Reisetagebuch

In die Ferne nach Hause 

 

 


Erste Reise eines Ahnungslosen
nach Peru, das Land, aus dem
seine Ehefrau stammt …

 

 

 

 

 

© 2017, Ulrich Seibert (Text und Fotos)
www.ulrich-seibert.de


 

 

 

 

 

 

Für Luisa,

meine Schwiegermutter, die während der Nachbearbeitung
dieses Tagebuchs leider unerwartet
an einer Leberzirrhose verstorben ist

Vorwort

 

„Alles schön bunt … aber verrostet.“

Das war die Antwort, die mein Schwager Juan von seinem dreijährigen Sohn Edward bekam, als er diesen fragte, wie ihm Peru gefallen hätte. Ich bin fast sicher, dass man ein Land kaum in so wenigen Worten treffender beschreiben kann. Peru ist ein reiches und ein armes Land zugleich. Reich, weil es über Bodenschätze und unglaubliche kulturelle Hinterlassenschaften verfügt, die es u.a. für den Tourismus interessant machen. Es gibt verschiedene Klimazonen von der Küste über das Hochland bis in den Amazonas-Dschungel, ein Umstand, dem Peru unter anderem reichhaltige Zutaten für die wohl beste Küche Südamerikas zu verdanken hat. Aber es gibt auch jede Menge Armut, die klassische Armut der sich selbst ausbeutenden Mini-UnternehmerInnen, die sich Tag um Tag abrackern, um ihren Kindern am Abend etwas zu essen bieten zu können und die extreme Armut von Leuten, die, unfähig, ihr Leben noch aus eigener Kraft geregelt zu bekommen, auf private Wohltätigkeiten angewiesen sind. Die meisten Peruaner versuchen stets, das Beste aus ihrer jeweiligen Situation zu machen – sei sie auch noch so schwierig oder bizarr – und sie müssen dabei ständig improvisieren. Das macht aus ihnen einen Menschenschlag, den man mit allerlei Eigenschaften belegen kann wie offen, spontan, liebenswürdig, humorvoll, widersprüchlich oder auch opportunistisch, ohne ihn damit jemals vollständig beschreiben zu können. Das können, wenn überhaupt, vielleicht Geschichten ein klein wenig bewerkstelligen. Und so ist auch dieses kleine Büchlein zu verstehen, als eine Sammlung selbst erlebter Episoden während einer Reise mit meiner Frau in ihr Heimatland. Vergeblich werden Sie hier Beschreibungen der großen Sehenswürdigkeiten suchen oder in Schwelgereien über landschaftliche Impressionen eintauchen können. Wenn dies hier schon als Reiseführer angesehen werden soll (was bitteschön keinesfalls in der Intention des Autors liegt), dann einer … zu den Menschen Perus. Falls Sie dann doch den ein oder anderen touristisch interessanten Tipp für sich entdecken, betrachten Sie ihn bitte als Dreingabe.

Geschrieben wurde dieser Text (abgesehen vom letzten Kapitel) während der drei Wochen in Peru selbst und zwar zunächst ausschließlich als Erinnerung für mich selbst und meine Familie. Die Idee zur Veröffentlichung kam erst später, insbesondere auf Zuspruch einiger Freunde / Verwandte, die ihn zu lesen bekommen hatten (damit ich mir langatmige Erzählabende schenken konnte). Einerseits wollte ich die Texte für die Veröffentlichung im Original belassen, um die Spontaneität und Frische des Erlebten möglichst zu erhalten, andererseits fehlen dem geneigten Leser damit wichtige Informationen, um gewisse Situationen / Zusammenhänge verstehen zu können. Daher habe ich den Kapiteln, bei denen mir dies nötig erschien, redaktionelle Anmerkungen vor- oder hintangestellt.

Wenn Sie nach der Lektüre dieses Büchleins auf Peru und seine Bewohner etwas neugieriger geworden sein sollten, würde mich das sehr freuen, denn … Land und Leute sind es wert!

