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Ralf Otte

Postfaktisch war gestern

Ralf Otte

Postfaktisch war gestern

Die Einheit im Geiste oder

Warum wir die Postintellektuellen lieben sollten

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Mein Dank geht an meine Frau und meine beiden Töchter, Julia und Caroline, dafür, dass sie mich zu dem Buch ermutigt und mir während des Schreibens stets den Rücken frei gehalten haben. Ihr Lieben, ohne Euch wäre das Buch niemals entstanden. Danke!

1. Auflage 2000, Originaltitel: Die Einheit im Geiste oder

Warum wir die Postintellektuellen lieben sollten

© Schardt Verlag, Oldenburg

Umschlag, Illustration: R. Fieseler

Paperback: ISBN 3-89841-014-5

2. Auflage 2017, Titel: Postfaktisch war gestern

© Dr. Ralf Otte, Weinheim

Umschlag: Marén Ockert

Lektorat, Korrektorat: Gisela Hauf

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Paperback: ISBN 978-3-7439-4610-1

Hardcover: ISBN 978-3-7439-4611-8

E-Book: ISBN 978-3-7439-4612-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Meinen Kindern

Vorwort

Wir haben uns entschlossen, das Buch bald 20 Jahre nach seiner Entstehung nochmals neu aufzulegen. Der Grund liegt in der stürmischen Entwicklung unserer Gesellschaft. Als wir das Buch schrieben, war diese Entwicklung zwar abzusehen, nicht zu erkennen für uns war jedoch, wie schnell sich all die Prognosen erfüllen würden. Ja, man könnte über diese Dynamik erschrocken sein (sind wir natürlich auch), aber dennoch sollte man seinen Humor nicht verlieren, denn durch ihn kann man alles ganz gut ertragen. Noch.

Mittlerweile ist viel passiert. Eine neue Elite gibt den Takt in der Gesellschaft vor, und für einige von ihnen hat es sich auch richtig gelohnt. Die Bänker sind noch reicher und noch weiser geworden, die Medien erfüllen uns alle mit noch mehr Stolz. Und die Politik macht weiterhin große Fortschritte bei der Entfremdung von ihren Bürgern. Aber das alles haben wir stoisch ertragen..., doch dann ist etwas ganz Entsetzliches passiert! Sie fragen was? Nun, das Wort des Jahres 2016 ist "postfaktisch" geworden und das war wirklich keine gute Wahl, denn es verkennt völlig, auf welcher kulturellen Entwicklungsstufe wir uns alle befinden. Denn eins müsste jedem mittlerweile klar sein:

Postfaktisch war gestern!

Seit Jahren schreiten wir vom Postfaktischen in Richtung grandioser Postintellektualität, mit enormen Konsequenzen für uns alle. Und bald werden unsere Jüngsten die Schlüsselrollen in der Gesellschaft erobern. Darauf sollten wir vorbereitet sein!

Aber sind wir das?

Sind wir auf diese Zeitenwende vorbereitet?

Wir sind uns nicht sicher.

Wenn wir heute nochmals eine Gesellschaftsglosse wagen würden (tun wir aber nicht), sie wäre genauso wie vor 20 Jahren, natürlich noch bissiger und noch lächerlicher, denn auch wir sind kein bisschen weise geworden. Wie auch, wie soll das gehen?

Natürlich sind das - Sie spüren es bereits - die falschen Fragen, denn mittlerweile geht es ums große Ganze. Die richtige Frage ist deshalb: Kann man den ganzen Wahnsinn noch aufhalten? Unsere Antwort mag ungehört bleiben, aber trotzdem ist sie wahr, denn nichts lässt sich mehr stoppen, der Abstieg ist systemimmanent.

So wie alle großen Ideen und Reiche einmal zerbröseln, so zerfällt auch unsere westliche Kultur. Ja, sie ist bereits ziemlich alt geworden. Man merkt das insbesondere in Kunst und Wissenschaft, aber auch daran, dass selbst die junge Generation nicht mehr revolutionieren mag. Sie kümmert sich um Bildung, Bausparvertrag und Rente. Und falls sie doch mal auf die Barrikaden geht, dann aufgrund eines fahrlässigen Ausschlusses vom Konsum... und die Verantwortung tragen wir, ja, wir! Aber von den Alten, den sog. Eliten, wollen wir gar nicht erst reden. Das ist die wahre Katastrophe!

Ist das alles deprimierend? Ja.

Aber ist das alles schlimm? Nein.

Natürlich nicht! Denn nach den Griechen kamen die Römer. Nach den Römern kam die Renaissance. Auch nach uns wird irgendwann wieder eine große Epoche entstehen. Bis dahin müssen wir einfach leben, mit Freude weiterleben und wenigstens in unserem kleinen Wirkkreis verantwortlich und humorvoll bleiben.

Oder es wenigstens versuchen.

In diesem Sinne wünsche ich all meinen neuen und auch alten Lesern viel Spaß beim Schmökern. Den früheren Text habe ich minimal überarbeitet, auf die neue Rechtschreibung umgestellt, einige Tippfehler versteckt, sonst ist alles wie in der Originalauflage. Daher Achtung! Die ersten zwei Kapitel sind immer noch besonders langweilig, denn sie beschreiben mein eigenes Leben zur Zeitenwende. Ich würde das unbedingt auslassen. Nehmen Sie sich Zeit für wichtige Dinge!

Willkommen im Web!

Süddeutschland, im Sommer 2017

Los Angeles, Bankenviertel, 72. Etage - Dienstag, 6. Juni

Ein kleiner grauer Mann betritt das riesige Arbeitszimmer. Im Hintergrund sind die Abgründe von LA zu erahnen.

"Eure Eminenz, ich bin so dankbar, dass Sie mich empfangen. Dürfte ich 5 Minuten Eurer so wertvollen Zeit bekommen? Wir haben leider schlechte Neuigkeiten!"

"Sprich, Du Wurm, aber beeile Dich, draußen warten die Mädels."

"Eure Eminenz, vielen, vielen Dank. Wir haben ein Problem!"

"Das ist nichts Neues, Wurm!"

"Es ist halt leider so", der Wurm schluckt vor Aufregung, "dass sich neue Entwicklungen abzeichnen, die auch wir nicht vorausgesehen haben. Wir bitten um Entschuldigung."

"Was könnt Ihr Deppen denn überhaupt voraussehen? Ich lach mich schlapp. All die ganzen Titel. Alles Scheißkram. Ihr seid doch nur bescheuert."

"Ja, Eure Eminenz. Sie haben recht. Bitte entschuldigen Sie. Wir bitten um Vergebung. Aber dort draußen hat sich eine Entwicklung dermaßen beschleunigt, dass wir umgehend Maßnahmen ergreifen müssen. Wir können sonst nicht mehr lange garantieren, dass wir Ihre persönliche Versorgung sicherstellen können."

