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Einleitung

1 EINLEITUNG

Die Familie als primäre Sozialisationsinstanz des Kindes hat aufgrund der vielfältigen sozialen Funktionen in den Erziehungs-, Bildungs- und Ausbildungsprozessen eine herausragende Bedeutung, die Horkheimer (1936) folgendermaßen beschreibt:

„Unter den Verhältnissen, welche die seelische Prägung des größten Teils aller Individuen sowohl durch bewußte als durch unbewußte Mechanismen entscheidend beeinflussen, hat die Familie eine ausgezeichnete Bedeutung. Die Vorgänge in ihr formen das Kind von seinem zartesten Alter an und spielen bei der Entfaltung seiner Fähigkeiten eine ausschlaggebende Rolle. So wie im Medium dieses Kreises die Wirklichkeit sich spiegelt, erfährt das Kind, das in ihm aufwächst, ihren Einfluß. Die Familie besorgt, als eine der wichtigsten erzieherischen Mächte, die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftlich erfordert“ (ebd.; zit. n.: Bohrhardt, 1999, 14).

Muss (1999) bezeichnet die Familie sogar als die Lebensform, die „die effektivste kör- emotionale, soziale und intellektuelle Entwicklung von Kindern gewährleistet“ (ebd, 116). So liegt die Vermutung nahe, dass eine gestörte Entwicklung des Kindes im Zusammenhang mit den familiären Bedingungen steht. Bereits Freud wies auf die Bedeutung der Familie für den Kranken hin: „`Vor allem anderen wird sich unser Interesse den Familienverhältnissen der Kranken zuwenden´ (...)“ (Freud, zit. n.: Buchholz) und verdeutlicht das frühe Interesse von Therapeuten an der familiären Situation. So wird auch die Ursache von Verhaltensstörungen (nach dem pädagogischen Erklärungsansatz) als wesentlich durch familiäre Bedingungen beeinflusst gesehen: „(...) Verhaltensstörungen sind das Ergebnis eines Interaktionsprozesses (Wechselwirkungen) zwischen dem genetisch einzigartigen Kind oder Jugendlichen mit seinen individuellen Tendenzen und seinen ganz spezifischen Gegebenheiten in der Umwelt auf verschiedenen Systemebenen“ (Myschker, 1999, 106).

Systemische Familientherapie als Medium der Transformation dysfunktionaler Familien und analog dysfunktionaler Verhaltensweisen erscheint in diesem Zusammenhang von großem Interesse für das professionelle pädagogische Handeln. Doch es stellt sich die Frage, wie sich ein familientherapeutischer Transformationsprozess gestalten soll, damit eine `dysfunktionale´ Familie zu einer `funktionalen Familie´ verändert wird. Wie lösen familiäre Interaktionsmuster dysfunktionale Verhaltensweisen bei ihren Familienmitgliedern aus? Wie ist es möglich, dass sich bei Geschwistern, die aus dem gleichen familiären Umfeld kommen, dysfunktionale Verhaltensweisen ausbilden, während ein anderes unauffällig erscheint? Wie kann Familientherapie den Anforderungen der heu-

Einleitung

(Rauchfleisch, 1997) alltäglich von der Boulevardpresse thematisiert wird, entsprechen? Diese und ähnliche Fragestellungen werden in der vorliegenden Arbeit anhand der Darstellung verschiedener familientherapeutischer Ansätze beantwortet. Aus der Vielzahl familientherapeutischer Theorien habe ich vier Schulen exemplarisch herausgegriffen.

Bei der Auswahl habe ich die folgenden beiden Kriterien berücksichtigt: Zum einen gelten die von mir ausgewählten familientherapeutischen Schulen als Pioniere ihrer Zeit und Richtung. Als klassische Ansätze der systemischen Familientherapie bilden sie das Fundament der weiteren Entwicklung der Familientherapie bzw. der systemischen Therapie. Zum anderen entwickelte sich im Laufe der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts aus einer Initialzündung Paul Dells auf dem Züricher Kongress 1981 die Familientherapie zur eigentlich systemischen Therapie, dessen Gegenstand, in Abhängigkeit zur jeweiligen Schule, nicht mehr ausschließlich die Familie als solches ist (vgl. Ludewig, 1996). Die Weiterentwicklung der systemischen Therapie weist große Binnenunter-

