Pekárková, Iva Taxi Blues

PIPER

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Übersetzt aus dem Tschechischen von Marcela Euler

 

Neuauflage einer früheren Ausgabe

ISBN 978-3-492-97909-2

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Iva Pekárková 1996

Die tschechische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Dej mi ty prachy«, bei Nakladatelství Lidové noviny in Prag

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 2000

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Für Ignatius Quiles, der aussieht wie ein Baum

1

Gravitation

Große Städte besitzen eine Gravitation, ähnlich wie große Planeten. Man trifft selten freiwillig die Entscheidung, in einer Großstadt zu leben. In eine Großstadt purzelt man hinein. Meistens kopfüber. Einige Einwanderer haben das Glück, sich der einen oder anderen Metropole schrittweise annähern zu dürfen, sie aus der Entfernung abtasten zu können (so wie es möglich ist, New York von Philadelphia aus zu befühlen, Paris von Zürich oder von Amsterdam aus); es ist ihnen möglich, die Silhouette der Stadt in- und auswendig kennenzulernen und sich auf diese Art und Weise ganz langsam zu ihr hinzuhangeln; sich beinahe schmerzlos durch die Maschen des Rettungsnetzes aus Verwandten, Freunden und Bekannten zu ihr hinunterzulassen, mit Hilfe von Filmen, Büchern oder der Sprache. Vor ihrer Landung fliegen diese Glückspilze in ihrem zusammengeflickten Raumanzug durch die Atmosphäre der Stadt, zusammengeflickt aus all dem, was sie schon vor langer Zeit über sie gehört haben.

Aber einige von uns werden über den Ozean hinweg von der Gravitation dieser Städte erfaßt; wie Kraken strecken die riesigen Städte über die sieben Berge und sieben Flüsse ihre Fangarme aus. Und wenn man sich dem Lockruf unterwirft und sich mit einem dieser Fangarme wie mit einer Nabelschnur verbindet, hebt man auch sogleich ab, empor an einer silbernen Spirale, in die Ferne – mit einer derartigen Geschwindigkeit, daß der unvermeidliche Plumps auf den Hintern nur durch Liebe zu dieser Stadt gemildert werden kann, zu diesem einzigartigen, dornigen Planeten.

Immer wenn Jindra in den frühen Morgenstunden von ihrer jeweils letzten Expedition durch Brooklyn nach Manhattan zurückkehrte, hatte sie das Gefühl, als würde sie gleichzeitig rasend schnell zu der Insel Manhattan emporklettern – wie hinauf in den Himmel –, die schmale Linie der Brücke nach Brooklyn entlang (die unter den Rädern ihres Taxis wie die Rückenmuskeln eines Pferdes zitterte und vibrierte), und zugleich fühlte sie sich, als fiele sie in einem sehr steil fahrenden Achterbahnwagen (dessen Rütteln durch Jindras ganzes Wesen drang und sie mit einer schmerzlichen Sehnsucht erfüllte) aus einer großen Höhe in die Tiefe oder als würde das magnetische Kraftfeld dieser Insel sie wie eine Stahlkugel anziehen, um sie dann mit einem lauten Klirren an ihrer Oberfläche haften zu lassen. Wenn sie dann das Ende der Brücke erreicht hatte und sich plötzlich auf der Insel wiederfand, wunderte sie sich jedesmal aufs neue, daß sie bei diesem Aufprall nicht zerschellt war. Statt dessen ließ sie lautlos die Brücke hinter sich, nur der Asphalt surrte wie eine Meeresbrandung leise unter ihren Reif n. Vor ihr breitete sich ein Wirrwarr rechteckig angeordneter Straßen aus, überschaubar, vertraut und verstanden wie eine Karte ihres eigenen Kopfes. Am frühen Morgen war Jindras Gehirnrinde auseinandergefaltet wie ein Plan, der sich auf dem grauen Asphalt und dem Beton abzeichnet, inklusive ihrer Gedanken, Erlebnisse, Erinnerungen und Hoffnungen, die darauf abgebildet waren. Ihre Erinnerungen und Erlebnisse nahmen dabei die Gestalt von tief in den Boden gedrückten Kronkorken an, von zerquetschten Blechdosen oder platt gefahrenen Scherben.

Und ihre Hoffnungen bildeten die Form umgedrehter Pfeile, die von den Tauben im noch feuchten Beton hinterlassen worden waren.

2

Der Morgen

»Einen Vibrator!« tönte Gloria mit autoritärer Stimme, und mit einer Geste, die genausogut der Apostel Methodios hätte zustande gebracht haben können, hob sie das Glied aus Plastik in die Höhe. »Du solltest dir auch so etwas zulegen, denn sonst treiben mich deine ganzen Macker noch in den Wahnsinn.«

Jindra, die gerade durch die Tür trat, registrierte aus den Augenwinkeln die unnatürlich blaue Farbe des Gerätes. Wäre die Farbe noch ein bißchen intensiver gewesen, so hätte es sie an eines der Geschlechtsteile Schiwas erinnert. »Was hast du denn?« fragte sie und gähnte ausgiebig.

»Deine Idioten bringen dich um den letzten Penny.« Gloria deutete mit dem Vibrator vorwurfsvoll auf den Anrufbeantworter, auf dessen Display die Zahl 13 aufblinkte. »Dein Ehemann hat wieder angerufen …« Sie verlieh ihrer Stimme bei dem Wort husband einen derart verachtungsvollen Ausdruck, daß der gleichnamige Yorkshireterrier in seinem Hundekörbchen aufhorchte und zu ihren Füßen trippelte. »Platz, Hubby!« fuhr ihn Gloria an. »Ich meine nur, daß dein … dein Alter … seit gestern abend versucht, dich zu erreichen.«

Es war halb sechs Uhr in der Frühe. Draußen dämmerte es bereits. Gloria, bekleidet mit einer langen hellblauen Robe, saß vor ihr, und den Vibrator, der nur eine Spur heller als ihre Bekleidung war, warf sie nervös von der rechten Hand in die linke und wieder zurück. Ihr Gesicht war noch vom Schlaf geschwollen, und aus ihrem Schädel, den sie unlängst hatte kahl rasieren lassen, ragten in alle Richtungen die nachwachsenden Stoppeln ihrer tief schwarzen Haare.

»Es ist ja mal wieder Anfang des Monats«, fügte Gloria noch hinzu und kratzte sich geräuschvoll ihren Schädel. »Und so ist mir klar, was wohl dein …« (sie warf einen Blick auf Hubby) »… Alter will.«

Jindra schmiß ihren Rucksack in die Ecke. Sie gab keine Antwort. Statt dessen zog sie ihre Turnschuhe aus und stellte sie ordentlich an die Wand. Der linke Turnschuh war noch halbwegs in Ordnung, doch der rechte sah ziemlich abgetreten aus, die Sohle war vom Treten auf das Brems- und das Gaspedal schon ganz abgewetzt. Jindra entledigte sich auch ihrer Socken, nahm sie an den Fußspitzen, schüttelte sie und schaute zu, wie aus jedem der Socken mehrere durchgeschwitzte Banknoten von hoffnungsfroh grüner Farbe zum Parkettboden flatterten.