"Was ist los, Wurm. Sprich!"

"Seit Jahren haben wir alle ausgebildet, damit wir Euch und Euren Familien stets die Produkte liefern können, die Ihr braucht. Jetzt kommt die Maschine aber gefährlich ins Stocken. Jemand hat Sand ins Getriebe gestreut."

"Was soll das heißen?"

"Naja. Trotz unserer globalen Initiativen, die jungen Menschen weltweit zu ordentlichen Marktteilnehmern zu erziehen, die Euch immer und überall zufrieden stellen, haben wir in unserem Lande und sogar weltweit eine gefährliche Tendenz der Verblödung bemerkt."

"Oha." Die Eminenz ist genervt. "Du sagst mir nichts Neues!"

"Ich weiß. Ich weiß, Eure Eminenz. Wir bitten um Nachsicht. Aber irgendjemand hat einen Virus in Umlauf gebracht, der die Leute in Höchstgeschwindigkeit verdummen lässt. Und das massenhaft. Und zwar weltweit. Und das ist das große Problem; sonst könnten wir ja in andere Länder ausweichen."

"Einen Virus? Was sagst Du mir das? Geh zu den Heinis von der Pharma. Sollen die doch paar Dollar dazu verdienen und den Virus bekämpfen. Haben den doch sicher selber vorher in ihren Laboren erzeugt. Ist doch immer der gleiche Schweinekram."

"Eure Eminenz. Verzeihen Sie, aber ich muss leider widersprechen, deshalb sind wir ja in so großer Sorge. Wenn es doch nur so einfach wäre wie sonst."

"Verschwinde!" Die Eminenz wendet sich gelangweilt ab.

"Eure Eminenz. Entschuldigen Sie bitte, aber wir reden von einem völlig neuen Virus."

"Was interessiert es mich?"

"Eminenz, nun ja, das ist ja das Problem. Der Virus interagiert mit Euren Maschinen!"

Die Eminenz dreht sich ruckartig um. "Waaaaaas? Was sagst Du? Wer hat das getan?"

"Ein verrückter Professor aus Europa. Wir konnten ihn nicht mehr stoppen. Ein Irrer. Ein völlig Fehlgeleiteter. Aber sein Virus ist einfach nicht aufzuhalten."

"Und was heißt das, Wurm."

Der Wurm zögert etwas, fährt dann aber leise sprechend fort. "Wenn wir kein Gegenmittel finden, Eure Eminenz, ist es das Ende." Dann flüstert er nur noch. "Das Ende unserer gesamten Kultur!"

"Mir scheiß egal."

Der Wurm krächzt: "Das Ende der Gesellschaft!"

"Mir scheiß egal."

"Das Ende der Warenproduktionskette!" Der Wurm hat nun rote Flecken im Gesicht.

Oh, wie lustig das aussieht.

Jetzt reicht es der Eminenz. "Nun hör mal zu, Wurm...", die Eminenz überlegt nochmals zwei Sekunden, "ich überweise euch morgen eine Billion Dollar auf die üblichen Konten, aber verschwinde jetzt endlich und komm gefälligst erst dann wieder, wenn das Problem gelöst ist.

Das lass ich mir nun nicht gefallen. Wozu habe ich Euch und Euren törichten Freunden all diese Titel und akademischen Preise verschafft? Ihr voll verblödeten Intellektuellen!"

"Jawohl, Eure Eminenz, jawohl..."

Und der Wurm geht mit hängenden Schultern und in Gedanken versunken davon, denn er ist sich überhaupt nicht sicher, ob eine Billion Dollar ausreichen werden, diesen rasanten Niedergang noch zu stoppen.

Die Eminenz wendet sich unterdessen den wartenden Mädels zu, die - soweit wir das von hier aus erkennen können - arg jung aussehen.

Und wir bleiben ratlos zurück. Was ist mit dem Professor? Was hat er gemacht? Gleich morgen werde ich es googeln! Ein solcher Skandal lässt sich doch nicht verheimlichen, oder etwa doch?

Die Einheit im Geiste

oder

Warum wir die Postintellektuellen lieben sollten

Originalausgabe

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DAS UNBEKANNTE WESEN

WIR LIEBEN UNS

AUF DER SUCHE NACH SPAß

DIE NEUE MITTE

KONDITIONIERUNG

UNSER GELIEBTES GELD

WIE LANGWEILIG

EIN VOLK VOLLER SPEZIALISTEN

VOM BRUNNEN DER ERKENNTNIS

GRENZENLOSES WISSEN

STATISTIK - DIE QUELLE DER WEISHEIT

KOMMUNIKATION

DER INTERNETVORSPRUNG

WIE LERNT MAN SO VIEL

KAUM ZU GLAUBEN

DIE WISSENSCHAFTSENTE

LEIDER MONOKAUSAL

WOHIN MIT DEM MÜLL

GETOPFT UND GEBILDET

SCHULEN ANS INTERNET

SOZIOLOGISCHER UNSINN

NUN MAL IM ERNST

WER BRAUCHT DEN KÄFER

AM ENDE BLEIBT DAS GELD

DIE KRAKE IM KOPF

UND WEITER

DER WAHRSAGER

DER BLICK NACH VORNE

NUR MUT

Prolog

Oh Gott, bin ich verwirrt. Ja, ich bin wirklich verwirrt. Und mir wird ganz mulmig im Bauch, denn um mich herum, wohin man auch sieht, überall, ist alles so komplex.

Und ich verstehe bald gar nichts mehr.

Doch, was ist los mit mir, irgendetwas stimmt nicht mehr. Nachts liege ich wach, schweißgebadet, und ich denke an den Fortschritt, an all die Klugen und Gebildeten, an die Wissenschaft und an die Medizin, und mir wird angst und bange. Ja, mir wird ganz anders, und ich fühle, dass ich bald gar nichts mehr verstehen werde.

„Aber ich will mich doch bessern!“, rufe ich hinaus. Auch ich will lernen, auch ich will mich bilden, denn ich will, ich muss, dazugehören. Und so denke ich immer schneller. Ich lerne immer schneller. Ja, ich rede, ich kommuniziere, immer, immer schneller. Und doch, es nützt nichts, denn ich drehe mich im Kreis.

Alles dreht sich im Kreis.

Aber was ist das Problem? Was also ist mein Problem? Und ich stelle mich diesen Fragen, und doch bin ich ratlos, denn ich weiß es nicht, nein, ich kann es nicht sagen. Aber da draußen entwickelt sich die Wissensgesellschaft, neueste Erfindungen überall: Ob Internet oder e-Business, da tobt der Fortschritt auf fast allen Kontinenten. Biogenetik oder Weltraumforschung, Medizin oder Pharmapillen. Wohin man auch schaut, jeden Tag was Neues.

