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Ursula Neeb
Der Wundermann
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2008 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
Zeichnung auf Seite 315: Christian Pfeiffer
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-132-8
Meiner Mutter Katharina Röseler
in liebevoller Erinnerung gewidmet
»Mundus vult decipi – ergo decipiatur!«
 
(»Die Welt will betrogen werden –
also muss man sie betrügen!«)
Sebastian Franck, Paradoxa 1533

Inhaltsverzeichnis

Prolog
I. Teil – »Wasche und kämme den Hund …«
1.  Jedermanns Fußhader
2.  Martinus
II. Teil – Lehr- und Wanderjahre
3.  Die kleine Welt des Betruges
4.  (Taschen-)Spielertricks
5.  Der Schwarzkünstler
III. Teil – Der Aufstieg
6.  Die Landgräfin
7.  Der Traum vom Gold
IV. Teil – Der Goldmacher
8.  Einzug in Frankfurt
9.  Fastnachtstreiben
10.  Das Experiment
11.  Goldrausch
12.  Am Narrenseil
13.  Der Famulus
V. Teil – Der Umschwung
14.  Das Ultimatum
15.  Nattern am Busen
VI. Teil – Der goldene Strick
16.  Das Geständnis
17.  Gertrud
18.  Die Todesfee
Epilog
Anhang