Gloria schwieg, damit sich Jindra auf das Zählen besser konzentrieren konnte. »Wie war das Geschäft heute, Gin?«

Jindra fluchte und antwortete mit einer Zahl. »Was erwartest du in einer Montagnacht …«

»Montag! Montag! Montagnacht verdienst du einen Scheißdreck, weil Montag ist …«

»Was hast du denn …«

»… am Dienstag verdienst du auch nicht viel, weil Dienstag ist …«

»Was soll man machen …«

»… und am Mittwoch kommst du mit leeren Händen nach Hause, weil …«

»Als wüßtest du nicht«, seufzte Gin, »daß die einzigen guten Nächte nur mehr die Freitage und Samstage sind. Alle anderen Tage …«

»Du fährst doch deshalb Taxi, damit du was verdienst! Oder etwa nicht? Vielleicht mußt du lernen, schneller zu fahren, oder du mußt zum Flughafen und …«

»Also scheiß doch auf deine Malerei, und versuch, selbst zu fahren! Meinst du, daß mich das jetzt interessiert …«

»Also du rätst mir, ich soll auf meine Malerei schei…«

»Ich bitte dich, können wir uns nicht weiter darüber unterhalten, wenn ich ein bißchen geschlafen hab?« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick zu der Matratze in der Ecke unter dem Fenster.

»Diese Wohnung gehört mir!« betonte Gloria mit einer steigenden Kadenz in ihrer Stimme. »Ohne mich müßtest du in irgendeinem Loch dreimal – ach, von wegen – fünfmal soviel zahlen wie hier. Und du …«

Hubby in der Ecke richtete sich auf und bellte mit seiner Fistelstimme.

»Nicht so laut«, ermahnte Jindra entweder Gloria oder den Hund, oder beide zusammen. »Du weckst Josélein auf.«

José Manuel Constitución Ramírez schlief in seinem Kinderbettchen wie ein kleiner Engel, und die beiden Frauen verspürten für einen kurzen Augenblick ein allumfassendes zärtliches Gefühl. Diese Zärtlichkeit, das wußten sie ganz genau, hält nicht länger an als für die Dauer seines glücklichen Traumes; Josélein würde garantiert in einer knappen Stunde aufwachen und rufen: »Mama, Mama, Mama!« … doch seine Mama, die gerade im New York State Pen ihre Zeit absaß, hatte es nicht für erzieherisch sinnvoll befunden, ihn die ganzen vier Jahre über in einem Frauengefängnis leben zu lassen.

Womöglich war es der Nachlässigkeit der Ämter zu verdanken, daß Josélein damals in Glorias Wohnung gelandet war, und sie hatte ihn sogar ziemlich liebgewonnen, er war so niedlich, wenn er gerade schlief, und überhaupt, wir Kubaner helfen doch einander, dachte sich Gloria, gerührt von sich selbst, und sie beobachtete, wie in ihre Erdgeschoß- (oder vielmehr Untergeschoß-)wohnung ein gelborangener Sonnenstrahl drang. Sie registrierte ihn auf ihrer Netzhaut wie einen Bestandteil dieser Stadt. Gloria hatte New York schon längst abgetastet und erforscht, seine Farbe und seine Form war ihr bereits vertraut geworden, sie wußte genau, daß es in dieser Stadt viel zuwenig von dieser frühmorgendlichen, fröhlichen Farbe gab. Manchmal bedauerte es Gloria, daß diese gelborangene Farbe das einzige war, was in ihren Erinnerungen von den Tropen übriggeblieben war. Und dies auch nur dank der Erzählungen ihrer Tante (über die kubanische orangefarbene Morgensonne) sowie dank der Farbe der Papayas, die man – sogar auch die ganz kleinen – in einem Deli-Shop an der Ecke der 10. und der B zu je $ 2,99 kaufen konnte, doch sie waren noch viel zu grün, so daß man sie reifen lassen mußte, bis die Farbe richtig schön orange war. In diesem Sonnenstrahl glitzerte der Staub, und so verstaute Gloria das alles (die Farbe, die Stimmung und die Körnung) irgendwo in ihren Augen einer Malerin.

»Eigentlich wollte ich dich um etwas bitten«, bemerkte sie nachdenklich.

Jindra fielen die Augen jetzt fast wirklich zu. Sie ließ sich schwer auf die Matratze unter dem Fenster und unterhalb der Sonnenstrahlen fallen und zog ihren Pullover über den Kopf. Dann löste sie hinter ihrem Rücken die Häkchen ihres BHs, und während sie breit gähnte, fischte sie den BH aus dem rechten Ärmel ihres T-Shirts heraus.

»Ich habe ein Angebot für eine Ausstellung bekommen!« stieß Gloria hervor.

»Neee! Wirklich wahr?« Trotz ihrer extremen Müdigkeit bemühte sie sich, erfreut zu klingen.

»Nun ja, es ist aber so …« (Aus dem Nachbarzimmer konnte man Josés leichtes Schnarchen vernehmen, was Jindra mit Schrecken erfüllte.) »… wie soll ich dir das erklären; also …« (Husband verließ wieder sein Körbchen und wedelte einige Male mit seinem Rattenschwanz.) »… die Ausstellung kostet was.«

»Na toll.«

»Ich meine, sie wollen einen Teil im voraus, damit …«

»Sollst du die etwa noch dafür bezahlen?«

»… damit sie den Raum mieten können. Gleich hier unten auf der Essex Street.«

»Eigentlich solltest du von denen Prozente kriegen …, oder?« Jindra wollte ihre bescheidenen Kenntnisse über die Künstlerszene einbringen, »… und die nicht noch bezahlen!«

»Ich kriege das dann ja wieder zurück, sobald etwas verkauft wird. Nur damit du das verstehst: Das ist keine dieser spießigen Ausstellungen von einem stinkreichen Galeristen. Das ist ein Happening, gleich da unten auf der Essex Street, die Rivington School veranstaltet das!«

Jindra legte sieh auf die Matratze, deckte sich zu und kniff ihre Augenlider zusammen. Gloria packte sie an der Schulter und schüttelte sie: »Noch nicht schlafen! So teuer ist das doch gar nicht! Sie wollen …«

»Und was sollen die Bilder kosten?«

»Das … das weiß ich noch nicht so genau. Aber jetzt … jetzt wollen die von mir zehn Cent pro Quadratzentimeter. Das ist doch nicht so teuer, oder? Und als ich die Leinwände nachgemessen hab …«

»Gibt es dort auch Plastiken? Werden die nach Kubikzentimeter berechnet?«

»Gin …«

»Also … also zahlen die großen Künstler viel mehr als die kleinen?«

Doch diese Art von Ironie zeigte bei Gloria keine Wirkung.

