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Annelie Buntenbach
Markus Hofmann
Ingo Schäfer (Hg.)

RENTE mit 70

Ein Schwarzbuch

Mit Texten von Alf Mayer

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Juli 2017
entspricht der 1. Druckauflage vom Juni 2017
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Fotos: Alf Mayer und privat (S. 67, 70, 166, 172)
Cover: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

eISBN 978-3-86284-397-8

Inhalt

Annelie Buntenbach/Markus Hofmann/Ingo Schäfer

Arbeiten bis zum Tod oder Warum die Rente mit 70 keine Option ist

Porträts aus der Arbeitswelt

Ralf Klose, Staplerfahrer

Christel Hoffmann, ehemals bei Schlecker

Die »Schlecker-Frauen« und die Lage im Einzelhandel

Petra Vogel, Reinigungskraft

Achtung: Niedriglohngebiet

Kadir Gülbas und Hussein Hayer, Gebäudereiniger

Regina Richter, Friseurin

Martina Pracht, Opel Eisenach

Ganzheitliche Produktionssysteme und ihre Wirkungen

Elisabeth Wolff, Blumenverkäuferin

Britta Bittner, IKEA

Spezifische Probleme im Einzelhandel

Sabine B., Minijobberin

Rita Meschwitz, ehemalige Bäckereiverkäuferin

Rolf Müller, ehemals Klinikum Fulda

Problematisch: Gründung von Servicegesellschaften

Andreas Cleemann, Anlagenführer

Hermann Terhorst, Gartenbauzentrale Papenburg

Martin Meinerling, Putenzucht Moorgut Kartzfehn

Ümit Kosak, Wolf ButterBack

Niedriglöhne in der Systemgastronomie

Vom Arbeitsdruck in der Nahrungsmittelindustrie

Harry Schäfer, Paketbote

Tiny Hobbs, Briefzusteller

Gespräch mit einem Zeitarbeiter, Deutsche Post AG

Befristete Arbeitsverträge und ihre negativen Wirkungen

Marcus Radon, Frischdienstfahrer

Sozialdumping mit »mobilen Produktionsstätten«

Caroline Loesgen, Pentair Technical Solutions

Jürgen Hofmann, L’Oreal

Wilfried Huschenbett, Elektromonteur

Leiharbeit: Fünfmal riskanter und 42 Prozent weniger Gehalt

Andreas Eben und KollegInnen, Gabelstaplerhersteller STILL

Klaus-Günter Badeck, Sanofi

Bernd Meffert, Verkehrsbetriebe Wiesbaden

Andrea Gispert-Panzer, Fahrdienstleiterin

Hussin el Moussaoui, Evonik

Christian Pfaff, BASF

Glenn Lawrence, Kautschuk-/Kunststoff-Techniker

Thomas Pietzka, Zuckerhersteller Pfeifer & Langen

Thomas Scheunert, Polizist

Angelika Kulicke, Krankenschwester

Dr. Antonia S., Sprachlehrerin

Die prekäre Lage der Solo-Selbstständigen

Steffi Jettenberger, Erzieherin

Roland Selg, Müllfabfuhr

Hermann Betz, Goodyear Dunlop Tires

Uwe Meschwitz, selbstständiger Dachdecker

Robert Yates, Dachdeckergeselle

Kleine Achterbahnfahrt zu den Bedingungen im Baugewerbe

Die Erfahrungswerte der SOKA-BAU

Falk Bindheim, Student

Atypische Beschäftigungsformen verdrängen Vollzeitstellen

Florian Pieroth, Heraeus

Benno Diemer, Bootsbauer

Waldemar Enderich, Malergeselle und Frührentner

Glossar

Weitere Informationen

Herausgeberin / Herausgeber / Autor

Arbeiten bis zum Tod oder Warum die Rente mit 70 keine Option ist

Warum braucht es ein Schwarzbuch Rente mit 70? Wir finden, ein Blick in die tägliche Arbeitsrealität ist überfällig: Damit wird plastisch greifbar, warum für viele Beschäftigte die Rente mit 70 geradezu eine Bedrohung darstellt. Aber das darauf abzielende Dauerfeuer aus der immer gleichen Richtung nimmt zu. Die zentrale Forderung: das gesetzliche Renteneintrittsalter immer weiter anzuheben, z. B. nach 2029 das Rentenalter über 67 hinaus (automatisch) weiter steigen zu lassen.

Solche Vorschläge sind allein darauf ausgerichtet, die Rentenausgaben zu kürzen. Es soll weniger Rente gezahlt werden, um den Beitragssatz für die Arbeitgeber senken zu können. Dabei sind die ständigen Rufe nach einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters gefährliche Brandbeschleuniger. Sie zerstören gezielt die Leistungsfähigkeit und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung. Am Ende steht ein höheres Rentenalter bei niedrigerem Rentenniveau und groteskerweise dennoch höheren Beiträgen; in jedem Fall auf der Seite der Arbeitnehmer, denen neben den höheren Beitragssätzen zur gesetzlichen Rentenversicherung die Kosten für die dann notwendige zusätzliche Altersvorsorge privat aufgeladen werden. Den Schaden davon haben alle Beschäftigten, gerade auch die jüngeren, denn für sie sollen die Altersgrenzen steigen.

