauch aufgegangen, und die Gerüchte von der Landung der Japaner klangen immer bedrohlicher. Sie bekniete Claudette, in der Wohnung zu bleiben, und versprach ihr, dass sie nur eine halbe Stunde fortbliebe. Tapfer willigte das Mädchen ein.

Das Pfarrhaus, in dem Pastor Sanchez wohnte, war mehrere Straßen von Blairs Wohnung entfernt. Sie legte einen schnellen Marsch zurück und war innerhalb von zehn Minuten dort. Sanchez öffnete seine Tür und begrüßte sie erstaunt.

„Es überrascht mich, dass Sie noch in der Stadt sind“, sagte er, als er sie in das kleine Stuckhaus bat. Er war ein klein gewachsener, schlanker Mann und sah wie ein Gelehrter aus. Seine dunklen Haare waren leicht grau und bildeten einen Kreis um eine kahle Glatze. Seine Brille mit dem Drahtgestell verstärkte das Aussehen eines Mannes, der mehr mit Büchern vertraut war als mit dem Umgang mit Menschen, obwohl er sehr nett war, auch wenn er die meiste Zeit in Gedanken woanders zu sein schien.

Sobald sie auf seinem Sofa saß, erklärte sie ihm, dass Gary vermisst werde. „Er sagte mir, ich solle hierbleiben, solange Manila nicht fällt. Was ist, wenn er kommt und ich fort bin?“ Aufgewühlt fügte sie hinzu: „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“

Mit einem verständnisvollen Nicken erwiderte er: „Ich verstehe Ihr Dilemma. Aber Sie müssen die Stadt bald verlassen. Viele entscheiden sich möglicherweise dafür, in der Stadt zu bleiben und das Risiko einzugehen, Gefangene der Japaner zu werden, aber ich würde das nicht empfehlen.“

Das Gleiche hatte Gary ihr auch gesagt. „Ist es wirklich so schlimm, Pastor Sanchez? Die Japaner können diesen Kampf doch nicht tatsächlich gewinnen.“

„Es heißt, sie seien im Norden schon gelandet. Ich weiß nicht, ob es stimmt ...“

„Es muss stimmen“, mischte sich eine andere Stimme ein. Blair blickte auf und sah, dass der sechzehnjährige Sohn des Pastors, Mateo, ins Zimmer gekommen war. „Papa, willst du immer noch, dass ich hierbleibe, obwohl an der Front dringend Männer gebraucht werden?“

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, Mateo“, sagte Sanchez, auch wenn sein Tonfall mehr nach einer Bitte als nach einem Befehl klang.

„Nie ist der richtige Zeitpunkt“, maulte der junge Mann. Er war um zehn Zentimeter größer als sein Vater und hatte ausdrucksstarke, gut aussehende Gesichtszüge. Seine funkelnden, dunklen Augen bildeten einen deutlichen Kontrast zu den warmen, sanften Augen seines Vaters.

„Wir haben Besuch, mein Sohn. Benimm dich bitte“, tadelte ihn sein Vater.

Ein Anflug von Demut überschattete einen Moment lang das Feuer in den Augen des Jungen, aber es kostete ihn offenbar einige Anstrengung. Er verbeugte sich höflich vor Blair.

„Es tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt habe, Miss Hayes. Aber ...“

„Mateo!“, warnte Sanchez. Dieses Mal war nicht zu überhören, dass er es ernst meinte.

„Das stört mich nicht. Wirklich nicht“, sagte Blair schnell. „Wir sind zurzeit alle sehr angespannt.“

„Mein Sohn meint, er sollte mit sechzehn Jahren in die Armee gehen. Für mich ist er noch ein Kind.“ Sanchez seufzte. „Aber die Not ist groß. Vielleicht ist es an der Zeit ...“

„Ist das dein Ernst, Papa?“ Das aufgeregte Feuer kehrte in Mateos Augen zurück.

„Wir sprechen später darüber. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit. Nur unser Herr weiß, welche Opfer von uns allen verlangt werden, bevor das alles vorbei ist. Aber jetzt, Mateo, könntest du uns bitte einen Kaffee bringen, während Blair uns den Grund ihres Besuchs mitteilt.“

„Ich habe nicht viel Zeit“, lehnte sie den Kaffee dankend ab. „Ich habe Claudette versprochen, bald wieder zu Hause zu sein.“

„Claudette?“ Mateo blieb an der Küchentür stehen. „Geht es ihr gut?“

Blair unterdrückte ein Lächeln. Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie überhaupt das Gefühl hatte, lächeln zu können. Claudette, die ein paar Mal mit Blair und Gary die Gemeinde von Pastor Sanchez besucht hatte, schwärmte vom Sohn des Pastors. Sie würde wahrscheinlich den ganzen Krieg und ihre Angst vergessen, wenn sie hörte, dass er nach ihr gefragt hatte.