Und ich bin zutiefst erschrocken.

Aber es ist wahr.

Auf einmal wird mir die gesamte Tragweite der Entwicklung bewusst. Das gibt’s doch nicht. Das kann doch nicht wahr sein. Oh doch. Die Menschheit wird immer klüger, jeden Tag, jeden einzelnen Tag. Und der Schock sitzt tief. Denn was passiert mit mir? Werde ich etwa auch klüger? Und wenn ja, geht das jetzt schon automatisch oder muss man selber noch was lernen. Und wie kann ich teilhaben an den allgemeinen Trends? Ich würde so gerne teilhaben. Sogar einen Computer habe ich schon, der war im Angebot.

Und doch bin ich verzweifelt, denn ich stehe vor einem Kopierer und bekomme nicht mal ein Blatt gedruckt, ich stehe vor einem multifunktionalen Handy und kann nicht abheben, ich verschlinge alle Forschungszeitungen und mir wird übel. Auch das noch: Ich schaffe es nicht einmal zu Fuß ins Internet, und einfrieren lassen will ich mich schon gar nicht.

Und das ist immer so, all die Entwicklungen rennen an mir vorbei, und ich hechle nur noch hinterher.

Ja, ich renne nur noch hinterher, und neidisch schaue ich auf all die anderen. Denn von überall sieht man sie, die effizienten und gebildeten Informationsverarbeiter, die gut aussehenden, sexy wirkenden Personen, die wahren Individualisten.

Und ich bin platt.

Ja, was ist das? Hat sich hier unbemerkt eine neue Spezies entwickelt? Haben wir sie etwa schon, die „worldwide efficient and super sexy individuals“. Sind wir wirklich schon so weit, haben wir schon den Durchbruch geschafft? Und wenn ja, kann man von ihnen lernen, kann man von diesen Postintellektuellen oder kürzer, von diesen „Postis“ gar was lernen?

Atemlos stehe ich am Straßenrand und schaue auf diesen Posti, schaue auf den Modernen, schaue auf den Gebildeten. Und ich bin tief beeindruckt, denn er weiß wirklich so viel!

Doch was ist los mit mir?

Warum nur gehöre ich nicht dazu?

Liegt es daran, dass ich aus Berlin komme, habe ich vielleicht den Zug der Zeit verpasst. Habe ich mein Leben verschenkt? Bin ich etwa auf der falschen Entwicklungsstufe? Und was genau habe ich verpasst? Was hat mir dieser gebildete und gut aussehende Posti, diese moderne Spezies, bisher verheimlicht?

Und ich ersticke in all den Fragen.

Denn, was weiß er wirklich, und wieso ist er so klug? Warum ist er so glücklich, so humorvoll, ja, so weise? Und wieso redet der so brillant und hat immer was zu sagen? Wieso ist er so mutig, so tatendurstig und so zukunftsgewandt? Warum sind wirklich alle so schön, gebildet und sooo sexy. Kurzum: Was sind ihre innersten Geheimnisse?

Ja, ich will sie wissen.

Ich muss es wissen!

Und ich bin aufgebracht und kann kaum noch denken. Ich will nicht resignieren, nicht kapitulieren, aber wie soll es weitergehen? Wir müssen was unternehmen. Oh ja, wir müssen was unternehmen.

Doch halt.

Sie, ja, Sie, kennen Sie das auch?

Sind Sie auch schon mal verzweifelt am Modernen, am Gebildeten?

Sie kennen das? Also gut, dann wollen wir ihn gemeinsam beobachten, legen wir uns auf die Lauer, kriechen wir in ein Baumhaus, klettern wir ganz hoch und beobachten ihn lässig von oben. Bauen wir uns einen Beobachtungsstand und schauen wir doch mal, was der Moderne alles treibt und wie er seine Zeit verbringt.

Richten wir es uns gemütlich ein, und schauen heimlich auf diesen Posti auf deutschem Boden. Nun, nicht dass er nur hier anzutreffen wäre, nein, er hat sich breit gemacht auf allen Kontinenten, unser Posti ist ein Weltbürger geworden. Das stimmt, wir wissen es, aber irgendwo muss man mit den Beobachtungen schließlich anfangen.

Und deshalb beginnen wir mitten in Deutschland.

Doch können wir das wagen?

Können wir uns das trauen? Was werden wir wirklich finden? Und wir sind gespannt. Wir sind ganz aufgeregt. Werden wir auch hinter die Bildung schauen, hinter den Mut und hinter den Sex? Was werden wir entdecken? Natürlich wissen wir das schon: Wir finden Bildung, Mut und Sex. Das ist logisch. Oder ist hier jemand skeptisch? Sagt da jemand, der Posti sei auch langweilig, monokausal und dumm? Nee, nee, das glauben wir so nicht. Da könnte ja jeder kommen. Doch die Fragen wollen nicht verstummen, die Fragen drängen sich auf, sie lachen mir ins Ohr.

Und wir beobachten genauer.

Indes, eins haben wir schnell erkannt, das kann man gut von oben sehen. Der Posti ist modern, super modern sogar. Er ist die Moderne in persona. Und doch sind wir etwas ratlos, was hilft uns die Erkenntnis weiter? Denn wie modern sind die Modernen? Sind sie einfach nur modern? So einfach modern? Nein, auf keinen Fall. Wir werden sehen, dass sie weit mehr als das sind. Mit etwas Unbedachtheit könnte man fast von postmodern sprechen.

Aber stimmt das?

Ist der Gebildete also einfach postmodern? Oder ist er auch hier schon weiter? Hat er sich nicht schon wieder entwickelt?

Und hier müssen wir kurz vorgreifen. Ja, der Posti ist noch fortschrittlicher, wir werden es unten beweisen und eins wird dann klar, er ist nicht nur intellektuell, er ist nicht nur postmodern, nein, er ist heute schon viel, viel weiter: Er ist tatsächlich schon postintellektuell. Denn Intellektualität, das war gestern, das ist alt, das ist verbraucht. Jetzt haben wir eine neue Entwicklungsstufe erreicht, echte, moderne Postintellektualität. Sie steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber wir entwickeln uns schließlich immer weiter, und die Zukunft hat eben erst begonnen.

Das kann lustig werden.

Und doch, das moderne Wort „Postintellektualität“, ja, dieses Wort, das wollen wir uns schon mal merken, denn das wird charakteristisch sein. Es zeigt uns den Weg nach vorne.

Und wir werden zufrieden sein.

Aber wir wollen nicht einfach nur zufrieden sein. Nein, wir wollen hinter die Kulissen schauen und uns den wichtigen Fragen der Zeit stellen. Denn, sind wir auf dem Weg in eine glückliche, postintellektuelle Zukunft? Und wenn ja, was wird diese Zukunft bringen? Was bringt sie uns ganz persönlich, was bringt sie unserem Land?