schiede auf, so dass Deissler (2000) sogar davon spricht, dass es „ (...) systemische Therapie als einheitliches Verfahren (...) es nie gegeben hat, (...) es nicht gibt, und es auch in der Entwicklung und weiteren Ausdifferenzierung nicht geben wird “ (ebd., 126). Gleichzeitig zeigten andere Therapien wiederum Bestrebungen, mit Familien zu arbeiten (vgl. Ludewig, 2000, Interview). Die ausgewählten familientherapeutischen Schulen erscheinen unter der Berücksichtigung, dass sie die thematischen Anforderungen nach „Familientherapie auf systemischer Basis“ bestmöglich erfüllen. Aus der Thematik der vorliegenden Arbeit und dem zugrunde liegenden Ansatz ergibt sich folgende Grobgliederung:

Im ersten Teil sollen Familie als Institution und ihre Entwicklung zu pluralistischen Familienformen, ihrem Funktionswandel sowie heutige soziale Bedingungen als Gegenstand der Familientherapie vorgestellt werden.

Im zweiten Teil werden Grundlagen und Entwicklung der systemischen Konzeption und ein Überblick über die verschiedenen systemischen Schulen dargestellt. Im Mittelpunkt steht hier die Darstellung von vier exemplarisch herausgegriffenen Familientherapieschulen: Die psychoanalytische Familientherapie nach Richter und nach Stierlin, die

Einleitung

Der vorliegenden Arbeit liegen die seit dem 1. August 1998 gültigen Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung zugrunde, mit Ausnahme der wörtlich übernommenen Zitate. Weiterhin verwende ich aus stilistischen Gründen bei Personenangaben, die sich inhaltlich auf beide Geschlechter beziehen, die männliche Form.

Einführung in die Thematik

2 ENTWICKLUNG DER FAMILIE

2.1 Einführung in die Thematik

Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde die Frage nach „Wandel und Kontinuität der Familie“ immer wieder gestellt (vgl. Nave-Herz, 1988, 5). Nach Rauchfleisch (1997) wird „in den Massenmedien wie auch in der Fachliteratur (...) seit vielen Jahren das Lamento über „den Zerfall der Familie“ angestimmt.“ (ebd., 7) Nachfolgend soll die Familie und deren Entwicklung als Gegenstand der Familientherapie untersucht werden. Aus Gründen der Umfangsbeschränkung werden zentrale Themen exemplarisch herausgegriffen.

Der Begriff `Familie´ (lat. familia- Hausgenossenschaft, Dienerschaft) ist in seiner Definition abhängig von den verschiedenen historischen Epochen und deren Rechtsgrundlage. Die definitorische Bestimmung der Familie soll anhand eines historischen Einblickes in die Entwicklung der Familie erörtert werden.

2.2 Historischer Abriss: Die Entwicklung von der

Großfamilie zur industriellen Kleinfamilie

Zur Zeit des antiken Roms zählten gemäß der Patria potestatis alle Personen und mate- Güter, die zum Haus gehörten, zur Familie. Im Mittelalter erweitert sich der Begriff um alle Personen, die von einem Haus, einer Burg, einem Schloss oder einem Fürstentum abhängig waren. Familie wurde nicht mehr auf die reine Blutsverwandtschaft bezogen, sondern bezeichnete eine Konsum-, Arbeits- und Wirtschaftseinheit, was Gestrich (1999) auch als „große Haushaltsfamilie“ beschreibt. Mit der Ablösung des Klassizismus zur Wende des 19.Jahrhunderts, wandelte sich die Welt - und Lebensanschauung, insbesondere das Ehe- und Familienkonzept. Verstand man zuvor Ehe als einen Kontrakt gegenseitiger Verpflichtungen, basierend auf Rationalität sowie religiöse und rechtliche Kanonisierung, setzte sich nun ein säkularisiertes Verständnis von Ehe und Familie durch: Die romantische Beziehung wurde zum Leitbild und die gegenseitige Liebe der Ehepartner das Fundament der bürgerlichen Familie. Als Krönung der Romantisierung der Ehe kam es zu einer Polarisierung der Geschlechtercharaktere: Passivität, Emotionalität und Mütterlichkeit galten als begehrenswerte weibliche Attribute; Aktivität, Rationalität und Berufsorientierung als we-

