Fußnoten

 

1) Wienerisch für »Kind«

2) Wienerisch für »Mädchen«. Manchmal auch »Mentsch« oder »Mentscha« geschrieben, aber immer mit dem sächlichen Artikel.

3) Zeitungsausträger. Heute noch verkaufen sie die Tageszeitungen an offenen Ständen auf der Straße. Früher gingen sie zwischen den Autos spazieren oder suchten sich in Lokalen ihre Kunden. In Wien gab’s vor dem Internet von den großen Tageszeitungen immer eine Abend- und eine Morgenausgabe, die stets aktuell gehalten wurden.

4) Ursprünglich ein uneheliches Kind, auch in Bayern verbreitet. In Wien aber eher in der Bedeutung »unerzogenes Kind«.

5) Das wurde tatsächlich alles mit den Kindern am Spiegelgrund gemacht. Und noch viel schlimmere Sachen.

 

Juna

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Band 51

 

Juna

 

von Michael Marcus Thurner und Logan Dee

nach einem Exposé von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2017

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind.

Michael Zamis, seine Frau Thekla und Coco reisen nach Rumänien. Dort, auf der Temeschburg, findet die Testamentseröffnung der Fürstin Bredica statt, einer Großtante Michaels. Hier trifft er seine ehemalige Geliebte Florentina wieder – und seine uneheliche Tochter Juna, die er bisher verschwiegen hat …

 

 

Erstes Buch: Juna

 

Juna

 

von Michael Marcus Thurner

nach einem Exposé von Uwe Voehl

 

Prolog

 

Mein Name ist Juna. Juna Zadrazil. Ich habe diesen Namen bis heute behalten, weil er mich auf gewisse Weise schützt. Er ist für mich wie ein Tarnmantel, den ich umgelegt habe, um weitgehend in Frieden zu leben. Ich könnte mich auch anders nennen. Denn ich hatte viele Mütter und viele Väter, die vorgaben, für mein Wohl sorgen zu wollen. Mehr oder weniger waren die Erziehungsberechtigten und Vormunde üble Schläger, potenzielle Kinderschänder, sadistische Nonnen und Pfarrer und grausame Dämonen.

Ich habe natürlich auch eine wirkliche Mutter. Uns verbindet nicht viel miteinander. Vielleicht, weil einfach nie die Gelegenheit da war, dass wir uns einander nähern konnten.

Anders sieht es mit meinem Vater aus. Obwohl ich ihm nur wenige Male begegnet bin, ist er die Person, zu der ich mich am meisten hingezogen fühlte. Seit jeher.

Denn unsere Begegnungen bedeuteten stets einen entscheidenden Einschnitt in meinem Leben. Mein Vater war es, der mich vor seiner vor Eifersucht rasenden Ehefrau rettete, als sie davon erfuhr, dass er eine Nebenbuhlerin geschwängert hatte: Florentina Badgruber. Ich war noch ein Embryo, als man mir schon das erste Mal nach dem Leben trachtete.

Mein Vater Michael bewahrte mich davor, als Ungeborenes zu sterben, und ließ seine Ehefrau in dem Glauben, ich sei tot. Er schickte mich in die Zeit zurück, in das Jahr 1945, damit niemand meine Spur verfolgen konnte. In Wien wuchs ich bei Zieheltern auf, die glaubten, ich wäre ihre leibliche Tochter. Es waren vielleicht die Jahre, in denen ich mich am geborgensten fühlte. Und nur allmählich ahnte ich, dass ich anders war als die anderen Kinder. Und dass die Verdammnis wie ein Unglücksstern über mir schwebt.

Ich habe mehr Schmerzen erlitten, als selbst die meisten Dämonen sie ertragen könnten. Von Menschen ganz zu schweigen.

Aber was noch schlimmer ist: Gevatter Tod ist mein ständiger Begleiter. Wann immer ich etwas wünsche, ist der Preis dafür das Leben der anderen.

Mein Vater Michael war es auch, der mich aus der Obhut meiner Ziehfamilie holte, als er glaubte, ich sei nun reif genug für die Ausbildung zur Hexe. Ich war es nicht, wie ich sehr schnell begriff. Mit dem Hexen hatte ich keine Probleme, wohl aber mit der Grausamkeit, mit der die Fürstin Bredica auf der Temeschburg ihr Internat führte. Und doch war dies noch ein Zuckerschlecken im Vergleich zu dem, was mir später in der Anstalt des Dr. Grauss bevorstand.

Die dämonische Seele ist da wie die menschliche: Selbst die schlimmsten Gräueltaten übersteht sie. Mit Wunden und Rissen zwar, und wenn diese auch nie mehr verheilen mögen, so ist da immer noch der Verstand. Der Verstand befiehlt uns, nach vorne zu blicken, nicht zurück. Er lenkt den Blick auf die Probleme, die anstehen. Ich nehme an, nur so können unsere beiden Rassen überleben – die Menschen wie die Dämonen.