Auch diese Fragen werden wir analysieren.

Aber dennoch, eine soziologische Analyse der Gegenwart wird es nicht werden können, denn so sind wir leider nicht geschult. Nein, wir können bloß beschreiben, was um uns herum passiert, ganz einfach so, exemplarisch, selektiv und unmodern. Und vielleicht werden wir dann besser verstehen, warum wir gar nichts mehr verstehen, und vielleicht kommt sogar der Spaß.

Mehr geht nicht.

Mehr kann ich nicht.

Mehr ist nicht gewollt.

Und das Wissenschaftliche überlassen wir lieber den wahren Experten. Hier darf man nicht zu viel erwarten.

Doch nun beginnen wir mit dem Anfang.

Es geht nicht anders.

Das unbekannte Wesen

Ich erinnere mich, als wäre es gestern. Wir waren auf dem Weg zur Ökonomievorlesung, als jemand das Gerücht verbreitete, die Berliner Mauer fällt. Natürlich dachten wir, es wäre wieder mal ein Witz, aber dann verstärkten sich die Gerüchte. Gleich nach dem Unterricht rannte ich deshalb zum Bahnhof und fuhr mit dem erstbesten D-Zug nach Berlin. Und tatsächlich, hier war was los. Riesige Menschenmassen tummelten sich vor den Grenzpunkten. Brav und ordentlich - wie wir es gelernt hatten - standen wir an der Mauer und warteten auf den Weg ins Paradies, es war der 10. November 1989.

Ich war wieder mal zu spät, leider!

Aber es war trotzdem gewaltig. Und dann wurden wir durch ein großes Tor geschoben, und ehe wir uns versahen, waren wir drüben.

Wirklich, wir waren drüben!

Es war unbeschreiblich.

Wir waren drüben, es war so intensiv, wir standen da und konnten es nicht fassen, wir atmeten die Luft, sie stank ebenso wie vorhin, wir bewunderten die Häuser, die waren schon besser, und wir sahen lauter freundliche und hübsche Leute.

Es war herrlich.

„Weißt du, wie der Stadtbezirk hier heißt“, frage ich später meine Freundin.

„Kreuzberg!“, antwortete sie.

Das hatte ich irgendwie schon gehört und so schaute ich mich genauer um. Beinahe hätte ich gedacht, oh wie viele Fremde, aber das wäre unverschämt gewesen. Deshalb dachte ich sofort, oh, welch schöne Geschäfte. Und die waren tatsächlich traumhaft.

Doch dann überkam uns die Ehrfurcht, denn wir wussten, dass wir Teil der Geschichte geworden waren. Dieses Stück Historie war einmalig und unwiderruflich, und wir waren dabei. Ich weiß noch, wie ich mich oft gefragt hatte, wie es denn sein müsste, wenn man völlig frei wäre, alles sagen und sich alles kaufen könnte. Ja, wie muss man sich dann wohl fühlen?

Ist man den ganzen Tag vor Glück geschwängert?

Ist man tatendurstig und optimistisch?

Wahrscheinlich schon, denn mehr Glück kann man als Individuum ja nicht haben. Und auch ich war jetzt glücklich, und ich war gespannt. Und viele Fragen holten mich ein. Ich fühlte, das sollte ein Abenteuer werden. Ein riesiges Glücksgefühl überwältigte mich.

Wir waren angekommen.

Wir waren wirklich angekommen.

Es war einfach großartig, und dieses Gefühl wollte ich aufsaugen und für immer in mir aufbewahren und wie in Trance schritten wir durch die Straßen. Mittlerweile waren wir am Brandenburger Tor, doch diesmal auf der anderen Seite. Ich stieg auf den Aussichtsturm, den ich von drüben kannte, und schaute auf mein Berlin. Überall Menschenmassen, die in Glückseligkeit vereint waren. Später kletterte ich selber auf die Mauer und genoss das unbeschreibliche Gefühl, gewonnen zu haben.

Ja, wir hatten gewonnen.

In den letzten zehn Jahren habe ich nur noch drei Tage voll solcher Intensität erlebt, drei Tage, nicht mehr, die vergangene Sonnenfinsternis und die Fußball-WM natürlich nicht mitgerechnet.

Doch auch damals begann der Alltag, und diese Leidenschaft wiederholte sich nicht. Zuerst kamen ganz banale Probleme: Woher jetzt DM nehmen? Aber zum Glück gab‘s 100 Mark geschenkt. Wir standen an der Dresdner Bank, gleich dort, wenn man nach Kreuzberg kommt, und dann gab es das langersehnte Geld. Ich schäme mich, aber irgendwie gab es dann nochmals Geld, na ja, hoffentlich haben wir damals nicht die bundesdeutsche Wirtschaft ruiniert.

Und wir standen in der Schlange, die ich immer so hasste, und von oben schmiss eine alte und glückliche Frau Bonbons runter.

Sie schmeckten gar nicht so schlecht. Doch etwas peinlich war es schon, denn das kannte ich aus Rumänien. Dort verteilten wir im Urlaub auch immer unsere Habseligkeiten: Kondome, Kaffee und Pfeffer waren die sichersten Zahlungsmittel, und wir beschämten stolz die Eingeborenen. Und jetzt waren wir dran, die Geschichte war fair mit uns.

Doch etwas peinlich war es schon.

Und doch war es auch rührend.

Leider habe ich vergessen, was wir damals gekauft haben. Dennoch kann ich mich noch erinnern, wie die halbe U-Bahn voller Radios war. Warum haben die nicht gleich Radios und Bananen verteilt, diese Fragen beschäftigen die Philosophen bestimmt noch immer. Aber egal, es war ein schöner Tag, und den lassen wir uns nicht mehr kaputt machen.

Und ich muss sagen, jeder Tag war damals ein schöner Tag. Warum hatten ausgerechnet wir so ein Glück, das war sehr viel Glück, und müssen wir dafür irgendwann bezahlen? Wo war die Balance? So viel Glück gibt es doch nicht umsonst.

Aber dann, ich wusste es, kein Glück hält ewig, es kam tatsächlich die erste große Not. Die Grüne Woche machte in Berlin auf, und der Eintritt war unverschämt teuer. Wer soll das bezahlen, die Preise ließen uns schier verzweifeln. Und wieder hatten wir Glück. Denn nun war die Mauer freigegeben, und so zogen wir mit Hammer und anderem schweren Gerät in die Nähe des Potsdamer Platzes und zerlegten das Monstrum in seine Elemente. Das war ein Spaß. Nicht nur symbolisch. Man kann uns dafür beneiden, denn wir haben sie wirklich zerlegt. Wir haben das getan und wir fühlten uns stark und mächtig dabei. Und danach besuchten wir die Grüne Woche und hatten immer noch viel Spaß.