Historischer Abriss: Die Entwicklung von der Großfamilie zur industriellen Kleinfamilie

jedoch ökonomische Engpässe und bedingten die bäuerlichen Mehrgenerationshaushalte im 20.Jahrhundert. (So lebten laut Gestrich (1999) noch in den 60er des 20. Jahrhunderts 50% der bäuerlichen Familie in Drei- oder Mehrgenerationshaushalten, während der Bundesdurchschnitt bei 7% lag.)

Im Großbürgertum lässt sich das Bild des `ganzen Hauses´ bzw. der Großfamilie wiederfinden. (Die Haushalte hatten hier den Charakter von Wirtschaftshöfen und Gesinde oder Dienstboten galten als Statussymbol.)

Im Laufe der 20er des 20. Jahrhunderts entfachte durch den Einfluss der USPD und KPD die Ehereformdiskussion in der Arbeiterschaft: Die traditionellen patriarchalischen Strukturen der Ehe wurden angegriffen und man forderte die Kamaradschaftsehe. Diese demokratischen und emanzipatorischen Tendenzen wurden in der NS-Zeit wieder unterdrückt und statt dessen wurden die alten patriarchalischen Strukturen verfestigt. Die Erwerbstätigkeit der Frau galt als Verfehlung ihrer Bestimmung als Ehefrau und Mutter, um das rassenpolitisch erwünschte Ziel der hohen Fertilitätsrate zu erfüllen. Als Konsequenz des politischen Missbrauchs der Familie wurde sie 1949 durch die Konzeption als Intimsphäre institutionalisierter Privatheit geschützt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ (Art.6 Absatz 1, des GG, zit. n.: Stober, 2000, 137).

Historischer Abriss: Die Entwicklung von der Großfamilie zur industriellen Kleinfamilie

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2 Die Trennung von Unternehmen und Familie innerhalb der bäuerlichen Familienwirtschaft evozierte die Loslösung der Großfamilie als ideales Familienbild.

Historischer Abriss: Die Entwicklung von der Großfamilie zur industriellen Kleinfamilie

2.2.1 Die Ehebeziehung

Im 12. Jahrhundert rief die katholische Kirche die Ehe als eines der sieben Sakramente aus, womit die Ehe als traditionelle Grundlage der Familie eine religiöse Legitimierung erfuhr. Mit Bismarcks Einführung des Allgemeinen Landrechtes 1875 wurde die Zivilehe als alleingültige Eheform anerkannt und analog das Zerrüttungsprinzip 3 der Ehe eingeführt. Ehescheidungen, die schon um 1900 den Stand von 1960 erreicht hatten 4 , waren nun vor allem ein städtisches Phänomen. Nach Gestrich (1999) ist aus historischer Sicht die Höhe der Scheidungsrate weniger Ausdruck der Instabilität oder Stabilität der Ehebeziehung, als dass sie vielmehr die Ausgestaltung des Scheidungsrechts der jeweiligen Epoche widerspiegelt.

2.2.2 Die Eltern- Kind- Beziehung

Die Eltern-Kind-Beziehung zeigte durch die Jahrhunderte hindurch ein ambivalentes Verhältnis, das besonders in den unteren Schichten auftrat: Freude und emotionale Bindung einerseits, materielle Belastungen und Einschränkungen durch große Kinderscharen andererseits (ebd.).

Im gehobenen Bürgertum lassen sich ausgehend vom Mittelalter und insbesondere im 19./20.Jahrhundert mit der Entdeckung der Kindheit regelrecht empathische Beziehungen finden: In der romantischen Ära wurden Kinder als Pfand der Liebe betrachtet, anstelle einer funktionalisierten Betrachtungsweise früherer Epochen, in der Kinder der Zweck von Ehe bzw. Sexualität waren. Diese empathischen Empfindungen verstärkten sich auch in den Unterschichten mit den zunehmenden Möglichkeiten der Geburtenkontrolle 5 und sinkender Kindersterblichkeit (ebd.).