Prolog

In Frankfurt herrscht in diesen Tagen eine Aufregung, wie man sie selbst in der ohnehin recht betriebsamen, quirligen Messestadt nur selten erlebt. Wer lesen kann, liest das Bekenntnis des so schmählich gescheiterten Wundermannes. Die Leseunkundigen dagegen – und derer sind nicht wenige – lassen sich das Flugblatt von anderen vorlesen. An sämtlichen Ecken und Plätzen Frankfurts, bis hinein in die Schenken, Badestuben und Frauenhäuser, wimmelt es von professionellen Vorlesern, die dem sensationsgierigen Publikum gegen Gebühr den Inhalt der Flugblätter mit viel Pathos und Dramatik kund und zu wissen geben. Und alle, vom Bettler bis zum Schultheiß, von der Hübscherin bis zur Stiftsdame, haben ihre Meinung dazu, mit der sie nicht hinter dem Berg halten. Die meisten sind voller Häme gegen den schändlichen Betrüger und fordern hasserfüllt, dass er doch hoffentlich bald brennen möge. Andere dagegen fühlen Mitleid mit dem Sünder und sind in Anbetracht seiner Bußfertigkeit für eine eher milde Strafe.
Das führt dazu, dass sich die Leute allerorts die Köpfe heißreden, und nicht selten lautstark, handfest gar, aneinander geraten. Auch auf der Stube der Gesellen auf dem Alten Limpurg erhitzen sich die Gemüter. Für die hohen Herren stellt die gesamte Angelegenheit ohnehin das schlimmste Ärgernis dar. Müssen sie sich doch zu ihrer großen Schande eingestehen, dass ausgerechnet sie, die zu den vornehmsten Frankfurter Familien gehören, einem geschickten Betrüger und Erzschelm auf den Leim gegangen sind und sich dadurch der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben haben. So gibt es nicht wenige unter den Patriziern, die aus verletztem Stolz für eine drastische Bestrafung des Goldschwindlers plädieren. Jedoch spalten sich auch hier die Lager in Befürworter des Feuertodes und jene, die besonnen darauf hinweisen, dass es in ihrer freigeistigen, weltoffenen Stadt bislang keine Scheiterhaufen gegeben habe, und das solle auch gefälligst so bleiben.
Am späten Abend kommt es zu einem tumultartigen Streit auf der Stube, bei dem sich einige Stubengesellen gar zu tätlichen Übergriffen verleiten lassen, bis sie von den überwiegend vernünftigen Stubenmeistern schließlich beschwichtigt und mit der Zahlung einer nicht unempfindlichen Geldstrafe belegt werden.
Am frühen Morgen des 3. August 1527 findet sich der Rat der Stadt Frankfurt am Main, dem alleine der Urteilsspruch in peinlichen Dingen obliegt, zu einem Strafgericht im großen Versammlungssaal des Rathauses auf dem Römerberg zusammen. Auch eine Abordnung des Klerus sowie der Fünfzehner-Rat der Stubengesellschaft auf dem Alten Limpurg sind erschienen, um endlich das noch ausstehende Urteil zu fällen.
Auf dem gesamten Römerberg drängen sich die Menschen, um einen Blick auf den auf einem Schinderkarren in Ketten gelegten Wundermann erhaschen zu können. Selbst im härenen Sackleinen wirkt der junge Mann auf dem Karren immer noch schön und unnahbar wie ein Erzengel, welcher, eingetaucht in güldenes Sonnenlicht, gerade erst vom Himmelszelt herabgestiegen, nicht von dieser Welt zu sein scheint. Überdies künden Blick und Haltung des Wundermannes von stiller Würde und Erhabenheit. Hier kommt kein gebrochener Delinquent, aus unzähligen Folterwunden blutend, wie die meisten Todeskandidaten, was einige aus dem Pöbel denn auch mächtig ärgert und dazu anstachelt, Martin mit Schmährufen und faulem Obst zu attackieren. Andere dagegen verhehlen nicht ihre Bewunderung für die offenkundige Fassung und Beherrschung des Gescheiterten, sprechen ihm Mut zu und empfehlen ihm Gottes Segen.
Zu dieser Gruppe gehört Martins Freund und Gönner Arthur Löwenstein, dem es gelingt, zu Martin vorzudringen, um ihm kurz ein paar aufrichtende Worte zuzurufen. Auch ein Mann im Priestergewand nähert sich dem Schinderkarren und spendet dem Gefangenen Trost. Erstaunt erkennt Martin in ihm seinen früheren Weggefährten Franz Misselwitz aus Wien und bedankt sich freundlich. Eine bäuerlich gekleidete, stattliche Frau aus der Menge schafft es sogar, eine Handvoll wohlriechender Wiesenkräuter auf den Wundermann zu streuen und ihm mit eindringlichem Blick alles Gute zu wünschen. Martin kommt die Frau seltsam bekannt vor, aber er weiß sie nicht genauer einzuordnen. Als der Karren mit dem Gefangenen endlich vor dem Rathaus angelangt ist, bilden die gut bewaffneten Stadtbüttel vor dem Rathausportal ein Spalier, und der in Ketten gelegte Angeklagte wird von zwei stämmigen Stangenknechten zum Gerichtssaal geführt. Das Portal wird daraufhin sorgfältig verschlossen und gegen die andrängende Meute zusätzlich von geharnischten Türstehern bewacht.
Ein Gerichtsdiener bedeutet den Schergen, mit dem Delinquenten auf der Holzbank vor dem Rathaussaal zu warten, bis ihnen Bescheid gegeben würde, den Angeklagten zur Urteilsverkündung vorzuführen.
Flankiert von seinen vierschrötigen Wachhunden nimmt Martin auf der Bank Platz, immerzu darauf bedacht, sich keinesfalls anmerken zu lassen, was für ein verzweifelter Kampf in seinem Innern tobt. Denn tatsächlich verbirgt sich hinter der Fassade, mit der er den Außenstehenden so überzeugend Fassung und Selbstzucht vorzuspiegeln versteht, ein zutiefst verzweifelter, verängstigter Mensch, der größte Mühe hat, seine schlotternden Knie im Zaum zu halten, erst recht aber, die von blanker Furcht gepeinigten Gedanken nicht gänzlich einer ausufernden Verzweiflung und wilden Panik anheim zu geben. Er weiß genau, in seiner jetzigen Situation hilft nur noch Hoffen und Beten, und so sendet er – wie einst als Knabe – immer wieder inbrünstige Stoßgebete an die heilige Jungfrau im Himmel, sie möge ihn doch wenigstens mit dem Leben davonkommen lassen.
Sollen sie mich meinethalben öffentlich auspeitschen oder auch im Halseisen an den Pranger stellen, Spießruten laufen lassen – wenn sie mich nur am Leben lassen!, denkt Martin voller Verzweiflung. Vielleicht werden sie mir ja auch die Augen ausstechen, mir die Ohren abschneiden oder mich rädern!, durchfährt es ihn, der sich doch so entsetzlich vor jeglicher Folter fürchtet, immer wieder siedendheiß, und er ist sich nicht sicher, ob er diesen Höllenqualen gegenüber dem Todesurteil wirklich den Vorzug geben würde.
Nach außen hin jedoch gelingt es ihm, eine Miene stoischer Gelassenheit aufzusetzen.
Durch die große Flügeltür aus massivem Eichenholz dringt kein Laut aus dem Verhandlungssaal zu den Wartenden. Auch die Wärter, denen die Zeit allmählich lange wird, wechseln kaum ein Wort.
Der Büttel an Martins linker Seite, möglicherweise einer von denen, die auf Martin uriniert hatten – er kann sie so schlecht auseinander halten, sie ähneln sich alle so sehr in ihrer einheitlichen Tracht und ihrer dumpfen Grobschlächtigkeit –, stiert Martin eine Weile an, kratzt sich den stoppeligen Schädel und blökt plötzlich in die allgemeine Stille hinein:
»Alle Achtung! Der Kerl ist ja kalt, wie ’ne Hundeschnauze! Hätte ich dem geschniegelten Äffchen gar nicht zugetraut, dass es so viel Schneid hat!«
»Wart erst mal ab, bis der Angstmann1 den am Wickel hat! Dann wird dem schon noch ordentlich der Stift gehe!«, entgegnet der andere roh und beginnt mit gehässigem Grinsen die Strophe eines alten Volksliedes vor sich hinzubrummeln:
»Oh Freimann, liebster Freimann mein, schenk mir noch ein kleines Weil!«
Wobei mit »Freimann« kein anderer als der Henker gemeint ist.
Martins Fingernägel graben sich bei dieser schauerlichen Weise tief in die schweißnassen Handflächen, ansonsten tut er so, als hätte er nichts gehört.
I. Teil
»Wasche und kämme den Hund …«2