 

 

Tag 1: 11.5.2016 (Mittwoch)

 

Es geht doch nichts über eine stressfreie Abreise. Erstaunlicherweise läuft alles glatt: Unser „Privat-Chauffeur“ zum Flughafen hat nicht verschlafen, das Gepäck passt samt allen Passagieren in Gottfrieds Auto, kein Stau auf der Autobahn, keine Warteschlange beim Gepäck-Einchecken, gemütlich Zeit für ein kleines Frühstück am Flughafen. Dann ein pünktlicher Abflug zunächst nach Amsterdam mit der KLM. Auch in Schiphol keinerlei Stress, ein gemächlicher Fußmarsch vom Anflug- zum Weiterflug-Gate. Meine Frau Dina entdeckt eine Ladestation für Handys, die Strom liefert, wenn man sich auf einen Fahrradsitz setzt und kräftig in die Pedale steigt. Sehr sympathisch … aber wen wundert es, dass alle vier Ladestationen unbesetzt sind? Das heißt … nicht ganz. Ein Herr im mittleren Alter, geschäftsmäßig gekleidet, nähert sich, setzt sich, doch der Zweck der Pedale erschließt sich ihm nicht vollständig. Immerhin, seine Füße stellt er schon mal drauf. Nachdem aber nichts weiter passiert, packt er Kabel und Handy mit finsterer Miene wieder ein und geht seiner Wege.

Ein kleiner Dämpfer im Flugzeug nach Lima: Just in unserer Sitzreihe gibt es kein Fenster. Nur Flugzeugwand. Und ich hätte mir so gerne die Karibik, Venezuela und Kolumbien angesehen. Auch die hübsche Latina, die neben mir am „Fensterplatz“ sitzt, findet an dieser Situation wenig Gefallen und sie verlangt von der Stewardess, an einen richtigen Fensterplatz umgesetzt zu werden, ein Wunsch, der ihr erfüllt wird, weil gleich in der Reihe vor uns ein Platz frei geblieben ist. Und was macht diese blöde Kuh als Allererstes: Sie schließt die Jalousien beider Fenster und öffnet sie erst kurz vor der Landung in Lima wieder, um mit ihrem iPhone ein Foto vom Nachthimmel von Lima zu schießen. Immer wieder holt sie während des Fluges ihr Smartphone hervor, um sich Fotos anzusehen. Die meisten der Fotos – und diese scheint sie mit besonderer Hingabe zu betrachten – sind Fotos von ihr selbst. Es gibt Menschen, mit denen ich mich durchaus leicht identifizieren kann. Und dann gibt es diese anderen, deren Gedanken- und Gefühlswelt mir wohl auf ewig verschlossen bleiben werden …

Bild 1-1: Ein Teil des Flusses, der nach einem großen Internet-Handelskonzern benannt wurde
Ein Blick aus dem Flugzeug (vom „Privatbereich“ der Stewardessen) auf das peruanische Amazonasbecken. An den ehemaligen Flußschleifen lässt sich die landschaftsverändernde Kraft eines Wildflusses gut erkennen

Eine Neuerung auf Transatlantik-Flügen, die ich bis jetzt noch nicht kannte, sind kleine Multimedia-Stationen, die im Vordersessel installiert sind. Mit einer herausnehmbaren Fernbedienung, die auf der Rückseite gleichzeitig eine Spielekonsole und eine Miniaturtastatur enthält, kann man Computerspiele spielen, Filme oder Fernsehserien ansehen, telefonieren oder SMSen, Musik hören, die aktuellen Fluginformationen abrufen und ein halbes Dutzend Sachen mehr. Was ich mir noch gewünscht hätte, wären Einblendungen von einer im Flugzeugrumpf integrierten Kamera oder Internet.

Früher hatte man zu solchen Anlässen einen Roman dabei, der bei der Ankunft meist durchgelesen war. Heute … okay, ich gebe es zu … ich habe mir das erste Mal in meinem Leben vier Spielfilme angesehen. Fast wäre ich versucht zu sagen „das erste und das letzte Mal“, aber ich will mal vorsichtig sein: Der Rückflug steht noch bevor.

