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Renate Silberer

Das Wetter
hat viele Haare

Erzählungen

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01096-2

Copyright © 2017

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

1.Deckweiß

2.Fliegende Zungen

3.Konrads Umkehrversuch

4.Wie möchte sie ihr Ei

5.Flugzeuge

6.Vor dem Verschwinden

7.Das Wetter hat viele Haare

8.Die Äpfel liegen auf Schnee

9.Nervendisko

10.Schlange als ob

11.Lange Hälse

Deckweiß

Hilda badet oft, sie mag das Wasser auf ihrer Haut, das gedämpfte Licht, das Auf-dem-Rücken-Liegen, Richtung-Decke-Blicken, das Blinzeln, bis die Sterne in das Zimmer kommen und der Himmel. In diesen Momenten ist ihr, als würde sie sich selbst abstreifen, zu einem Teil des Wassers werden. Sie spürt seine Schwere, hört sein Wispern, das Wasser, was will es ihr erzählen? Sie sieht zur Tür.

Der Mann ist nicht da.

Hilda ist für sich und ihr Für-sich-Sein stellt Fragen. Sie schließt die Augen, öffnet die Augen, sie steht auf.

Was jetzt, Hilda putzt. Das Haus für den Mann, er könnte ihr Vater sein. Hilda putzt den Mann und sagt zu ihm, du könntest mein Vater sein. Sie lebt mit ihm in seinem Haus. Und sie schreibt Briefe.

Jeden Tag einen Brief, manchmal ein paar Zeilen, für Blanka, ihre Schwester. Nach dem Schreiben denkt Hilda an die Mutter, die Tante, den Onkel, daran, dass sie in ihrem Land geblieben sind, in ihrem kleinen Dorf und sie stellt sich vor, wie sie um den Tisch sitzen, Tee trinken, Karten spielen. Hilda vermissen.

Hilda fragt sich, wie es wäre, bei ihnen zu sein. Im Winter kalt, im Sommer ein Wald voller Erdbeeren, im Herbst und im Frühling ein Warten auf den neuen Tag, auf Pläne, auf Geld von Ester.

Ester, die zwei Jahre ältere Kusine, die vor ihr ging, und der Hilda vier Jahre später folgte. Jahre, die sie mit den Beinen im Dorf, mit dem Kopf längst in Esters Anderswo verbrachte.

Hilda erinnert sich an den Tag, als Ester fortging, daran, wie erstaunt sie war, als sie mit gepacktem Koffer vor ihr stand und in jedes Zimmer ging, um sich zu verabschieden. Von den Wänden, von den Vorhängen, wie Ester sagte. Von den Schränken. Dabei hatte sie ihren Mantel an und ihre Stiefel.

In der Küche zog Ester einen Stiefel aus und behielt den anderen an.

Sie setzte sich auf den Boden, einen Moment lang dachte Hilda, Ester würde bleiben. Als wäre ihre Idee von einem anderen Leben ein Tagtraum, nichts weiter. Bis Ester aufstand und mit ihrem Stiefel in der Hand zur Tür ging, da rief Hilda, bleib, bitte, bleib doch. Und Ester blieb, um ihren Stiefel anzuziehen und sie zu verlassen.

Hilda sagt, als Ester winkte, war ich sicher, sie winkt nur für mich, als sie fort war, kroch ich unter den Tisch und fühlte mich wie ein Kind. Ein Kind will Kuchen, sie lacht, das war der Moment, in dem ich beschloss, es Ester gleichzutun, Krankenschwester zu werden, Hilfsschwester, egal, nur fort von diesem Ort, aus diesem Land.

Hilda bestellt eine zweite Tasse Heiße Schokolade, ein großes Glas Wasser, machen wir weiter, sagt sie.

Annemarie schaltet das Aufnahmegerät ein, beobachtet Hilda, wie sie geschminkt, zurechtgemacht, in ihre Tasche greift.

Statt natürlicher Brauen hat sie gezeichnete Linien über ihren Augen, um die Lippen einen Konturstift aufgetragen, Puder auf den Wangen und im Haar glänzt eine silberne Libelle.

Hilda nimmt einen Zettel aus der Tasche, legt ihn vor sich auf den Tisch, räuspert sich, soll ich vorlesen?

Annemarie nickt.

Erinnerst du dich, liebste Blanka,

Mutter wollte mich nicht gehen lassen. Sie weinte, schlug sich an den Kopf, schnalzte mit der Zunge, hielt mich fest mit ihren großen Händen. Umgeben von Mutterhaut und Knochen blickte ich auf ihren Mund, ihre Augen, ihr blondes Haar, das schöne Sonntagskleid.