Doch etwas fehlte. Irgendetwas ließ uns unruhig werden.

Wo war denn nur der Andere, wo war das unbekannte Wesen. Ja, wie war er nur, der andere Deutsche? War er genial, war er glücklich und innerlich zufrieden? Diese Fragen stellte ich mir öfters, doch erst heute, nach mehr als zehn Jahren, wage ich sie zu beantworten...

Und so verging die Zeit.

Und auch die Euphorie, die ging dahin, denn leider schlug die Stimmung um. Nur gut, dass man uns nicht mehr ansah, wie weit wir schon entwickelt waren. Das dachten wir jedenfalls. Denn ab und zu schlug eine Falle zu. So rannte ich eines Tages genervt durch einen Aldi in Berlin, weil ich dringend noch Butter für unser Wochenende holen sollte.

„Entschuldigen Sie bitte, ich hätte mal ‘ne Frage.“ So altmodisch fing man damals eine Frage an.

„Äh, was denn?“ Die Verkäuferin schien gereizt. Heute weiß ich, dass man ungefähr so fragt: „Ich krieg noch Butter, wo is‘n die, häää?“

„Ja, wo liegt denn bei Ihnen die Butter?“, fragte ich leise, denn schließlich wollte ich wie ein Insider vor all den anderen Kunden dastehen.

Die Frau schaute mich mit ihren großen Augen an und holte tief Luft:

„Mensch, bei unserem Aldi gibt’s keene Butter!“, brüllte sie so laut sie konnte heraus. Oh wie peinlich. Alle schauten mich an, und ich war blamiert. Dabei ist es doch so logisch: Beim Aldi gibt es keene Butter. Völlig logisch. Kann gar nicht sein. Mitleidig drehten sich die gebildeten Einkäufer wieder zu ihren Wägen zurück und fuhren davon. Milder Spott in ihren Augen, ich war erkannt, ein Depp von drüben. So ging ich schnell bezahlen, denn ich wollte nur noch raus.

Und die Wochen vergingen, dann endlich kam unsere erste Einladung, bei einem Taxifahrer. Und so saß ich zum ersten Mal in einem Mercedes. Der Taxifahrer erläuterte dabei voller Stolz, dass er im Stand sogar heizen könne (auch im Winter). Aber wieso ist das kein Standard? Zuhause angekommen lernten wir, dass der Taxifahrer in einem Wohnblock wohnte und ihm diese Wohnung selber gehörte. Dies wurde beim Kaffee öfters betont, es war echt amüsant, denn hier waren wir ziemlich verwundert. Wer kauft denn eine solche Wohnung, was soll das denn?

Gab es da irgendwie ein Problem?

Ja, das gab es.

Später, in Stuttgart etabliert, lud mich ein richtiger Ingenieur einmal zu sich nach Hause ein, um - ich merkte es fast zu spät - seine Bleibe zu präsentieren. Hier wohnte also unser Ingenieur. Und ich war wieder amüsiert. Da wohnten wir ja als Studenten besser, das kann doch nicht wahr sein. Doch später wurde man bescheidener, denn nun zog ich selber in die Provinz, nach Mannheim, die Stadt der Quadrate, eine prächtige Stadt. Und wer Ludwigshafen oder Neubrandenburg kennt, findet Mannheim definitiv schön. Aber dennoch wohnt der Mannheimer meistens in Weinheim, das ist eine echte Perle. Man muss es einfach lieben.

Und der Crash-Kurs begann, ich lernte viel, denn noch öfter suchte ich im neuen Land ein neues Heim, und die Wohnungen waren fast immer strukturell gewachsen, nicht so brutal in die Landschaft gesetzt, ja, es wurde viel geboten: Hinterhof (gut gegen Straßenlärm), Ofenheizung (letzteres kannte ich von meinem Großvater, das war interessant), gar kein Blick (gab es tatsächlich, spart wahrscheinlich Heizkosten), Blick auf einen Mülleimer oder wenn's mal was Gewagtes sein sollte: Blick auf einen geparkten LKW. So war alles in bester Ordnung, nur eben unser Kind war bei der Wohnungssuche hier im Süden ein großes Problem.

„Hans-Dieter, die Herrschaften haben ein Kind. Stört uns das?“

„Natürlich nicht, Liebchen, aber du weißt doch, die Wohnung ist ziemlich klein“ (stimmt, hatte nur 120 qm).

„Ja, schade, hätten wir Ihnen so gerne vermietet, aber so eng wollen Sie doch nicht wohnen, oder?“

„Sie haben völlig recht“, antwortete ich, „in diesem Haus ist es zu eng.“

Und so wurde es ein interessantes Abenteuer, ein guter Überblick. Denn jetzt hatte ich meinen ersten Eindruck. Ja, der Unbekannte, der war gar nicht so zufrieden. Ständig suchte er irgendwas: hier Wohnungen, dort Sonderangebote, dann Geldanlagen, Urlaubsreisen (insbesondere dort, wo der Nachbar noch nicht war), Jobs, die neueste Pizza. Und ich war überrascht. Hier war ja ein einziges Suchen und Schieben. Überall pure Hektik. Und das war nur die Spitze vom Eisberg.

Was soll das?

Der Moderne hier ist ja im Dauerstress! Das glaubt man nicht, ich weiß, aber es ist wahr. In diesem Land voller Überfluss, da waren alle nur am suchen. Man, das war spannend, das war einfach nicht zu glauben. Aber da stand er, mein Vorbild, viel geliebt und beneidet, und er stand so hilflos in der Gegend herum.

Doch wir wollen nicht vorgreifen, nicht gleich so pauschalieren. Wir wollten noch mehr Leute kennen lernen, einen besseren Überblick bekommen, denn die empirische Basis lies noch einigen Zweifel, lies noch Argwohn zu. Wir können noch gar nichts sagen. Nein, wir brauchten Freunde, nur so können wir alles besser verstehen. Und richtige Freunde fand man schnell, wir sind eben ein kommunikatives Land.

„Oh Mann, ihr tut mir ja so leid, Euch ging‘s aber schlecht“, sagte eines Tages ein netter Nachbar zu mir. „Ich habe gestern im Fernsehen gesehen, dass man bei Euch sogar mit Marken einkaufen musste“, und ich war sprachlos und schaute ihn irritiert an. Wir mussten mit Marken einkaufen?

War das vor meiner Zeit?

Und ich überlegte, bis ich den Witz verstand und lauthals loslachte, worauf mich der liebevoll um Rat Suchende völlig enttäuscht anschaute. Ja, bei uns gab es Konsummarken - nach dem Kauf - aber das sind Details, und mein Verhalten war nicht ganz korrekt.

Und doch, hier war mein Humor, hier war mein Niveau, ja, jetzt fühlte ich mich richtig heimisch.

Es schien aufregend zu werden.