Die Befürworter höherer Altersgrenzen sind, neben einschlägig bekannten Professoren, Arbeitgeber und ihre Lobbyorganisationen sowie wirtschaftsnahe Politiker. Gemeinsam ist allen, dass sie Gesellschaft und Solidargemeinschaft von den Gewinninteressen der Unternehmen und der Wirtschaft aus betrachten. Sie malen Schreckgespenster an die Wand, um die Debatte um ein höheres Rentenniveau möglichst auszuhebeln.

Die Forderung nach höheren Altersgrenzen ist nicht nur der Versuch, die Rentenzahlungen zu kürzen, sondern damit sollen auch Forderungen nach einem Kurswechsel in der Rentenpolitik, die auf eine Stärkung der gesetzlichen Rente abzielen, ausgehebelt werden. Vorgegaukelt wird, dies sei eine »schonendere« Lösung der demografischen Herausforderungen, als es zum Beispiel die Vorschläge der Gewerkschaften vorsehen. Dass dieser Vorschlag der Rente mit 70 alles andere als »schonend« für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist, dies zeigen die in diesem Buch versammelten Porträts von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Worin besteht der alternative Ansatz der Gewerkschaften? Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und Einzelgewerkschaften fordern einen Kurswechsel in der Rentenpolitik und wollen die gesetzliche Rentenversicherung stärken. Die Leistungsfähigkeit und Leistungsgerechtigkeit der gesetzlichen Rente muss für alle Generationen gesichert werden. Die gesetzliche Rentenversicherung muss ein Leben in Würde im Alter ermöglichen. Aus Sicht der Gewerkschaften ist dazu das Rentenniveau zu stabilisieren und im weiteren Schritt anzuheben, etwa auf 50 Prozent. Damit wären die Renten im Jahr 2045 rund 20 Prozent höher als nach geltendem Recht. Um die Leistungsseite zu stärken und das Sicherungsziel der gesetzlichen Rente zu erreichen, gehören zudem die Abschläge bei Renten wegen Erwerbsminderung abgeschafft. Die Mütterrente ist voll aus Steuern zu finanzieren, die gesetzliche Rentenversicherung muss langfristig zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickelt werden und die ganze Gesellschaft, insbesondere die Bestverdiener und Vermögenden, muss sich mit einem »demografischen Bundeszuschuss« an der Finanzierung der Rentenversicherung beteiligen. Am Ende müsste der Beitragssatz für die Beschäftigten bis zum Jahr 2045 um nur 0,8 Prozent stärker steigen als jetzt bei sinkendem Rentenniveau vorgesehen – dafür aber mit rund 20 Prozent höheren Renten.

Im Durchschnitt steigt die Lebenserwartung. Aber mit der Lebenserwartung verhält es sich wie mit dem Einkommen: Im Schnitt steigt sie an, aber die Ungleichheit nimmt dabei immer weiter zu. Auch sagt die steigende Lebenserwartung nichts darüber aus, ob und bei wie vielen Beschäftigten dieser Anstieg mit gesunden und arbeitsfähigen Jahren einhergeht. Wer die Altersgrenze mit der durchschnittlichen Lebenserwartung anhebt – ein Vorschlag, den nicht nur die EU forciert – nimmt sehenden Auges in Kauf, dass eine wachsende Gruppe das Rentenalter nicht oder nicht gesund erreichen wird. Und wer es noch bis zur Altersgrenze schafft, bekommt weniger Jahre lang eine Rente ausgezahlt! Diese Verkürzung der Rentenzahlung wirkt sich auf verschiedene Gruppen völlig unterschiedlich aus und geht gerade zulasten derjenigen, die nach einem harten und langen Arbeitsleben mit oft niedrigeren Einkommen auskommen müssen. Ein Beispiel: Steigt das Rentenalter von 65 auf 67 Jahre, bedeutet das für jemanden, der mit 75 Jahren stirbt, eine Kürzung der Zeit des Rentenbezugs um 20 Prozent, steigt das Rentenalter gar auf 70, wäre es eine Halbierung (!) der Rentendauer. Wer 85 wird, hätte nur eine 10 Prozent kürzere Rentenbezugszeit – bei einer Altersgrenze von 70 würde die Rente so um ein Viertel gekürzt. Menschen mit geringem Einkommen sterben im Schnitt früher als jene mit höherem Einkommen. Steigende Altersgrenzen kürzen also besonders die Renten der Ärmeren und der oftmals am Arbeitsmarkt schlechter gestellten Gruppen. Auch ist der frühestmögliche Rentenbeginn gerade erst angehoben und damit die Dauer des Rentenbezugs regelmäßig um drei Jahre gekürzt worden. Ab Jahrgang 1952 können die Beschäftigten grundsätzlich erst mit 63 Jahren, also drei Jahre später als bisher, eine Rente beziehen.1 Wer arbeitslos oder angeschlagen ist, muss sich also drei Jahre länger durchschlagen. Die Lücke zwischen Erwerbsaustritt und Rentenbeginn wächst tendenziell wieder.