Und dann ist da noch der Wille. Der Wille zu überleben, möge das, was uns erschüttert hat, auch noch so grausam gewesen sein.

Wenn ich ihn den Spiegel schaue, so sehe ich da keine Narben. Ich sehe eine hübsche junge Frau von fünfundzwanzig Jahren. Keine Schönheit, aber doch so attraktiv, dass mancher Mann sie im Gedächtnis behält. Schon als Kind zog ich die Blicke der Männer an, aber auch die Eifersucht der anderen Mädchen und Frauen auf mich.

Ich schaue also in den Spiegel und lächle mir aufmunternd zu.

Aufmunterung kann ich brauchen. Denn ich bin wieder dort gelandet, wohin mich mein Vater Michael dereinst gebracht hatte: Auf der Temeschburg.

Ein letztes Mal ziehe ich mit dem hellrosa Lippenstift dezent die Konturen meines Mundes nach, atme noch einmal kurz durch – und dann bin ich bereit.

Bereit, nicht nur meinen Vater wiederzusehen. Sondern auch die Frau, die mich derart hasst, dass sie mich schon vor meiner Geburt töten wollte.

Die Frau heißt Thekla Zamis, und ich traue ihr nicht ein Jota über den Weg.

In dem Moment, als ich damals vor der Gartenpforte der Villa Zamis stand und sie ihr Lächeln verlor, wusste ich, dass es ein Fehler war, dort anzuklingeln.

Zuvor hatte ich ihr gesagt, dass ich glaubte, Michael Zamis sei mein Vater.

Es war sogar mehr als nur Glaube. Die tiefe Verbundenheit, die ich zu ihm spürte, war nur so zu erklären. Eine Hexentochter fühlt, wer ihr Erzeuger ist.

Basta.

 

 

1.

 

Vergangenheit

Das kleine Mädchen roch gut. Nach frischem und rohem Fleisch. Aber auch nach Unschuld und Naivität.

Das Gör hatte etwas an sich, das ihn wie magisch anzog, und es dauerte eine Weile, bis er den Grund für diese Anziehungskraft verstand: Sie war kein Mensch. Tief in ihr drin loderte das schwarze Feuer, das eine Hexe ausmachte und sie antrieb, eine Quelle, die niemals erlosch.

Oh, dieser Geruch … Er erzitterte vor Geilheit und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er wäre so gern über das Mädchen hergefallen, jetzt gleich, um seine Klauen in seinen Leib zu schlagen und sich an der obszönen Lebensflamme zu laben.

Er hatte gelernt, sich zu gedulden. Es gab so viele andere hier, die stärker als er selbst waren. Er musste abschätzen und abwarten und im richtigen Moment zuschlagen, wollte er das Mädchen für sich alleine haben.

Also blieb er auf seinem Baum hocken und beobachtete.

 

Juna lief, schnell und schneller. Irgendetwas hatte sie erschreckt. Ein knackender Ast oder ein Windstoß. Ein Etwas, das sachte nach ihren Haaren gegriffen hatte. Oder jemand, der unter der Erdoberfläche steckte und seine Krallen nach ihren Füßen ausgestreckt hatte.

Sie lief dahin wie der Wind – und kam doch kaum vorwärts. Die Bäume ringsum versperrten ihr immer wieder den Weg. Sie musste ausweichen und Umwege nehmen, in einem düsteren Landstrich, den Juna kaum kannte und in dem die Orientierung schwerfiel.

Ab und zu lugte der Mond zwischen den Baumkronen hervor. Am unteren Rand der Sichel war er rot, so, als wäre er verletzt worden und würde bluten.

Sie war doch schon einige Male hier gewesen! Immer, wenn ihnen die Fürstin einige Stunden Freizeit gegönnt hatte, war sie mit Matilda zum Fluss gelaufen, um dort im Wasser vergnügt zu plantschen. Um Kind zu sein und nicht nur Hexe. Doch jetzt, in der Dunkelheit, war ihr das Gelände völlig fremd.

Juna hielt keuchend inne und stützte sich an einem der Baumstämme ab. Ihr war schwindlig. Sie musste ein paarmal durchatmen, um zu Kräften zu kommen.

Wie lange war sie schon unterwegs? Verfolgte sie die Fürstin, war jemand hinter ihr her? War sie weit genug weg von der Temeschburg, dem Sitz dieses schrecklichen Dämonenweibes?

Sie durfte sich derartige Gedanken nicht erlauben. Weiter musste sie, weiter, hin zum Hoia-Baciu-Wald. Nur dort durfte sie darauf hoffen, zurück zu Michael Zamis zu gelangen. Er alleine würde ihr helfen und sie beschützen.