Alles die Mutter, ich konnte mich nicht in ihr finden. Und ihr Atem roch nach Heidelbeeren. Kompott hatte sie gemacht. Zum Bleiben wollte sie mich überreden.

Der Onkel, die Tante, ihr alle wart da. Du, Blanka, hast geweint. Ich sagte, nicht doch, und du warst still. Später habt ihr mich mit einer Tasche voller Würste zum Bahnhof gebracht.

Im Zug träumte ich mich in mein neues Leben.

Hilda legt den Brief zurück in die Tasche, trinkt einen Schluck Wasser, ein gutes Leben, hat nicht jeder Mensch das Recht darauf?

Annemarie nickt, einmal, ein zweites Mal, sich nach der Heimat zu sehnen ist besser, als an ihr zu verzweifeln, sagt sie und erinnert sich an ihre Großmutter, die aus Schlesien geflohen ist im Winter 1945.

Alte Hände hatte die Großmutter gehabt, mit Adern, die hervorstanden, die Annemarie berühren wollte und vor denen sie sich ekelte. Einmal berührte sie ihre Hände, es war im Frühsommer, als Großmutter im Garten auf dem Schemel vor dem Kirschbaum saß um die Stare zu verjagen, die Kirschen müssen gerettet werden, sagte sie, die roten Kirschen, und bemerkte die Berührung nicht. Annemarie wunderte sich und dachte, Großmutters Haut fühlt sich wie Haut an. Und als die Vögel geflogen kamen, sich dem Kirschbaum näherten, begann Großmutter laut zu singen, mit tiefer Stimme, es war ein Brummen, unmelodisch, als sänge jemand anderer aus ihr heraus. Bist du traurig, fragte Annemarie und die Großmutter sagte, nein, ich bin fröhlich, nur im Gesicht traurig und sang weiter, schwang den Reisigbesen, vertrieb die Vögel. Eingehüllt in ihre Kleiderschürze unter der selbstgestrickten Weste, mit dem Kopftuch über ihrem Haar hatte sie etwas Unnahbares an sich, geisterhaft war es, beinahe.

Hilda räuspert sich, Annemarie?

Entschuldigen Sie, wo waren wir?

Ester erwartete mich am Bahnsteig. Sie trug eine braune Hose, eine enge Bluse, ihr Haar war hochgesteckt, ich erkannte sie kaum, ohne Zöpfe, ohne Blumenkleid. Ester, groß, schlank, erwachsen kam sie auf mich zu. Lass dich anschauen, sagte sie. Und ich gab ihr die Tasche voller Bratwürste und Salamis. Grüße von daheim, sagte ich. Ester öffnete die Tasche, das schmeckt dir, fragte sie und verzog ihren Mund. Sie lachte, ihre Zähne glänzten, ich fragte mich, wie oft am Tag sie Zahnseide verwendete, welcher Geschmack wohl in ihrem Mund war.

Wir kauften Fahrkarten und nahmen den Bus. Während der Fahrt erzählte sie mir von dem Mann, mit dem sie lebt, der ein großes Haus hat und einen Garten, sie sagte, du wirst staunen, sobald du meine Kleider siehst und meine Blusen, dass ein Schrank und auch zwei zu wenig seien, für all ihre Sachen, dass ein eigener Raum nötig sei, mit an die Wände geschraubten Regalen und montierten Kleiderstangen.

Hilda schweigt.

Annemarie will hineinhören in das Schweigen, es gelingt ihr nicht, ist es möglich, mich an etwas zu erinnern, das ich selbst nicht erlebt habe, fragt sie sich.

Hilda sagt, ich war bei Ester, wir atmeten dieselbe Luft am selben Ort, doch sie, es war heiß an diesem Tag, Esters Körper roch nach Rosenwasser, ich hielt meinen Koffer in den Händen, drückte ihn fest an meinen Körper, als wäre er es, der mich zusammenhielt.

Annemarie sieht in Gedanken den alten Koffer ihrer Großmutter in der hintersten Ecke des Dachbodens im Haus ihrer Eltern stehen. Ihre Mutter hatte ihn dort abgestellt, sie wollte ihn verschwinden lassen, schaffte es aber nicht, ihn wegzubringen, zum Sperrmüll, ins Altstoffsammelzentrum. Was ist darin, wollte Annemarie wissen, als sie begann, sich für die Vergangenheit zu interessieren. Die Mutter hatte geschwiegen, und als Annemarie den Koffer öffnete, dachte, ein Geheimnis käme zum Vorschein, Briefe, alte Kleider oder Schmuck, war eine Decke darin gewesen, Wolle, Stricknadeln, Spinnweben. Also nichts, sagte sie zur Mutter und die Mutter wurde bleich.