Und wir würden viel Spaß haben, das wusste ich schon!

Und deshalb schauen wir uns nun genauer um. Legen wir uns gemeinsam auf die Lauer. Kommen Sie hoch in mein Baumhaus, beobachten wir die Modernen eine Weile zusammen.

Ja, es wird ein Puzzle, aber wir wollen es legen.

Beobachten wir die Details.

Willkommen im Paradies!

Wir lieben uns

Schaut man unverkrampft auf einen Postintellektuellen, so fällt einem auf, dass dieser wirklich gut aussieht. Man ist verwundert und schaut voller Ehrfurcht auf das körperliche und geistige Endprodukt einer Jahrtausende währenden Evolution. Wir haben hier einen Höhepunkt erreicht. Gehen Sie mal in einen Zoo, und Sie werden es bemerken.

Und der Posti weiß das. An jeder Ecke muss er allen anderen mitteilen (wem eigentlich, ist eine fast philosophische Frage), dass er hübsch, klug und gebildet ist.

„Wir sind so klug und gebildet, unser Wissen verdoppelt sich alle zehn Jahre“, hört und liest man, und man erstarrt vor Ehrfurcht.

Aber der Posti schweigt nicht und geht noch einen Schritt weiter.

„Wir sind so mutig und sagen selbst dem Kanzler unsere Meinung“, man wird blass, das gibt’s doch nicht. Oh doch!

„Oh ja, wir sind so frei, wir wählen wen wir wollen oder auch gar nicht“, schreit er heraus. Jetzt wird man aber neidisch.

„Und wir leben lange, unsere Lebenserwartung ist doppelt so hoch wie die im Mittelalter“, das allerdings weiß er aus dem Fernsehen. „Ja, wir leben länger und gesünder als jemals zuvor.“

Wir sind platt.

„Und wir verstehen was vom Geld“, ruft er dem Ahnungslosen hinterher. Und wem das nicht reicht, der bekommt noch einen nachgesetzt: „Ja, und wir haben immer unseren Spaß. Wir reisen, haben Sex und sind so glücklich.“

Donnerwetter, eine Gattung, die wirklich viel Glück gehabt hat. Und Pech für die, die da nicht teilhaben durften.

„Pech gehabt, Ihr Zurückgebliebenen!“ ist er versucht zu sagen, tut es aber nicht, denn er ist obendrein auch gut gebildet und weiß, dass sich das nicht gehört.

Doch mal ehrlich, ist man nicht erstaunt und neidisch auf so viel Glück. Hier muss es doch was zum Entdecken geben. Ja, lernen, warum es ihm so richtig gut geht.

Was sind also die Schräubchen an denen man drehen muss, damit man so toll drauf ist?

Und die Zurückgebliebenen schauen interessiert auf dieses Exemplar.

Trotzdem muss ich Sie warnen, denn wir werden hart analysieren, schließlich wollen wir nicht immer nur neidisch auf den Modernen schauen, sondern selber dazugehören. Aber keine Angst, liebe Leser, wir könnten es schaffen. Hier können wir zuversichtlich sein. Doch einen Rat will ich Ihnen noch geben, denn wenn Sie mal eigene Beobachtungen anstellen wollen, seien Sie immer vorsichtig, die Modernen sind sehr mutig.

Sehr, sehr mutig sogar.

Wie, das glauben Sie nicht?

Dann schauen Sie doch mal in die Runde. Gerade letztens haben wir zahlreiche Exemplare entdeckt. Sie rannten auf der Straße entlang und schrien: „Der Kanzler ist ein Arschloch“, und noch lauter, „der Kanzler ist ein Riesenarschloch.“

Wahnsinn, ist das mutig!

Das ist aber wirklich mutig.

Ach, Sie winken ab. Wo ist da der Mut? Hat doch „eh“ keine Konsequenzen. Plappern kann doch jeder. Jeder kann doch brüllen, wenn es keine Konsequenzen hat.

Wo ist da der Mut?

Also gut, schauen wir also in einem Bereich, wo direkte Abhängigkeiten bestehen. Nicht bei der Politik. Hier kann jeder plappern. Schauen wir zum Beispiel in die Unternehmen. Und was sehen wir? Lauter mutige Menschen. Hier wird offen die Meinung gesagt. Hier wird offen gesprochen, diskutiert und gestritten. Feigheit nicht gesichtet. Na also. So einfach ist das, und das war unser erster empirischer Beweis.

Dafür reichte der Mut.

Geht doch!

Auf der Suche nach Spaß

Und jetzt schauen wir mal rein in die moderne Gesellschaft. Wie lebt der Posti, und was macht er? Wie vertreibt er sich eigentlich seine Zeit? Sie wissen es bereits. Na klar, er vertreibt seine Zeit mit Spaß. Ja, hier tobt der Spaß, überall pure Unterhaltung.

Und was machen Sie?

Heute schon mit dem Paraglider unterwegs gewesen? Nein?!

Aber doch wenigstens kurz vor der Arbeit mal schnell auf dem Wasserski den Stress abgebaut?

Auch nicht?

O.k., Sie joggen wohl bloß jeden Morgen?

Ach, vergessen Sie es. Sie sind aber ganz schön verschlafen. Denn man kann sich kaum retten vor den Angeboten. Überall Sport und Spaß, was will man da noch mehr?

Ach ja, Sie haben recht, wir wollen mehr Extremsport.

Paragliding, Wasserski, wozu das denn?

Nein, wenn man schon seine wertvolle Zeit opfert, dann soll es auch was bringen. Nicht, dass man immer einen Guinnessrekord machen will (höchstens, wenn das Fernsehen dabei ist), nein, es muss für einen persönlich was bringen.

Haben Sie schon mal Ihre Angst überwunden? Kennen Sie nicht das Todesangst-Krippeln so kurz vor dem Bungee-Sprung. Ich sage Ihnen, Sie verpassen (und verpfuschen) Ihr Leben, wenn es so weitergeht. Wen interessiert schon der langweile Büroalltag, niemanden, denn das wahre Leben beginnt danach.

Machen Sie mal eine Canyoning-Tour, und hinterher sehen Sie das Leben mit anderen Augen. Das könnte man als Werbespruch interpretieren. Ist es aber nicht. Es ist wahr! Man muss sich eben auch mal richtig überwinden können, sonst kennt man seine Grenzen nicht. Wissen Sie, wie Sie reagieren würden, wenn Sie in der Antarktis segeln und kurz vor Ihnen fällt ein hundert Meter hoher Eisfelsen ins Wasser?

Sie wissen es nicht.

Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man mit 200 Sachen um die Kurven saust, und das Blut aus dem Hirn gedrückt wird, wissen Sie auch nicht.