Juna hielt den Atem an und lauschte. Nein. Da war nichts. All die Geräusche und Berührungen waren bloß Einbildung gewesen, Ergebnisse ihrer überhitzten Fantasie.

Kein Wunder: Während ihres Aufenthalts auf der Temeschburg hatte sie schreckliche Dinge gehört, gesehen und am eigenen Leib erfahren. Die Fürstin Bredica hatte sie gequält und mit ihrem Rohrstock mehr als einmal verprügelt, sie aber auch mit Mitgliedern einiger rumänischen Dämonensippen Bekanntschaft machen lassen.

In der Ferne hörte sie Wasser gurgeln. Der Fluss war nicht mehr fern. Sie musste ihn durchschwimmen, um anschließend zwei Kilometer leicht ansteigendes Brachland zu queren und die Ausläufer des Hoia Baciu auf einer kleinen Hochebene zu erreichen.

Juna aß einige Bissen vom belegten Brot, das sie in einem Beutel mit sich trug, und setzte sich wieder in Bewegung, vorsichtiger diesmal.

Sie folgte dem Geräusch des Wasserplätscherns. Der Boden war feucht und glitschig – und er dampfte. Die Nacht war ungewöhnlich warm. Nebel stieg auf und erschwerte ihr die Orientierung noch mehr.

Ein Laut!

Juna blieb wie erstarrt stehen. Sie hielt den Atem an, eine halbe Minute, eine Minute, um sich nur ja nicht zu verraten.

Erleichtert blies sie Luft aus, als sie das Geräusch ein weiteres Mal hörte. Es war bloß das Schuhuhen eines Kauzes, der irgendwo im Geäst saß.

Erleichtert setzte sie ihren Weg fort – und rutschte weg. Ein Augenblick der Unachtsamkeit reichte, um sie in den Morast plumpsen zu lassen. Vom Schwung getragen, nahm sie Fahrt auf und glitschte einen immer steiler werdenden Abhang hinab.

Verzweifelt versuchte Juna, sich festzuhalten. Sie schnappte nach Ästen und Wurzeln, nach Trieben und Steinen. Doch sie war zu schnell, ihre Hände zu schwach.

Sie stieß sich an einem Baumstumpf und fühlte, wie eine Dornenranke das Fleisch ihrer Haut am Oberarm aufriss. Sie glitt auf Schlamm dahin, schneller und schneller.

Juna fühlte sich mit einem Mal schwerelos. Sie segelte durch die Luft, überschlug sich. Klatschte mit dem Bauch voran auf – und tauchte unter.

Der Fluss!

Die Strömung riss sie fort, zog sie in die Tiefe hinab, spuckte sie wieder aus. Sie trieb dahin, orientierungslos und hilflos.

Das Wasser war eisig kalt. Eine jede Bewegung schmerzte, ein jeder Atemzug fiel Juna schwer. Sie musste ans andere Ufer, rasch! Es waren doch bloß wenige Meter!

Sie tat Schwimmbewegungen und stabilisierte ihre Körperlage, sodass sie sich orientieren konnte. Über dem Brachland lag eine dicke Nebelschicht, vom Blutmond beschienen. Der dahinterliegende Wald des Hoia Baciu war nicht zu erkennen. Sie meinte stattdessen, mehrere rotglühende Augenpaare in dieser trüben Suppe zu entdecken, die ihr aufmerksam mit Blicken folgten.

Juna atmete flach und rasch. Die Kälte des Wassers ging ihr durch Mark und Bein. Sie bewirkte, dass ihre Gedanken träger wurden und sie kaum mehr wusste, was sie eigentlich vorgehabt hatte.

»Ans … Ufer«, sagte sie sich selbst, vermochte aber ihr eigenes Wort kaum zu verstehen. Kein Wunder, denn der Fluss brüllte und schrie. Der Nebel vermengte sich nicht weit voraus mit feinstem Wasserstaub.

Die Radulescu-Fälle!

Juna erinnerte sich, vor Wochen an der steinernen Verengung dieser tückischen Wasserfälle herumgeklettert zu sein. Sie hatte minutenlang fasziniert zugesehen, wie die tosenden Massen hinabgestürzt waren, mehr als zehn Meter tief, um sich über wie Zähne hochragende Felsen zu ergießen. War sie tatsächlich schon so weit abgetrieben worden?

Sie war so schrecklich müde – und dennoch verstärkte sie ihre Anstrengungen. Sie paddelte und strampelte und machte Schwimmbewegungen, sie tastete nach Felsen und einigen Ästen, die neben ihr dahintrieben. Selbst nach den langen Armen glitschigen Seetangs griff sie, um sich festzuhalten. Vergebens.