Wenn ein wachsender Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das gesetzliche Rentenalter nicht gesund und in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erreicht, hilft es nicht, wenn der Beitragssatz niedriger ausfällt. Dann verfehlt die Rentenversicherung ihren sozialpolitischen Auftrag, den wohlverdienten Ruhestand zu sichern, da dieser gar nicht mehr erreicht wird. Und die Zeit des auskömmlichen Ruhestandes zu einem üblicherweise erreichbaren Zeitpunkt darf man zu einer zentralen zivilisatorischen Errungenschaft unserer aufgeklärten, demokratischen Arbeitsgesellschaft rechnen.

Hinzu kommt, dass die Diskussion über das Rentenalter nicht unabhängig von der realen Arbeitsmarktlage geführt werden kann. Ziel nicht allein der Rentenpolitik, sondern auch der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik wie des Arbeits- und Gesundheitsschutzes muss es sein, sicherzustellen, dass die überwiegende Mehrheit ein versicherungspflichtiges, gut bezahltes und nicht krank machendes Arbeitsverhältnis bis zum Rentenbeginn hat. Für all diejenigen, die aufgrund individueller Gesundheit, aber auch der allgemeinen Arbeitsmarktlage keine Möglichkeit bekommen, bis zum Rentenalter einen guten und vor allem gut bezahlten Arbeitsplatz zu haben, sind daher Angebote und Möglichkeiten für einen abgesicherten Übergang von der Arbeit in die Rente nötig. Zur Gestaltung gelungener Übergänge bedarf es schon heute guter Instrumente. Das zielt auf eine Stärkung und Ausweitung der medizinischen und beruflichen Rehabilitation ab. Dazu gehört auch, den Budgetdeckel für Rehabilitation in der Rentenversicherung zu streichen und den Grundsatz »Reha vor Rente« auch finanziell zu bekräftigen. Wir brauchen finanzielle Angebote, wenn im Alter ein reduzierter Stundenumfang zur Erhaltung der Gesundheit und des Arbeitsplatzes notwendig ist. Hierzu zählen Vorschläge wie die geförderte Altersteilzeit, die Teilrente ab dem 60. Lebensjahr oder auch das Altersflexigeld.

Studien2 zeigen, dass viele Beschäftigte die steigenden Altersgrenzen durch einen längeren Verbleib im Beruf nachvollziehen können. Die Zahl der Erwerbstätigen ist insgesamt gestiegen und mit ihr steigt auch die Zahl an Kolleginnen und Kollegen, die jenseits der 60 noch ihren Beruf ausüben. Dabei bleibt offen, ob und wie lange sie arbeiten wollen. Oder ob sie es, aufgrund fehlender Alternativen, müssen, unter Umständen sogar trotz erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen zu Lasten ihrer Gesundheit, mit der Folge, gegebenenfalls häufigere und längere Krankheitszeiten in Kauf zu nehmen. Es wächst aber auch die Zahl derjenigen, die in diesem Alter nur einen Minijob haben, oftmals schlecht abgesichert und ergänzend zur Rente oder anderem Einkommen. Auch verbringt eine große Gruppe den Übergang in jahrelanger Arbeitslosigkeit, auch hier oftmals, weil sie aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen von keinem Arbeitgeber mehr eingestellt werden, aber sie noch zu gesund sind für eine Erwerbsminderungsrente. Es gibt also eine große Gruppe an Beschäftigten, die schon die bisherigen Altersgrenzen nicht erreichen können, geschweige denn realistische Aussichten haben, dies zukünftig bei steigenden Altersgrenzen zu schaffen.

Sozialpolitik muss stets die Realität zum Ausgangspunkt nehmen. Es geht nicht um simple betriebswirtschaftliche Effizienz oder Gewinnmaximierung, sondern um die Vielfalt und die Eröffnung echter Möglichkeiten für alle. Teilhabe an der Gesellschaft in allen Lebenslagen zu gewährleisten, muss dabei der Anspruch sein. Besonders gefährlich sind daher Vorstöße, den weiteren Anstieg der Altersgrenzen in einen dauerhaften Automatismus zu übersetzen. Ein solcher Versuch, die Kürzungslogik als Regelzustand zu verankern, bedeutet eine Entpolitisierung des Prozesses. Gerade was die Frage des Übergangs anbelangt, sind langfristige Trends und Erwartungen über einen mittleren Zeithorizont starken Schwankungen und Abweichungen unterworfen. Das bedarf der politischen Debatte – mit all ihren kontroversen Facetten. Ob die Menschen wirklich länger arbeiten (können), hängt ja nur zum Teil von ihrer Lebenserwartung ab. Entscheidend sind vielmehr ihr individueller Gesundheitszustand und ihre Leistungsfähigkeit. Gleichsam bedeutend für die Möglichkeiten, im höheren Alter noch im Arbeitsmarkt zu verbleiben, ist, ob die Arbeitgeber in dieser Altersgruppe überhaupt genügend Arbeitsplätze anbieten, Ältere einstellen und weiterbilden, ob die Arbeitsplätze altersgerecht ausgestaltet sind und wie das Betriebsklima oder die Bezahlung ist. Nur wenn die Arbeitsbedingungen darauf ausgerichtet sind, länger arbeiten zu können, wird neben der individuellen Fähigkeit auch die individuelle Bereitschaft vorhanden sein, tatsächlich länger zu arbeiten.