Die Mutter sagte, als die Soldaten ankamen, mussten sich alle Frauen auf dem Dorfplatz versammeln. Als sie den Soldaten gegenüberstanden, Großmutter war eine von ihnen, war es unsere Nachbarin, sie war erst siebzehn, zwölf Jahre älter als ich, ich war fünf, die Nachbarin, sie war beinahe noch ein Kind. Sie schaffte es nicht, still zu sein, sie schaffte es nicht, stehen zu bleiben, sie lief los, ein Soldat schoss ihr in den Hinterkopf. Mutters Atem stockte und sie weinte, als sie sagte, die Soldaten taten, als wäre nichts geschehen, sie gingen auf die Frauen zu, jeder von ihnen nahm eine Frau mit in eines der Häuser, in eine der Scheunen. Großmutter war eine schöne Frau.

Annemarie weiß nicht, ob Hilda gerade etwas zu ihr gesagt hat. Sie blickt auf das Diktiergerät, es ist eingeschaltet.

Hilda sagt, Ester und ich, wir fanden keine gemeinsame Sprache, nur Wörter.

Wörter, fragt Annemarie, Augenblick, Hilda, würden Sie mich kurz entschuldigen?

Sie geht vor die Tür des Kaffeehauses, Kälte, Straßenlärm, Menschen. Sie atmet ein, atmet aus, streckt sich und es scheint ihr, als würde die Spannung in ihrem Körper Spuren hinterlassen, Abdrücke. Sie geht zurück ins Kaffeehaus, an den Gästen vorüber, die sie nicht ansieht.

Sie versucht, nach vorn zu blicken, nicht auf den Boden, nirgendwohin. In der Toilette steht sie vor dem Spiegel, öffnet ihre Haarspange, lässt die Haare über die Schultern hängen, hört die Mutter sagen, Annemarie, die Haare müssen geschnitten werden, morgen nach der Schule gehen wir zum Frisör.

Sie hört die Frisörin sagen, so schönes Haar hat ihre Tochter, ein hübsches Gesicht. Meine Tochter ist nicht hübsch, hört sie die Mutter schreien, und sie sieht die Mutter vor sich, wie sie Annemarie vom Sessel hochzieht, an der Schulter packt, mit ihr nach Hause läuft, geradewegs ins Haushaltszimmer. Sie sieht die Mutter die alte Schneiderschere nehmen, sie hört die Mutter sagen, halt still, und Annemarie hört sich selbst rufen, Mama, aber da ist keine Mama, da ist eine, die mit einer großen Schneiderschere Annemaries Haar kurz schneidet. Eine, die nicht auf Annemaries Weinen reagiert, die, nachdem die Haare ab sind, aufschluchzt, ins Elternschlafzimmer läuft und sich einschließt.

Annemarie sieht sich auf dem Boden, inmitten der Haare, das Bild in ihr, ist es dasselbe geblieben, hat es sich gewandelt, mit der Zeit die Bedeutung verändert? Sie schließt die Augen, versucht zu spüren, nichts. Das Vergessen? Es ist da, das Vergessene auch, wo sonst sollte es sein? Manchmal taucht es auf, als Steinchen oder Häppchen lässt es sich betrachten, ein kurzes Aufflimmern, flüchtig, ein Gedanke, fern, bahnt sich an, nähert sich, bis er in sich selbst verschwindet, unerreichbar bleibt für Annemarie, die in diesem Moment an Mutter denkt, an Großmutter, daran, wie sie es schaffen konnten weiterzumachen.

Und ich, fragt sie sich, wohin werde ich gehen? Sie weiß es nicht, ihr Gehen ist nicht in der Gegenwart. Und Hilda, sie hat ihr altes Leben verlassen, ging zu Ester.

Annemarie wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser, nickt ihrem Spiegelbild zu, schließt die Tür hinter sich, geht Richtung Kaffeehaustisch, winkt Hilda zu, betrachtet die gedeckten Tische, sieht Tortenteller, Kaffeetassen, Weingläser, Cognacschalen, sagt zu Hilda, ich habe mich frisch gemacht.

Hilda sagt, einen Moment lang dachte ich, Sie wären gegangen.