Das Wasser war doch nicht einmal eineinhalb Meter tief! Dennoch wollte und wollte es Juna nicht gelingen, irgendwo Halt zu finden oder sich mit den Beinen ins Kiesbett zu stemmen. Immer lauter wurde es, immer näher kam die Wolke des Wasserstaubs, immer schneller wurde sie vorangetrieben, auf die Radulescu-Fälle zu.

Da war Hexerei im Spiel. Die Fürstin hatte ihre Flucht entdeckt und war ihr nachgeeilt, um nun irgendwo am Rand des Flusses dabei zuzusehen, wie Juna ihrem Tod entgegentrieb. Oder? Wollte sie sich bloß nicht eingestehen, dass sie sich ungeschickt verhalten hatte und selbst Schuld an ihrer Misere trug?

Sie wehrte sich nicht länger gegen die Strömung. Es war sinnlos, gegen derartige Kräfte anzukämpfen. Sie musste sich auf ihre eigenen Stärken konzentrieren, auf ihre ganz besondere Form der Hexenmagie.

Juna ließ sich treiben und fand, so gut es ging, zu innerer Ruhe. Sie überlegte sich einen Wunsch. Sie musste ihren Gedanken so klar und deutlich wie möglich formulieren.

Ich will überleben, dachte sie. Ich will nicht sterben!

Nein. Das war viel zu allgemein gehalten. Sie benötigte eine präzise Idee. Andernfalls würde ihre Dämonenkraft nicht reichen.

Ihre Arme und Beine waren taub, der Kopf schmerzte, und immer wieder verlor sie die Orientierung. Vor ihr verengte sich der Fluss, sie trieb schneller und schneller dahin. Ein Wirbel riss sie sekundenlang unters Wasser, und als Juna wieder hochkam, waren es keine zwanzig Meter mehr bis zu den Radulescu-Fällen.

Ich wünsche mir, dass sich das Wasser an der Kante aufstaut und nicht länger abrinnen kann!

Juna steckte all ihre verbliebenen Energien in diesen einen Gedanken. Doch er kam zu spät. Sie war der Kante zu nahe. Nichts konnte sie mehr retten, nichts …

Es krachte und knirschte, und Juna fühlte einen plötzlichen Ruck. Die Strömung ließ abrupt nach. Sie prallte gegen irgendetwas, wurde von einer Welle hochgeschwappt und stürzte zurück in die eisig kalten Wassermassen.

Alles war ruhig. Das Tosen des Wasserfalls war kaum mehr zu hören. Wogen schaukelten sie hin und her, bis auch diese Bewegungen endeten und sie nur noch einen sanften Kreiselsog spürte.

»Ans Ufer!«, feuerte sich Juna selbst an und tat einige Schwimmbewegungen hin zum Brachland. Sie bekam Fels zu fassen und irgendein dorniges Gewächs, dessen Äste zu ihr ins Wasser reichten.

Juna zog sich in die Höhe und scherte sich nicht darum, dass die Dornen ihre Handinnenflächen zerrissen. Sie fühlte festen Boden unter ihren Beinen und kletterte aus dem Wasser, schlotternd und mit tauben Gliedern, die ihr kaum noch gehorchen wollten.

Rasch torkelte sie einige Schritte weg vom Fluss, umrundete faulig riechende Tümpel und ließ sich auf schlammige Erde fallen. Ihr Körper versagte, sie konnte nicht mehr weiter.

Ein Schemen tauchte aus dem Nebel auf. Klein, aber breit gebaut, wankte die Gestalt auf sie zu. Juna war zu erschöpft, um auch nur Angst zu verspüren. Sie musste hinnehmen, was nun geschah. Da war nichts mehr, kein Jota Kraft, um sich gegen das Wesen zur Wehr zu setzen.

Sie wollte schreien – und brachte bloß ein Krächzen hervor. Sollte ihr Gegner doch mit ihr machen, was er wollte. Sie würde ohnedies erfrieren. Es gab nichts mehr, das sie tun konnte.

Der Unbekannte tat weitere Schritte. Er stank erbärmlich, und aus dem hässlichen Maul, das Juna in ihrer Benommenheit kaum erkennen konnte, troff Sabber.

»Komm schon«, murmelte sie. »Ich gebe auf.«

Die Sabberschnauze stieß mehrmals gegen ihren Leib und badete sie in Schleim.

Die Kuh, ein hageres und fleckiges Tier, muhte laut, beutelte ihren Kopf aus und drehte sich weg von Juna. Nicht, ohne unmittelbar neben ihr zwei große, dampfende Fladen fallen zu lassen. Die Kuh tauchte wieder in die Nebelbank ein und verschwand.

Juna hätte so gerne gelacht oder geweint oder auch nur irgendeine Regung zusammengebracht. Doch ihr fehlte selbst dafür die Kraft. Sie zitterte, ihre Zähne klapperten unkontrolliert aufeinander, ihre Sicht wurde schlechter und schlechter.