Als das Flugzeug um 18:15 Uhr (mit nur zehn Minuten Verspätung trotz einer halbstündigen Verzögerung beim Start, weil die Flüge einiger Passagiere verspätet in Amsterdam angekommen sind) landet, ist es in Lima bereits dunkel. Wir warten etwa eine Stunde, bis unser Gepäck kommt und begeben uns in den Ausgangsbereich, wo Daniel, Dinas Bruder, schon auf uns wartet. Auf dem Weg nach draußen laufen wir an etlichen Taxistas vorbei, die ihre Dienste anbieten. Daniel ignoriert sie alle und sucht sich draußen selbst einen, mit dem er den Fahrpreis aushandelt. Soo selbstverständlich ist es nicht, einen geeigneten Taxifahrer zu finden, denn der soll ja nicht nur billig sein, sondern auch den Mut haben, uns in den berüchtigten Stadtteil Comas zu fahren … Mit modernem Fernost-Auto und Smartphone-Navi geht es schließlich durch eine Stadt, deren Verkehr mit vollem Recht berüchtigt ist. Nicht nur die Fahrzeuge sind abenteuerlich (Ich habe ein Auto gesehen, das mehr oder weniger nur noch aus einem Fahrgestell mit Motor bestand), sondern erst recht auch die Fahrweise. Insbesondere die Moto-Taxis (zu einer Art motorisierter Rikscha umgebaute Mopeds) nutzen jede Lücke, die sie finden können, ohne auf andere motorisierte Verkehrsteilnehmer zu achten, die vielleicht gerade mit deutlich mehr PS unter der Haube in dieselbe Lücke vordringen. Erstaunlicherweise werden wir ohne Crash (nur zwei Beinahe-Zusammenstöße) an Dinas altem Zuhause ankommen. Doch wie lange das Taxi es noch machen wird, steht auf einem anderen Blatt: In unregelmäßigen Abschnitten sind Geschwindigkeitsbarrieren (die der Amerikaner lautmalerisch „Bump“ nennt) von bis zu 30 Zentimetern Höhe quer über die Fahrbahn angelegt. Unser Taxi rumpelt derart ungebremst über manche dieser Bumps, dass die Karosserie gelegentlich sogar Bodenkontakt bekommt. Spielt wohl keine Rolle … Hauptsache, man liefert den Kunden rasch an seinem Ziel ab, damit man schnell neue Fahrgäste akquirieren kann. Wer braucht hier schon ein funktionstüchtiges Auto?

Kurz nach 20 Uhr Ortszeit sind wir am Ziel. Großes Hallo, viele Umarmungen, viele rasch gesprochene Sätze, die meine Spanisch-Kenntnisse aufs Äußerste fordern. Eine Hühnersuppe als Abendessen, gekocht mit dem Tierchen, das Mama vor Kurzem noch großgezogen hat. Aus Dinas Schüssel winkt eine „appetitanregende“ gekochte Hühnerklaue heraus. Bevor wir uns nach 23 wachen Stunden endlich ins Bett verkrümeln, lasse ich mich noch auf das Flachdach des Hauses führen, das sofort mein Lieblingsplatz wird. Von hier oben aus kann man einen Blick auf die Lichter von Comas und Callao (und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, auch aufs Meer) genießen, aber auch auf die Fauna der Stadt, die überwiegend aus Tauben, Katzen und Hunden besteht, die allesamt niemandem zu gehören scheinen.

Bild 1-2: The BEAGLES
Die berühmte Hundeband THE BEAGLES gönnt sich selbst nach Sonnenaufgang keine Aufführungspause

Dina hat von einem Nachbarn erzählt, der vor seinem Haus ab frühem Abend mit voller Lautstärke eine Diskothek betreibt – bis zwei Uhr morgens. Um vier Uhr begännen dann die Aufbauarbeiten für den Markt, der sich in der Straße direkt vor dem Haus abspielt. Ich bereue die Entscheidung, Ohrenstöpsel mitgebracht zu haben, nicht, als uns das Zimmer exakt über der Straße zugewiesen wird. Doch die Befürchtungen zerstreuen sich. Laute nächtliche Musik in der Straße wurde mittlerweile verboten. Auch die Aufbauzeiten des Marktes haben sich etwas nach hinten verschoben. Die Nacht wird den Umständen entsprechend ruhig werden … wenn man von dem von der Akustik begünstigten Chor absieht, den fünf auf einem nahen Flachdach untergebrachte Hunde nach Mitternacht veranstalten.