„Ja, ihr geht es gut, aber ich lasse sie nicht gern allein bei allem, was zur Zeit los ist.“ Blair schaute den Pastor flehend an. „Ich musste mit jemandem sprechen, dem ich vertrauen kann. Gary sagte, dass ich zu Ihnen kommen könne, Pastor Sanchez. Ich weiß auch nicht, wie Sie mir helfen können. Ich konnte einfach nicht länger untätig in meiner Wohnung sitzen. Warten ... und nicht wissen, ob es Gary gut geht. Gibt es irgendeine Möglichkeit, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen? Ich versuchte, im Stützpunkt anzurufen, aber sie wissen dort nichts – das heißt, als ich endlich durchkam. Jetzt kann ich nicht einmal mehr telefonisch zum Stützpunkt durchkommen. Ich dachte, wenn ich hinausfahren könnte ...“

„Daran dürfen Sie nicht einmal denken“, wehrte Sanchez schnell ab. „Ich fürchte, der Stützpunkt ist ein einziges Trümmerfeld, und es ist viel zu gefährlich, weil es immer noch Angriffe gibt.“

„Aber ich verliere vor Sorge noch den Verstand!“

„Kann ich mit Ihnen beten?“

Das war genau das, was sie nicht hören wollte. Es kam ihr wie eine lahme, unnütze Geste vor. Sie wollte, dass er handelte, nicht nur irgendwelche leeren Worte sagte. Sie wollte nicht das abwerten, was sie in den letzten Monaten versucht hatte zu finden. Aber sie fand, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Religion sei. Vielleicht konnten andere Trost darin finden, aber für sie war das alles einfach zu nebulös.

„Vergeben Sie mir, Herr Pastor, aber ich ... es ist nur so, dass ich ...“ Wie konnte sie sagen, was sie fühlte, ohne grob zu klingen?

Er verschonte sie damit. „Ich weiß, das erscheint ziemlich unzureichend. Aber das Gebet hat viel mehr Kraft, als man denkt.“ Er legte seine Finger aneinander und tippte mit ihnen an sein Kinn. Dann fügte er hinzu: „Ich nehme an, Sie hatten eher an eine sichtbare Handlung gedacht. Aber Sie haben sehr wenig Spielraum, meine liebe junge Frau. In solchen Situationen kann das Gebet das Wirkungsvollste sein, was man tun kann.“

„Also, ich werde Sie nicht daran hindern zu beten, wenn Sie wollen“, willigte sie, hauptsächlich aus Höflichkeit, ein.

„Mateo“, rief Sanchez. Das Klappern in der Küche hörte auf.

„Ja, Papa?“

„Kommst du und betest mit uns?“

Als Mateo sich auf das andere Ende des Sofas gesetzt hatte, beugte Sanchez den Kopf. Blair tat das Gleiche. Sie schloss auch die Augen. In ihrem Kopf kreisten zu viele Sorgen, als dass sie wirklich die Worte des Pfarrers hätte aufnehmen können. Er sprach von Gottes Schutz und seiner Hilfe in schwierigen Zeiten. Es waren gute, tröstende Worte, aber Blair halfen sie nicht weiter. Der harte Klumpen lag immer noch in ihrem Magen und die Angst lähmte immer noch ihr Herz. Aber sie sagte mit den anderen „Amen“ und lächelte zum Dank, als alle wieder den Kopf hoben.

Vielleicht spürte Sanchez, wie hin- und hergerissen sie war, denn er sagte: „Ich hatte gerade eine Idee. Ich wollte heute Vormittag nach Fort McKinley fahren, um dort zu helfen. Ich kann mich nach Gary erkundigen.“

„Könnte ich mit Ihnen fahren?“, fragte sie schnell.

„Gary bringt mich um, wenn ich Sie dorthin mitnehme.“

„Bitte, Pastor Sanchez. Wenn Gary dort ist, kann er vielleicht nicht wegkommen, und das könnte meine einzige Chance sein, ihn zu sehen.“

„Papa“, mischte sich Mateo ein. „Manchmal können wir im Krieg nicht immer auf Nummer sicher gehen. Miss Hayes sollte die Chance bekommen, wenn sie es für nötig hält. Findest du nicht?“

Blair staunte nicht schlecht über die Worte des jungen Mannes. Und auch sein Vater. Sanchez starrte seinen Sohn verwundert an. Mit einem Kopfschütteln gab er sich geschlagen. „Mein Sohn hat mehr Weisheit, als gut für ihn ist. Aber ich muss gestehen, dass er recht hat. Ich denke, Gary wird das verstehen. Einverstanden. Trinken wir eine Tasse Kaffee und essen ein paar Bissen. Dann fahren wir.“

„Was soll ich wegen Claudette machen? Ich habe ihr versprochen, dass ich bald zurück bin.“

Wieder fand Mateo die Lösung. „Ich gehe zu ihr, wenn Sie wollen. Ich sage ihr, was passiert ist, und bleibe bei ihr, bis Sie zurückkommen.“ Er schien diese Aufgabe sehr bereitwillig zu übernehmen.

„Das ist nett von dir, Mateo!“ Blair erwähnte lieber nicht, dass Claudette wahrscheinlich in Ohnmacht fallen würde, wenn der Junge plötzlich vor der Tür stand.