Dampfende Fladen …

Da war dieser eine, sonderbare Gedanke. Er konnte ihr nur jetzt kommen, in dieser Situation.

Juna zog mit klammen Fingern ihr nasses Gewand vom Leib und rollte sich zur Seite. Sie wälzte sich in der Kuhscheiße. In einem warmen und stinkenden Brei, bis sie von oben bis unten damit bedeckt war. Ein Gefühl wohliger Hitze breitete sich auf ihrer Haut aus und gab ihr diesen so dringend benötigten Lebensfunken zurück, der ihren Geist anspringen ließ und sie ins Leben zurückführte.

Das Gefühl der Hitze währte nur kurz, dann begann das Zeugs auszutrocknen. Doch es hatte gereicht, um dafür zu sorgen, dass sie wieder klare Gedanken fassen konnte.

Juna lag da und vermied jede Bewegung. Sie döste vor sich hin. Die Scheiße verhärtete allmählich und umgab sie wie ein dünner Panzer. Es war, als würde er weitere Kälte aus ihren Gliedern ziehen.

Sie starrte in den Himmel. Der Nebel verzog sich ein wenig und erlaubte ihr, den blutigen Halbmond auf seinem Weg übers Firmament zu betrachten. Sie fühlte Stolz. Sie lebte, wider Erwarten.

Wie lange blieb sie liegen? Eine halbe Stunde oder mehr? – Sie wusste es nicht zu sagen. Irgendwann stützte sie sich hoch und kam nackt zum Stehen. Ihr Gewand war weiterhin zu feucht, um es anzuziehen. Der stinkende Körperpanzer brach zwar da und dort, aber er hielt. Und er bewirkte einen Juckreiz, der zwar unangenehm war, aber die Haut weiterhin wärmte. Insbesondere die Hände schmerzten, dort, wo sie sich an den Dornen aufgerissen hatte.

Vorsichtig tat sie einige Schritte. Sie musste zumindest die nassen Schuhe wieder anziehen, wollte sie ihre Füße auf dem Untergrund des Brachlandes nicht verletzen. Da und dort stachen spitze Hölzer und Steine aus dem Boden, Dornengewächse würden ihr ein Weiterkommen erschweren.

Juna wunderte sich, wovon die Kuh lebte, die ihr das Leben auf höchst sonderbare Weise gerettet hatte. Die wenigen Grasbüschel des Brachlands wirkten fahl und kraftlos.

Juna wrang ihr Gewand aus und legte es flach auf dem Boden aus, bevor sie zum Fluss zurückkehrte. Sie hatte keine Angst mehr vor Verfolgern. Es gab keine. Die Fürstin hätte sie längst eingeholt, wäre sie ihr auf den Fersen gewesen.

Warum aber hatte sie überlebt? Warum war sie nicht über die Flusskante in die Tiefe gestürzt? War ihr Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen, hatte Juna ein weiteres Mal ihre ganz besondere Begabung erfolgreich eingesetzt?

Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis es nicht mehr weiterging und sie bis zu den Knöcheln in glitschigem Morast versank. Denn das Wasser überflutete allmählich das Land. Jene Felsen, an denen sie sich aus den Fluten gezogen hatte, waren nicht mehr zu sehen, auch vom Dornengewächs ragten nur noch einzelne Büschel aus Fluss hervor. Der Wasserspiegel war gewiss um einen Meter angestiegen.

Juna kniff die Augen zusammen und entdeckte die Ursache für den Stau: Mehrere Bäume und Stämme hatten sich unmittelbar an der Flusskante zwischen den Felsen verkeilt. Sie bildeten eine natürliche Staumauer, die durch nachdrängendes Geäst immer weiter verstärkt wurde. Die Stämme stellten sich einzeln auf oder brachen unter dem Druck der Wasserfluten, um sich erneut zu verkeilen und ein immer größeres, höheres Hindernis zu bilden. Es krängte bereits meterweit über die Kante – und hielt doch den ungeheuren Wassermengen stand, die sich immer weiter zur Seite hin ausbreiteten. Wenn es so weiterging, würde binnen weniger Tage das gesamte Tal geflutet werden und alles, was hier lebte, ertrunken sein.

Junas Herz wurde schwer. Sie verstand, dass sie ihrem Fluch nicht davonlaufen konnte. Sie hatte dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Doch hier würde der Gevatter Hein bald reiche Ernte halten. Die Kuh, die ihr das Leben gerettet hatte, und viele andere Tiere würden sterben.

Juna drehte um, sammelte ihr nasses Gewand auf und machte sich auf den Weg Richtung Wald.

 

Matilda, ihre einzige Freundin in der Temeschburg, hatte ihr erzählt, dass bereits vor ihr einige Mädchen ausgebüxt waren. Man hatte niemals mehr wieder von ihnen gehört.