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

2.3 Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf

die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

In den vergangenen zwanzig Jahren ist der Bedeutungswandel der Familie immer mehr in den Mittelpunkt der Boulevardpresse gerückt (Rauchfleich, 1997). Einerseits durch sich häufende Berichte exotischer Lebensformen für Paar- und Familienbeziehung und andererseits durch Warnrufe vor der Auflösung der Familie: Cooper (1972) spricht sogar vom „Tod der Familie“ (vgl. Nave-Herz, 1988). Andere sprechen von einem soziodemographischen Wandel der Familie:

„Bei (...) nachzuzeichnenden Entwicklungen handelt es sich um einen stabilen und seit Ende der 70er Jahre sich verstetigenden Strukturwandel, der grosso modo auf eine Auflösung der `Normalfamilie, i.S. des kernfamilialen Haushalts eines Ehepaares mit seinen leiblichen Kindern´(Wingen, 1989)hinausläuft.“ (Bohrhardt, 1999, 52).

Bohrhardt macht seine Aussagen an vier soziodemographischen Wandlungen unserer Gesellschaft fest: 1. Rückläufige Heiratsneigung

Es scheint ein Bedeutungswandel der Heiratsmotive stattgefunden zu haben: Heutige Paare heiraten überwiegend wegen Kinderwunsches und weniger wegen emotionalen und sexuellen Bedürfnissen. 2. Sinkende Fertifitätsrate

Die Fertilitätsrate hat sich von 1938 zu 1997 nahezu halbiert: Jahreszahl Zahl der Lebendgeburten auf je 1000

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(vgl. Statistisches Bundesamt, FS1, R1, 1996, 32-37)

3. Zunehmende Scheidungsrate

Die Scheidungsrate hat 1998 einen neuen Höhepunkt erreicht: jede vierte Ehe wird geschieden (Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, 1999).

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

4. Häusliche Abwesenheit der Mutter

Die Zahl der erwerbstätigen Mütter ist von 14% (1972) auf 51% (1992) gestiegen.(Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, F1, R1, 1998) Ursachen des Bedeutungswandels sind nach Nave-Herz (1988): 1. Liberalisierung der Geschlechtsbeziehungen, 2. Zunahme vielfältiger Rollenbesetzung, 3. Mittel der Geburtenkontrolle (und analoge Entkopplung biologischer und medizinischer Elternschaft auf der sozialen Ebene), 4. Entwicklung des Sozialstaates (und damit Lockerung der individuellen Bindung an die Herkunftsfamilie, durch soziale Absicherung auf der rechtlichen Ebene). Die Veränderungen erfolgen jedoch in den einzelnen Dimensionen in unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit:

„Ferner geht (..) aus allen berichteten Wandlungsprozessen hervor, daß zwar gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu innerfamilialem Wandel führten, aber diese Transferwirkungen nicht im Sinne eines `Reiz- Reaktions- Schemas´ zu interpretieren sind (...), sondern daß durch die hohe Komplexität des Familiensystems gesamtgesellschaftliche Wirkungen sehr unterschiedliche innerfamiliale Verarbeitung erfahren, was zur gesteigerten gegenwärtigen Variation von Familienformen geführt hat.“ (Nave-Herz, 1988, 90)

Beck-Gernsheim (1998) begründet den Pluralismus der Lebens- und Familienformen der `postfamilialen Familie´ mit einem Spannungsverhältnis, das im Zuge der Individualisierung entstand: die Ambivalenz zwischen dem individuellen Anspruch auf eigenes Leben auf der einen und die Sehnsucht nach Bindung, Nähe und Gemeinschaft auf der anderen Seite. Die neue Vielfalt der Lebensformen soll, so Wieners (1999), diesen Lebensgestaltungswünschen gerecht werden und sie kritisiert die „Glorifizierung der traditionellen Kernfamilie“, als Blockade des Entfaltungsprozesses unterschiedlicher Familientypen.

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

Liebe und Ehe, Ehe und Sexualität, Sexualität und Elternschaft. 4. Wohlfahrtspolitische Rahmung

Die Wohlfahrtspolitische Rahmung unterscheidet sich in Anlehnung an Kaufmann (1933) durch drei Positionen: 1. die Position möglicher Staatsbegrenzung, 2. die Position einer selektiven Staatsverantwortung, 3. die Position einer umfassenden Staatsaufgabe.