In der Komplexität des realen Arbeitsmarkts ist eine technokratische und unpolitische Anhebung der Altersgrenzen allein anhand der steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung rundheraus abzulehnen. Ein automatischer Anstieg anhand einer mathematischen Formel würde die soziale Realität und die jeweilige aktuelle Situation der Beschäftigten vollkommen ignorieren. Eine solche Position entzieht der Politik und der Gesellschaft vorsätzlich die gleichmäßige Gestaltungmöglichkeit und drängt eine umfassende und ausgewogene Sozialpolitik in die Defensive. Wir brauchen stattdessen einen ehrlichen politischen Diskurs über die Weiterentwicklung des Sozialstaats. Dabei darf nicht nur der Beitragssatz als Kostenfaktor im Blickpunkt stehen. Eine lückenhafte Absicherung erzeugt ebenso hohe Kosten und Belastungen. Statt in einer solidarischen Versicherung zu verbleiben, hätte dann jeder für sich die Kosten zu tragen. In vielen Fällen funktioniert diese individuelle Absicherung jedoch nicht, dies gilt insbesondere im Falle von niedrigen Löhnen, gesundheitlichen Einschränkungen oder Arbeitslosigkeit. Genau dies war und ist der Grund für die Schaffung und Existenz der gesetzlichen Sozialversicherungen – und der Grund für ihre ausgewiesene Stärke!

Dies alles ist für uns Anlass, ein Schwarzbuch Rente mit 70 herauszugeben. Rente ist keine einfache Mathematik, wie so manche Professoren und Vertreter aus dem Arbeitgeberlager und der Politik meinen, wo die Lebenszeit und das Renteneintrittsalter der Menschen eine Größe hinter der Klammer sind. Sondern hier geht es um vielfältige Lebens- und Arbeitsrealitäten, um Erfahrungen und Belastungen konkreter Menschen. Und für die Absicherung eben dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht die Versicherungsleistung, an der sich der Wert und die Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung messen lassen müssen. Ein populistisches »Wir werden alle immer älter, daher müssen wir länger arbeiten« leugnet die Vielfalt der Arbeitswelt, die Belastungen verschiedener Berufe, aber auch der politischen Alternativen zu immer weiteren Leistungskürzungen in der gesetzlichen Rente.

Mit dem Schwarzbuch Rente mit 70 zeigen wir den Blick der Menschen aus ganz verschiedenen Berufen und Branchen auf steigende Altersgrenzen, wie die Menschen es persönlich einschätzen, ob sie mit 60, 65 oder 70 ihren Beruf noch ausüben können. Sie symbolisieren einen klaren sozialpolitischen Auftrag für eine auskömmliche Rente und gegen jede weitere Anhebung der Altersgrenzen.

Annelie Buntenbach, Markus Hofmann, Ingo Schäfer

1Wie stark diese Anhebung der Altersgrenzen auf das durchschnittliche Rentenalter wirkt, ist gut bei Frauen und dort besonders gut in den neuen Bundesländern zu beobachten; vgl. Gerhard Bäcker/Andreas Jansen/Jutta Schmitz: Rente erst ab 70? Probleme und Perspektiven des Altersübergangs, hg. vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen, 2017, S. 81, Abb. 38 und 39.

2Einen Überblick über Forschungs- und Sachstand liefert die Studie von Bäcker u. a., a. a. O.

»Am Ende des Monats will ich doch nicht nur am Daumen lutschen«

Der Staplerfahrer Ralf Klose aus Bad Bentheim

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»Wenn du darum kämpfen musst, wieder arbeiten zu dürfen« – der Staplerfahrer Ralf Klose aus Bad Bentheim nahe der niederländischen Grenze hat es getan. Und er hat es geschafft. Er ist 46 Jahre alt, ist zu 70 Prozent schwerbehindert, hat sich einen behindertengerechten Arbeitsplatz erkämpft, liebt seine Arbeit im Hochregallager. Er trägt einen Herzschrittmacher, hat zwei künstliche Hüften, musste vor zehn Jahren zwei Jahre lang um sein Leben kämpfen: Lungensarkoidose mit kardialer Beteiligung, auch Morbus Boeck genannt. 20 bis 40 Menschen pro 100 000 erkranken jedes Jahr daran, die Ursache ist immer noch unbekannt. Einmal musste Ralf Klose wiederbelebt werden. Herzstillstand. 250 000 Volt durchzuckten seinen Körper. »Das ist schon ordentlich«, sagt er. Und auch: »Ich hab sehr viel Ehrfurcht vor dem Leben.«