»Weil die Fürstin Bredica sie zur Strecke gebracht hat«, hatte Matilda behauptet. »Sicherlich hat sie sie gejagt und zur Strecke gebracht. Um sich im Bestrafungszimmer um sie zu kümmern.«

Juna schauderte, nicht nur wegen der Kälte. Ihr gefiel der Gedanke ganz und gar nicht. Viel lieber war ihr jene Version, in der es den davongelaufenen Schülerinnen gelungen war, den Klauen der Fürstin zu entkommen und Rumänien zu verlassen.

Der Anstieg zum Hoia-Baciu-Wald war schweißtreibend. Der Panzer verflüssigte sich allmählich. Die Kruste löste sich. Dort, wo sie besonders erhitzt war, verflüssigte sich die Kuhscheiße und rann an ihrem Leib ab.

Irgendwann zog sie ihre Kleidung wieder über. Der Rock hing schwer an ihr und war viel zu locker. Immer wieder musste Juna ihn hochziehen. Die Bluse hingegen klebte an ihrem Oberkörper.

Das alles scherte sie nicht. Es war ihr völlig egal, wie sie aussah und wie streng sie roch. Sie wollte bloß zurück zu Michael Zamis. Der große, düster wirkende Mann, der sie aus ihrem Elend in Wien gezogen hatte, würde ihr auch diesmal helfen. Ganz sicher.

Der Nebel verfestigte sich. Längst schon hatte sie keine Sicht mehr aufs Brachland hinab, auch das Licht des Halbmonds drang kaum mehr zu ihr durch.

Juna erinnerte sich an die Nebelgeister, denen sie einmal begegnet war. Sie meinte, deren Präsenz bereits spüren zu können. Sie sammelten sich und kamen näher.

Dunkle Geister waren sie, die frei durch den Raum schwebten und ihr Opfer umgaben, erdrückten, einsponnen, um sich an seinem Verstand zu laben, so lange, bis nichts mehr von ihm übrig blieb. In Rumänien wurden sie Ismeau oder Hismo genannt. Meist traten sie in Verbindung mit einer feurigen Lufterscheinung auf, wie jene, die am Blutmond klebte.

Juna unterdrückte ihre Angst und bemühte ihren Verstand. Sie hatte in den letzten Monaten in der Temeschburg viel gelernt – und sie war sich ihrer magischen Begabungen stärker denn je bewusst. Sie konnte einen Zauber wirken, der sie unsichtbar werden ließ. Abseits der Unterrichtsstunden hatte sie viel damit gearbeitet. In den Nächten, wenn sie wieder mal nicht schlafen konnte oder wenn sie sich vor dem Küchendienst hatte davonstehlen wollen.

Der Druck der Nebelgeister wurde stärker. Die Dämonengeschöpfe waren endgültig auf sie aufmerksam geworden und machten Jagd auf sie, gierig auf ihre Gedanken.

Juna konzentrierte sich. Ich bin nicht mehr da, dachte sie. Ihr könnt mich nicht sehen, ihr wollt mich nicht sehen. Ich bin aus eurer Erinnerung verschwunden …

Der Nebel verlor an Substanz. Er verwirbelte und löste sich in einzelne Fahnen auf. Einige der sonderbaren Geschöpfe gerieten in Streit miteinander, so, als wollten sie nicht akzeptieren, dass ihr Opfer einfach so verschwunden war. Sie bildeten dicke Nebelknäuel, die hoch in die Luft schwebten, von rotem Licht beschienen, und dann auf die Erde zurückplumpsten, um zwischen Gestrüpp und Krüppelgewächsen in den Boden zu fahren, so, als würden sie davon aufgesogen werden.

Andere glitten hinab in die Tiefe, hin zum Brachland. Vermutlich würden sie sich heute mit verängstigten Tieren verlustieren, die in ihrer Todesangst vor stetig steigendem Wasser brüllten, krächzten, kläfften und maunzten.

Juna glitt zwischen die ersten Bäume des Hoia Baciu. Sie kehrte aus der Unsichtbarkeit zurück in die Wirklichkeit, um Kräfte zu schonen. Gewiss lauerten hier weitere Gefahren, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderten.

Sie erinnerte sich der wenigen Erzählungen, die sie über den geheimnisvollen Wald gehört hatte. Die Fürstin Bredica hatte von einem »Sammelsurium an Göttern, Dämonen und Urgestalten« gesprochen, die sich hierher zurückgezogen hatten, nachdem das Menschengeschlecht in großen Teilen des Landes zu groß geworden war.

»Gibt es denn wirklich Götter?«, hatte Juna gefragt und einen abweisenden Blick der Fürstin geerntet.