Aber, was wissen Sie denn dann überhaupt von sich? Sie kennen Ihren langweiligen Körper doch wirklich nur vom Büro- und Fernsehsessel. Ja, und dann erschlaffen Sie. Und draußen geht die Evolution weiter, dort tobt die Auslese. Aber gut, Sie wollen bloß mal Schwimmen gehen oder mutig vom drei Meter Turm springen. Bitte, wenn man keine Ansprüche an sich stellt, dann erlebt man eben auch nichts. So ist das im Leben und hier ist das besonders so.

Und deshalb ist der Extremsport auch so hilfreich. Nur der Naive fragt sich wirklich: „Wer tut denn das?“ Letztens sagte einer im Fernsehen (ich liebe übrigens Fernsehen, aber dazu kommen wir noch), die das machen, hätten eine Leere im Kopf. Da war ich verwirrt. Heutzutage eine Leere im Kopf, wie soll das denn gehen? Von überall trommeln Informationen auf einen nieder, da bleibt gar kein Platz für eine Lehre.

Nein, wir werden immer klüger, unser Wissen verdoppelt sich dauernd. Wo soll denn da Lehre herkommen?

Wir wissen es nicht.

Lieber Leser, an dieser Stelle muss ich mich mal kurz einmischen, denn das Nichtwissen wird Ihnen - zumindest in diesem Buch - öfters begegnen, aber bei dem Preis finde ich das schon okay. Und wir können uns manchmal ja auch mit Phantasie behelfen, unser Nichtwissen sozusagen einfach ignorieren.

Das macht man heute so.

Doch lassen Sie uns jetzt lieber eine erste empirische Studie machen, und beobachten wir (zuerst mal noch zufällig) ein Exemplar, wie es einfach so rumsitzt. Sich also richtig entspannt.

„Was mach ich bloß, was mach ich bloß mit meiner vielen Freizeit, morgen, am Samstag“, denkt das Exemplar so vor sich hin, und gedankenversunken - oder sollten wir lieber gedankenverloren sagen - schaltet das Exemplar den Fernseher ein.

Dort kommt Sport.

Und nochmals Sport.

Und dann, die ersehnte Meldung: Wollen Sie Ihre Grenzen kennenlernen? Wollen Sie sich kennen lernen, wollen Sie es sich und den anderen richtig beweisen? Ja, wollen Sie den anderen mal zeigen, was Sie drauf haben?

Und es hat was drauf, im tiefsten Inneren weiß es unser Exemplar, und jetzt wird es das endlich den anderen zeigen. Gut, die Ex ist gerade mit einem Kerl auf und davon, aber die war sowieso doof und im Bett recht langweilig, ja, gut, der Boss in der Firma ist ein Idiot, sonst hätte er schon längst gemerkt, dass es unser Exemplar mindestens bis zum Vorstand bringen würde, wenn man ihn lassen würde. O.k., er ist auch gerade ziemlich pleite, aber sonst fühlt er sich doch prima. Er ist ein ganzer Kerl, und eins muss man aber jetzt wirklich sagen, er ist mutig. Und deshalb bucht er für das Wochenende den Schnellkurs für Fallschirmspringer.

Ja, nicht jeder von uns ist so spontan, aber gerne würden wir das auch mal machen.

Vielleicht beim nächsten Mal.

Nun gut, zugegeben, das war natürlich reine Phantasie, denn in Wirklichkeit sitzt das Exemplar zu Hause und ist ziemlich müde. Der Job war heute recht anstrengend, und der Boss ist wirklich ein Trottel, aber das wussten wir schon. Und unser Exemplar dämmert auf dem Sofa so dahin.

„Aber, wenigstens am Wochenende werden wir so richtig die Sau raus lassen und in eine Proll-Disco gehen“, das hat sich unser Exemplar fest vorgenommen.

Und es hat recht damit, denn ist es nicht gerade der ultimative Spaß, der uns all den Stress überstehen lässt. Macht nicht gerade der Spaß alles so lebenswert. Und außerdem, man weiß nie, vielleicht ist auch ‘ne nette Kleine da? Unserem Exemplar läuft das Wasser im Munde zusammen. (Ich war übrigens auch letztens dort, und das mit den netten Kleinen stimmt, aber wir wollen nicht abschweifen.) Doch wir werden stutzig. Wir schärfen unseren Blick und beobachten nochmals.

Was tut der da?

Was plant der so?

Und tatsächlich, das hätten wir nun nicht vermutet, nein, wir sind geschockt: Der Typ ist gelangweilt. Wirklich. Dieser Prototyp ist heute tierisch gelangweilt, ja, sogar extrem gelangweilt. Ständig ist er auf der Suche nach Events. Das gibt‘s doch gar nicht. Sie wollen es nicht glauben, wir wollen es nicht glauben! Aber, versuchen Sie sich mal mit einem Modernen zu unterhalten und nicht über Spaß oder Reisen zu reden. Das geht nicht. Probieren Sie es aus. Immer muss was los sein..., doch was ist los, wenn er mit sich alleine ist?

Was macht er dann?

Sie wissen es nicht?

Wir schon.

Denn zum Glück können wir uns bei manchen Exemplaren einloggen, und so schauen wir nochmals einem anderen über die Schulter. Das Exemplar kam gerade von der Arbeit, mit 200 Stundenkilometern über die A6, denn schließlich wollte der Typ schnell zu Hause sein. Der Motor dröhnt noch im Kopf und konnte nur von den Super-Surround-Bass-Lautsprechern überdröhnt werden. Und jetzt hat er seinen Geschwindigkeitsrekord geschafft, und er sitzt zu Hause und freut sich.

Und wir freuen uns mit, aber dann:

„Mensch, was mach ich bloß mit meiner Zeit, was mach ich bloß, was mach ich bloß“, denkt auch er so vor sich hin. Wir sind irritiert. Denken denn alle das gleiche, wo ist die Vielfalt? Doch wir wollen weiter lauschen. „Ach ja, ich könnte aus dem Fenster schauen, vielleicht kommt die hübsche Nachbarin vorbei.“ Und glücklich, dass er so schnell zu Hause war, schaut er aus dem Fenster, ob die Hübsche von nebenan heute mal was Kurzes trägt. Jaaa, dann logge ich mich am liebsten ein, denn die ist wirklich umwerfend, aber ich will mich raushalten.

Nur eins muss ich noch erklären, hier muss ich mich dann doch nochmals einmischen, denn das mit dem Einloggen ist noch nicht weit verbreitet. Nur langsam wird es eingeführt. Denn ohne dass es die Allgemeinheit bemerkt hat, werden zahlreiche Einlogg-Mechanismen entwickelt.

„Einlogg-Mechanismen?“

Ja, das kommt aus dem amerikanischen und heißt eigentlich Human Inlog Machine, kurz HIM.