Längst arbeitet er wieder in Vollzeit, und zwar »auf Lager«, wie man in seiner Branche sagt. In seinem ganzen Leben war er »eine Woche arbeitslos«. Die Wiedereingliederung nach seiner Krankheit musste er sich mit Rechtsschutzhilfe erstreiten. Mit Mitte 30 war es für ihn undenkbar, dass das Arbeitsleben schon vorbei sein sollte. Er war Feldkoch bei der Bundeswehr gewesen, arbeitete dann in einem Metzgereibetrieb im Akkordlohn, war sportlich und 14 Jahre lang ehrenamtlicher Feuerwehrmann und Truppführer. Als er damit wegen seiner Krankheit aufhören musste, »war das ein harter Abschied«. Die Kortison-Behandlung ließ ihn auf 130 Kilo aufschwemmen, das Medikament griff die Knochen an, er brauchte einen Rollator, konnte sich nur noch trippelnd vorwärtsbewegen. »Ich habe geheult, als mir ein alter Mann sagte: ›Können Sie das nicht schneller?‹ Das war schlimm! Das war wirklich schlimm. Da habe ich angefangen, meinen Wert neu aufzupolieren.« Heute sieht man es ihm nicht an. Einmal im Monat muss er zum Blutcheck, alle drei Monate zum Lungenarzt, jede Menge Medikamente. Aber Ralf Klose ist keiner, der sich gehen lässt. Auch seine schmucke Wohnung hält der Alleinstehende picobello in Schuss. Eines will er im Namen der Schwerbehinderten den Gesunden sagen: »70 Prozent Grad der Behinderung, das heißt nicht, ich brauche nur 30 Prozent zu geben. Das ist ein Trugschluss. Das sind immer 100 Prozent, die gefordert sind.«

Zwei blaue Buchstaben in einem orangen Kreis, das ist das Firmenlogo seines Arbeitgebers. Mit über 215 Verbrauchermärkten im Nordwesten Deutschlands, zwischen Strücklingen (im Norden) und Dortmund (Süden), Sulingen (Osten) und Sonsbeck (Westen), gehört K + K Klaas + Kock zu den letzten familiengeführten Einzelhandelsunternehmen in Deutschland mit solch einer Größe. Die Super- und Verbrauchermärkte werden vom Zentrallager im westfälischen Gronau aus beliefert, dazu gehört auch die hauseigene Gronauer Fleischwarenfabrik (Marke »drilander«) mit mehr als 100 Mitarbeitern sowie ein Obst- und Gemüselager und ein Getränkelager. Mehr als 120 Lieferfahrzeuge gehören zum Fuhrpark, das Sortiment umfasst rund 18 000 Artikel. Ralf Klose ist einer von denen, die den stetigen Warenstrom sicherstellen und bewegen. Sein Stapler von STILL ist behindertengerecht eingerichtet. Griffe, Deckenschutz und Sitz sind modifiziert, der Lenker ist links. Sechs Meter hoch ist das Hochregallager, die Ware kommt auf Paletten. Man fährt mit Auge und Gehör. Die Böden sind nicht glatt, »das geht auf die Wirbelsäule, da kann der Sitz noch so gefedert sein«, weiß Ralf Klose. Ständig muss der Kopf in den Nacken, zum Hochschauen, »da hast du schnell Verschleiß, das spürst du.«

Daran, dass 2013 ein Betriebsrat gegründet wurde, war er beteiligt, er gehört zur Gewerkschaftsfraktion. In der Firma hat er zusammen mit der Gewerkschaft ver.di einen Aktivenkreis gegründet, »ein gutes Dutzend Leute, die so ticken wie ich. Es ist wichtig, mit Gleichgesinnten zu reden.« Auch deswegen ist ihm die Gewerkschaftsarbeit wichtig. Sein Vater war »ein leidenschaftlicher Gewerkschafter, Schlosser und Schwerbehindertenvertreter. ›Ralf, verlass dich nicht auf andere‹, hat er gesagt, ›man muss selber anpacken, wenn man etwas ändern will.‹ Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, wie recht er hat. Man muss der Welt etwas beibringen!« Karteileiche in einer Organisation, das wollte er nie sein. Über den eigenen Betrieb hinauszuschauen, das hat ihm gut getan – und tut ihm gut. Immer wieder. Er mag auch die Nähe zu den Niederlanden, kennt »viele coole ›Hollands‹, die kennen das Wort ›Kollegialität‹ noch.«

In der fleischverarbeitenden Industrie hat Ralf Klose »den Niedergang von Solidarität und Anstand mitbekommen und wie die Dienstleistungsfreiheit Europa eine bitteren Geschmack gegeben hat. Die Firmen haben sich mit den billigen Arbeitskräften aus Osteuropa gesundgestoßen. Menschenunwürdig. Ich weiß von Quartieren, wo 20 bis 40 Menschen zu horrenden Mieten in ein Haus gequetscht und ausgebeutet wurden. Und am Schluss standen auch viele Meister am Band. Das war eine Spirale nach unten.« Sein Unternehmen ist tarifgebunden, aber seit Jahren wird nur zum Mindestlohn und befristet neu eingestellt. Um die 40 Prozent liegt mittlerweile der Anteil der Befristungen. »Das verändert das Betriebsklima«, berichtet er. »Das ist eine solche Knute. Ein Joch. Das wird wie ein Schwert benutzt. Wehe, du sagst etwas. Aber man muss doch von der Arbeit leben können. Am Ende des Monats will ich doch nicht nur am Daumen lutschen.«