»Die Menschen versuchen für alles, das sie nicht verstehen, Erklärungen zu finden. Sie geben uns Namen und teilen uns in Kategorien ein, ohne zu berücksichtigen, dass die Natur des Universums chaotisch ist. Es sind die Launen der Schöpfung, die einige Wesen mächtig und andere mickrig machen.«

Ihre Worte hatten für Juna nur wenig Sinn ergeben, und sie hatte es angesichts der schlechten Laune der Fürstin nicht gewagt nachzubohren. Was, wenn im Hoia Baciu Wesen saßen, die die Macht eines griechischen Gottes besaßen? Die sich Zeus, Re, Jupiter oder Odin nannten und über deren Kräfte verfügten?

Eine Windbö fuhr durch die Bäume. Einige von ihnen ächzten laut, so, als hätten sie Schmerzen.

Juna machte sich so klein wie möglich, während sie weiterging und sich zu orientieren versuchte. Nur zu gern hätte sie sich wieder unsichtbar gemacht. Doch ihre Kräfte hätten nicht gereicht, um länger als einige Minuten in dem Zustand zu verbleiben. Und einen Wunsch auszusprechen wagte sie nicht. Je größer ihre Bitte an das Schicksal war, desto katastrophaler wohl auch die Konsequenzen.

Ein Schatten, hoch in der Luft! Juna spürte ihn mehr, als sie ihn sah. Er huschte von Baum zu Baum, hielt inne und eilte dann weiter. Wie ein Affe hangelte sich das sonderbare Geschöpf durchs Geäst, ohne einen Ton von sich zu geben.

Fasziniert sah Juna zu. Der oder das Fremde war trotz der Dunkelheit gut zu erkennen, denn er war so schwarz, dass er von den Bäumen und vom Gestrüpp deutlich abstach.

Junas Herz schlug laut, während sie sich immer tiefer ins Unterholz drückte. Nun, da sie selbst stillhielt, waren die Umgebungsgeräusche deutlich zu hören.

Geschöpfe, die Eichhörnchen ähnelten und die an Ästen klebten, unterhielten sich in einer dunklen, uralt klingenden Sprache. Sie wisperten einander Worte zu und trugen sie weiter, von einem der Wesen zum nächsten. Juna verstand nicht, was sie sagten. Doch sie spürte, dass viel Hass und noch mehr Gier darin steckten.

Aus dem Boden drangen ebenfalls Töne hoch. Sie klangen wie der lockende Gesang von Sirenen, die Juna dazu verleiten wollten, sich ins Moos unter einem Baum zu legen und darin zu versinken, so lange, bis sie von der grünen Fläche überwachsen wurde und den darunter lebenden Wesen als Nahrung dienen konnte.

Ein Waldranntler schleppte sich schwer dahin. Sein fester Tritt ließ den Boden erbeben. Die Fürstin hatte Juna von diesen seltenen Einzelgängern erzählt, die stets des Nachts jagten, ihre Opfer töteten und sie anschließend besprangen. Aus dem zerfetzten Leib der bedauernswerten Geschöpfe wuchs binnen weniger Tage ein neues Leben hervor, das weder tot war noch lebte.

»Bist ein neugieriges Geschöpf, nicht wahr?«, hörte Juna ein Wispern hinter sich.

Sie zuckte zusammen, wandte sich um und wappnete sich. Sie würde ihm den Tod wünschen, wenn …

Da war niemand.

»Schreckhaft auch noch, was? Eine schlechte Kombination in diesem Teil des Waldes. Weißt du, wie hungrig seine Bewohner allesamt sind?«

»Wo bist du? Zeig dich gefälligst!« Juna drehte sich einmal im Kreis, konnte aber niemanden entdecken.

»Bin mal hier, bin mal da. Bin überall. Jedermann kann mich sehen, aber niemand nimmt mich wahr. Weil ihr bloß das Leben wahrnehmt, das Helle und Lebendige, das Körperliche.«

Da! Ein Schatten! Er huschte von einem Baumstamm zum nächsten, so rasch, dass Juna ihn kaum wahrzunehmen vermochte.

»Du bist dummdummdumm, kleines Mädchen! Kommst hierher und meinst, den Hoia Baciu queren zu können. Das Heiligste des Landes. Den Wald, in dem Geschöpfe wie du so unbedeutend sind wie eine Ähre im Kornfeld.«

»Ich bin eine Hexe!«, sagte Juna. »Wenn du mir weiter auf die Nerven gehst, töte ich dich.«

Hohles Lachen antwortete ihr. Gleich darauf spürte sie ein Zupfen an ihrem Haar, dann einen Stoß gegen den Rücken.

Juna stolperte und fiel ins Unterholz. Sie war mehr verärgert als verängstigt, als sie sich aufrichtete und nach Spuren des Unbekannten suchte.