Comas ist ein Ort nördlich von Lima in der gleichnamigen Provinz gelegen. Da die Gegend durchgängig besiedelt ist, ist es für den Außenstehenden schwierig, zu bemerken, wann er einen Ort verlässt und einen anderen betritt, ähnlich wie es sich bei uns mit Stadtteilen verhält. Comas entstand in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Folge einer gewaltigen Landflucht, die sich nach Lima ergossen hatte und ist einer der am dichtesten besiedelten Orte rund um Lima. Nur wenige Menschen, die dort leben, könnte man der Mittelschicht, geschweige denn der Oberschicht zuordnen. Aus dieser demografischen Situation heraus ergibt sich quasi automatisch, dass Comas dadurch auch zu einem Brennpunkt der Kriminalität wird. Mir wurde daher von einem Schwager dringend angeraten, auf keinen Fall nach 17:00 Uhr in den nur spärlich beleuchteten Straßen herumzulaufen und auch tagsüber nur in Begleitung das Haus zu verlassen. Auch viele Taxifahrer, Liefer- oder Dienstleistungsunternehmen weigern sich, Comas anzusteuern. Touristen beziehungsweise „Gringos“ im Allgemeinen verirren sich so selten in diese Gegend, dass sie sofort auffallen.


Auch die Eltern meiner Frau Dina, Luisa und Urbano, gehörten zu den Menschen, die in ihrer Jugend ihr Heil in der großen Stadt suchten. Doch Comas war damals nichts weiter als blanke, wasserlose, bergige Fels- und Schuttwüste, wo es aber auch gar nichts gab, weder Wasser, noch Elektrizität … von Müllabfuhr oder öffentlichem Nahverkehr ganz zu schweigen. Da die Bewohner allesamt weitgehend mittellos waren, dauerte es Jahrzehnte, bis die Regierung sich entschloss, das Gebiet zu erschließen. Dinas Vater war einer der unermüdlich engagierten Kämpfer für dieses Projekt. Er sammelte Geld für Material, besorgte es, organisierte die Arbeiten an der Kanalisation, wobei die Bewohner selbst anpacken mussten, überzeugte einen General davon, die Armee beim Aufbau mithelfen zu lassen, was dann letztendlich dazu führte, dass die Regierung das Projekt schließlich übernahm. Auf seine hartnäckigen Anregungen hin wurden schließlich einige der wichtigsten Straßen nach und durch Comas gebaut wie die Avenida Tupac Amaru, welche heute die Hauptverbindungsstraße von Lima in den Nordosten des Landes darstellt oder die Avenida Belaunde, die bis in die obersten Ausläufer von Comas führt.

Urbano war für peruanische Verhältnisse ein außergewöhnlicher Mensch. Den Kindern gegenüber war er besonders in jungen Jahren streng, aber (zumeist) gerecht. Er stand fest zu seinen Grundsätzen und ließ sich nicht verführen: Weder veruntreute er einen einzigen Cent, als er gesammeltes Geld daheim verwahrte (im Gegensatz zu einem anderen Geldsammler, dessen Aufbewahrungszimmer unter mysteriösen Umständen abbrannte …), noch ließ er sich von Parteien für ihre Zwecke einspannen, die gedachten, den „Helden von Comas“ für ihre Zwecke insbesondere im Wahlkampf zu nutzen. Seine Frau Luisa hat ihm das durchaus übelgenommen, denn die Familie hätte ein Amt – beziehungsweise die Einkünfte daraus – gut gebrauchen können.

Trotz der stets höchst angespannten Finanzlage gaben Luisa und Urbano der Ausbildung ihrer insgesamt acht Kinder die oberste Priorität, was in dieser Gegend absolut keine Selbstverständlichkeit war, schon gar nicht bei den Töchtern, die ansonsten gefälligst heiraten und Kinder kriegen sollten. Neben der Schule (die schon teuer genug war; zu jedem Schuljahresbeginn mussten neue Bücher, Hefte, Stifte und … Schuluniformen gekauft werden; natürlich für jedes Kind) bezahlte die Familie zusätzlich Privatakademien, um die Kinder fit für die Universität zu machen. Eine weitsichtige Strategie, die sich ausgezahlt hat, denn sechs der acht Kinder bekamen immerhin Stipendien für ein Studium im Ausland.

Urbano ist im Oktober 2009 nach einem heißen Bad vermutlich an einem Herzinfarkt verstorben, Luisa im August 2016, also nur wenige Wochen nach unserem Besuch.