»Du steuerst doch was dazu bei, oder, Gin?« flüsterte sie heiser. Und sie fixierte Jindra mit ihren zwei tiefen schwarzen Augen.

In diesem Moment fing das Lämpchen auf dem Anrufbeantworter an zu blinken. Glorias Gesichtsausdruck fror ein. Herrisch richtete sie den Dildo auf das grüne Blinklicht. Jindra reckte sich gehorsam zum Telefon.

»Ich liebe dich!« hallte es aus der Hörmuschel.

»Ichliebedichichliebedichichliebedichichliebedich!«

»Wieviel brauchst du?« seufzte Jindra.

3

Durststrecke

Es war kurz vor drei, als Jindra das Haus verließ und mit einigen leeren Milchbehältnissen aus Plastik (Josélein trank erstaunlich viel Milch) die Avenue C in südliche Richtung entlanglief. Die Bewohner des East Village hatten hier eine Recycling-Station eingerichtet, gleich neben einem leerstehenden Grundstück, das im Moment – bevor es bebaut werden würde – mit riesigen Plastiken vollgestellt war, die, laut Gloria, während der Happenings der Rivington School entstanden seien. Verrostete Blechplatten, Stangen, Rohre, Kanister, Konsolen, kaputte Räder, Gedärme aus Waschmaschinen, aus Fernsehern und Tiefkühltruhen, bizarr verknotete Auspuffrohre – dieses ganze Gerümpel aus Metall hatte jemand zusammenhanglos in Form von riesigen Monstern zusammengeschweißt, die jetzt auf dem Grundstück zwischen ausgenommenen Autos in die Höhe ragten, zwischen den Resten einer Mauer aus Ziegelsteinen und dem frischen Grün der Melde, besprüht mit grausilbernen Graffiti, die wie Fischschuppen abblätterten und zusammen mit dem Rost langsam auf den Ziegelsteinsplitt und die Pflanzen rieselten. An windigen Tagen ratterte und rumpelte das ganze Statuengebilde beinahe furchterregend, und in der Nacht warf es reglose, bizarre Schatten auf die Vierte Avenue, die den versteinerten Konturen von Riesenschachtelhalmen ähnelten.

Jindra schlug den Deckel einer Kiste mit der Aufschrift PLASTIC MILK CONTAINERS auf und wollte schon die oben erwähnten Gefäße hineinwerfen, als plötzlich aus der geöffneten Kiste eine Hand von unbestimmter grauer Farbe zum Vorschein kam. Ein Gesicht mit verklebten grauweißen Barthaaren wurde von einem Lichtstrahl beleuchtet. »Spare a dime, Miss?« fragte das Gesicht.

Jindra trat einen halben Schritt zurück, aber allzusehr erschrak sie nicht. Mit Freude stellte sie fest, daß sie sich langsam an diesen Kontinent gewöhnt hatte. Noch vor einem Jahr hätte sie auf eine solche Überraschung bestimmt mit einem eher unwürdigen Geräusch reagiert, das man nur schwer von Hühnergegacker hätte unterscheiden können.

»Bist du’s, Randy?« fragte sie heute zurück, stellte das, was sie in der Hand hielt, auf den Boden und fing an, ihre Taschen zu durchsuchen.

Randy nahm mit Dank den Fünfziger an. Er richtete sich auf, schüttelte einige zerdrückte Plastikbehälter von seinem Körper und stieg aus dem Container, in die Sonne blinzelnd. »Ständig schmeißen die Leute was rein. Ständig. Mir direkt auf ’n Kopf!«

»Das tut mir leid. Aber weißt du, diese Kiste IST irgendwie dafür da, daß man …«

»Wenn man die nur irgendwie von innen abschließen könnte, wär’s sogar ’n ganz guter Platz zum Pennen.«

»Ist das nicht ein bißchen eng da drin?«

»Na ja, man fühlt sich schon wie ’ne Sardine, Gin«, räumte Randy ein, »aber hier regnet’s nicht rein, und … hier drin ist es … wie in meinem Gehirn, weißt du? Wie wenn du gekokst hast. Dunkelheit und nur ein ganz schmaler weißer Lichtstrahl, wie eine magische Spirale. Stell dir das nur vor, zusammengerollt wie ein Igel im eigenen bekifften Gehirn zu schlafen! – Hast du das schon mal probiert, den Inhalt des eigenen Gehirns zu malen, Gin? Ich meine damit … den Raum?« fragte Randy nachdenklich und starrte dabei in die Dunkelheit des Containers. »Ich bin nämlich ein Maler, you know, und das hier sind meine Bilder.«

Er hockte sich vor eine Blechplatte hin und strich mit der Hand über die gesprayten Kritzeleien. »Das hier ist mein Gehirn, Gin, das universale Gehirn, das Gehirn dieser Stadt, die Essenz der Gehirne all der Menschen, die hier je gelebt haben und krepiert sind; das ist mein verrostetes, mißbrauchtes Gehirn, Gin, und das hier …« er klopfte auf den monströs verdrehten Auspuff eines Lastwagens, den ein Rivington-Sehüler an die obere Hälfte der Blechplatte geschweißt hatte, »das ist die himmlische Spirale! … Könntest du solche Dinge malen?« schrie er laut und sprang auf. Von seiner schmuddeligen grauen Handfläche schneiten versilberte Rostklümpchen.

Gin hob ihre Augen zu dem verdrehten Auspuffrohr. Es ragte zum Himmel empor, und ganz oben war es mit einem Verbindungsstück an der benachbarten Plastik befestigt, damit es nicht zu Boden stürzte. Doch auch so schwankte es bedenklich unter den Füßen zweier hin und her trippelnder Tauben. Einer der Vögel hob seinen Hintern in die Höhe und ließ etwas fallen. Jindra verfolgte den Flug des Exkrementes, und ihre Augen, durch das Licht des Himmels geblendet, fingen an zu tränen.

»Ich bin keine Künstlerin«, antwortete sie Randy.