Gerechtigkeit in Deutschland, Ralf Klose lacht auf. »Oh Gott! Wir sind Exportweltmeister, ja klar, weil bei uns die Löhne gedrückt wurden und wir auch beim Mindestlohn weit hinten liegen.« Dauernd werden in seinem Unternehmen Aushilfen auf 450-Euro-Basis zur Warenkommissionierung gesucht. »Aber Krankwerden als Befristeter, das ist ein Risiko. Befristete Verträge, das heißt doch: keine Kinder, kein Nest, kein Kredit. Das ist sozialer Sprengstoff.« Eigentlich ist »sein« Bad Bentheim ein schönes Örtchen zum Altwerden, aber auch hier gibt es die Tafel.

Rente mit 70? Wieder lacht er auf. »Da hätte ich ja gar nichts vom Leben. Am besten mache ich mir da dann einen Spind wie ein Sarg. Da kann ich gleich reinhüpfen. Die rechnen doch nicht damit, dass wir in Rente gehen. Die rechnen damit, dass wir sterben.« Für den 1. August 2038 ist sein Renteneintritt derzeit programmiert. 1326,60 Euro sagt seine Rentenauskunft. Sein Kommentar: »Wenn man arbeiten geht, wird man eigentlich verarscht.« In seinem ganzen Leben war er eine Woche arbeitslos, und er sagt: »Ich arbeite gerne.« Er tut es seit 1989. Elementar wichtig sind für ihn »Freunde und Familie. Das macht viel aus!« Aber er muss jeden Euro umdrehen, seit es mitten in der Krankheit zur Scheidung kam. »Hier«, tippt er auf seinen Pullover, »der hat einen Euro gekostet, sieht man ihm nicht an, oder? Wenn man ein wenig Geschmack hat und sucht, findet man in den Sozialshops gute Sachen. Oder hier, das Sideboard, das waren zehn Euro. Ok, ich hab’s poliert, aber nach Sperrmüll sieht das doch wirklich nicht aus.« Er sieht Sinn in seinem gewerkschaftlichen Engagement, »damit die soziale Grätsche nicht weiter aufgeht und damit meine Tochter es später besser hat«. 16 Jahre alt ist sie, wohnt bei ihrer Mutter. Ganz zum Schluss unseres Gesprächs zeigt er mir ihr Zimmer, das er mit aller Handwerks- und Improvisationskunst in einen Mädchenpalast verwandelt hat. »Hier soll sie sich wohlfühlen, wenn sie in den Ferien zu mir kommt.«

»Wer 45 Jahre oder mehr gearbeitet hat, der hat seinen Ruhestand mehr als verdient«

Christel Hoffmann aus Pforzheim, ehemalige Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Schlecker

Montag, 6. März 2017, Sitzungssaal 18, Landgericht Stuttgart. Endlich sieht Christel Hoffmann die Phantome leibhaftig, die ihr Leben und das von 25 000 anderen Frauen in den letzten fünf Jahren so sehr beeinträchtigt haben. Es ist der Prozessauftakt gegen die Familie Schlecker. Eine der verheerendsten Firmenpleiten der jüngeren Bundesrepublik soll endlich aufgearbeitet werden. Das »Aus« für die Beschäftigten der damals größten Drogeriekette Europas kam im Januar 2012 völlig überraschend und brutal. Tausende Lebensarbeits- und damit auch Rentenperspektiven wurden zerstört, viele beeinträchtigt. Die Politik ließ die Beschäftigten im Stich, die CDU-/FDP-Bundesregierung und – Fluch des föderalen Systems – einige schwarzgelbe Landesregierungen verweigerten die Bürgschaften für Transfergesellschaften, in denen 11 000 Frauen Platz gefunden hätten. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler von der FDP machte daraus eine abstrakte »ordnungspolitische Frage«. Es sei nicht Aufgabe des Staates, für Transfergesellschaften zu sorgen, befand er kühl. Darüber kann Christel Hoffmann sich heute noch aufregen: »Eine Schande! Wir lagen schon am Boden. Das war der Tritt ins Gesicht. Es ging nur um eine Unterschrift, nur um eine Bürgschaft, aber wir waren es anscheinend nicht wert.« Mit sarkastischem Tonfall sagt sie: »Es waren ja nur Frauenarbeitsplätze. Nur Verkäuferinnen. Keine Banken und ihre Rettungsschirme, keine Kohlekumpel oder Autobauer. Kein Minister hat sich bei uns sehen lassen. Das ist immer noch schlimm. Und es darf nie wieder passieren.« Dieses »Nie wieder« ist der ehemaligen Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von Schlecker ein großes Anliegen. Dafür riskiert sie es, dass die Begegnung im Gerichtssaal alte Wunden aufreißt. Deshalb spricht sie an diesem Tag in Mikrofone, gibt Interviews, kämpft mit ihren Tränen. »Ich habe gedacht, das ganze Elend sei schon weiter weg. Aber das ist es nicht. Das wird uns bis zur letzten Stunde begleiten.«