Diese sozialstaatliche Entwicklung gibt „den Individuen (die Möglichkeit) ein Ausmaß an autonomer Lebensführung, das sie von familialen Bindungen weitgehend unabhängig macht- ein im historischen Vergleich völlig neuer Tatbestand“ (Kaufmann, 1933, zit. n.: Bohrhardt, 1999, 62).

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

abhängigen Nachkommenschaft“ (Bohrhardt, 1999, 21).

2.3.1 Formen von Familien

Die Formen der Familie haben sich, wie bereits oben dargestellt, stark verändert. Nach- Tabelle über die familiäre Zusammensetzung soll einen schematischen Einblick in diese Entwicklung und geben: Familien nach ihrer Zusammensetzung 6

2,8

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9,4

10,1

2.3.1.1 Kernfamilie

Die 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gelten als Höhepunkt der klassischen Familienkonstellation: Vater, Mutter und zwei Kinder. Diese Familienkonstellation wird nach Wieners (1999) immer noch als Standardfamilie verstanden und genießt in der Bevölkerung das hohe Ansehen einer „etabliertesten Lebensweise“ (vgl. ebd., 22f).

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

Traditionelle Familie:

Die traditionelle Form der Familie ist durch klassische Aufgabenverteilung und Rollenklischees charakterisiert.

„In traditionellen Familien haben Väter und Mütter meistens eindeutige Aufgaben (...) ... Die traditionelle Art, in der Mütter sich um ihre Kinder kümmern, ist, daß sie sie füttern, anziehen, sauberhalten und mit ihnen schmusen. Die Väter verdienen traditioneller Weise das Geld außer Haus und wenn sie zu Hause sind, spielen sie mit den Kindern und unterhalten sich mit ihnen (...) sie die Väter zeigen weniger Gefühle, sind aber unterhaltsamer als die Mütter“ (Scarr, 1987, zit. n.: Wieners, 1999, 24f).

Diese Rollenvorstellungen sind keineswegs untypisch: So ergab eine EG-Untersuchung von 1987, dass in den alten Bundesländern 58% der befragten Männer sich `Nur-Hausfrauen´, 31% eine berufstätige Frau wünschten, 11% gaben keine Antwort (vgl. Wieners, 1999, 31). Laut Richter und Stachelbeck (1992) werden mit der Geburt des 1. Kinder alte Rollenschemata wieder lebendig 7 : die Frau als „emotionale Führerin der Familie“ (Oestreich, 1979) und der Mann als Ernährer der Familie 8

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

2.3.1.2 Ein- Elternfamilie

Die Zahl der Ein- Elternfamilien hat infolge der steigenden Scheidungsraten 9 enorm zugenommen und hat sich mittlerweile als Standart etabliert.

Bis in die 70er Jahre hinein wurden Ein- Elternfamilien noch als `zerrüttete´ oder `desorganisierte´ Familien bezeichnet. Dies galt vor allem für Scheidungsfamilien, die von starkem sozialen Druck, Sanktionierungen und Diskriminierungen gepeinigt wurden 10 . Zur Zeit leben in der BRD 2,8 Mill. Ein- Elternfamilien, 1/6 aller Familienformen, (Statistisches Bundesamt, 99), von denen 85% allein erziehende Mütter und 15% al- 8 DerMann als Ernährer der Familie ist bereits im Familienrecht der BRD bis 1977 verankert : „Es gehört zu den Funktionen des Mannes, daß er grundsätzlich der Erhalter und Ernährer der Familie ist, während es die Frau als ihre vornehmste Aufgabe ansehen muß, das Herz der Familie zu sein“(Beck- Gernsheim, 1990, zit. n.: Wieners, 1999, 31).