Seit ich hier bin, sagt Hilda, in diesem Land dieses Leben führe, glaube ich nicht an mich. Ich glaube nicht, dass es mir gelingen kann, etwas Eigenes zu schaffen. Ich glaube an Abläufe, die es zu befolgen gilt, nichts sonst. Sie wollen wissen, wie ich den Tag meiner Ankunft erlebte?

Hilda greift nach Annemaries Hand, ich erinnere mich an jedes Detail: Ester zeigte mir das Haus, sie sah unwirklich aus, wie sie vor mir die Treppe hochging, die Tür des Gästezimmers öffnete. Sie sprach nicht mit mir, in ihrer engen Hose fiel mir auf, wie dünn sie war. Ich wollte das Gästezimmer nicht betreten, und als ich doch eintrat, sah ich einen Schrank, ein Bett, eine Kommode, einen Tisch, eine Lampe. Ich sah den Fleck an der Wand. Der Fleck war grau und groß. Ich öffnete meinen Koffer, suchte den Malkasten. Deckweiß hilft, dachte ich. Danach aß ich eine Wurst und legte meine Sachen in den Schrank.

Ich wollte neu beginnen, und heute? Frage ich mich, wer diese Frau ist, die nicht in ihr Leben zurückkehren will.

Annemarie hört nicht zu, sie fragt sich, wen sehe ich, wenn ich in den Spiegel blicke? Ihr erster Gedanke ist, nicht mich.

Hildas Gesprochenes ist aufgezeichnet im Diktiergerät. Nichts von dem Gesagten ist verloren, zu Hause wird Annemarie nachhören, sich auf Hildas Atempausen konzentrieren, die Lücken.

Ich bin abwesend, sagt Annemarie zu sich selbst, und zum Kellner, bringen Sie mir bitte einen warmen Topfenstrudel, oder nein, einen Kirschstrudel mit Schlagobers, zu Hilda sagt sie, möchten Sie etwas bestellen?

Hilda bestellt Kirschstrudel mit extra viel Obers.

Annemarie wartet auf den Strudel.

Hilda sagt, heute lebe auch ich in einem Haus, es gehört dem Mann, den ich geheiratet habe. Ich liebe ihn nicht, ob er mich liebt, weiß ich nicht. Ester hat ihn mir vorgestellt, ein Freund meines Mannes, hat sie gesagt, er ist krank, er braucht jemanden, der für ihn da ist, und du brauchst jemanden, der dir einen Ort zum Leben gibt. In unserem Gästezimmer kannst du nicht länger bleiben.

Der Kellner bringt zwei Kirschstrudel.

Ein Haus, in dem du herumlaufen kannst, Hilda, ist groß und schön, das waren Esters Worte, Hilda nimmt einen Löffel Schlagobers, führt ihn zum Mund, hält inne, greift zum Zuckerstreuer, zuckert das Obers, isst.

Zurück im Haus öffnet Hilda die Tür ihres Zimmers. Sie setzt sich auf den Boden, lehnt sich an die Wand. Die Wand ist brüchig. Hilda zeichnet die Risse mit dem Zeigefinger nach, ihr Nagel splittert.

Sie steht auf, geht zum Schreibtisch, nimmt Papier und Stift aus der Lade, setzt sich, beginnt einen neuen Brief.

Dieses Mal wird sie ihn an Blanka schicken.

Momente

1

Sie hat keine Lust weiterzuarbeiten, das Gespräch zu transkribieren, sie will Zeitung lesen, Tee trinken, Kuchen essen. Dein Kühlschrank ist voll, deine Wohnung ist warm, es geht dir gut, hört sie die Worte ihrer Mutter. Annemarie beginnt zu lachen, es ist kein Lachen, es sind hohle Töne, die aus ihrem Kehlkopf kommen.

Ein ganzes Leben ist in einer Fingerkuppe, dieser Satz ist ihr Begleiter, seit sie ihn vor ein paar Tagen im Radio gehört hat. Annemarie betrachtet ihre Finger, in Kriegsgebieten leben Menschen, die sich die Fingerkuppen verbrennen, um von einem Jemand zu einem Niemand zu werden. Mit Mull verbundene Hände sieht sie vor sich.

Sie hat Angst vor Soldaten. Jedes Jahr, während der Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag, überläuft sie ein Schaudern. Sie schaltet den Fernseher ein, sieht die Parade der Soldaten und in ihr taucht die immer gleiche Frage auf: Werden sie kommen, um mich zu holen? Dieses Jahr wird sie nicht fernsehen, sie wird sich einen Film ansehen, gekühlten Weißwein trinken, Käse essen und Baguette.

Fliegende Zungen