Neben dem 72-jährigen Firmenpatriarchen Anton Schlecker sitzen seine Ehefrau Christa sowie Tochter Meike und Sohn Lars Schlecker auf der Anklagebank. Ihnen wird vorsätzlicher Bankrott, Insolvenzverschleppung, falsche Versicherung an Eides statt und gemeinschaftliche Untreue vorgeworfen. Rund 70 Millionen Euro sollen sie laut Staatsanwaltschaft Stuttgart beiseitegeschafft und dem Zugriff der Gläubiger entzogen haben. Kein einziger Euro davon wird je in Richtung der ehemaligen Beschäftigten kommen, »da sind zuerst die Banken dran, da hat niemand von uns noch etwas zu erwarten«, weiß Christel Hoffmann. »Keine signifikanten Vermögenswerte mehr«, diesen Satz zur angeblichen Finanzlage der Familie Schlecker wird sie ihr Leben lang nicht vergessen. Ihr geht es um »so etwas wie wenigstens eine Entschuldigung. Ich erwarte einfach von einer Familie, die ein Unternehmen führt, Ehrlichkeit gegenüber den Beschäftigten. Dass zumindest ein Satz kommt: Es tut mir leid. Aber diese eiskalte Ignoranz, das ist schon ungeheuerlich.«

Es ist ein unangenehmes Bild, das Christel Hoffmann vom ersten Prozesstag mitnimmt. Schweigende Angeklagte, ohne einen ersichtlichen Funken Mitgefühl, immer noch so fern wie früher, »als Herr und Frau Schlecker nur Phantome für uns waren. Man musste ja ein Bild von ihnen aufhängen in der Filiale. Wie in der DDR war das. Ich habe mir immer gewünscht, dass sie uns besuchen. Aber das ist nie passiert. Die Geschäftsführung hatte Listen, auf denen vermerkt war, in welchen Filialen es Betriebsräte gab. Bei unserer Filiale war ein Sternchen dran auf der Liste, das hieß ›Betriebsrat‹, darauf war ich stolz. Zu den Filialen mit Sternchen, da ging der Herr Schlecker nicht hin, das hat er sich nicht getraut.« Sie hätte ihm – damals wie heute – gern ihre Meinung gesagt.

Christel Hoffmann, gelernte Industriekauffrau aus Pforzheim, heute 63. Sie kam aus der Schmuckbranche, Exportabteilung, Auslandskontakte (»Die Basler Mustermesse war so meins«), Berlitz-School mit 1,3. Mit 40 noch einmal ein Jahr auf der Schule und weiterqualifiziert. Auf ihre Zeugnisse und Bewerbungen hin bekam sie Lobeshymnen, aber keine Zusagen. »Schon vor 20 Jahren war es so, dass man mit 43 zu alt war«, sagt sie. In einem Anzeigenblatt fand sie eine Stellenanzeige, eine Woche später fing sie »beim Schlecker« an. Das war 1997. In ihrer Filiale gab es einen Betriebsrat. Angesichts der Arbeitsbedingungen und des strengen Regiments aus Ehingen – die Geschichten, dass es in vielen Filialen aus Spar- und Disziplinargründen kein Telefon gab, sind nicht übertrieben – fand sie das sinnvoll, ließ sich ein Jahr später aufstellen. Wurde gewählt. »Wenn ich etwas ändern will, dann muss ich selber etwas tun«, hieß immer schon ihre Devise. Zu ihrem achtjährigen Firmenjubiläum kamen innerhalb von fünf Minuten zwei Abmahnungen, »Lichtjahre von der Rechtsprechung entfernt«, lacht sie noch heute. Christel Hoffmann wusste sich zu wehren.

»Reagiert hat das Unternehmen ja immer nur auf Druck«, sagt Bernhard Franke, bei ver.di in Baden-Württemberg Landesfachbereichsleiter Handel. 1998 war Anton Schlecker wegen Betrugs verurteilt worden, weil er in den Arbeitsverträgen fälschlicherweise behauptet hatte, Tariflöhne zu zahlen, de facto aber mehr als zehn Prozent weniger eingetragen hatte. Danach sah sich das Unternehmen genötigt, seine Beschäftigten tatsächlich entsprechend zu entlohnen und später einen Anerkennungstarifvertrag zu unterschreiben, sodass der Branchentarifvertrag galt. Schlecker expandierte und expandierte. Wenn andere Filialketten übernommen wurden, gab es oft große Diskrepanzen bei den Arbeitsbedingungen und Löhnen. »Viele Verkäuferinnen bei denen waren genauso verschüchtert und duldsam wie unsere Kolleginnen in den Filialen ohne Betriebsrat. Da haben wir oft nachgeholfen. Unsere Position war: gleicher Lohn, gleiche Arbeit.« Christel Hoffmann erinnert sich an einen Fall, als Schlecker drei Tage vor einem Gerichtstermin einlenkte.