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

Leete (1978) definiert Familie wie folgt:

„`Eine Familie mit einem alleinerziehenden Elternteil besteht aus einem Vater oder einer Mutter ohne Partner und seinen / ihren Kindern unter 16 Jahren oder Kindern im Alter von 16-19 Jahren, die sich noch in schulischer Ausbildung befinden. Eltern, die mit einem Partner zusammenleben oder deren Kinder nicht mehr abhängig sind, werden nicht als alleinerziehende Eltern betrachtet´“. (Leete, 1978; zit. n.: Wieners, 1999, 37)

Entstehungsgeschichtlich gibt es drei Typen von Ein- Elternfamilien: 1. Geschiedene mit Kindern (ca. 45%): Ein Elternteil, der Inhaber des Sorgerechtes (in den meisten Fällen die Mutter), lebt mit den Kindern zusammen. Der andere Elternteil pflegt einen mehr oder minder intensiven und regelmäßigen Kontakt. 2. Verwitwete mit Kindern (ca. 40%): Ein Elternteil ist verstorben, aber der lebende Elternteil ist noch keine neue Partnerschaft eingegangen. 3. Frauen, mit unehelichen Kindern (ca. 15%) 11 : die Frauen leben mit ihren Kindern zusammen und sind auch später keine Ehe eingegangen (vgl. Rauchfleisch, 1997, 14). Nach Heiliger (1991) ist das Gelingen der Ein- Elternfamilie von Zeitpunkt, Ursache und Akzeptanz des Ein- Eltern- Statuses abhängig. Stetter (1977) erörtert, dass es von hoher emotionaler Bedeutung ist, inwieweit der Ein- Eltern- Status freiwillig gewählt wurde oder nicht. Nach Beck- Gernsheim (1998) wurde der Ein- Eltern- Status jedoch oftmals nicht selbst gewählt. Auswirkungen des Ein- Eltern- Status auf die Kinder

10 Durkheim (1921) bezeichnete die Ein- Elternfamilie als eine Lebensform, die zum anomischen Zustand der Gesellschaft führt.

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

verfügen weiterhin über ein größeres soziales Netz und Interaktionsfeld, wodurch sie vielfältige Sozialisationserfahrungen aufweisen. Ferner pflegen sie einen egalitären Erziehungsstil (Gutschmidt, 1993). Die Kinder wiederum zeigen ein außergewöhnlich geschlechtsunstereotypisches (Scarr, 1987), verantwortungsbewusstes, selbständiges und selbstbewusstes Verhalten (Gutschmidt, 1986) sowie größere Sensibilität für gesellschaftliche Diskriminierungen (Gutschmidt, 1993). Trotz dieser positiven Auswirkungen herrscht Einigkeit über die hohen psychischen Belastungen der Kinder und deren negative Auswirkungen auf die Gesamtkonstitution und -entwicklung (Rauchfleisch, 1997). 13

2.3.1.3 Wohngemeinschaft

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

Wohngemeinschaften unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funktion: Wohngemeinschaften als `Freizeit´-Lebensform oder Übergangsphase für Gruppen (z.B. Studenten), Therapeutische Wohngemeinschaften mit der Unterscheidung von Team und Mitgliedern, Landkommunen mit einfachster Lebensweise (Selbstversorgung), Städtische Produktionsgemeinschaften (wie `Rössli´ (Stäfa) oder `Kreuz´ (Solothurn) in denen Leben und Arbeit geteilt wird (vgl. Hanhardt 1979; in: Wieners, 1999, 54).

2.3.1.4 Homosexuelle-Elternfamilie

Homosexuelle Elternschaft scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Doch in der BRD leben ca. zwei Millionen lesbische Mütter und schwule Väter (Wieners, 1999, 64). Es ist laut Streib (1991) mit einem starken Anwachsen der Zahl homosexueller Eltern zu rechnen, Streib spricht sogar von einem „lesbischen Baby-Boom“. Die Kindern stammen meist aus vorherigen heterosexuellen Beziehungen 14 . Schwulen Paaren bleibt die Möglichkeit der `surrogate mother´ oder der sogenannten offenen Familie 15

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2.3.1.5 Nichteheliche Gemeinschaften

Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind Paare unterschiedlichen Geschlechts, die nicht miteinander verwandt oder verheiratet sind, aber einen gemeinsamen Haushalt führen (vgl. Statistisches Bundesamt, 99).

Die Veränderung des familiären Status durch Eheschließung wird hier als eine Option gesehen. So beabsichtigen nach einer Studie des BMJFG (1985) 33% der in einer nichtehelichen Gemeinschaft lebenden, ihren jetzigen Partner u.U. zu heiraten, 38 % sind sich unklar und 28% lehnen eine Heirat mit ihrem derzeitigen Partner ab.