 

In den ersten Tagen und Wochen nach ihrer Ankunft, als sie bei dem Fotografen im obersten Stockwerk eines stinkenden Hochhauses in Chinatown gewohnt hatte (unter dem Dach, wo Nacht für Nacht zwei hiesige Nutten in ihren hochhackigen Schuhen umherstöckelten und den unter Schlaflosigkeit leidenden Fotografen zum Wahnsinn trieben; sie warfen die gebrauchten Pariser auf ihre letzte Ruhestätte hinter dem Schornstein, wo sie in der prallen Sonne verwesten, und so zogen dem Fotografen Bilder durch den Kopf, wie jeder leichte Regenfall aus dem Haufen der Gummis Milliarden von abgestorbenen Spermien spülte, die sich durch die Teerdachpappe immer tiefer und tiefer in die Decke hineinbohren würden, so daß an einem wunderschönen Tag diese gelbbraunen mikroskopischen Überreste anfangen würden, auf seinen Kopf zu tropfen, auf seine Bilder oder auf das Bett mit dem Kamelhaarüberwurf), blickte Jindra von dort aus über die Häuser gen Osten, zurück; aus einem unerklärlichen Grund waren die Fenster der meisten Wohnungen, in denen sie während dieser Zeit gewohnt hatte, und das waren eine Menge, nach Osten oder Süden gerichtet, das hatte ihr geholfen, sich zu orientieren, sich an das neue Raum-Zeit-Kontinuum zu gewöhnen, denn in New York sagt kein Mensch links oder rechts, hier nennt man das westlich oder östlich und nördlich oder südlich; von allen Wohnungen, in denen sie also gewohnt hatte während jener wehmütigen Zeit des Übergangs, des Eingewöhnens, des Heimwehs und der Leere, gefüllt von rechteckig angeordneten riesigen Quadern (deren Form sich auch in Jindras Träume ihren Weg bahnte), von all den Wohnungen, in die sie sich hineingebettelt, hineingekauft, hineinbeschworen und hineingevögelt hatte, konnte sie nur aus zweien nicht nach Osten blicken, denn in der einen, auf der 64. Straße (wo sie einen einzigen quadratischen Raum mit sieben Katzen und deren Besitzer teilen mußte, die Katzen krabbelten immer über sie drüber, während sie schlief, der Wohnungsbesitzer zum Glück nicht; auch wenn sie kochen und putzen und das Telefon bezahlen sowie dem wirren, endlosen Gelaber zuhören mußte, ohne sich eine Spur von Langweile anmerken lassen zu dürfen), führte das Fenster in einen Lichtschacht, der hellgrün gekachelt war, vielleicht damit es die Mieter in dem ganzen Häuserkomplex näher zur Natur hatten, oder weiß der Teufel, warum; und beim zweitenmal, auf dem Greenpoint in Brooklyn, in ihrer elften Wohnung, wo sie sich ein wenig verloren vorkam, denn es war außerhalb von Manhattan und in den Geschäften sprach man sie polnisch an, hatte sie durch das Fenster, das nach Westen hinausging, ganz Midtown gesehen, den Nabel der lang ersehnten Insel, aus der wie eine Spindel die konische Spitze des Empire State Building in die Höhe ragte, sie konnte die Queensborough Bridge und die Williamsburgh Bridge sehen, die nachts wunderschön beleuchtet waren und Jindra wie durch einen dünnen Faden mit Manhattan verbanden; und so saß sie dort fest, eigentlich ganz gut drauf, nur ein bißchen abgeschnitten, die Stadt vor ihr glänzte wie auf einer phosphoreszierenden Postkarte: der Morgen leicht rosafarben, der Nachmittag barsch und im Zeichen der Arbeit und der Abend – manchmal – mit einer scharfkantigen Silhouette, die, wie aus einer Messingplatte ausgestanzt, das Abendrot des westlichen Himmels spaltete.

Jindra saß stundenlang am Fenster, denn auch hier in Brooklyn war New York unerreichbar für sie, abstrakt und entfernt, als würde es sich weigern, von der Postkarte zu ihr herabzusteigen, sie hatte nicht einmal genug Geld für die U-Bahn, und so beobachtete sie wenigstens die Silhouette der Stadt, die in der warmen herbstlichen Luft vibrierte, in der Luft, deren Schichten über der Stadt aufeinanderstießen und mit den Wolken in die Ferne davonschwammen. Jindra saß am Fenster, und mit den Augen sog sie die Stadt in sich hinein, in die sie gekommen und doch nicht gekommen war, sie zerbrach sich den Kopf, wovon sie denn leben sollte, zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, daß sie eigentlich nichts Brauchbares konnte; sie saß dort und platzte fast vor Stolz, daß sie es bis nach New York geschafft hatte, sie saß dort und bemitleidete sich; die Silhouette von Manhattan zog sie wie ein unheimlich buntes Mysterium an; Jindra fluchte, suchte aus ihren auseinanderfallenden Klamotten die am wenigsten schäbigen aus, und von den hypnotisierenden Fäden der Sehnsucht gezogen, ließ sie sich zur Williamsburgh Bridge treiben, an deren Stahlseilen die bunten Lampen wie Irrlichter bereits leuchteten, sie lief über die Brücke, kam auf der Delancey Street wieder herunter und schlenderte durch Soho, wo sie Talibe traf, ihren Ehemann, der es sich gerade auf der Motorhaube eines gelben Taxis bequem machte.

4

Talibe

»Du meine Frau, mais …«

»Das bin ich zwar …«

»Du zwar meine Frau, mais du nicht wollen mit mir leben. Ich Sehnsucht … nach dir … nachts. Mais …«

»Talibe, kannst du mich denn nicht verstehen …«

»Geht es mir nur darum? Denkst du das? Daß ich dich deshalb geheiratet habe? Für das hier?«

Talibe griff mit einer (sehr theatralischen) Geste nach dem Bündel Zwanzigdollarscheine, die mit der Handfläche glattgestrichen waren, so daß nur ein Experte hätte erkennen können, daß jeder von ihnen durch Jindras Schweißsocken gegangen war. Dann ließ er die Banknoten, eine nach der anderen, auf den Tisch flattern, und bei jeder einzelnen schnaubte er zornig. Insgesamt siebzehnmal.