2011 wurde das Vermögen des Ehinger Schlachtermeisters Anton Schlecker, der seine Drogeriekette 1975 gegründet hatte und als »eingetragener Kaufmann« persönlich haftete, von der Zeitschrift Forbes noch auf 3,1 Milliarden US-Dollar geschätzt. Nur wenige Monate später kam der Insolvenzantrag. Eine Woche danach, zur ersten Schlecker-Pressekonferenz überhaupt seit 22 Jahren, trat Tochter Meike vor die Kameras und sagte: »Es ist nichts mehr da.« Christel Hoffmann erinnert sich: »Wir als Betriebsrat haben ohne jede Vorwarnung erst aus den Medien erfahren, dass Schlecker Konkurs ist. Das war ein Schock. Das war erniedrigend. Unser ganzes Leben ist aus den Angeln gerissen worden.« Am Tag der Prozesseröffnung in Stuttgart spürt sie die Gefühle von damals immer noch: »Ärger. Wut. Enttäuschung. Und immer noch Fassungslosigkeit, wie es soweit kommen konnte.«

In 5410 Filialen in Deutschland, diese Zahl hat sie immer noch parat, schlug diese Bombe damals ein. Der einzige Lichtblick war für Christel Hoffmann der Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz mit seinen engsten Mitarbeitern. Während die Schleckers (bis heute) abtauchten, »hat er soziale und moralische Verantwortung übernommen und wirklich alles getan, was damals für die Beschäftigten möglich war«, ist ihr wichtig zu betonen. »Hätten wir diese Menschen damals nicht gehabt oder wären sie so gewesen wie viele Insolvenzverwalter, wäre es noch viel schlimmer gekommen.« Der Gesamtbetriebsrat in der sich auflösenden Firma wurde weiterbeschäftigt, damit den Ehemaligen in der Übergangsphase so weit wie nur möglich geholfen werden konnte. Nach Abwicklung aller Verwaltungsaufgaben machte Christel Hoffmann bei Schlecker am 31. Dezember 2015 »das Licht aus«. Viele Schicksale hat sie miterlebt.

Durchschnittlich 46,7 Jahre alt waren die »Schlecker-Frauen« beim Ende der Firma. »Viele waren alleinerziehend. Viele sind in prekären Verhältnissen gelandet. Nur sehr wenige hatten das Glück, wieder zu den alten Bedingungen zu arbeiten. Vielen ist gar nichts anderes übrig geblieben, als sich deutlich zu verschlechtern. Zum Teil gab es Angebote mit brutto sechs Euro die Stunde, keine Arbeitszeitregelung, keinen Urlaub. Und viele, die älter waren, sind heute in der Aufstockung«, weiß Christel Hoffmann. Sie hat erlebt, wie das Sozialamt eine Kollegin zum Umzug zwingen wollte, weil die Wohnung zehn Quadratmeter zu groß gewesen sei. Die Frau hatte dort 35 Jahre gelebt, ihre pflegebedürftige, fast 90-jährige Mutter wohnte nur zwei Häuser weiter. Vorschrift ist Vorschrift, hieß es beim Amt. Christel Hoffmann konnte die Bürokraten überzeugen, dass die beanstandeten Quadratmeter hauptsächlich Flur seien.

Rente mit 70? Solche Vorstellungen schlagen für sie »dem Fass den Boden aus. Wer 45 Jahre oder mehr gearbeitet hat, der hat seinen Ruhestand mehr als verdient und hat ihn auch gesundheitlich notwendig. Mit solchen Forderungen schlägt man den jungen Menschen von heute die Tür vor der Nase zu. Wie soll da eine Zukunft aussehen? Und da wundert man sich, dass viele Junge sagen, ich habe keinen Bock mehr. Wir sind ein Rechtsstaat, aber wir betreiben moderne Sklaverei. Was weg muss, das sind diese Befristungen, das ist doch unmöglich. Das ist sozial und moralisch unverantwortlich von unserer Regierung. Das ist kein Leben. Man muss sich vorstellen, was das für ein psychischer Druck ist. Kein Kredit. Keine Rücklagen. Jeder kleinste Fehler eine mögliche Katastrophe. Wie soll man da eine Zukunft planen? Die Kolleginnen, die 2012 bei uns in die Arbeitslosigkeit geraten sind, die bekommen doch nur ganz geringe Renten. Ich schätze, die Hälfte von ihnen wird in die Altersarmut rutschen. Das ist doch kein Leben, wenn man sich nichts mehr leisten kann. Überhaupt nichts mehr.« Was nach ihrer Ansicht auch dringend nötig ist, das ist die Tarifbindung. »In unserer Branche gilt die nur noch für 30 Prozent der Beschäftigten. Es ist eine Schande.«