2.3.2 Die erwerbstätige Frau als Ausdruck der sich wan- Rollenverteilung

Als „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ bezeichnete Dahrendorf (1961) die erwerbs- Frau, insbesondere die erwerbstätige Ehefrau und Mutter, denn der Status der Frau solle von der Familie statt von der beruflichen Stellung bestimmt werden (vgl. Nave-Herz, 1988, 118) 16 . Während der Hochblüte der traditionellen Kernfamilie (in den 50/ 60er Jahren) ist die Erwerbstätigkeit der Frau weithin verpönt: Die gesellschaftliche Moral legitimierte lediglich die Erwerbstätigkeit unverheirateter Frauen oder die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen unter dem Deckmantel der ökonomischen Notwendigkeit (die allerdings als Schande für den Mann galt): „`Single women must work; married women without children or grown-up children may work; married women with small children must not work´“ (International Social Science Journal, 1962, zit. n.: Na-

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

6

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5

4

1976 3 1985 1995 2 1 0 beide Ehepartner Ehemannallein Ehefrauallein beide erwerbstätig erwerbstätig erwerbstätig Ehepartnernicht erwerbstätig

(Statistisches Bundesamt, 11/1996, 4)

16 Moers (1948) pointiert diese Aussage und rückt geschlechtspolarisierende Argumente in den Vorder- „`Der `natürliche´ Beruf der Frau -Hausfrau, Gattin, Mutter- läßt sich in gewisser Hinsicht nicht mit den Erwerbsberufen vergleichen. Er ist eben für die Frau die Erfüllung ihres ureigensten Seins, erbietet ihr die Möglichkeit, Körper und Seele so einzusetzen, wie es ihrer natürlichen Veranlagung - biologisch und auch seelisch- geistig gesehen- am besten entspricht. Die Erwerbsarbeit kann zwar (...) der Frau (...) angepaßt sein, aber wenn die Frau sich der Berufsarbeit ganz hingibt, so kann es doch vorkommen, daß (...) Grundanlagen und Kräfte nicht oder nicht voll zur Entfaltung gelangen.´“ (Moers, 1948; zit. n.: Nave-Herz, 1988)

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

Weniger qualifizierte Berufe, geringere Stundenzahlen, eine weniger karriereorientierte Berufsmotivation sowie ungünstige Arbeitsbedingungen und schlechtere Bezahlungen sind die Kosten auf der beruflichen Seite des doppelgleisigen Lebens der berufstätigen Frau. Überforderung sowie permanente psychische und physische Überbelastung und „Spannungen zwischen primären und abstrakten Sozialbeziehungen“ (Schlesky, 1955), die Kosten auf der familialen Seite 18

Familienkonzept der Kernfamilie: Rückblick auf die Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren

Die Befreiung von traditionellen Stereotypen und egalitären Sozialisationsbedingungen geben Kindern erwerbstätiger Mütter positive Impulse, die sich in einem hohen Selbstbewusstsein und geschlechtsunstereotypen Denken der Kinder äußern, so Hutter (1981). Borhardt (1999) hebt dagegen hervor, dass viele Befunde die negativen Auswirkungen mütterlicher Erwerbstätigkeit darlegen 19 , die aber, so Greenstein (1995) empirisch schwach oder, so Furstenberg (1995), untereinander widersprüchlich sind. Andere Untersuchungen wie der Kindersurvey der National Commission on Children (1991) aus den USA und hiesige repräsentative Langzeitstudien (Gottfried et al., 1994) deklarieren nur minimale oder keine signifikanten Unterschiede zwischen den Kindern berufstätiger Mütter und denen nicht berufstätiger Mütter (vgl. Bohrhardt, 1999, 67). Scarr (1987) betont, dass die infantile Entwicklung ein multikausales Geschehen ist, das durch die Veränderung eines Faktors, wie der maternalen Erwerbsarbeit, keine Veränderung der infantilen Sozialisationsbedingungen bewirkt, die wiederum eine Beeinträchtigung der infantilen Entwicklung auslösen könnten.