Es ist so toll, was unsere amerikanischen Freunde da wieder entwickelt haben. Ich weiß, Sie glauben es nicht, aber was wissen Sie von der technischen Entwicklung? Sie werden doch extra kurz gehalten, Ihr Interesse wird auf das Internet gerichtet, clever oder? Doch man kann Ihren Pentiumprozessor abhören, man kann vom Satellit aus alles beobachten (so geht GPS), man kann mittlerweile übers Internet operieren und Ihre Festplatte ausspähen, man kann Cookies implantieren (ob Sie wollen oder nicht) und Ihre Datenspur verfolgen. Aber der Clou ist eben, es gibt mittlerweile Software, mit der man sich bei den anderen direkt einloggen kann. Leider ein US-Patent, haben unsere Datenschützer zu verantworten, denn die ersten Entwicklungen waren deutsche Ideen.

Aber wie geht das eigentlich?

Nun, es funktioniert über die Resonanzverstärkung der bioelektrischen Signale bei Feinabstimmung der Software auf die biogenetische Eigenfrequenz des Individuums und Auswertung der synaptischen Eigenpotentiale. Doch die Reichweite ist noch recht lächerlich. Und das Schlimmste ist, dass das alles noch ziemlich teuer ist, irre teuer sogar, so dass die Verbreitung bei den Massen noch nicht fortgeschritten ist (lohnt sich zurzeit nur, wenn Sie es steuerlich absetzen können). Manchmal denke ich, der Preis für das HIM wäre Methode, damit nicht jeder..., aber dann verwerfe ich den Gedanken. Nein, die Wirtschaft wird sich auch hier wieder gegen die Interessen der Politik durchsetzen und das Ding zu einem Preis anbieten, damit eine Massenverbreitung stattfindet. Das war mit den Cyberprogrammen auch so. Erst sollte die virtuelle Realität nur vom Militär genutzt werden, aber so was lässt sich nicht aufhalten, nicht in einem freien Land. Und deshalb bin ich überzeugt, dass die Einlogg-Software auch bald auf den freien Markt (zu fairen Preisen) kommen wird, vielleicht nächsten Sommer, das wissen wir natürlich nicht. Aber achten Sie einfach selber auf Ihre Umgebung, die Dinger sind etwa zweimal so groß wie ein Handy. Doch Vorsicht, gehen Sie bloß nicht zu nahe ran. Oder fragen Sie auf den neuesten Investitionsgütermessen nach, auch dort gibt es erste Vorstellungen. Allerdings sollten Sie von einer großen Behörde kommen, kleine Unternehmen oder gar Privatpersonen sind zurzeit noch unerwünscht.

Aber zurück zu unserem Individuum.

Es hat sich vom Fenster abgewandt.

„Nee, die Hübsche ist schon weg“, denkt er gerade, „dann schalten wir halt den Fernseher an und lesen dabei ein bisschen Zeitung. Nein, jetzt weiß ich es“, durch unser Individuum geht ein kleiner Ruck, „ich schaue mal ins Web.“

Und unser Exemplar fragt seine Internet-Agenten ab, was es Neues gibt. Ja, die Internet-Dinger heißen wirklich so, haben aber nichts mit Spionen zu tun, also bitte nicht verwechseln. Agent bedeutet hier nur, dass sie selbstoperierende Softwaremodule - natürlich in JAVA geschrieben - sind. Denn eins ist klar, die langweiligen Meta-Suchmaschinen finden immer nur dasselbe, ihre Netzabdeckung beträgt gerade mal 47%. Aber die Agenten, die suchen die ganze Nacht für Sie, und am nächsten Tag gibt es die neuesten Infos als Protokolle. Das ist ganz nett, aber natürlich nichts gegen die HIM-Techniken. Und doch, ....auch diese helfen uns jetzt nicht weiter. Denn unser Exemplar denkt gar nichts.

Wie bitte? Waaas?

Ja, er denkt überhaupt nicht. Unser HIM hat Resonanzprobleme, keine Eigenfrequenzen mehr. Das gibt es doch nicht. Er sitzt wieder vor der Kiste und seine Gehirnwellen sind fast nicht mehr da. Selbst wenn Sie das HIM auf maximale Resonanzverstärkung stellen. Es ist nichts zu empfangen.

Wir sind platt!

Da geht man jahrelang zur Yogaschule, lachen Sie ruhig. Versuchen Sie mal, an nichts zu denken, das ist gar nicht so einfach. Aber der hier, der sitzt einfach vor der Glotze und denkt an gar nichts. Keine Signale, einfach nichts. Jetzt sind wir wirklich platt.

Wie hat der das gemacht?

Wir wissen es nicht!

Aber wir müssen es studieren, und wir werden es studieren. Doch leider löst sich jetzt die Leere auf. Ein Stimulus von außen. Na endlich, die Rettung naht, das Handy hat geklingelt. Gott sei Dank! Und fluchtartig verlassen wir den Raum.

Natürlich war das nur ein Einzelfall. Doch die Besorgnis steigt, denn das ist mir in letzter Zeit schon öfters passiert. Mein HIM kann die niedrigen Signalwerte einfach nicht mehr verstärken, hier ist Handlungsbedarf angesagt und besorgt suche ich eine neue Release.

Und der Posti?

Ja, hin und wieder ertappt er sich ja selbst, wenn er seine Leere hin und her schaufelt und überlegt, was er denn nun machen soll mit all der Zeit.

Doch hier hilft natürlich Geld.

Denn bei der vielen Zeit kommen einem die ganzen Attraktionen gerade recht. Es ist Sonntagnachmittag, und Sie waren noch nicht auf einer Kerwe? Dann aber schnell. Es ist Sommer, und Sie waren noch nicht in Australien, was sollen die Kollegen denken? Es ist ein normaler Tag, und Sie haben noch nicht drei Stunden Fernsehprogramm absolviert.

Wenn das mal rauskommt!!!

Und den neuesten Film mit Henriette de Geielo, der gestern angelaufen ist, wieso waren Sie noch nicht im Kino, wieso? Hier möchte ich nur wirklich wichtige Gründe hören. Und wenn Sie schon selber zu müde sind, man, denken Sie doch wenigstens an Ihre Kinder. Der Kinder zuliebe müssen wir das machen. Aber zum Glück wurde das wenigstens kapiert. Denn kennen Sie heute Kinder, die noch nicht bei Walt Disney in Paris, die noch nicht im Freizeitpark Potsdam waren oder die nicht mindestens sechs Mal im letzten Monat im Kino gesessen haben? Kennen Sie Kinder, die keinen eigenen Fernseher oder Computer auf dem Zimmer haben, die nicht dreimal pro Woche zur Disco müssen und die nicht jeden Urlaub nach Spanien fliegen? Kennen Sie Kinder, die draußen einfach so auf der Straße rumsitzen?

Waaas, so was kennen Sie?

Man, wo wohnen Sie denn?