»Lustig, nicht wahr? – Nein, eigentlich nicht. Es ist langweilig mit dir. Weil du nichts bist und nichts kannst. Eigentlich bist du längst tot. Sobald dich einer der wahrhaft Mächtigen des Hoia Baciu erwischt, bereitet er dir den Garaus.«

»Du bist also schwächer als die Mächtigen?«, hakte Juna nach. »Das hab ich mir gleich gedacht! Du bist bloß ein unbedeutender, kleiner Dämon.«

»Du wagst es? Das ist aber jetzt nicht wahr! NICHT WAHR!«

Vor Juna wurde alles schwarz. Ein Schatten schob sich zwischen sie und die Bäume. Er wurde groß und größer, bis er alles andere ringsum verschluckt hatte.

»Ich bin Archo, der Nachtschatten! Der Bedeutendste von allen, um es in aller Bescheidenheit zu sagen. Ich bin so dunkel, dass ich dich mit einem einzigen Bissen hinabwürgen könnte. Nichts würde von dir übrig bleiben, nicht einmal eine Erinnerung!«

Juna wusste nicht, woher sie den Mut hernahm, als sie entgegnete: »Ach ja, Archo? Und du meinst, dass ich dir das glaube? Einem Schatten, der sich in der Dunkelheit versteckt?«

Archo blähte sich weiter auf und umgab sie, hüllte Juna ein. Die Berührung war voll Zorn; doch sie konnte ihr nichts anhaben. Letztlich war das Wesen bloß ein Schatten.

»War’s das? Soll ich vor Angst tot umfallen?« Juna zwang sich zu einem Lachen.

Archo gab sie frei. Er schrumpfte unmittelbar neben ihr zusammen, bis er nur noch die mickrige Gestalt eines Hutzelmännchens darstellte. Mit kläglicher Stimme sagte er: »Das ist also das Ende. Nicht einmal mehr ein kleines Mädchen fürchtet sich vor mir. Sobald die Sonne aufgeht, werde ich ins Tal hinabwandern und mich dort auflösen lassen …«

»Gute Idee, Archo.«

»Und du hast auch kein Mitleid mit mir!«, kreischte der Nachtschatten. »Was bist du für ein widerliches Geschöpf! Welches Scheusal hat dich bloß erzogen?«

»Die Fürstin, wenn du es unbedingt wissen möchtest. Und jetzt halt gefälligst deinen Mund, sofern du einen hast. Dein Gebrüll macht die anderen Bewohner des Hoia Baciu auf uns aufmerksam. Lass mich alleine und lamentier an einem anderen Ort über dein baldiges Ende.«

»Herzloses Miststück!«

»Jaja, schon gut. Und jetzt auf Wiedersehen. Ich hab’s eilig.« Juna putzte ihre Kleidung ab und orientierte sich neu. Diese Begegnung mit dem Nachtschatten gab ihr neue Kraft. Sie war stärker, als sie jemals geglaubt hätte. Und nahezu frei von Angst. Wer hätte das gedacht?

»Glaubst du wirklich, dass ich dich einfach so gehen lasse, kleine Hexe? Weißt du denn nicht, dass wir Schatten uns an Lebendes und Bewegendes anhaften und ihm treu bis zum Ende bleiben?«

»Das lässt du schön bleiben. Ich habe bereits einen Schatten.«

»Ein mickriges, unbedeutendes Ding, das nicht einmal reden kann. Ich werde es dir abknapsen und mich an seiner Stelle an deine Fersen heften.«

Vom Nachtschatten ging keine unmittelbare Gefahr aus, aber er nervte. Und sein Getue würde womöglich dafür sorgen, dass andere, finstere Bewohner des Hoia Baciu auf sie aufmerksam wurden.

»Von mir aus kannst du mich eine Weile begleiten«, sagte sie. »Aber denk dran, dass ich dir sehr, sehr weh tun kann, wenn ich es möchte.«

»So, wie du es am Fluss unten getan hast?«

»Hast du mich etwa beobachtet, Archo?«

»Ich spiele manchmal mit den Nebelgeistern. Sie sind nicht sonderlich unterhaltsam, aber sie mögen das Gefühl der Dunkelheit, das ich erzeuge. Und jetzt komm, lass uns gehen. Und wenn du müde wirst und einschläfst, fresse ich dich auf.«

 

Archo war ein geschwätziger und vor allem nerviger Kerl. Er ließ ihr keine Ruhe und lenkte sie von den vielfältigen Gefahren ab, die im Hoia Baciu lauerten. Mal imitierte er den Schatten eines Baums im Mondlicht, mal hängte er sich an ein nachtaktives Tier an und erschreckte es. Mal versank Archo in sich selbst, mal stieg er weit in die Höhe und ließ sich in die Tiefe hinabplumpsen, um auf dem Erdboden einen tintenartigen Klecks zu hinterlassen …

»Kannst du nicht eine Minute lang einfach nur Ruhe geben, Archo?«

»Erst, wenn du versprichst, mich zu behalten.«

»Damit ich von dir zu Tode geschwätzt werde? – Niemals!«