»Ich bin dein Mann. Ich. Und ich will mit dir leben. Mais … aber du …«

Jindra seufzte. Nun, nach einem knappen Jahr, in dem sie zusammen waren, hatte sie begriffen, daß es keinen Sinn hatte, mit Talibe zu diskutieren. Damals hatte sie gedacht, daß ein Wunder passiert wäre und daß sie – ausgerechnet, als es ihr am dreckigsten gegangen war – einen vernünftigen, ruhigen, netten Kerl getroffen hätte, mit dem man reden könne. Auf englisch nennt man solche Typen agreeable: angenehm. Mit Talibe war es angenehm, solange sie einer Meinung waren. Jindra hatte es damals ziemlich eilig mit der Hochzeit gehabt, und so war es ihr gelungen, die ganze Kennenlernphase und das übliche Liebesgeturtel auf weniger als vierzehn Tage zu reduzieren. Und so schritten sie knapp zwei Wochen später über die schwarzweiß gemusterten Pflastersteine vor dem Rathaus zum Friedensrichter, um ihren Bund fürs Leben zu schließen, der letztendlich dem Pflaster ähnelte. So hatte es wenigstens Jindra empfunden. Mit Talibe konnte sie keine langen Gespräche über dieses Thema führen. Nicht, daß er etwas gegen Jindras weiße Haut gehabt hätte, das keineswegs, doch er stammte aus einem tiefschwarzen Land, und von Farben hatte er keine Ahnung, er wollte auch nichts darüber wissen. Seine Gedanken waren nicht schwarzweiß, und das hatte ihr damals gefallen. Und auch, wie er an dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten, nach ihrer Hand gegriffen hatte, in der Bar, wo sie vor ihrem Screwdriver und er vor seinem Orangensaft mit Eis gesessen hatte (in seinem Glas steckte nur ein Trinkhalm, in Jindras Sargnagel dagegen zwei, damit Talibe sie nicht verwechseln würde; sie sollte denken, er würde mittrinken, doch Alkohol war ihm verboten, auch Tabak, auch Frauen, obwohl er allerdings mit den Frauen …) … also, er hatte nach ihrer Hand gegriffen, verflocht seine Finger und die ihren ineinander und meinte dann: »Beautiful, non?«, und sie verspürte in diesem Moment eine derart intensive Wallung von Sehnsucht, daß sich alles in ihr in Erwartung von … irgend etwas … zusammenzog; über den zwei gelben Gläsern rief Talibe in ihr eine vollkommene und betörende Leidenschaft hervor, daß ihr schwarz vor Augen wurde, und das Schachbrettmuster der ineinandergewundenen Finger ging über in ein warmes, leicht braunes Grau, in die Farbe, die ihre Kinder einmal haben würden. Aus dieser schönsten (weil fiktiven) Verschmelzung mit ihm hatte sie für einige Wochen eine schwarzweiße Sichtweise bekommen, plötzlich entdeckte sie das schwarzweiße Schachbrett in allem, jederzeit, überall: auf dem Bürgersteig vor dem Rathaus, auf den Klaviertasten, im Schattenspiel der Bäume auf den sonnenüberfluteten Bürgersteigen, im frischen Schnee, der die dunklen, kahlen Äste bedeckt hatte. In jenem Winter hatte Jindra zwei Wollschals gestrickt: einen schneeweißen für Talibe und einen schwarzen für sich, und dann tat es ihr leid, als er seinen, statt ihn zu tragen, als Kopfkissen benutzte.

»Ich dein Mann«, bestand Talibe mit seinem mehr gebrochenen als miserablen Englisch, in das sich auch nach fünf Jahren in New York französische Grammatik, französische Aussprache, französische Idiome und afrikanisches Denken mischten. »Ai juu hasbn, mee … Ehefrau. Und sie soll bei ihrem Mann wohnen. Ehemann, der muß nicht bei seiner Frau leben. Er kann bei einer anderen Ehefrau wohnen. Aber die Frau …«

»Und wieviel Ehefrauen hast du überhaupt, verdammt noch mal?«

»Mais Chéri! Du weißt doch, daß du …«

Das Nachzählen der Ehemänner oder der Ehefrauen mochte Jindra nicht. Sie hatte ab und zu mal den Eindruck, daß Talibes Stolz, mit dem er ihr die Fotos von den vier Kindern seiner hübschen Schwester zeigte, mehr an die Gefühle eines Vaters als die eines Onkels erinnerte und daß Monat für Monat viel zu viele Scheine bei seiner Verwandten hinter dem Ozean verschwanden. Gleichwohl alle Landsleute Talibes ihr versicherten, dem wäre auch so, Talibe sei ein aufopferungsvoller Sohn seiner Eltern und selbstloser Bruder seiner Geschwister. (Sie hatten allerdings dabei manchmal verdächtig gezwinkert.)

Die Kommunikation zwischen Talibe und seiner Ehefrau war aber nun seit einigen Monaten ins Stocken geraten. Vielleicht hatte es sie auch vorher schon nicht gegeben, nur hatten sie das nicht bemerkt. Jindra war aus Talibes Wohnung an der Ecke 116. Straße und Powell Boulevard ausgezogen, nachdem sie festgestellt hatte, daß ihre Pflichten als Ehefrau darin bestanden, zu Hause zu hocken, sich nicht herumzutreiben (gleichzeitig aber möglichst viel zu verdienen; wie, das war ihr nicht ganz klar), täglich das Bettlaken zu wechseln wegen irgendeines Stammesgeistes, der sich weigerte, in schmuddeligen Betten zu hausen, aufzuräumen, zu kochen, sich um Talibes Wohl zu kümmern, die Beine breit zu machen, wann immer er es wollte, und das Maul zu halten, falls ihr doch etwas nicht passen sollte.

Es stimmte, daß sie nicht besonders oft gekocht hatte, eine Menge war danebengegangen, und öfters hatte ihr Talibe zu Recht einen Vorwurf daraus gemacht, daß sie nicht einmal Okra braten konnte. Höchstens eine Thunfischdose könne sie öffnen. Ihre kulinarischen Vorlieben wichen um mindestens einhundertachzig Grad von denen Talibes ab. Und während Talibe behauptete, eine einzige geschlossene Thunfischdose im Kühlschrank könne ausreichen, um sämtliche Lebensmittel zu verderben, drehte sich Jindras Magen ständig von dem um, was Talibe auf den Tisch stellte und was sie als afrikanischen Fraß bezeichnete. Während der ganzen Zeit, in der sie versucht hatten, miteinander zu wohnen, kochte Talibe in der übelriechenden Küche trotzig seinen Fraß, und Gin, in Jacke, Mütze und Handschuhen und in ihren wunderschönen schwarzen Schal eingewickelt, denn der Winter war hart, futterte in ihrer Verbannung auf dem aus Metalldrähten gebauten Balkon ihre Thunfischdosen, ihre Salate und ihr rohes Gemüse; das Ganze spülte sie mit Grapefruitsaft herunter und aß dazu Vollkornbrot, womit sie Talibe zur Verzweiflung trieb.

»Mir geht’s doch überhaupt nicht um das Geld, Chéri …«

(Ach, wo waren die Zeiten, als sie in der Lage gewesen war, sich in Talibe nur wegen seinem Französisch zu verlieben, als sie jedes Wörtchen, das er in sein Englisch mischte und das nach weiter Ferne roch, erregte. Jetzt störte es sie mehr, daß Talibe sie nie im Leben mit ihrem Namen ansprechen würde. »Jindřiška« bekam er einfach nicht über seine Lippen, und sie Gin zu nennen würde ihn viel zu sehr an das verhaßte Teufelsgetränk erinnern.)

Noch etwa ein Jahr hatten sie Zeit. Dann würden sie die Bürokraten auf die Einwanderungsbehörde vorladen, dort würde man sie ausquetschen, einzeln: wo sie denn gemeinsam lebten, wie die Wohnung aussähe, wievielmal in der Woche sie es trieben und mit welcher Zahnpasta sie sich die Zähne putzten. Jindra freute sich schon richtig darauf zu erzählen, was Talibe so alles aß. Und Zahnpasta … ach wo!

Eine dieser teuflischen Zahnpasten made in USA würde Talibe nie anrühren. Er putzte seine Zähne, indem er stundenlang auf einer aromatischen Wurzel irgendeiner entsetzlichen tropischen Pflanze herumkaute.

Wenn das alles vorbei sein würde, dann … dann … vielleicht! … die Greencard für Jindra, eine dauerhafte Arbeitsgenehmigung, kein Zusammenwohnen mehr, keine dreihundertfünfzig Dollar monatlich mehr als Anteil an der Wohnung, in der sie nicht wohnte, und alle ihre Ehemänner, Talibe eingeschlossen, könnten sie dann ganz feierlich am Arsch lecken.

»Du sollst bei mir leben«, meldete Talibe sich wieder wie eine gesprungene Schallplatte zu Wort. »Mais du …«

»Aber hier in Harlem kann ich nicht …«

Das war die Wahrheit. Während er dank seiner schwarzen Hautfarbe auf der Westlichen 116. Straße eigentlich recht unauffällig blieb, war dies bei Jindra ganz und gar nicht der Fall. Und sogar Talibe störte das langsam.

»Das habe ich dir auch immer wieder gesagt. Schon oft. Aber du willst das ja nicht hören.«

»Talibe, ich bitte dich, fang nicht schon wieder damit an …«

»Wenn du schon unbedingt Taxi fahren mußt! Taxi! Hat man so etwas schon jemals gehört? Eine Frau als Taxifahrerin! Den Zauber würde ich normalerweise nicht empfehlen! Den Zauber, der schützt … nicht richtigen Frauen. Sie hören auf … jeden Monat … Blut zu verlieren. Mais, aber du bist sowieso keine richtige Frau. Dir tun sie nichts an, dir wird schon nichts passieren.«

»Talibe …«

»Der Zauber funktioniert! Garantiert. Ich habe von vielen Fällen gehört …«

»Vielleicht in Mali.«

»In Mali? Denkst du? In Mali haben die Leute keine Knarren wie hier. Verrückt. Hier meine ich! In Mali haben nicht einmal Polizisten Knarren. Und schon gar nicht normale Leute. In Mali …«

»Und wozu braucht ihr dann die Zauberei?«

»In Mali kannst du für alles einen Zauber haben. Für Kinder! Für die Liebe! Für Geld! Ein junger Baum. Du biegst den und bindest einen Ast mit einer Schnur …«

»Warum schuftest du dann hier wie ein Idiot, Talibe, wenn es in Mali reicht, einen Baum zu biegen und …«

»Wenig Bäumchen gibt es dort! Deshalb sind die Leute so arm. Und dann mußt du die Schnur … durchtrennen. Und der Zauber wirft dich um. Zerstört. Aber das, was ich dir anbiete, ist gegen die Kugeln …«

»Das zerstört dich nicht?«

»Mais non! Du mußt nur ein Amulett tragen. Immer tragen. Wenn du rausgehst. Tragen. Auch zu Hause. Tragen. Man hat doch einmal eine Frau durch die Tür erschossen. Ein Zufall. Eine verirrte Kugel. Wenn sie das Amulett getragen hätte …«

»Dann wäre die Kugel an ihr abgeprallt, hätte ein zweites Loch in die Tür gemacht und hätte sich dem Schützen direkt ins Herz hineingebohrt.«

»Ja! Was für eine Kraft! Ich habe Angst um dich, Chéri, mais um mich brauche ich keine Angst zu haben.«

»Du ziehst es doch für die Nacht aus.«

»Wegen dem Lieben! Wenn du das trägst und eine Frau berührst, dann ist der Zauber …«

»Jetzt darfst du mich also nicht berühren, oder? Ist das so?«

Talibe, mit Panik in den Augen, bewegte sich rückwärts immer näher zur Wand heran. »Nur anfassen, die Hand geben, O.K. Mais embrasser, faire l’amour, non, non, non! It lose all power.« Mit der linken Hand hielt er Jindra zurück, mit der rechten zerrte er das Amulett vom Hals. Er legte es ehrfurchtsvoll auf die Kommode, ein verschlissenes Schnürchen mit drei kleinen Rollen aus Leder, welche Zitate aus dem Koran in sich bargen und dann auch noch irgendwelche geheimnisvollen animistischen Inschriften, deren Bedeutung nur der Stammesschamane kannte. Talibe überzeugte sich, daß sein Amulett weder Metall noch einen Text berührte. Dann fiel er über Jindra her.

In seinem Bett diente der halbwegs weiße Schal noch immer als Kopfkissen. In der Wolle waren Talibes Haare hängengeblieben und schmückten sie mit zarten schwarzen Ringen.

 

Was für ein Mist, dachte Jindra, bereits in der Horizontalen, ich hätte nicht herkommen sollen. Das nächstemal treffe ich mich mit ihm irgendwo an der Ecke, gebe ihm das Geld, immerhin kostet eine fake marriage etwas, also was soll’s … Scheiße, tut das weh, er ist gut gebaut, sein Ding ist aber zu lang! Kriegt ER denn keine Druckstellen? Aua! Kann er nicht ein bißchen aufpassen? Angeödet rückte Jindra auf dem Bett vor den mächtigen Stößen ihres Mannes immer weiter weg, doch er folgte ihr, ohne seinen Rhythmus zu verändern, bis sie in die Ecke gedrängt war, und auch dann rückte er immer näher. Das ist wirklich ’ne Scheiße, dachte sie, mit dem Kopf gegen die Wand gedrückt, jetzt hatte sie keinen Platz mehr zum Entkommen, und die ganzen Unebenheiten des Putzes drückten sich auf ihrem Hinterkopf ab. He fucks like a stupid broken dildo, kam ihr in den Sinn, er vögelt wie ein kaputter Dildo, und dann möchte er noch, daß ich mit ihm wohne, von wegen, daß ich wieder auf dem Balkon essen kann, und das hier würde ich Nacht für Nacht durchmachen müssen, und nicht nur einmal, sondern sogar fünfmal, ich kenne ihn doch! Wenn mir das nicht so ungeheuer auf den Keks gehen würde, überlegte sie weiter, dann wäre das eigentlich ganz gut, manche Frauen schätzen gerade das Rhythmische … Immerhin hat er Ausdauer, die Afrikaner sind eigentlich gar nicht so unmöglich im Bett, ging ihr durch den Kopf, sie schaute ihn an, betrachtete seine physische Vollkommenheit, die sie in der Ecke des Bettes so heftig, so wohlriechend und so rhythmisch einsperrte, daß sie sich kaum noch bewegen konnte; Talibes Liebesakt erinnerte an den Kampf mit einem samtenen, nackten schwarzen Tiger; und wieder flössen für sie die Farben ineinander, die schwarze mit der weißen, so als würde man einen Drehkreisel zum Rotieren bringen. Mit seinem Schwarz drang Talibe in ihr Weiß und Rosa ein; verdammt noch mal, das ist eigentlich gar nicht so schlecht; Jindra verbarg ihre Handflächen in dem lockigen Haar ihres Mannes, mit den Fingerkuppen, die plötzlich empfindlicher geworden waren, befühlte sie jedes einzelne Haar, jede harte schwarze Locke, jede magische Spirale wie aus Ebenholz … Scheiße, der kann das gut, er ist hervorragend, er ist unglaublich phantastisch, so einen Liebhaber hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie, ich schwöre, noch nie! Und diese Erkenntnis schoß ihr durch den Kopf wie ein lilafarbener Blitz, die Welt war auf einmal von Musik erfüllt und pulsierte in ihr wie ein geheimnisvoller Planet, und Jindra drückte ihren Ehemann an seinem Hintern noch näher, in ihre Mitte und sog ihn in sich hinein. »Talibe, das ist wunderschön! O Gott, ist das schön! Talibe, mach bitte weiter so, mach weiter, ich will noch einmal so richtig kommen!«

 

In den Momenten danach, falls man sie in Ruhe ließ (mit Talibe war das ganz angenehm, er schlief immer sofort ein, seinen Kopf, der wie ein Besen war, schmiegte er an ihre linke Brust), wuchsen Jindra Fühler auf ihrem Körper, mit denen sie nun die ganze Straße, ganz Harlem, ganz New York und die ganze Welt in sich hineinzog. Auf ihrem Körper wuchsen Sehorgane wie bei einem Regenwurm, aus ihrem Bauch sprossen Fangarme, als wäre sie ein Krake, und die zarten Saugnäpfe streichelten die Welt. Und die Welt streichelte sie gleichfalls.

In jenen Augenblicken hatte sie das Gefühl, als würde sie zu etwas Bestimmtem dazugehören, zu einer geheimen Bruderschaft der blauen weiten Welt, der Bruderschaft jener, die sich getraut hatten. New York war von denen, die sich getraut hatten, proppenvoll, doch je mehr es von denen gab, je mehr Menschen Jindra auf den Straßen traf, die in der gleichen Situation wie sie waren, desto stärker und wirklicher und besser spürte sie das Gefühl der Zugehörigkeit. Denn die Seelen aller Einwanderer hatten sich zu einer riesigen Megaseele vereint, die diese Stadt mit einem unsichtbaren Netz schützte: so fein wie der Flaum auf den Taubenflügeln.

Jindra spürte Talibes Kopf und seinen Haarschopf wie eine Schuhbürste, er ruhte an ihrer Brust, und die magischen Spiralen der Haare ihres Ehemannes trugen sie in die Ferne, in ein hellblaues Dort, von dem der Obdachlose Randy öfters sprach, Stück für Stück wurde Jindras Kopf in der Stadt verteilt, in den Straßen und Avenues, und so saßen in jeder Ampel, die der Wind hin und her wiegte, ein paar Zellen aus ihrem Gehirn und sandten ihr rote, orangefarbene und grüne Signale zu. Fetzen ihrer Gedanken schwebten durch die Luft als flatternde Zeitungsbogen, bedruckt mit Aktienpreisen, Nachrichten, Grausamkeiten, Morden, Horrormeldungen, Fotos von Huren und Politikern, mit Anzeigen und Lügen und Werbung und Aussagen der Augenzeugen, sie flogen über die 43. Straße gleich neben der Penn Station, sie taumelten im Wind hin und her, schlugen Purzelbäume und Saltos, schwebten elegant auf den Bürgersteig, doch bevor sie sich wie eine Scholle auf den Sand des Meeresgrundes hinlegen konnten, flogen sie wieder in die Höhe, ähnlich einem chinesischen Drachen, sie tanzten im Sog des Windes und wurden von ihm auseinandergerissen … und so wurden sie immer älter und älter, sie starben ab, die Informationen darin verloren ihre Gültigkeit und verschwanden in der Geschichte, aber auch dort kreisten sie, emporgehoben durch den Wind und durch sich selbst; schmuddelige, vergilbte, kahle Engelsflügel. Als würde Jindras Seele in Momenten wie diesen ihren Körper verlassen und in die Bäume des Central Park schlüpfen, den vor langer Zeit angeblich ein Gartenarchitekt so hatte anlegen lassen, daß die Bäume dort im Frühjahr wie einzelne Sätze einer Symphonie anfingen zu blühen: der erste Taktschlag … gelb, der zweite Taktschlag … rosa; und dann, unter der Begleitung der Geigen, platzten im Takt immer neue Knospen auf, die Blätter kamen zum Vorschein, die Farben des Grüns und der Töne wurden immer tiefer, während der Frühling voranschritt, ein Instrument nach dem anderen schloß sich an, ein Ast nach dem anderen, ein Baum nach dem anderen, bis irgendwann im Juni die Symphonie mit einem siegreichen Crescendo zu ihrem Gipfel gelangte … und anschließend starb wieder alles langsam ab, die Musiker bauten ihre Instrumente auseinander, gössen die Spucke aus dem Mundstück heraus, legten die Geigen in den Geigenkasten zurück, in dem sie bis zum nächsten Frühjahr schlafen würden; Hunderte von Ausflüglern aus der Innenstadt überschwemmten Sheep Meadow, auf der nach den Vorstellungen des Gartenarchitekten Schafherden hätten weiden sollen, denn die Kuscheligkeit ihrer Wolle sollte der ganzen Pastorale eine neue Qualität verleihen …

Doch jetzt war gerade Herbst, und Jindras Tentakeln nisteten sich in den Stielen der Blätter ein, deren Grün allmählich verblaßte, sie nahmen andere Farben an und waren im Begriff, zu Boden zu segeln; die Zellen ihrer Haut wurden gelb wie die Farbe der Sonnenscheibe in den Blättern der Ginkgobäume auf der Manhattan Avenue; ihre Haut wiegte sich auf den Wellen des Hudson River und des East River, stieß plätschernd gegen die Floßhölzer und ließ die Lichter aller Brücken erstrahlen, all jener Brücken, die Jindra jemals überquert hatte. Brücken verbanden sie mit der Realität und gaben ihr die Sicherheit, daß sie auf einer Insel lebte. Die feucht werdenden Fühler brachten ihr die Nachricht, daß draußen ein Schauer niederging, und Jindra war von dem vielen Wasser um sie herum, unter ihr und über ihr so begeistert, daß ein gestreiftes Matrosen-T-Shirt auf ihrem Körper wuchs. Dann fiel ihr ein, daß draußen Kunden warten würden. Sie schob den Kopf ihres Mannes zur Seite, »Ich muß weiter«, und schon rutschte sie aus dem Bett.

Talibe wachte auf, griff nach ihrem Fuß und zog sie ruckartig wieder zurück. »Mais … noch … wenigstens noch einmal!« Und schon grabschte er ihr zwischen die Beine.

»Mein Auto steht vor dem Haus.«

»Mais …«

»Warte, laß los! Hör auf!«

»Mais …«

»Das Taxi steht vor dem Haus!«

»Mais … je t’aime, je t’aime!«

Der Ehemann öffnete mit der linken Hand ihre Beine, und der andauernde Strom seiner zweifelhaften Geständnisse vermischte sich mit den Regentropfen.

»Meeh, meeh, meeh«, blökte sie zornig, doch es gab kein Entkommen. Und so packte sie sogar eigenhändig eines der Kondome aus, die er für alle Fälle in einem Papierbeutel aus der Drogerie unter dem Bettgestell deponiert hatte.

5

Gloria

Gloria stand breitbeinig mitten im Wohnzimmer, und mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck bewarf sie die Leinwand, die sorgfältig im Rahmen eingespannt war und auf einem Ständer unter dem Fenster stand, mit dreihunderfünfundsechzig toten Schaben, nachdem sie eine nach der anderen mit einer raschen Bewegung in die klare Acrylfarbe getunkt hatte, und so schuf sie ein Bild mit dem Titel Das Jahr der Armut, Un ano miserable.

Die dreihundertfünfundsechzig gut entwickelten, gesunden, frischen, guterhaltenen, nicht zertretenen Schaben zu fangen, ohne ihnen dabei ein Bein oder einen Flügel auszureißen, das war, wie sie erfahren mußte, eine außergewöhnlich schwierige Aufgabe. Bevor sie diese in Angriff genommen hatte, schien es ihr, daß in ihrer Wohnung wesentlich mehr als dreihundertfünfundsechzig Schaben herumlaufen würden (gesund, frisch, gut erhalten, prächtig entwickelt und überfressen, mit Flügeln in allen möglichen braunen Schattierungen). Ihre Fühler erschienen in jeder Ecke, im Spülbecken, zwischen dem dreckigen Geschirr, hinter dem sich ablösendem Linoleum in der Küche und in den Spalten zwischen den Kacheln im Bad; die Mutigsten machten sich sogar bei Tageslicht auf die Suche nach Nahrung und durchstöberten die Ritzen im Wohnzimmerparkett, um hineingerutschte Krümel herauszuholen, zu Husbands großer Freude, der ihnen auflauerte und sie jagte; er hatte gelernt zu warten, bis sie von allen erreichbaren Verstecken weit genug entfernt waren, dann konnte er sie in der breiten Ödnis des Parkettbodens auf den zweiten oder dritten Versuch mit seiner Pfote zerquetschen. Husbands Jagd sah ein wenig wie Brudermord aus: Er war ein ziemlich kleiner Hund, der mit seinem zerzausten Fell an eine riesige, lustige Schabe erinnerte.

Doch Gloria mußte lernen, die Schaben behutsamer zu jagen: ihnen aufzulauern, sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen und sie dann in ein Glas mit ein paar Tropfen Lösungsmittel zu werfen. Auf diese Weise wurden sie ziemlich zuverlässig getötet, und Gloria beschlich manchmal der Gedanke, ob … wenn schon die Schaben in den Ausdünstungen des Lösungsmittels so rasch starben … ob nicht vielleicht auch sie sich selbst, Josélein und all die anderen, die sich je in dieser Wohnung aufgehalten hatten, damit umbringen würde. Die ganze Wohnung war vollgestopft mit ihren Bildern, die mit Acrylfarbe bepinselt waren, Bilder in verschiedenen Stadien der Bearbeitung trockneten auf den Staffeleien vor sich hin, sie stapelte sie vertikal, einige schon fast vergessen, mit der Vorderseite zur Wand gedreht; auch die Schränke, die Regale, der Kühlschrank, alle geeigneten und weniger geeigneten Flächen waren von den gerahmten oder ungerahmten Gemälden bedeckt, tagsüber lagen auch einige davon auf ihrem Bett, und sie mußte diese abends beidhändig packen und sie auf den Boden legen, bevor sie sich auf ihrem Bett ausstrecken konnte (diese Aktion provozierte natürlich immer Kommentare der Mädchen und Frauen, mit denen Gloria ins Bett ging; vielleicht stellten sich die meisten ihrer Geliebten vor, sie wären für eine Weile zur Kunst, zu einem Gemälde geworden, an dem Gloria gerade arbeitete); auch Glorias Arbeitskleider waren voll von dieser Acrylfarbe, ihre T-Shirts, Pullover, Hemden, am schlimmsten jedoch die alte, zerrissene Jeans, die ihr jetzt kaum noch paßte, die sie aber trotzdem sehr gerne auf der Straße trug, denn damit konnte sie eindeutig zugeordnet werden. An dieser Jeans wischte sie die Pinsel und die Finger während ihres kreativen Eifers ab. Teilweise steckte sicherlich auch Absicht dahinter; sie schuf aus ihrer Malerhose ebenfalls ein Bild, ein Bild von sich selbst, wie sie sich in den Augen der Vorbeigehenden sehen wollte. Dank dieser zerfetzten Jeans gehörte sie der Bruderschaft im East Village an, zusammen mit einem älteren Puertoricaner, den jeder Huu-Huu nannte und der durch das Viertel in einer schwarzen Jacke stolzierte, die ringsherum geschmückt war; an seinem Revers, seinen Taschen und am Kragen hingen bunte Glühbirnchen, und auf seinem Rücken war ein Katzenkopf mit grünen Augen. So ausstaffiert, schlenderte er Nacht für Nacht durch die Straßen, man sah ihn schon von weitem in den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos blinken und glitzern wie eine Autobahnleitplanke, er leuchtete und wechselte die Farben wie eine verrückt gewordene Ampel, er glänzte wie Kokainkristalle, und er mußte an seiner Lederjacke (die mit all den Relais und Schaltern und Lämpchen und Drähten mindestens fünfzehn Kilo wog) täglich die Batterien wechseln.

Die viel zu enge, verwaschene und durch die Farben steif gewordene Jeans gab Gloria das Gefühl, wie die anderen Künstler hierherzugehören, so wie Mario, der mit seinen sechzehn Jahren bereits zwei Entgiftungsprogramme hinter sich hatte – zuerst war es Alkohol und das andere Mal Kokain – und vor dem sich die ganze neue Welt – jetzt, wo er wieder clean war – als eine unerträglich lange, gerade, graue Autobahn eröffnete, auf der er sich im Schneckentempo der unerreichbaren Ferne näherte … und so malte er jede Ecke, jede Mauer, jeden heruntergelassenen Rolladen so bunt wie möglich an; er zeichnete Weltraum- oder Unterseelandschaften mit gestreiften Fischen (die letztendlich auch Raumschiffe darstellen konnten) und Anemonen mit Greifarmen in Neonrosa und grellem Lila … er kämpfte mit mindestens einem anderen Straßenkünstler um die nordöstliche Ecke der 10. und der B, gleich neben dem Tompkins Square Park, und als er einmal an diese Ecke einen Clown mit blauweißen Wangen, gelben Augen und mit Sternchen geschmückter Nase gemalt hatte, war dieser Clown nach ein paar Tagen mit einer Rolle übermalt, und auf die so entstandene graugrüne Narbe hatte jemand CRACK KILLS